Rembrandt als Erzieher
„Rembrandt als Erzieher“ lautet der Titel eines Buchs, das,
vor kurzem erst erschienen, schon viel von sich reden
gemacht und – obgleich nach Gedankengang und Vortrag keine
leichte Lektüre – bereits die neunte Auflage erlebt hat.[1] Ein
Buch über Rembrandt, gelehrte Untersuchungen uber einen allbekannten Maler – und eine solche Wirkung, da muß ein
allgemeines zeitgenössisches Interesse im Spiele sein. Wohl ist
der Titel geeignet, Neugierde bei litterarischen Feinschmeckern zu
erwecken, er klingt räthselhaft, Ueberraschung verheißend; aber
das genügt nicht zur Erklärung der überraschenden Theilnahme,
die das Buch findet. „Rembrandt als Erzieher“ und –
„von einem Deutschen“? Was soll diese Betonung einer Selbstverständlichkeit, und wieso ist Rembrandt ein Erzieher? Ein
Maler ist kein Pädagog. Von Dichtern läßt sich das eher sagen.
Rousseau – Goethe – Defoe – sie haben pädagogische Romane
geschrieben; Herder, Schiller, Lessing stellten Ziele auf für die Erziehung des Menschengeschlechts. Und in übertragenem Sinne
wirkt jeder Dichter erzieherisch. Aber ein Maler? Haben wir
nicht gelernt, ein guter Maler werde nicht Gedanken und Ideen
darstellen, sondern Bilder schaffen, die unmittelbar ein Stück Leben
wiedergeben, das er mit besonderer Empfindung seines malerischen
Werthes erkannt und erschaut hat? Und ist nicht Rembrandt gerade solch ein Maler? Gewiß – sein Beispiel, die Art, wie er
aufgefaßt und gemalt hat, sie können auf neue Künstlergenerationen belehrend und befeuernd wirken, wie dies allbereits in
verschiedenster Weise, namentlich während des letzten Jahrhunderts,
geschehen ist. Solch vorbildliches Wirken eines alten Meisters ist
aber wohl kaum gemeint. Die Erziehung hat nicht die Kunst,
sondern das Leben zum Zweck.
Ueberblicken wir Rembrandts Schaffen: die „Anatomie“, die „Nachtwache“, seine lebensvollen Bildnisse, seine realistischen Darstellungen aus der Erdenwallfahrt des Erlösers; erfassen wir diese genialen Gemälde und Radirungen in ihrem innersten Kern, der uns stets etwas eigenthümlich Schönes offenbart als Blüthe eines tiefernsten, ins Wesen der Dinge sich bohrenden Wahrheitsdranges, vielleicht daß hier uns die Lösung des räthselvollen Titelworts wird! Wie er selber uns aus seinem bekanntesten Selbstporträt [383] entgegenlacht, sein blühend Weib, die fröhliche Saskia, auf dem Knie, bei schäumendem Pokal unschuldiger Festlust hingegeben, das läßt sich in der That deuten als ein freudetrotzig „Gaudeamus“, welches herausfordernd in unsere nachdenkliche, schier überernste Zeit von seinen Lippen herüberklingt. Sein „guter Samariter“ kann den Zug unserer Zeit zur Bethätigung von Milde und Barmherzigkeit im Dienst des öffentlichen Wohles bestärken. So manchen seiner Darstellungen aus der Sphäre gedrückten Menschenthums und düsterer Lebensenge, die aus der inneren Helle seines theilnehmenden Gemüths ein verklärend Licht erhielten, das sich mit dem gegebenen Düster künstlerisch zu jenem Helldunkel verschmolz, das für seine Art zu schauen und zu schaffen so bezeichnend ist, auch ihnen ist ein lebendiger Bezug zur Gegenwart zu entnehmen: die Mahnung, daß es kein Dunkel des Lebens giebt, wo das Licht der Sonne nicht hindringt, und daß der Schatten es ist, der die Wohlthat des Lichts erst recht fühlbar macht. Aber alle diese Beziehungen ergeben doch kaum hinreichenden Stoff für 300 dichtbedruckte Seiten Text über Rembrandts Beruf zum Erzieher, nicht genügenden Anlaß, daß gerade in unseren Tagen „ein Deutscher“ offenbar für alle seine Mitdeutschen den ernst-heiteren Meister von Amsterdam aufruft als Erzieher, und keine Erklärung für die Wirkung solcher Beschwörung.
Und doch kündigt dieser vieldeutige Titel eine Schrift an, die nichts mehr und nichts weniger will, als die Grundsätze aufstellen für ein großes reformatorisches Selbsterziehungswerk der gesammten deutschen Nation. Die Zeit nach einem Thronwechsel gleicht nicht darum nur dem Frühlingstreiben in der Natur, daß in ihr die Hoffnung regiert auf Erfüllung so mancher Wünsche, die sich in der Zeit vorher nicht hervorwagten, auch ein Sprießen und Sprossen von frischer Triebkraft ist für sie charakteristisch. Unkraut und fruchtverheißender Keim schießt gleich fröhlich empor, und auch der zukunftslose Schößling träumt von einer Blüthenkrone, die einst goldene Früchte tragen soll: so bringt jeder Tag in solcher Zeit neue Reformvorschläge, neue „Blüthenträume“. Ach, das wenigste davon sieht seinen Herbst und besteht in den Tagen der Ernte!
Zu den Schriften, die das Bewußtsein erzeugt hat, daß wir in eine Aera von Reformen getreten sind, die den inneren Ausbau unseres Deutschen Reichs im Schutze gesicherten Friedens bezwecken, zählt auch unser Buch. Aber während die Reformschriften, die seit dem Ableben des ersten Hohenzollernkaisers Kunde gaben von Hoffnungen und Wünschen im Volke, fast alle politischer oder vokswirthschaftlicher Natur waren und irgendwie im Zusammenhang standen mit den Fragen der Sozialpolitik, stellt diese eine das dem sozialistischen entgegengesetzte Prinzip, das der individuellen Freiheit, in den Vordergrund der Betrachtung und erwartet von seiner Pflege das Heil der Zukunft des Vaterlandes.
Der Unterschied ist wohl jedermann klar. Während der Sozialismus nach dem Prinzip der Gleichheit durch gemeingültige Einrichtungen, Gesetze und Vorschriften, die den Einzelwillen auch in den persönlichen Angelegenheiten dem Willen der Gesammtheit unterwerfen, das Glück der Menschheit herbeiführen will, beruht der Individualismus auf der Ueberzeugung, daß alle höhere Offenbarung menschlichen Könnens und Wollens, alles echte Glück auf der Freiheit der Persönlichkeit beruht: im Denken, Fühlen und Handeln sich selbst zum Ausdruck zu bringen, gemäß dem Goetheschen Spruche:
„Volk und Knecht und Ueberwinder,
Sie gesteh’n zu jeder Zeit,
Höchstes Glück der Erdenkinder
Ist nur die Persönlichkeit!“
Diese Ueberzeugung zum Lebensgrundsatz erhoben, im Lehren und Lernen, in Kunst und Wissenschaft, in Staat und Gesellschaft, dies heißt Individualismus. Für eine Wiedergeburt von deutscher Art und Kunst im Geiste des Individualismus einzutreten zu Nutz und Vortheil des inneren Glücks und der geistigen Macht der Deutschen, dies ist der Zweck dieses Buchs. Die stärkste Hilfe dabei erwartet es von der Kunst. Und zu diesem Werke der Selbsterziehung und Selbstbefreiung ruft der ungenannte Verfasser den Meister Rembrandt Harmensz van Ryn aus der Schattenwelt des 17. Jahrhunderts in der Gegenwart Bann als segenspendenden Schutzpatron. Warum einen Holländer? Und einen Maler? Warum nicht Goethe? Oder Lessing? Oder Uhland? Jeder dieser drei großen deutschen Männer hat auf seine Art in Kunst und Leben sich als Vertreter und Verfechter jenes Individualismus bewährt, über dessen Verfall der Verfasser klagt und von dem die Geschichte uns lehrt, daß alle Blüthe unseres Kunst- und Geisteslebens in ihm seine Wurzel hatte. Alle drei stehen unseren Geisteskämpfen, unserem Denken und Empfinden doch wahrlich näher als der bereits bei Lebzeiten vereinsamte große Maler Alt-Hollands! Die Ueberzeugung des Verfassers, daß vornehmlich die niederdeutschen Volkselemente Beruf und Kraft haben, aus sich heraus in unseren Tagen die allgemeine Wiedergeburt des deutschen Volksthums zu einem zukunftskräftigen Individualismus zu bewirken, giebt die Antwort auf diese Frage. Das Niederdeutschthum sei die noch ungebrochene Reserve deutscher Ursprünglichkeit. Diese Ueberzeugung verleiht dem Buche seine höchst eigenthümliche, oft zum Widerspruch reizende, immer wieder aber auch fesselnde Physiognomie. In ihr wurzeln auch die mancherlei Irrthümer, Meinungen und Schrullen, welche die schöne Wahrheit umwuchern.
Während andere Verfechter des Individualismus in Deutschland die Ursachen seines Niedergangs einestheils vor allem in der ungeheuren Anspannung aller Kräfte beim großen Werke der Begründung des Reichs und seines Ausbaus zur wehrhaften Vormacht des Weltfriedens, anderentheils in der Inanspruchnahme der Volksseele durch die wirthschaftlichen Reformarbeiten und Kämpfe erblickt haben, findet unser „Rembrandtianer“ die Hauptursache in den Zuständen moderner Bildung und ihren „nivellirenden und atomisirenden“, das heißt gleichmacherischen und auflösenden Strebungen.
„Es ist nachgerade zum öffentlichen Geheimniß geworden,“ so beginnt seine Anklage, „daß das geistige Leben des deutschen Volkes sich gegenwärtig in einem Zustande des langsamen, einige meinen auch, des rapiden Verfalls befindet. Die Wissenschaft zerstiebt allseitig in Specialismus (Erforschung von Einzelheiten); auf dem Gebiete des Denkens wie der schönen Litteratur fehlt es an epochemachenden Individualitäten; die bildende Kunst, obwohl durch bedeutende Meister vertreten, entbehrt doch der Monumentalität und damit ihrer besten Wirkung; Musiker sind selten, Musikanten zahllos.“ Architektur und Kunstgewerbe befinden sich auf einer beständigen Hetzjagd, ohne dabei zu einem eigenen neuen deutschen Stil zu gelangen. Der gesammten Bildung der Gegenwart macht der „Deutsche“ den Vorwurf, daß sie eine „historische, alexandrinische, rückwärts gewandte“ sei. Nicht neue Werthe zu schaffen, sei ihre Sorge, sondern alte Werthe zu registriren. Diese einseitige wissenschaftliche Bildung, deren höchster Stolz die naturwissenschaftliche Objekivität, die mikroskopisch erforschte Einzelerscheinung sei, lasse bereits viele unbefriedigt. Sie blicken aus nach neuen Bildungsidealen. Es sei im deutschen Geistesleben ein Drängen unverkennbar, das an der Stelle der wissenschaftlichen, zergliedernden eine künstlerische zusammenfassende Weltanschauung zu gewinnen suche.
„Gegenüber dem Niedergang der herrschenden wissenschaftlichen Bildung einerseits und dem Aufgang einer kommenden künstlerischen Bildung andererseits liegt es nahe, nach den Mitteln zu fragen, um beide Vorgänge möglichst zu fördern, zu regeln, klar abzuwickeln. Das deutsche Volk ist in seiner jetzigen Bildung überreif; aber im Grunde ist diese Ueberreife nur Unreife . . . Ueberkultur ist thatsächlich noch roher als Unkultur. Hier haben also etwaige neue erzieherische Faktoren einzusetzen; und zwar werden sie gerade entgegengesetzt wirken müssen wie die bisherige oder gewöhnliche Erziehung: das Volk muß nicht von der Natur weg, sondern zu ihr zurückgezogen werden. Durch wen? Durch sich selbst. Und wie? Indem es auf seine eigenen Urkräfte zurückgreift.“
Als Grundlage dieser Urkräfte des Deutschthums wird nun, der geschichtlichen Wahrheit gemäß, der Individualismus gepriesen. Er sei die tiefste Seite des deutschen Wesens. Er verlange ein Wirken und Schaffen gemäß der eigenen Natur des Einzelnen, von innen heraus. Er sei der geschworene Feind der Schablone, der mechanischen Bildung, der Resignation. Er setze das Gemüth und die Seele in ihre Rechte wieder ein und lehre den nüchternen Verstand, sich bescheiden. „Der Instinkt treibt die gegenwärtigen Deutschen ganz richtig, wenn sie anfangen, mehr auf künstlerische als auf wissenschaflliche Ziele auszuschauen; aber eben dieser Instinkt sollte sich jetzt zum vollen Bewußtsein erhöhen und zur [384] lebendigen That verwirklichen. Deutschland, das auf dem Gebiete der militärischen und sozialen Reform allen anderen europäischen wie außereuropälschen Staaten voranging, sollte dies nun auf dem Gebiete der künstlerischen wie geistigen Reform thun; und es kann es nur thun, wenn es sich theoretisch und praktisch zu dem bekennt, was der Inhalt seines Seins, der Inhalt der Kunst, der Inhalt der Welt ist: Individualismus.“ Dieser halte die rechte Mitte zwischen dem überspannten, im Allgemeinen sich verlierenden Idealismus früherer Tage und dem am Stoff klebenden, geistlosen Spezialismus der Gegenwart. Die Erziehung zum Individualismus habe aber die Willensfreiheit des Einzelnen der persönlichen Willkür zu entziehen und der Volksindividualität, dem Nationalcharakter und dem Nationalbedürfniß anzupassen.
In solchem Sinne habe der Einzelne die Vergangenheit der Nation auf sich wirken zu lassen. Aus der Geschichte müßten ihm so die Ideale für die eigene Gegenwart erwachsen. „Deutschland soll seine Ideale den Zeiten und seine Zeiten den Idealen anpassen.“ „Die heutigen Deutschen, deren Großväter eine ideale und deren Väter eine historische Bildung besaßen, haben aus den Bildungsergebnissen der beiden vorhergehenden Generationen die Summe zu ziehen, indem sie sich ‚historische Ideale‘ wählen.“ Die Geistesheroen eines Volkes seien seine berufensten Erzieher. „In politischen Zeiten wird man auf politische Helden, in künstlerischen Zeiten auf künstlerische Helden hinsehen müssen; immer aber wird es darauf ankommen, in diesen Männern nicht das Vorübergehende, ihre spezielle Leistung, sondern das Bleibende, ihre innere Gesinnung nachzuahmen.“ Als solch ein historisches Ideal, als solch ein künstlerischer Held wird uns Rembrandt empfohlen. Daher das Wort: Rembrandt als Erzieher.
Dieser niederdeutsche Künstler in seiner überquellenden, in sich abgeschlossenen Persönlichkeit, in seiner großartigen Unabhängigkeit und unwillkürlichen Volksthümlichkeit, könne mit seinem Vorbild als Gegengift dienen gegen das deutsche „Schulmeisterthum“. Nicht nachgeahmt solle er werden in seiner Kunstübung, sondern seine Kunstgesinnung solle auf die deutschen Künstler, auf die Gebildeten, das Volk Deutschlands als Beispiel wirken. Seine Kunst wie sein Charakter wüchsen von innen heraus, entwickelten sich nach den Gesetzen seiner Natur, darin sollten wir’s ihm gleich thun. „Kein Künstler hat weniger Tradition in sich wie er, und kein Volk seufzt so sehr unter der Last der Tradition wie die Deutschen; dadurch ist er im vorhinein ihr Befreier.“ Das Publicum solle neue Eigenschaften eines unentwegten Individualismus und einer unentwegten Selbsttreue an den Künstlern nicht nur dulden, es solle sie fordern; vor allem aber sollte der so ungemein knorrige Künstlerkopf Rembrandts ihm als eine Mahnung vor Augen stehen, den hohen Werth der künstlerischen Einzelseele unter allen Umständen zu beachten, zu schätzen, auszunutzen. Nicht das, was der Markt und die herrschenden Zeitströmungen von ihm verlangen, solle der Künstler schaffen, sondern das, wozu ihn sein innerstes Herz treibt; darauf beruhe sein künstlerisches Seelenheil. Daß Rembrandt dafür aber ein so hervorragendes Muster sei, erkläre sich vor allem daraus, daß seine ungebundene Individualität der erhöhte Ausdruck war des Volkscharakters, der ihn gebildet. „Starke Persönlichkeit erwächst nur aus starkem Stammesgeist und dieser nur aus starkem Volksgeist; die Betriebsamkeit, Freiheitsliebe, Gemüthstiefe, Schlichtheit des holländischen Charakters spiegelt sich in Rembrandts Werken mehr als irgendwo.“ Den provinzialen Charakter seiner Malerei stellt der Verfasser den Deutschen von heute als Muster auf. „Das edle Gefühl der Stammeseigenthümlichkeit ist den Deutschen über ihrer politischen Zersetzung vielfach abhanden gekommen; . . . damit ist ein Stück Volksthum verloren gegangen, das wieder erobert werden muß.“ Vor allem durch die Kunst. Der rechte Künstler könne nicht lokal genug sein. Den Schattirungen der Natur habe die Kunst zu folgen. Auch die Städte, Landstriche haben ihre Individualität. Eine rechte Kunst könne nur aus dem mannigfach nüancirten und doch in sich einheitlich verbundenen Volkscharakter entstehen. Jeder landschaftlichen Eigenart entspreche eine besondere Kunstübung. In den heimathlosen Millionenstädten dagegen würden Kunst und Künstler schnell verzehrt, aber selten erzeugt. „Das athemlose Jagen nach Gewinnst, welches an solchen Orten herrscht, ist höheren Interessen nicht förderlich; und eine Kunstpflege, die nur Modesache, ist nicht einmal zu wünschen; auch würde es sicher besser vermieden, daß einzelne sittliche Schattenseiten des millionenstädtischen Lebens auf künstlerischem Wege noch mehr in Umlauf kommen, als es ohnedies schon der Fall ist.“ In einem späteren Kapitel werden diese Gedanken mit direkter Beziehung auf das Berlin der Gegenwart näher ausgeführt. Der Geist kühler Nüchternheit, der hier einst in Nicolai gegen Goethe sich aufgelehnt habe, habe auch in der Reichshauptstadt von heute die Oberherrschaft. Den übermächtigen Einfluß Berlins auf das geistige und künstlerische Leben von Alldeutschland, den es durch seine politische Stellung erlangt hat, bezeichnet unser Buch daher als unheilvoll.
Es ist hier nicht der Ort, auf die Ausführung dieser nur kurz skizzirten Grundgedanken des Werkes näher einzugehen. Unsere Aufgabe war, die Ziele desselben klar und kurz zu kennzeichnen auch für solche, denen das Buch selbst zu gelehrt geschrieben ist. Dies ist es in hohem Grade. So sehr es gegen das Professorenthum zu Felde zieht, so wenig verleugnet es seinen Ursprung aus der Gelehrtenstube. Es eifert gegen die moderne Sucht, zu citiren; wenn ich aber die in ihm enthaltenen Citate auf 1000 schätze, so ist diese Schätzung gering. Es hat kein Genüge daran, den Geist des Autors klar zu entwickeln, die Form des Ausdrucks will auch „geistreich“ sein. Seine Ausführungen, daß die geistig Vornehmen im Volksthum ihren besten Rückhalt hätten, sind allzu ausschließlich für die „Vornehmen“ gedacht und geschrieben, als daß sie echt volksthümlich wirken könnten. Vor allem aber ist es der vielfach bemerkbare Kampf gegen berühmte Gelehrte von Geltung, der – an die Art Schopenhauers und Dührings erinnernd – den Rückschluß gestattet, daß der Verfasser selbst ein Mitbürger der deutschen Gelehrtenrepublik ist. Obgleich gegen den Pessimismus ankämpfend – er führt dabei das schöne Goethesche Wort an: „Es ist unbedingt ein Zeichen von Wahrheitsliebe, überall in der Welt das Gute zu sehen“ – entwirft er zu Gunsten seiner Zukunftsideen von dem Kunst- und Geistesleben der Gegenwart ein zu düster gefärbtes Bild. Namentlich unterschätzt er die Popularisirung des Wissens und der Kunst; sie ist doch erst die Voraussetzung, an die sich seine Hoffnungen knüpfen, auch die Masse des Volkes für seine Ideale zu gewinnen.
Um der großen Gesichtspunkte willen, die er aufstellt und verfolgt, sind diese vielen Abschweifungen von der Hauptsache und der Wahrheit zu bedauern. Im besonderen schwächt seine einseitige Hervorhebung der Vorzüge und Verdienste des niederdeutschen Volkscharakters – so lesens- und beachtenswerth viele dieser Aeußerungen auch sind – das großnationale Grundstreben ab, das seinen Reformplänen doch innewohnt. Diese Emsigkeit verleitet ihn sogar dazu, die Herkunft von Lessing für das niederdeutsche Friesland in Anspruch zu nehmen, ohne weiteren Anhalt, als daß die Endung „ing“ bei friesischen Familiennamen häufig sei. Ueberhaupt gestattet er sich in Bezug auf die Herkunft bedeutender Menschen die seltsamsten Sprünge. Einmal zieht er aus dem Wohnort eines Zugewanderten Schlüsse auf seinen Stammescharakter und bei anderen verfolgt er die Abkunft bis in weit zurückliegende Jahrhunderte. Obgleich er sich immer wieder genöthigt sieht, die Oberdeutschen Schiller und Goethe heranzuziehen, wenn er geschichtliche Zeugen braucht für seine begeisterten Ansichten über den Werth des individualistischen Prinzips in Kunst und Leben, so verlegt er doch die eigentliche Heimath des Individualismus nach dem deutschen Norden, nach „Niederland“.
Dies Parteinehmen ist ein großer Fehlgriff. Freuen wir uns, daß der Boden für seine Anregungen zur Belebung des hohen Kulturprinzips überall in Deutschland gut gepflegt und fruchtbar ist. Der Hauptmangel des Buchs aber ist, daß seine Forderungen nicht in Einklang gebracht sind mit den Gesetzen des technischen und politischen Fortschritts, die unserer Zeit ihren Charakter geben. Wer gegen Freizügigkeit in Sachen der Bildung eifert, wer den unnennbaren Gewinn nicht einsieht, den all die Errungenschaften moderner Verkehrsentwickelung dem Leben, der Kunst wie der Wissenschaft bringen, der steht der Gegenwart – trotz allen wohlbegründeten Reformdranges – in vielem als Romantiker gegenüber. Auch die Freizügigkeit, die Verkehrsfreiheit werden dem von innen heraus schaffenden Künstler zugute kommen. Büßte die Individualität Dürers etwas ein, weil er nach Italien und nach Holland zog? Oder gewann sie dadurch nicht vielmehr erst recht an Kraft und Klarheit wie an Einsicht in die eigenen Ziele? Wir halten’s in dieser Beziehung mit Gottfried Keller, dem oberdeutschen Dichter, der aber von sich selbst gesagt hat, daß seine Entwickelung ohne seinen Aufenthalt und seine Reisen in [386] Norddeutschland nicht zu denken sei. Als bei Beginn des Eisenbahnwesens Justinus Kerner im „Stuttgarter Morgenblatt“ ein Klagelied hatte ertönen lassen über die Gefahren, welche der Poesie vom Zeitalter des Dampfes drohen, da fand der starke Geist des Zürichers die folgende zukunftsfrohe Entgegnung:
„Was deine alten Pergamente
Von tollem Zauber kund dir thun,
Das seh ich durch die Elemente
In Geistes Dienst verwirklicht nun.
Ich seh’ sie keuchend glüh’n und sprühen,
Stahlschimmernd bauen Land und Stadt,
Indeß das Menschenkind zu blühen
Und singen wieder Muße hat.
Und wenn vielleicht in hundert Jahren
Ein Luftschiff hoch mit Griechenwein
Durch’s Morgenroth käm’ hergefahren –
Wer mochte da nicht Fährmann sein?
Dann bög’ ich mich, ein sel’ger Zecher,
Wohl über Bord, von Kränzen schwer,
Und gösse langsam meinen Becher
Hinab in das verlass’ne Meer.“
Der echte Individualismus braucht keinen Kulturfortschritt zu fürchten; er wird vielmehr jeden stets seinen eignen Zwecken nutzbar zu machen wissen. Er bedarf nicht der Spaltung in Oberdeutsch und Niederdeutsch; „das ganze Deutschland soll es sein“, heißt es auch hier.
- ↑ „Rembrandt als Erzieher.“ Von einem Deutschen. Leipzig, Verlag von C. L. Hirschfeld. 1890.