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Die Gartenlaube (1892)/Heft 26

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1892
Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[805]

Halbheft 26.   1892.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahrgang 1892. Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf. alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.




 Weltweihnacht.

Erloschen ist der Kerzen Glanz und Schimmer,
In stille Nacht zerfloß der lichte Traum,
Nur leichter Wachsduft füllet noch das Zimmer,
Und Harzgerüche haucht der dunkle Baum. –
Halb offen steht die Thüre – draußen Lachen,
Der frischen Kinderstimmen heller Klang,
Licht, Lärm und Jubel um die Siebensachen:
Der Weihnachtswonne trauter Nachgesang!

O Kinderlust! Sie trinkt in vollen Zügen
Die reine Freude, die vom Himmel sank:
Ein jeder Laut ist fröhliches Genügen,
Und jedes Lachen klingt wie heißer Dank!
Ich lausche still … da fällt mein Blick durchs Fenster,
Und über weiße Dächer schweift er hin;
Hoch in der Luft, wie jagende Gespenster,
Seh’ ich ein graues Heer von Wolken ziehn.

Wo liegt das tiefe Meer, dem sie entstiegen,
von dunklem Drang gehoben und erfüllt?
Wo winkt das Ziel, dem sie entgegenfliegen,
Das all’ ihr Hasten und ihr Sehnen stillt?
Sie stoßen sich in wechselnden Gestalten,
Wie Formen wächst es aus dem trüben Schwarm:
Ein nackter Leib hier, dort Gewand und Falten,
Und hier ein Haupt, dort ein gestreckter Arm …

Es scheint, als hätten sie Gefühl und Leben!
Nicht aus der Ferne nachtumfloß’nem Schoß,
Nein … aus den Dächern scheinen sie zu schweben,
Bald scheu und klein, bald kühn und riesengroß.
Sie jagen, wirbeln, alle Himmelsräume
Erfüllt ihr Schwall, gleichwie in Streit und Schlacht:
Das sind des Lebens wilde Weihnachtsträume,
Die ungestillten Wünsche dieser Nacht!

Es kann der Blick sie alle nicht erfassen!
Wer will sie zählen, die wie Sand am Meer!
Mit jedem Herzschlag in erneuten Massen
Erstehen sie und sammeln sich zum Heer!
Im Fürstenhaus wie in des Bettlers Hube
Schläft die Begierde nie, sie wacht und brennt …
Ach, in des Lebens großer Kinderstube
Hat Wunsch und Sehnen nimmer Ziel und End’!

Mit beiden Händen will ein jeder greifen:
Nach Lust und Glanz, nach Früchten, süß und roth,
Nach stillem Glück, nach Ruhm, nach gold’nen Reifen,
Nach hohlem Tand, nach einer Rinde Brot!
Und hat der eine, was er sucht, gefunden,
Dann regt sich in dem andern schon der Neid,
Es tobt der Kampf, es rinnt das Blut aus Wunden,
Und nimmer ruhen will der Haß und Streit!

Weltweihnacht, komme! Komm’, um zu vereinen,
Was blutend sich im Kampf des Lebens trennt!
Laß deinen Engel bald dem Kind erscheinen,
Dem großen Kinde, das sich „Menschheit“ nennt!
Deck’ deinen Tisch, zünd’ abertausend Kerzen,
Mit Licht und Glanz erfüll’ den dunklen Raum,
Berühr’ mit heil’gem Zweig der Menschen Herzen
Und führe sie zum reichbehängten Baum!

Laß Liebe blühen, Hand in Hand sich fügen,
Reich’ jedem Wunsch die Gabe lächelnd hin,
In jeden Busen lege das Genügen
Und unter jede Stirne reinen Sinn!
von Land zu Land laß deinen Frieden wallen,
Mit grüner Palme wehre jedem Streit …
Und aus vereinten Kehlen soll erschallen
Das Jubellied der neugebornen Zeit.

 Ludwig Ganghofer.


[806]
Nach Jahren.
Eine Weihnachtsgeschichte von Julie Ludwig.
Mit Zeichnungen von W. Claudius.

„Herr Rechtsanwalt Stetten ist im Salon?“

Die Frage war an das durch und durch verblüffte Dienstmädchen gerichtet. Es hatte eben den Bescheid gegeben, daß der Herr Rechtsanwalt am Heiligen Abend nicht zu sprechen sei, und sah nun staunend mit den runden Augen auf den Fremden, der, statt sich mit landesüblicher Höflichkeit wieder zu empfehlen, zwei, drei Schritte – und was für Schritte! – längs des frischgescheuerten, nach gehackten Tannenreisern duftenden Flurs vorwärts that. Er mußte, zurückblickend, seine Frage wiederholen, ehe ein langgedehntes „Ja“ als Antwort kam, dem jedoch sehr rasch ein „Aber“ folgte.

„Ja … aber niemand darf hinein?“ vollendete er lachend, und das schüchterne Landkind athmete wie erleichtert auf; das Lachen rückte ihr den seltsamen Besucher menschlich näher.

„Die Herrschaft ist nämlich gerade beim Aufbauen der Bescherung.“

Er nickte stumm.

Familienabend also – lästig! Doch Gott mochte wissen, wann er wieder durch das Städtchen kam, und der Franz, der unzertrennliche Kamerad von früher – er war ein so guter Kerl! Warum nicht seine Frau und Kinder und die ganze Familienherrlichkeit in Kauf nehmen!

„Wohl, ich warte,“ sagte er entschlossen. „Stören Sie den Herrn nicht! Wenn er herauskommt, geben Sie ihm hier die Karte!“

Mit diesen Worten wandte er sich nach der Thür, die in das Arbeits- und Empfangszimmer des Hausherrn führte, öffnete sie und trat hinein mit einer Sicherheit, als ob er täglich und stündlich hier verkehre. Das Mädchen sah noch, wie er ungeniert Pelz und Reisemütze ablegte und sich in den alten mächtigen Großvaterstuhl am Fenster warf, dann schloß sie kopfschüttelnd die Thür hinter ihm und begab sich in ihr eigenes Reich, die Küche. –

Etwas Kurzgefaßtes, Strammes und doch wieder lässig Vornehmes lag in der Art, wie der Fremde, jetzt halb im Sessel aufgerichtet, den Kopf zurückwarf und den Blick erst längs der Bücherwände, dann durch das Fenster ins Freie gleiten ließ. Aehnliche Gegensätze, zu einer trotzdem einheitlichen Eigenart vereinigt, zeigte das Gesicht, dem man es ansah, daß sich seine Linien erst unter manchem Sturme gefestigt hatten. Auch die Augen hatten es offenbar erst lernen müssen, scharf und konzentriert zu blicken – aber sie hatten es gelernt. Nur manchmal brach ein Schimmer wie aus einer halbvergessenen Traumwelt unter den Lidern vor und verwandelte den ganzen Mann. Freilich kaum auf flüchtige Minuten. Ein leichter Strich der sehnigen gebräunten Hände durch das kurzgeschnittene Blondhaar, ein spöttisches Aufzucken um die Lippen, und die „sentimentale Anwandlung“ war verscheucht – bis ein unbeaufsichtigter Gedankengang sie wieder neu hervorrief.

Draußen fiel der Schnee in weichen Flocken. „Deutsche Weihnacht!“ murmelte er, und wieder wollte sich das böse Lächeln zeigen, aber es erstarb auf halbem Wege. Der Tanz der kleinen, weißen Sterne vor dem Fenster, ihr feierlich lautloses Durcheinanderschweben, die milde Wärme des Zimmers in Verbindung mit der geordneten anheimelnden Umgebung – das alles wirkte seltsam willenlähmend auf die reisemüden Sinne. Die Füße streckten sich, der Kopf sank in die aufgestützte Hand und die Phantasie wob ungehindert ihre bunten Bilder auf dem weißen Grunde einer deutschen Weihnacht.

Ja, er hatte manchmal schon das Fest begangen seit der Zeit, da ihm der letzte thüringer Christbaum mit seinen rothen Aepfeln und goldenen Nüssen, mit den langen Ketten funkelnder Glaskugeln und den schimmernden Lichtchen in das heiße Abschiedsweh hineingeleuchtet hatte! Das neue Jahr sah ihn im Sturm auf hoher See; die Lichter hatten sich in zahllose durcheinanderzuckende Blitze verwandelt, der Donner brüllte und die Flüche der schwer arbeitenden Matrosen hallten statt des frommen Weihnachtsliedes, das ihn damals – aus geliebtem Mund – so tief erschüttert hatte.

„Stille Nacht, heilige Nacht!“ – er hat die Weise lange nicht vergessen. Auf dem Marsche, unter den Gluthen der afrikanischen Sonne, von den vergifteten Pfeilen der Eingeborenen umschwirrt, hat sein verwirrtes Hirn sie festgehalten, haben die ausgetrockneten Lippen sie gesummt, unablässig, bis ein Geräusch wie das Brausen eines nahen Kataraktes sie in sich hineinschlang und schwarze Finsterniß den Geist umfing. Wäre er doch in jener Weihnachtsnacht gestorben, als er den tropisch blitzenden Sternenhimmel im Fieberwahn für jenen letzten heimathlichen Christbaum ansah! Das Kreuz des Südens hätte über seinem einsamen Grab geleuchtet, und die Kunde seines Todes – „ein neues Opfer deutscher Pflichttreue im Dunklen Erdtheil“ würde es geheißen haben – hätte vielleicht im fernen Vaterland – ein deutsches Mädchenherz –

Ah bah! Das lohnte sich, darum zu sterben! Süß ist das Leben … Eine andere Weihnacht unter Palmen! Die Luft ist voll von Duft, von Sang und Klang. Gluthäugige schmiegsame Gestalten schweben vor ihm dahin, leuchtenden Blumenschmuck um Haupt und Brust, ein Diadem von funkelnden Leuchtkäfern in den schwarzen Haaren. Das lacht und winkt, neigt und wendet sich – anmuthig, lockend schlingen sie den Reigen. Alles ist Lust, ist Süßigkeit, Feuer – sinnverwirrend, und –

„Langweilig! Unerträglich – dieses Warten!“ rief der junge Mann, indem er in die Höhe sprang, sich dehnend und streckend. Hatte er geschlafen? Da saß er hier, verträumt, vergessen. Warum nur? Um den bedächtigen Freund – ja wohl, er hatte früh schon Anlage zum Philister, dieser gute Franz – in seinen kindisch-wichtigen Geschäften nicht zu stören? Lächerlich! Er zog die Uhr, verglich sie mit der Wanduhr. Wenn er heute noch weiter wollte –

Ah! da kam man – „Franz!“

Vorspringend, mit der Rechten schon am Thürschloß, rief er es, trat dann aber unwillkürlich wieder einen Schritt zurück. Er fühlte, wie ihm plötzlich alles Blut zum Herzen drang. Seltsam! War er denn wirklich noch einer solchen Erregung fähig beim Wiedersehen eines alten Freundes?

Aber – das waren ja gar keine Mannestritte, das war das hastige ungleichartige Getrippel jugendlicher Füßchen, das sich draußen auf dem Vorplatz hörbar machte. Man klopfte Schnee ab, Schlittschuhe klirrten, Stimmen und Stimmchen sprachen durcheinander. Es mußten die Kinder sein, die nach Hause kamen; deshalb also war es bis jetzt bei „Rechtsanwalts“ so still gewesen!

Unmuthig warf er sich von neuem in den Sessel. Er hatte keine Lust, den Kindern zuerst zu begegnen. Was ließ sich mit solch unfertigen Geschöpfchen, solch kleinen anspruchsvollen Zukunftsmenschen reden? Hoffentlich [807] respektierten sie ihrerseits des Vaters Arbeitsstube und kamen nicht hierher!

Nein, sie kamen nicht, aber dicht nebenan ward eine Thüre geöffnet, und, dank der dünnen Wand – es war offenbar nur eine eingezogene Tapetenwand – vernahm er deutlich, wie die Gesellschaft sich drüben niederließ.

Nun, das mochte hübsch werden, wenn man ihn entdeckte. Dann zeigte man ihn natürlich mit Hallo als fremdes Wunderthier dem ganzen Hause vor – ihn, der dem Freunde nur einmal wieder in die alten guten Augen hätte sehen und am liebsten mit einem kurzen stummen Händedruck wieder hätte gehen mögen!

Aber wie? War nicht eben dieses Verlangen auch ein Stückchen deutscher Sentimentalität? Gewiß! Und die Strafe folgte auf dem Fuße. Nur daß sie nicht so hart war, wie er gefürchtet. Diese Kinderstimmen – durchaus nicht unharmonisch! dachte er. Just so, wie wenn zwei feine Glöckchen ineinanderspielen, während ein drittes tieferes den Grundton angiebt. Bruder und Schwestern also!

Uebrigens – die Kinder waren nicht allein! Er rückte unwillkürlich mit dem Stuhle von der Wand ab, so nah und unvermittelt schlug plötzlich eine weiche Frauenstimme an sein Ohr. Dabei war etwas in dem Klänge, dem Tonfall, das ihn wie elektrisiert aufhorchen ließ – doch im nächsten Augenblick verspottete er sich selbst. Er hatte eben lange weder deutsche Kinder, noch deutsche junge Damen reden hören, und die letzteren mochten sich hier zu Lande wohl sämmtlich in der Stimme ähneln, schon der Mundart wegen, die auch von den Gebildeten gesprochen wurde.

Freilich, in dieser fast unmerklichcn Weise, wie der Dialekt hier herausklang, hatte er es – damals – nur von Einer gehört. Tempi passati! Eine Handbewegung, wie wenn man ein ungeschicktes Wort von der Tafel fortstreicht, sollte wohl die lästige Erinnerung verscheuchen, die Erinnerung an Eine, die – nun die natürlich heute im eigenen Hause ihren eigenen Sprößlingen bescherte!

„Disttindchen düben bei Mama?“ erklang eben das dünnste Glöckchen, worauf das zweite etwas kräftiger einfiel: „Gistgindchen?“ das dritte aber ließ sich vorwurfsvoll vernehmen: „Chr–istk–ind müßt Ihr sagen. – Tante, ist das Christkind wirklich drüben?“ Es war offenbar der Knabe, der jetzt fragte, und: „Ja! Doch wenn Ihr hier so laut seid, fliegt es weiter,“ antwortete die „Tante“, deren Platz dem des Hörers ängstlich nahe sein mußte.

„Was macht es denn da drüben, Tante? – Tante!“ Diese mochte dem kleinen Fragesteller nicht recht bei der Sache scheinen.

„Was? Nun Ihr wißt doch, daß es all die hübschen Sachen bringt, die Ihr hernach bekommt. Es muß sich nur erst mit Papa und Mama bereden.“

„Worüber?“

„Vermuthlich, wer von Euch das Artigste gewesen ist.“

„Sooo – Wie lang’ das wohl dauert?“

„Weiß ich’s? Was lange währt, wird gut,“ scherzte die Frauenstimme, die merkwürdig weich klang.

„Das halte ich nicht aus,“ versicherte der kleine Mann, halb weinerlich, halb trotzig.

„Wirst’s schon aushalten, wenn ich etwas erzähle. Kleiner Hans, komm’ her!“

„Nein, wenn Du ‚kleiner‘ sagst – –“

Hier mußte der Zuhörer wider Willen lächeln. Der selbstbewußte Namensvetter – wohl sein Pathenkind – fing an, ihn lebhafter zu interessieren. Auch ertappte er sich auf einer Art von Neugier, zu erfahren, welche der beiden Schwestern der Frau Rechtsanwalt – „damals“ waren diese selbst noch Kinder – die „Tante“ nebenan war, Elli oder Nelli. – –

„Also – großer Hans, komm’ her, ich werde Euch erzählen.“

„Aber nicht vom Christkind – erzähl’ ’mal von dem Ritter, weißt Du, der alle seine Feinde totschlug, bis auf den einen, der hernach sein bester Freund wurde – – bitte, Tante, liebes Tantchen!“

„Laß mich, Du Wilder! Du erstickst mich ja mit Deinen Küssen!“

„Du sollst auch ersticken, wenn Du nicht von dem Ritter erzählst.“

„Heut’ ist Weihnachtsabend, da spricht man nicht von Mord und Totschlag.“

„Nun, dann erzähl’ vom – vom Onkel Hans, weißt Du, von dem, der zu den Schwarzen ging, weil – weil –“

„Weil ihm die weißen Leute hier nicht mehr gefielen,“ half die Tante nach.

Der Fremde horchte unwillkürlich höher auf.

„Und kommt er niemals wieder, Tante?“

„Nein, dem gefällt es dort zu gut. Du weißt doch, was Papa uns einmal aus der Zeitung vorgelesen hat, wie gut ihm alles ausgeht, was er unternimmt! Der wird ein mächtiger berühmter Mann und –“

„Heijathet die Pinzessin und wird Tönig,“ verkündete die jüngste Schwester triumphierend.

„K–önig!“ rief Hans. „Wirst Du’s denn niemals merken, wie man die Worte ausspricht? – König – von – von …“ wiederholte er halb fragend.

„Afrika,“ fiel die ältere der Schwestern ein. – –

Einen Augenblick lang blieb drüben alles still. Ob die Tante wohl lächelte, spöttisch natürlich, fragte sich der Fremde, der aus einem unfreiwilligen Zuhörer nun doch ein freiwilliger geworden war.

„Du, zu dem geh’ ich, wenn ich einmal groß bin – ganz groß,“ verbesserte sich der Sprecher sehr rasch.

„Ja, geh’ nur! Jetzt aber laß die Schwestern auch ’mal an das Fenster! Seht Ihr das kleine goldene Wölkchen dort am Himmel? Dorthin ist das Christkind eben geflogen. Warum habt Ihr nicht besser aufgepaßt!“

„Ah!“

Man hörte, wie die kleine Schar sich zusammendrängte, und auch der junge Mann wandte mit einer langsamen, träumerischen Bewegung Kopf und Auge dem Fenster zu. Das Schneien hatte aufgehört. Der Himmel hatte sich gelichtet, aber die kurze Wintersonne war verschwunden, ohne daß er ihren Untergang beachtet hatte. War es das kindliche Geschwätz gewesen, das ihn der Außenwelt entrückt hatte, oder war es nur die weiche Frauenstimme?

Ja, diese Aehnlichkeit der Stimme! – Wie deutlich sie ihm jene einzige Gestalt, jenes liebliche durchgeistigte Gesicht wieder vor die Seele gezaubert hatte! Die seelenvollen dunklen Augen, die so viel versprochen und nichts – gehalten; der Mund, die zartgeformten Mädchenlippen, die alle Seligkeit und Süßigkeit der Liebe ihm verheißen und dann, als es die Entscheidung galt, doch nur kühle förmliche Worte für ihn gefunden hatten, Worte, die sein ganzes Hoffen vernichteten –

Doch nein, sie hatten nichts vernichtet, sie hatten ihn zu dem gemacht, was er seitdem geworden war: zum Manne.

[808]

Weihnachtstreiben auf dem Bahnhofe.
Originalzeichnung von W. Gause.

[809] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [810] Ein heißes Erröthen ging über sein Gesicht, als er des jungen, romantisch angehauchten Lieutenants gedachte, der vor Jahren seinen letzten Weihnachtsurlaub in diesem Hause verlebte, in das ihn nun gerade heute der Zufall –

Der Zufall? Hans, großer Hans, hast du da draußen auch gelernt, zu lügen?

Wer hatte ihm den Reiseweg vorgezeichnet, der ihn gerade heute durch dieses Städtchen führte? Wer und wo erwartete man ihn so dringend? Auf seinem Gute mit dem einsamen Herrenhaus? Er hatte seine Ankunft nicht gemeldet, und, schwerlich würden sich selbst in diesem Falle der mürrische Inspektor und die bequeme „Gutsmamsell“ zu irgend welchen Empfangsfeierlichkeiten verstanden haben. Hatte sich doch auch ihr wunderlicher alter Herr, so lange er lebte, nie um den armen jungen Mann gekümmert, trotzdem er sein einziger Verwandter war! Daß Hans nach seinem Tod sein Erbe wurde, war keinem überraschender gekommen als diesem selbst. Keinem aber auch gelegener – hatte er nun doch einen Grund gehabt, in die alte Heimath zurückzukehren.

Heimath!

Alle Glocken seiner Jugend hatten in dem einen Wort zusammengeklungen. Und daß er sie nun wiedersah im Winterschmuck, im weißen Feierkleid der Weihnachtszeit! „O Weihnacht! Deutsche Weihnacht!“

Hans schüttelte den Kopf und blickte hinaus. Die von Millionen Kinderherzen herbeigesehnte Dämmerung war da, nur noch im Westen schimmerte ein leiser Strahl des geschiedenen Tages. Ihm dünkte, daß es seine Kindheit wäre, seine Jugend, das Glück, das ihm einmal gewinkt und das er nicht errungen hatte.

In diesem Augenblick endete die kurze Stille, die im Nebenzimmer eingetreten und nur gelegentlich durch ein entzücktes leises „Ah!“ oder ein: „Duck ’mal!“ unterbrochen worden war. Drüben wurde lebhaft eine Thür aufgerissen und eine helle Frauenstimme rief in das Zimmer:

Hier find’ ich Euch? Seid wohl schon längst wieder da und habt inzwischen die Tante wieder recht gequält?“

„Mama! Mama! Ist’s fertig? Dürfen wir jetzt kommen?“

„Bewahre, Kinder! Aber werft mich nur nicht um! Erst wollen wir zusammen Kaffee trinken. Inzwischen wird es richtig Nacht, und dann – –“

„Hurra, erst Kaffee trinken – dann kann’s losgehn!“

„Ja! Aber nun geschwind ins Wohnzimmer! Papa sitzt schon am Tisch, der schenkt Euch ein.“

Im Handumdrehen war die kleine Schar davongestoben, und Hans hörte, wie „Mama“ zu „Tante“ trat.

„Kann man Dich endlich allein haben, ohne diese Kletten?“ rief sie mit einem Seufzer komischer Erleichterung, um dann ernster fortzufahren: „Den ganzen Tag geh’ ich um Dich herum – ich wollte Dich fragen, ob Du es erlaubst, daß wir den Doktor – er wäre so glücklich, wenn –“

„Ihr habt ihn eingeladen?“

„Nicht doch, und wenn Du es nicht willst, geschieht’s auch nicht. Obschon er einen dauert – so allein am Weihnachtsabend. Und Du, ein Mädchen, so geschaffen, einen Mann glücklich zu machen –“

„Als ob wir nur dazu da wären!“

„Nein, das sind wir nicht – aber sieh, der Doktor –“

„Lucie!“

Es war etwas schmerzlich Vorwurfsvolles in dem Ausruf, das den Hörer wunderlich bewegte; die Sprecherin jedoch fuhr munter fort:

„Nun ja, ich bin schon still, still wie ein Fisch. Obgleich ich Dich nicht begreife. Sag’ mir nur, auf wen Du wartest. Sitzest Du nicht hier wie weiland Frau Penelope inmitten ihrer Freier? Was gilt’s, Du hast auch einen Schwur gethan wie jene vielgerühmte Mustergattin des durchaus nicht immer musterhaften Herumstreichers! Wie Du roth wirst! Hab’ ich’s errathen? Und da ist ja auch die ewige grüne Börse, die nie fertig wird, so oft Du auch vor Weihnachten daran häkelst oder so thust, als ob Du daran häkeltest – – was hat’s denn für eine Bewandtniß mit dem Ungethüm?“

„Lucie!“

„Wie, Thränen? Nicht dran rühren? Das wird ernsthaft! So steckt hier wirklich etwas dahinter? Etwas, was Dich unglücklich macht? Denn Du magst sagen, was Du willst – glücklich bist Du nicht. Oder hältst Du mich für so – so oberflächlich, daß ich das nicht merken sollte? Und hast Du denn gar kein Vertrauen zu mir? Bin ich nicht Deine treueste und beste Freundin?“

„Die einzige! Ach, wenn ich Euch nicht hätte, Dich und die Kinder –“.

„Hab’ nur ’mal eigene! Aber sprich, was ist’s eigentlich mit dieser Häkelei?“

„Lach’ mich nicht aus … vor Weihnachten such’ ich mir jedesmal die Arbeit, will sie fertig machen, an irgend wen verschenken, und – kann es nicht, weil sie – nein, nicht sowohl die Arbeit als der kleine Seidenrest auf dem Karton – er ist – so eine Art von Andenken an – doch horch! Dein Mann ist drüben in der Stube!“

„Mein Mann in seiner Stube? Heut’ am Weihnachtsabend? Denkt nicht dran, den lassen schon die Kinder nicht los! So, so – ein Andenken? An wen denn, Serena?“

Hans, der schon seit mehreren Minuten, die Hände krampfhaft um die Armlehnen geklammert, in fieberhafter Erregung dagesessen hatte, sprang bei der Nennung dieses Namens mit einem halb erstickten Ausruf in die Höhe. Schon bei Erwähnung der grünen Börse hatte es in seinen dunklen Zügen gezuckt, jetzt stand er und starrte wie ein Trunkener auf die Tapete, hinter der die beiden Stimmen weiter sprachen.

Im nächsten Augenblick besann er sich, daß er schon längst seinen Lauscherposten hätte verlassen müssen, daß er nicht länger zaudern dürfe, wollte er nicht alles Zartgefühl verleugnen. Und hoch aufathmend eilte er aus dem Zimmer. Er wußte, wo der Freund zu finden war, nun mußte er eine Unterredung mit ihm haben – einerlei, ob auch seine ganze Weihnachtsordnung darüber umgeworfen wurde.

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Es war ein schmales einfenstriges Kabinett, zu Wartezwecken für bevorzugte Klienten von dem größeren Empfangsraum abgetheilt, in dem die beiden Freundinnen jetzt unwillkürlich leiser miteinander sprachen.

„Aber allen Ernstes, Lucie, das waren Männerschritte.“

„Ach was, das war die Christel, die nach mir gesucht haben wird. Lassen wir sie suchen! Du sinnst auf Ausflüchte, um meinen Fragen auszuweichen, aber diesmal gelingt Dir’s nicht. Also heraus damit – wem gilt dieses Andenken?“

„Einem, der nicht mehr an mich denkt, wenn er es überhaupt je gethan hat. Er – – nun kurz: es war einen Tag vor Weihnachten. Die Börse sollte zu dem Fest noch fertig werden. Da kam er, saß mir gegenüber – lange, lange. Ich holte mir das letzte Strähnchen Seide und hielt es, während er den Faden aufwand. Und dabei – ach Lucie, dabei hab’ ich meinen Traum von Glück geträumt, der – ein Traum geblieben ist.“

„Saht ihr Euch wieder?“

„Einmal.“

„Wann und wo?“

„Hier war’s, bei – Euch. Am Weihnachtsabend vor fünf Jahren.“

„Ah – also doch!“ Frau Lucie trat unwillkürlich einen [811] Schritt zurück. „Wir hatten Euer Einverständniß angenommen und uns gefreut – wie sehr! Aber als Ihr Euch dann unter unserem Christbaum gegenüberstandet, so fremd und kalt, da habt Ihr’s verstanden, Euere wärmsten Helfer zu ernüchtern. Und nun ist’s doch gewesen, wie wir dachten – doch!“ Sie klopfte mit den Spitzen ihrer Füße heftig auf den Boden.

Zwei schlanke Mädchenhände streckten sich wie beschwörend gegen die erregte Hausfrau. „Lucie! Wenn er nichts sagte, konnte ich es dann?“

„Nein – aber Du konntest Deine Gefühle soweit zeigen, daß ein feines Empfinden – und das hatte er – die Wahrheit errathen hätte. O, die Geschichte ist zu toll! Da ist ein junges Mädchen, unabhängig, schön, reich, liebend und geliebt … und läßt aus falscher Zurückhaltung den Geliebten übers Weltmeer ziehen, wo die Gefahr ihn tausendfach umlauert, ja wo schon das Klima – – Aber was kommt Ihr denn schon wieder, Kinder?“ rief Frau Lucie, deren schmerzliche Empörung beim Anblick der kleinen Störenfriede in einen gesunden Aerger überging.

„Tante! Mama! Der Papa hat Besuch!“

„Den Weihnachtsmann!“ versicherten die Mädchen.

Die Mutter schüttelte unwillig den Kopf. „Der Doktor? Sollte er ohne Einladung gekommen sein?“

„Nein, nicht der Onkel Doktor,“ sagte Hans. „Die Stimme war ganz anders, die war so –“ Er suchte offenbar nach einem passenden Vergleich, ohne ihn in seiner Aufregung zu finden.

Nun wurde doch auch in Frau Lucie die Neugier wach.

„Habt Ihr den Mann gesehen?“

Nein, niemand hatte ihn gesehen. Es hatte an der Thüre des Wohnzimmers „detlopft“ –

„G-ek-lopft, tüchtig geklopft,“ schrie Hans, als ob er zeigen wollte, daß er wieder in dem glücklichen Besitze seiner Stimme sei.

„Ohne daß vorher die Flurglocke geläutet wurde?“

Nein, niemand hatte vorher läuten hören. Der Rechtsanwalt war auf das Klopfen schnell hinausgegangen. Die Kinder hatten einen lauten Ausruf des Papas, dann ein rasches Hin und Her von Fragen und Antworten gehört – „aber kein Wort verstanden!“ murrte Hans dazwischen – und dann, dann hatte der Papa den Kopf, der „danz, danz roth“ war, wieder durch die Thürspalte hereingesteckt und gesagt. „Kinder, ich hab’ Besuch. Geht zur Mama!“ und war mit dem Besuch in den Salon gegangen.

In den Salon? Mit einem Fremden? Jetzt wo man den Baum anzünden, bescheren wollte? Die kleine sonst so entschlossene Frau stand einen Augenblick rathlos da und blickte nach der Freundin, wortlos fragend, was die zu dieser Störung sage.

Aber diese sagte nichts. Sie hatte von dem allem kaum etwas verstanden. Ihre Augen sahen nicht, was um sie vorging. Der deutsche Winterabend war für sie verschwunden. Vor ihren Augen leuchtete die rothe Wüstensonne, die auf dürres Erdreich, auf Züge ausgehungerter, erschöpft zusammenbrechender Gestalten brannte. Und dorthin hätte sie ihn geschickt? Wenn er nun dort unterging – –

„Serena!“

Es war der Freundin Stimme, die bittend neben ihr erklang.

„Serena, willst Du die Kinder nicht noch einen Augenblick bei Dir behalten? Ich muß hinüber, nachsehen, welche Störung – – nicht doch: dem Christkind helfen, daß es fertig wird. Hans, willst Du wohl hierher! Seid Ihr denn sämmtlich aus dem Häuschen? Husch! Husch!“ Damit trieb Frau Lucie ihre Sprößlinge vom Vorplatz wieder in das Zimmer, schloß die Thüre ab und ließ die also Eingefangenen im Dunkeln.

O diese kurze liebliche Gefangenschaft, diese Dunkelheit, in die der Glanz der seligsten Erwartung, der Vorschimmer all der Herrlichkeiten leuchtet, die jetzt das Christkind „drüben“ vorbereitet! Soweit ab von der Welt der Kinder die Gedanken des Mädchens eben noch waren, es ward ihr warm ums Herz, als die kleinen Hände tastend nach ihr faßten. Weiche Aermchen schlangen sich um ihren Hals, zwei Köpfchen schmiegten sich an ihre Schulter. Und als selbst Hans in ungewohnter Weichheit – die Dunkelheit ist eine gute Bändigerin der Wilden – seine Wange an ihre Brust legte, ihr anvertrauend, daß er durch das Schlüsselloch einen weißbehelmten Neger gesehen habe, einen von den neuen Zinnsoldaten, als nun auch die Kleinen mit heimlichem Gewisper und Gekicher ihre hochgespannten Erwartungen verriethen, als all die frischen Lippen, stammelnd und flüsternd, ihr so nahe waren, all das weiche warme junge Leben sich so vertrauend an sie drängte, da fühlte sie sich plötzlich süß durchschauert, wie von der Ahnung eines großen Glücks.


*               *
*


Die Kleinen hatten recht gehabt: es war der richtige Weihnachtsmann, den der Heilige Abend bei Rechtsanwalts im wahren Sinne des Wortes hereingeschneit hatte. Einer schöneren Christbescherung wußten sich Eltern und Kinder jetzt und später nicht zu erinnern. Nur etwas länger hatte man dieses Mal auf den ersehnten Ruf der Klingel warten müssen.

Und doch waren es sechs Hände statt der gewohnten vier, die sich mit dem Anzünden des Weihnachtsbaumes beschäftigten. Aber wer zugesehen hätte, wie oft der Hausherr zwischenhinein den Gast umarmte, ihn dann wieder von sich abhielt um ihn schmunzelnd zu betrachten, wer mit angehört hätte, wieviel Frau Luciens hübscher Sprudelmund zu fragen, zu berichten und immer [812] wieder neu zu fragen hatte, der würde sich gewundert haben, daß die drei Leutchen überhaupt nur fertig wurden.

Aber schließlich stand er da, ein Prachtbaum unter allen Weihnachtsbäumen – darauf hielt der Rechtsanwalt von jeher – flimmernd im Strahl seiner hundert Lichter vom breitverzweigten unteren Geäste bis zu dem Weihnachtsengel auf der Spitze, der scheinbar aus der hohen Decke niederschwebte. Fast blendend schimmerte die lange Tafel in dem schneeigen Damastgedeck, dem Stolz der Hausfrau. Und darauf blinkte, blitzte, strahlte im Glanz der Neuheit, was von den Träumen dreier Kinderseelen Wirklichkeit geworden war. Hier Puppen, Puppenwagen, Puppenstube – Wunderwerke für die Phantasie der Kleinen, eine farbenbunte kleine Schönheitswelt für sich; dort das Ideal des Knaben: Manneswaffen! Wie er funkelte, der „Damascener“-Säbel! Wie der Beschlag der Armbrust blitzte! Wie prächtig die schwarz-weiß-rothe Fahne sich entfaltete inmitten der in einem Palmenhaine aufgestellten weißen Zeltstadt! Wie stramm die schwarze Kompagnie dort exerzierte!

Und jetzt – jetzt war er da, der athemraubende, der große, heißersehnte Augenblick! Die Flügelthüre, der Eingang in den Himmel, that sich auf, und drinnen war der Himmel – der halberstickte Laut der Ueberraschung, dem ein plötzliches Verstummen folgte, kündete das Uebermaß der Seligkeit. Die Kinder, vorwärts stürzend, standen wieder, vom der großen Lichtwelle geblendet, die so unvermuthet auf sie eindrang, wortlos nach den Herrlichkeiten starrend, bis der Bann des ersten überwältigenden Eindrucks sich löste, um jenem grenzenlosen Jubel Platz zu machen, der für Eltern die herrlichste Musik auf dieser Erde ist. Und nun ein Trippeln, Hüpfen, Tanzen kleiner Füße, ein Aufflattern der kleinen Arme am Hals des Vaters und der Mutter, ein Deuten, Zeigen, zitterndes Betasten und schließlich ein leidenschaftliches Herunterholen der Geschenke – ein Rufen, Fragen, Durcheinanderreden – – kein Wunder, daß die Eltern nur noch Augen und Ohren für die glückliche kleine Schar hatten.

Ihre beiden Gäste hätten sich jetzt ihretwegen ebensogut auf irgend einem ausgebrannten Mondkrater begegnen können, anstatt daß sie sich plötzlich hier im Glanz und Jubel einer deutschen Weihnacht gegenüberstanden.

Ein Wiedersehen nach fünf Jahren!

Da stand sie, hoch und schlank, eine gewinnende liebliche Erscheinung in dem lichtgrauen Kleid, das sich in weichen Falten um sie schmiegte. In der offenen Thüre vor dem dunklen Hintergrund des Nebenzimmers stehend, vom vollen Licht des Christbaums angestrahlt, war Serena in ihrer plötzlichen Bewegungslosigkeit wie ein eigenartig schönes Bild zu sehen.

Aber nein! sie war es selbst, die Nievergessene, nur schöner noch in ihrer tiefen Blässe, aus der die dunklen Augen erschrocken, fragend, zweifelnd nach ihm hinstarrten, bis sie erst in jäher seliger Gewißheit aufleuchteten und sich dann verwirrt zu Boden senkten.

Freudestrahlend, in übermächtiger Bewegung eilte er mit ausgestreckten Händen auf sie zu, aber – mit stummer Abwehr, die kein Folgen zuließ, trat sie in die Tiefe des dunklen Raumes hinter sich zurück.

Serenas erster Gedanke war Flucht, in ihrem Herzen hämmerte es wild, jeder Nerv zitterte noch von dem tödlich süßen Schrecken dieser Ueberraschung.

Er – hier! Wie kam er her? Weshalb? Bloß um des Freundes willen? Gewiß! gewiß! was sollte er noch von ihr wollen? Er, der sich wohl schon längst getröstet hatte, wenn – ja wenn er wirklich einmal, wie Lucie meinte – sie glaubte es ja nicht – des Trostes bedürftig gewesen, war!

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„Serena!“       „Tante!“       „Tante S’ena!“

Man rief nach ihr, man suchte. Sie wurde aus dem Dunkel in das Licht gezogen und von allen Seiten umdrängt. Frau Lucie schloß sie in eine feurige vielsagende Umarmung, der Rechtsanwalt zerdrückte ihr erregt die Hand, von den Kindern wollte ihr jedes zuerst das Schönste zeigen. Sie mußte sich vom kleinen Hans dem großen Hans zuführen lassen, der natürlich nur als Extra-Christgeschenk für seinen Pathen aus Afrika gekommen war, mußte Seite an Seite mit ihm stehend, die famose schwarze Truppe mustern, den Lebkuchen, den Marzipan versuchen, sich freuen, lächeln, lachen – –

Und Serena freute sich, sie lächelte, sie lachte; sie bewunderte das kleine dicke Wickelkind von Elli, das so schön schreien, und den kleinen dicken Täufling von Nelli, der sogar die Augen schließen konnte, und sie beging nur den für die Kleinen freilich unbegreiflichen Verstoß, daß sie das Schreikind mit dem Schlafkindchen verwechselte und das anziehende Paar in die falschen Wiegen legte.

Dann folgte sie der Hausfrau an den Flügel. Sie sollte spielen, singen. „Stille Nacht, heilige Nacht“ – nein, mit dem Singen ging es trotz des besten Willens nicht, und der Rechtsanwalt mußte durch seine Stimme das Lied zu retten suchen, bis Hans ihn vom Flügel fortholte. Wie seltsam ernst dieser dabei aussah!

An der kleinen Abendtafel ging es, nachdem die Kinder zu Bett gebracht waren, laut, fast überlaut her. Der Hausherr, gar nicht wiederzuerkennen, schlug fast beständig an sein Glas, und die Reden sprudelten ihm nur so vom Munde, so daß seine Frau vor Staunen und vor Stolz auf ihren Fritz dazwischen hinein kaum einmal zu Worte kam – was viel sagen wollte!

Dann hatte man zusammen angestoßen und wieder angestoßen, auf Freundschaft und Vaterland, auf deutsche Treue, auf jeden einzelnen unter den Tischgenossen, und schließlich hatte sich Serena fortgestohlen in das Schlafzimmer der kleinen Mädchen, neben deren Betten die Wiegen mit den beiden Puppen standen. Hier war Friede – stille Nacht, heilige Nacht.

Wie ein Traum lag das Erlebte hinter ihr, ein Traum, aus dessen Schleiern nur immer wieder sein Gesicht auftauchte, seine Gestalt hervortrat, seine Stimme vorklang … so wenig er auch gesprochen hatte – mit ihr nur einmal, als er ihr über den Tisch hinüber zutrank: „Auf die Erfüllung meines Weihnachtswunsches!“

Welches Wunsches, das hatte er nicht gesagt, aber so gut und bittend dabei ausgesehen, daß sie sich fast – vergessen hätte. Kühl bleiben, nur nicht selber sich verrathen – es war auf die Länge schwer geworden, um so schwerer, je mehr sich aus dem Neuen, Veränderten seines Wesens die alte kindliche Treuherzigkeit herausgeschält. Wie er die Kleinen auf die Knie klettern, in seinem Barte hatte zausen lassen; wie er den kleinen Hans, der sonst auf keine Weise von ihm fort zu nehmen war, selbst zu Bett gebracht hatte!

„Das hätten seine Schwarzen sehen sollen!“ hatte der Rechtsanwalt lachend gerufen, und ihr selber war ein Lächeln über die ernsten Züge gehuscht.

*               *
*

Frau Lucie hatte die Freundin mit sanfter Gewalt aus dem Schlafzimmer der Kinder fortgeholt, und nun, nachdem die laute Lust verrauscht, der Glanz des Weihnachtsbaumes bis auf das letzte Lichtstümpfchen erloschen war, nun saß man sich im „Boudoir“ der Hausfrau an dem gemüthlichsten aller Eck- und Plaudertische gegenüber. Man sprach von dem und jenem, bis plötzlich Frau Lucie sich erhob und hinausging, um „von nebenan etwas zu

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Vor Paris 1870.
Originalzeichnung von O. Gerlach.

[814] holen“. Der Rechtsanwalt folgte ihr ohne ein Wort der Entschuldigung, es seinen Gästen überlassend, sich sein Verschwinden zurechtzulegen.

Aengstlich blickte Serena von der feinen Stickerei, auf die sie sich gebückt hielt, in die Höhe und unvermittelt in zwei Augen, die fest und warm auf sie gerichtet waren, mit einem Ausdruck, der ihr alles Blut zum Herzen trieb. Ihre Hände zitterten so stark, daß sie die Arbeit nicht mehr halten konnten.

„Serena!“

„Herr – Herr Hauptmann!“ Sie wollte aufstehen, sich entfernen, aber die Knie versagten ihr den Dienst.

„Fräulein Serena! darf ich reden, wie ich – vor fünf Jahren – hätte reden sollen? Ich war vorhin unfreiwilliger Zeuge des Gesprächs – –“

Serenas Blässe wich einer dunklen Röthe. Die Schritte – großer Gott! „Sie waren dort im Arbeitszimmer? Und Sie haben zugehört?“

„Nicht länger, als die Ehre es erlaubte.“

Sie sah unsicher nach ihm hin. Ihr ganzes Wesen war in Aufruhr.

Unwillkürlich war sie weiter von ihm abgerückt, so daß der Lampenschirm ihm ihr Gesicht verbarg. Er schob die Lampe ruhig auf die Seite. „Darf ich reden?“

Und ohne ihre Antwort abzuwarten, fuhr er fort:

„Erinnern Sie sich noch an jenen dämmernden Dezembernachmittag, der mich im Auftrag unserer gemeinsamen Freunde zu Ihnen führte mit der Bitte, daß Sie den Weihnachtsabend hier bei uns verleben möchten? Sie saßen – o ich seh’ es noch – vor Eifer wie in Rosengluth getaucht, an einer Handarbeit. Das krause Haar, das Sie noch immer, trotz der Mode, in die Höhe streichen, war in die Stirn gefallen, wie es immer thut, wenn Sie erregt sind.“

Serenas Finger fuhren unwillkürlich nach der Stirn, um das widerspenstige Geringel fortzustreichen, das ihr auch jetzt wieder vorgefallen war. Darunter hervor sah sie halb gerührt, halb ärgerlich zu ihm auf.

Lächelnd fuhr er fort: „Ihre Arbeit sollte noch bis zum anderen Tage fertig werden – eine grüne Börse war’s – wenn ich mich nicht irre, dieselbe, die dort drüben – –“

Serena fuhr in die Höhe, einen scheuen Blick auf ihren Arbeitskorb werfend, der seitwärts auf dem Tische stand. Hans aber legte bittend die Hand auf ihren Arm und drückte sie sanft auf ihren Sessel nieder.

„Bin ich denn ein so fürchterlicher Mensch, Serena, daß Sie davonlaufen müssen? Und interessiert Sie das, was ich zu sagen habe, auch nicht ein bißchen? – So, das ist lieb von Ihnen, daß Sie sich wieder niederlassen! Sehen Sie, als es sich damals um die Frage drehte, ob ich gehen oder bleiben sollte, da war der arme Bursch verliebt bis zur Narrheit, bis zum – Versemachen. Statt vor Sie hinzutreten als ein ehrlicher Soldat und zu sprechen: ‚So steht’s – nun sag’, was weiter werden soll,‘ bringt der dichtende Held sein übermäßiges Empfinden zu Papier, dieses Papier auf eine, wie er meint, sehr zarte und sehr kluge Art in Ihre Hände und harrt am nächsten Abend mit verzehrender Ungeduld seines Christgeschenks und – wartet heute noch darauf. Denn die Arbeit ist – verzeihen Sie, Serena“ – er nahm die Häkelei sorglich aus dem Korbe – „die Arbeit ist unglücklicherweise nicht vollendet, der Gefühlserguß des blöden Schäfers nie gelesen worden.“ Mit schlecht verhehlter Hast entfernte er den Seidenrest von dem Papier und zeigte dieses, nachdem er es geglättet, dem Mädchen, dessen Züge wie von einer Morgenröthe des Glückes überstrahlt erschienen.

Der kleine Bogen war beschrieben – – Verse!

„Darf ich – lesen?“

Sie lächelte – aber zugleich traten ihr die lange zurückgedrängten Thränen in die Augen; mit einer leisen Handbewegung gab sie die Erlaubniß.

Eine flammende Gluth ging über die männlichen gebräunten Züge, und die Hand, mit der Hans glättend immer und immer wieder über die tiefen Brüche des mißhandelten Papiers fuhr, zitterte gleich seiner Stimme, als er begann, das altgewordene Gedicht zu lesen:

„O Weihnacht! Deutsche Weihnacht! Unvergessen
Dem Mann, was einst des Kindes höchster Klang!
Ein Strom von Liebe, Liebe unermessen,
Durchwogt die Welt und löst des Winters Zwang,

Wandelt in Frieden wilden Sturms Gebrause,
Zaubert den Frühling zwischen Schnee und Eis –
Ach! doppelt einsam, wer aus öder Klause
Hinüberschaut in der Beglückten Kreis!

Dort jubeln Kinder, helle Augen funkeln
Den Glanz des Christbaums schöner noch zurück – –
Wo führt der Weg hinüber aus dem Dunkeln?
Wann blüht auch ihm, das er ersehnt – das Glück?

In ihren Zügen glaubt er es zu lesen,
Den Abglanz dessen, was ihn selig macht –
Ach, ob es Wahrheit, ob es Traum gewesen.
Verkünde du ihm, heil’ge Weihenacht!

Kein armes Kind geht unbeschenkt von hinnen –
O, löse du der Zungen starres Band!
Laß treues Herz ein treues Herz gewinnen,
Gieb Hände, die sich suchen, Hand in Hand!“

Leise verklangen die letzten Worte des Gedichtes – die Hände und die Lippen der beiden fanden sich in jenem seligen Schweigen, das die süßeste von allen Sprachen der Liebe ist.

Einen Augenblick lang hatte dies stille Glück einen Zeugen – Frau Lucie war leise über die Schwelle getreten; aber rasch ging sie wieder zurück und schloß die Thüre hinter sich behutsam zu. Drinnen im Nebenzimmer warf sie sich mit einem mühsam unterdrückten Jubelruf dem Gatten an den Hals. „Gottlob, die Sache ist in Ordnung! Aber ich sag’ Dir – wie die Zwei da drin beieinandersitzen … das ist noch schöner als bei unserer Verlobung!“

„Hm!“ brummte der Rechtsanwalt – er brummte immer, wenn er eine große Rührung überwinden wollte – „dafür hat es allerdings auch nicht so lange gedauert, bis ich den Mund aufthat.“

„Oder ich!“ rief sie. „Wer war der Erste?“ Er blieb die Antwort schuldig, und nicht ungern. Denn sie verstand es noch heute nicht weniger gut, ihm den Mund zu schließen, wie damals, als er – oder sie zuerst gesprochen hatte.


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Tragödien und Komödien des Aberglaubens.

Erbschlüssel und Erbsieb.

Verlorene Sachen wiederzufinden, den Urheber eines Diebstahls zu entdecken, giebt es auf dem platten Lande ein erprobtes Mittel: es ist der Erbschlüssel. Ein alter Hausschlüssel, ein ehrwürdiges, von den Vätern ererbtes Inventarstück, wird in ein ebenso altes Gesangbuch oder in eine Familienbibel gesteckt, so daß der Bart oben daraus hervorragt, das Ganze wie ein Postpaket umschnürt und von zwei Personen unter dem Packreitel, dem Stäbchen zum Anziehen der Schnüre, mit dem Mittelfinger der rechten Hand in der Schwebe gehalten; hierauf werden die des Diebstahls Verdächtigen laut genannt und der Reihe nach durchgenommen, bis der Reitel bei Nennung eines bestimmten Namens den beiden Untersuchungsrichtern plötzlich entgleitet und die Postille auf den Boden fällt. Freilich sind die Gelehrten, die mit dem Erbschlüssel umzugehen wissen, meistens die Diebe selbst, die den Verdacht von sich ab auf andere zu lenken suchen.

So lebte z. B. in Gößnitz im Altenburgischen die alte „Schmatzveiten“, die sich diesen Spitznamen einst vor vielen Jahren bei ihrer Trauung erwarb; der Pastor sagte nämlich: „Und nun wechselt den Mahlschatz“ – womit er die Ringe meinte; sie aber verstand: „den Maulschmatz“ fiel ihrem Bräutigam um den Hals und gab ihm am Altar einen „Schmatz“. Besagter Mahlschatz, ihr Trauring, war aber der armen hochbetagten Frau eines Tages abhanden gekommen, wahrscheinlich entwendet worden, und sie bot alles auf, um ihn wiederzuerlangen. Nun befanden sich in Gößnitz zwei geriebene Gauner, der „Eisbeinaugust“ und der „Schlamassenmax“, die machten sich anheischig, der Sache vermittelst des Erbschlüssels auf den Grund zu kommen. Große Versammlung aller Hausbewohner: der Erbschlüssel liegt bereit, es ist derselbe, durch dessen Ohr die Schmatzveiten in der Sylvesternacht Blei zu gießen pflegt. Er wird in die große alte Hausbibel gelegt, wo vorn auf vier Blättern die Familienchronik steht, das Buch feierlich und stillschweigend mit einem Bindfaden umwickelt, die Schnur mit einem Reitel fest zusammengezogen, daran halten der Eisbeinaugust und der Schlamassenmax mit den Fingern das Paket, daß es gerade herunterhängt. Nun sagt Eisbeinaugust: „Der Hans hat den Ring gestohlen“; Schlamassenmax dagegen: „Der hat es nicht gethan“. So machen sie die Probe beim Peter, beim Otto, beim Hirtenfriede, bei der Schneideremile, bei Charlotte Schmuddlich, genannt „Ohrring-Lotte“ – der Erbschlüssel regt sich nicht. Jetzt aber heißt es: „Die Schüttelbahrdten hat den Ring gestohlen“ – auf einmal kommt Leben in die Postille, sie bewegt sich, schwebt, der Eisbeinaugust und der Schlamassenmax können nicht mehr halten, und bardauz! liegt sie mitsamt dem klirrenden Erbschlüssel auf der Diele. Ei, Du alte heimtückische Schüttelbahrdten, die immer mit dem Kopfe schüttelt, wer hätte das von Dir gedacht! Denn nun ist es ja heraus, alles Schütteln hilft ihr nun nichts mehr, der Erbschlüssel lügt nicht! Leider übte die Prozedur ihre Wirkung auf die hohe Polizei in ganz entgegengesetzter Weise. Sie hielt sich nicht an die alte Schüttelbahrdten, sondern nur an die beiden Gauner, den Eisbeinaugust und den Schlamassenmax.

Aber das Interessanteste dabei ist das hohe Alter dieses abergläubischen Verfahrens. Der Erbschlüssel trat an die Stelle des Erbsiebs, die Schlüsselprobe ist ein Rest der alten Siebwahrsagung, der sogenannten „Koscinomantie“, deren schon der griechische Dichter Theokrit in einer seiner Idyllen Erwähnung thut und die sich bis auf unsere Zeiten erhalten hat.

„Sieh durch das Sieb!
Erkennst du den Dieb,
Und darfst ihn nicht nennen? –“

so läßt Goethe in der Hexenküche im „Faust“ den Kater zur Kätzin sagen. Der Kater „hat läuten hören, aber nicht zusammenschlagen“, denn man blickte nicht durch ein Sieb, um den Dieb zu erkennen, das Sieb wurde vielmehr genau in derselben Weise wie der Erbschlüssel aufgehängt und dann zwischen zwei Fingern im Gleichgewicht gehalten, um seine Bewegungen genau studieren zu können.

In der Stadt Villingen, dem Hauptsitze der Schwarzwälder Uhrenerzeugung, lebte vor dreihundert Jahren ein berühmter Arzt und Schwarzkünstler Namens Pictorius, der über die Siebwahrsagung geschrieben und sie durch Holzschnitte erläutert hat. Zwei einander gegenüberstehende Personen halten je mit dem Mittelfinger der rechten Hand eine Schere, welche ein Kornsieb gefaßt hat, dicht unterhalb der Feder, am oberen Ende der Scherenblätter. Die Schere ist eine Schafschere und sieht etwa wie eine Zuckerzange aus – das ganze Mittelalter hindurch hat die Schere keine andere Form gehabt. Die Menschen halten also die Schere, die Schere hält den Rahmen des Siebs, so daß dieses wie vorhin das Buch mit dem Erbschlüssel in der Luft baumelt, und nun nennen die Wahrsager abermals wie vorhin die Namen derer, die des Diebstahls verdächtig sind. Eine unsinnige alte Formel „DIES. MIES. JESCHET. BENEDOFFET. DOWIMA. ENITEMAUS“ sprechen sie dabei aus, durch welche der Dämon in das Sieb gebannt und gezwungen werden soll, den Dieb zu offenbaren. Bei dem richtigen Namen erzittert das Sieb, bei Wiederholung des Namens fängt es an, sich um sich selbst zu drehen und mit einer Heftigkeit zu rütteln und zu schwingen, daß den Männern, die halten, die Handhabe entgleitet und sammt dem Siebe auf den Boden fällt. Doktor Pictorius hatte das Zaubermittel selbst wiederholentlich erprobt und einmal bei einem Diebstahl, ein andermal bei einem Jagdfrevel, wo ihm ein Vogelnetz böswillig zerschnitten worden war, ein drittes Mal bei Gelegenheit eines verlaufenen Hundes, wie er meinte, mit gutem Erfolg angewendet; das letzte Mal indessen foppte ihn der Dämon, so daß unser Doktor Angst bekam und keinen weiteren Versuch mehr machte. Auch Erasmus von Rotterdam kennt die Siebwahrsagung; in Deutschland verbirgt sie sich, wie gesagt, hinter dem Erbschlüssel, in Frankreich und in England ist sie immer noch im Schwange.

Wie die Menschen aller Zeiten gerade auf das Sieb verfielen, läßt sich leicht errathen – sie wollten Gericht halten, und das Sieb erschien ihnen als ein Sinnbild der strengen gerichtlichen Untersuchung.

Die berühmteste unter den zahlreichen Akademien Italiens heißt bekanntlich die „Kleien-Akademie“ (Accademia della Crusca) und hat ein Sieb im Wappen: sie will gleichsam die Sprache durchsieben und beuteln und die guten Worte wie feines Mehl von der Kleie trennen. Keinem Volke ist der Vergleich des Examens, der Zensur mit einem Siebe so geläufig wie dem italienischen, die Italiener sagen ganz allgemein „eine Sache sieben“ für „eine Sache prüfen“, und mit der Vorsicht, die ihnen im Umgange angeboren ist, meinen sie, man müsse die Menschen gehörig sieben, ehe man ihnen traue. Diese Auffassung geht durch alle Sprachen – unser eigenes „sichten“ ist eigentlich so viel wie „sieben“ und eine „Kritik“ nichts anderes als eine „Sonderung“. In der Bibel will Gott das Haus Israel unter allen Heiden sichten lassen, gleichwie man mit einem Siebe sichtet. Das Sieb ist eine Art Wahrzeichen der Gerechtigkeit wie die Wage.

Daher der Gebrauch des Siebes nicht bloß um einen Diebstahl, sondern um Verbrechen und geheime Sünden aller Art aufzudecken. Ja, die dunkle Anschauung, wonach im Siebe gewissermaßen Schuld und Unschuld verborgen liege, führte sogar dazu, in wichtigen Fällen von ihm das Unmögliche zu verlangen: das Sieb sollte Wasser halten. Im römischen Vatikan, im Museo Chiaramonti, sieht man die Marmorstatue einer Vestalin, die ein Sieb in Händen hält; am Rahmen des Siebes liest man ein paar lateinische Worte, die besagen: „Also mache ich die Verleumdung zu nichte“. Es ist die Vestalin Tuccia, die eines Vergehens wider ihr Gelübde angeklagt war und, um sich von dem Verdacht zu reinigen, angeblich Wasser in einem Siebe vom Tiber bis zum Vestatempel trug, ein Wunder, das ihr im achten Jahrhundert n. Chr. die heilige Amalberga in Flandern nachgemacht haben soll. So sollte sich die geheimnißvolle Kraft des Siebes offenbaren im Gottesurtheil, zu dem der hilflose Mensch zu allen Zeiten gern seine Zuflucht nahm, wenn er nicht mehr weiter konnte.


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Die Zahl Dreizehn. Das Salzfaß. Der Freitag.

Es war einmal ein König und eine Königin, so beginnt das Märchen vom „Dornröschen“, die sprachen jeden Tag: Ach, wenn wir doch ein Kind hätten! – und bekamen immer keins. Da gebar endlich die Königin ein Mädchen, das war so schön, daß sich der König vor Freude gar nicht zu lassen wußte und ein großes Fest anstellte. Er lud nicht bloß seine Verwandten, Freunde und Bekannten, sondern auch die weisen Frauen dazu ein, damit sie dem Kinde hold und gewogen wären. Es waren ihrer dreizehn in seinem Reiche, weil er aber nur zwölf goldene Teller hatte, so mußte eine von ihnen daheim bleiben. Als das Fest aus war, beschenkten die weisen Frauen das Kind mit ihren Wundergaben: die eine mit Tugend, die andere mit Schönheit, die dritte mit Reichthum und so mit allem, was man sich wünschen kann. Als elfe ihre Sprüche eben gethan hatten, trat plötzlich die Dreizehnte herein. Sie wollte sich dafür rächen, daß sie nicht eingeladen war, und rief mit lauter Stimme: Die Königstochter soll sich in ihrem fünfzehnten Jahre an einer Spindel stechen und tot hinfallen! – und verließ den Saal. Die Dreizehnte bringt Unglück.

Und es war einmal ein König in Thessalien, erzählt die griechische Mythologie, mit Namen Peleus, der freite die Nereide Thetis. Zu der großen Hochzeit, die auf dem Berg Pelion stattfand, waren die zwölf Götter eingeladen, nicht aber Eris, die Göttin der Zwietracht. Sie brachten dem Brautpaar reiche Gaben dar, Poseidon schenkte dem Peleus die unsterblichen Rosse, die nachmals Achilles erbte, der Centaur Chiron die wunderbare Lanze, die verwundete und heilte – da erschien plötzlich Eris, die nicht mit Eingeladene, und warf, da man sie nicht hereinließ, einen goldenen Apfel unter die Gäste mit der Aufschrift: „Der Schönsten“. Das war die Veranlassung, daß die drei Göttinnen Hera, Athene und Aphrodite einander schalten, Paris zum Schiedsrichter ernannt ward, die Helena raubte und der Trojanische Krieg ausbrach. Die Dreizehnte bringt Unglück.

Soll ich noch an ein drittes Fest erinnern, bei dem ein Dreizehnter Unglück gebracht hat? Es ist die letzte Mahlzeit, die Jesus mit seinen Jüngern am Vorabend seines eigenen Todes einnahm. Christus und die Zwölf, macht zusammen dreizehn: der Dreizehnte war der Verräther, der Unglückbringende. Aber auch der Erlöser selbst war der Dreizehnte – und er mußte sterben. So kam es, daß der Aberglaube umsprang und anstatt der Nutzanwendung: der Dreizehnte bringt Unglück! die andere zog: der Dreizehnte muß sterben.

Christi Leiden und Sterben ist eine volksthümliche Tragödie, welche die Einbildungskraft der Menschheit seit Jahrhunderten erfüllt und heute noch in allen möglichen Formen zur Darstellung gelangt. Im Mittelalter war sozusagen jede Stadt und jede Kathedrale ein beständiges Oberammergau; die Gläubigen von damals ließen es beim bloßen Zusehen nicht bewenden, sie wollten selbst mitspielen und bei der Handlung mitwirken, die jah[r]aus jahrein die Gemüther beschäftigte: am Palmsonntag, wenn der Palmesel he[r]umgeführt ward, miteinziehen, auf Gethsemane mit den Erlöser greifen und mit den Judas jagen. Die Folge war, daß die gesammte evangelische Geschichte wie keine andere mit allen ihren Einzelheiten ins Leben und gewissermaßen ins Blut des Volkes überging, Sitten und Gebräuche veranlassend, deren Ueberlebsel jetzt kaum noch verstanden werden. Im Mittelpunkt der Passion steht das Abendmahl, und von ihm schreibt sich als Ueberlebsel der Aberglaube h[e]r, der die Zahl Dreizehn umspinnt. Aber auch der Freitag zog aus diesem Vorstellungskreise die ihm anhaftende geheimnißvoll schreckhafte Bedeutung, und ebenso könnte man versucht sein, dies bei dem Salzfaß zu vermuthen.

Auf des großen Leonardo da Vinci allbekanntem Bilde, das er in dem Kloster der Dominikaner von Santa Maria delle Grazie bei Mailand an die Wand des Speisesaals gemalt hat, stößt Judas Ischariot durch eine ungeschickte Bewegung mit dem linken Arme das Salzfaß um. Ist denn das nach den biblischen Berichten etwa thatsächlich geschehen und ist dadurch das schlimme Omen, das allerorten auf dem umgeworfenen Salzfaß ruht, hervorgerufen worden? – Unmöglich w[ä]re es an sich nicht, denn das Salz fehlte auf dem hebräischen Tische nicht, ja, es galt hier eben für ein Sinnbild der Freundschaft und der Treue, ein ewiger Bund heißt im Alten Testament ein „Salzbund“ und ein Verräther noch heute im Orient ein „Salzverräther“. Ueberhaupt aber betrachteten alle alten Völker, die Semiten sogut wie die Arier, das Salz als etwas Heiliges, es verlieh der Mahlzeit die Weihe eines Opfers, sie hielten strenge darauf, daß es ehrerbietig und nach Gebühr behandelt werde. Das Salzfaß stand in der Mitte der Tafel, von Silber und auf silberner Platte, es wird ausdrücklich berichtet, daß der ärmste Römer, als die Sitten noch einfach waren, dies Geräth von Silber haben wollte. Das Salz zu vernachlässigen, zu vergessen, auf dem Tische stehen zu lassen, weissagte dem Besitzer Unglück; es umwerfen, hieß die Hausgeister erzürnen. Es war wie das Feuer, von dem Schiller in dem „Lied von der Glocke“ singt:

„Wohlthätig ist des Feuers Macht,
Wenn sie der Mensch bezähmt, bewacht.“

Am unrechten Orte und im Uebermaß ausgestreut, besaß das Salz nach alter Meinung eine verwüstende, um mich modern auszudrücken, eine „sterilisierende“ Kraft; es machte – und die Wissenschaft widerspricht dem nicht gerade – unfruchtbar und vernichtete alles Leben wie die Salzfluth des Toten Meeres. Es wurde daher zum Zeichen einer ewigen Zerstörung auf die Ruinen einer geschleiften Stadt geworfen. Das geschah nicht bloß im Heiligen Lande, das geschah noch am 25. März des Jahres 1162 in der Lombardei, wo „Kaiser Rothbart lobesam“ Mailand mit deutschem Pfluge pflügen und mit Salz besäen ließ. Das war eben jenes Mailand, wo nachmals Leonardo da Vinci das Abendmahl gemalt hat. Nun erkennt man sofort die hohe Sinnbildlichkeit des verschütteten Salzes: wo das Salz hinfiel, konnte fürder nichts mehr wachsen, der Herd, auf den es flog, verödete, der Tisch, um den sich eine blühende Familie scharte, ward leer.

Nun dürfte man sich doch zu den vier Evangelisten dessen versehen, daß sie sich, wenn Judas beim Abendmahl wirklich das Salz verschüttet hätte, diesen wirkungsvollen Zug nicht hätten entgehen lassen; sie erwähnen indessen davon nichts. Man darf also schließen, daß Leonardo da Vinci diesen Zug aus eigenem Ermessen hinzugefügt hat und daß der Aberglaube in diesem Falle ungleich tiefer sitzt.

Beim Freitag liegt es dagegen auf der Hand, daß, wenn er ein Unglückstag ist, er es nur deshalb ist, weil Christus nach den übereinstimmenden Angaben der Evangelien an einem Freitag litt und starb.

Man darf annehmen, daß diese Verfehmung des Freitags bei den germanischen und romanischen Völkern des Abendlandes nicht ohne Widerstand zur Geltung kam. Denn der sechste Wochentag war bei ihnen der Göttin der Liebe, der Frau gewidmet, deren Name vom „Freuen“ kommt; er heißt noch heute in der einen Hälfte Europas nach der holden Venus und in der anderen Hälfte nach der jungen schönen fröhlichen Himmelsgöttin Freya. Noch heute wird er daher in gewissen Gegenden, z. B. in Westfalen und in Schottland, gern zum Hochzeitstag, zum Freien, also im ganz eigentlichen Sinne zum „Freitag“ gewählt. Sonst aber hat die Bedeutung des Freitags als eines Verrufenen fast überall in Europa die Oberhand gewonnen. Nicht nur gehört eine Hochzeit an einem Freitag zu den größten Seltenheiten, der Tag ist überhaupt verpönt – an einem Freitag soll man nichts beginnen, namentlich keime Reise unternehmen, nicht abfahren und nicht segeln. „Nicht einmal ein frisches Hemd anziehen,“ setzt der Bauer in Oberösterreich hinzu. Er meint, wenn man an einem Freitag ein frisches Hemd anziehe und es komme zufällig ein Donnerwetter, so könne dieses nicht vorbei.

In der That ist die Ziffer der Eisenbahnreisenden und der abgehenden Dampfschiffe an diesem Tage geringer als an anderen Wochentagen. Der Freitag hat freilich andererseits auch seinen Herold und seinen klassischen Fürsprecher. Kolumbus hat sich an einem Freitag eingeschifft, als er zur Entdeckung des Seewegs nach Ostindien ausfuhr; es war ein Freitag, als er nach einigen sechzig Tagen an der Watlingsinsel landete, eines Freitags endlich kehrte er nach Spanien zurück. Deshalb gilt auch der Freitag in Amerika für einen guten Tag, für einen „lucky Day“, viele der wichtigsten politischen Ereignisse haben seitdem an dem lucky Friday stattgefunden. Die englischen und die deutschen Matrosen aber kennen nur den „unlucky Friday“. Sie kehren sich nicht an den Kolumbus, ihnen ist der Fliegende [817] Holländer, der an einem Karfreitag in See stach und nun zur Strafe ruhelos auf dem Meere umherrast und beim Kap der Guten Hoffnung gegen die Stürme kreuzt, ein warnendes Beispiel. Theologen haben ausgerechnet, daß nicht nur Christus an einem Freitag gekreuzigt worden ist, sondern daß auch Adam und Eva eines schönen Freitags den Apfel aßen und sündigten.

Den Bann des Freitags mißachten, ein Salzfaß verschütten und als der Dreizehnte am Tische sitzen, das läuft bei abergläubischen Seelen auf eins hinaus. In allen drei Fällen droht ein Unglück!

Der vornehmste Beweis dafür, daß die Dreizehn ihren unheilbaren Mißkredit nur dem Passahmahle in der Stadt Jerusalem verdankt, ist der, daß diese Zahl bis dahin nicht nur nichts Anstößiges hatte, sondern daß die ungeraden Zahlen sogar für besser galten als die geraden. Ich will ja nicht behaupten, daß alle heiligen Zahlen ungerade seien, obschon gleich die vier ersten ungeraden Zahlen, die Drei, die Fünf, die Sieben und die Neun, seit den ältesten Zeiten für heilig gegolten haben, eine Eigenschaft, die in diesem Grade eigentlich nur die Zwölf mit ihnen theilt. Aber im allgemeinen scheint es fast, als ob die Völker geradezu eine Furcht vor den geraden Zahlen und den runden Summen hätten, das lehrt uns eine Menge recht befremdlicher Eigenheiten. Warum werden bei festlichen Anlässen nicht 100, sondern 101 Kanonenschüsse abgebrannt? Warum dem indischen Sträfling 101 Stockhiebe aufgezählt? Ist das eine bloße Vorsichtsmaßregel oder eine gewisse adelige Gepflogenheit, mit der eins dreingegeben wird, wie die Marktfrau in Leipzig für die Mandel Eier 16 Stück verabreicht, was sie eine Bauernmandel heißt? – Also die Dreizehn besäße an sich eher Anwartschaft darauf, eine gute Zahl zu sein. Wenn sie unter allen die schlechteste, die gefährlichste, die verrufenste ist, so liegt das an Jerusalem.

Die Erscheinungen, welche durch die Furcht vor der Zahl Dreizehn zu Tage gefördert werden, gehören entschieden zu den seltsamsten „Komödien des Aberglaubens“. Wir haben hier zu Lande Frauen, feine gebildete Frauen, die nicht in einem Geschäft kaufen mögen, das die Nummer 13 hat, und wenn sie vergoldet wäre. In den Zeitungen stand kürzlich zu lesen, daß man zu Luxemburg in einer neuen Schule bei der Numerierung der Zimmer die 13 durch eine 12b ersetzte und jene ominöse Zahl auf die Thür eines Raumes verbannte, den man nur vorübergehend zu betreten pflegt. In Gasthöfen wird man meist vergeblich nach der Zimmernummer 13 suchen, und wo sie sich findet, da ist sie sicher die letzte, die der Wirth anzubieten wagt. Am ärgerlichsten ist aber der Dreizehnte doch bei Tische, weil es dann gleich ans Leben geht. Es versteht sich, daß bei allen Einladungen peinliche Rücksicht darauf genommen und genau gerechnet wird; wie aber manchmal der Zufall sein Spiel hat, so geschieht es, daß plötzlich einer absagt oder ein Fremder unerwarteterweise mitkommt oder einer abgerufen wird. „Herrje, nun sind wir dreizehn! Wenn man’s nur nicht gleich merkt!“ – Eine kluge Wirthin weiß sich aber zu helfen. Etwa wird eine Nichte oder eine sonstige Verwandte, die zur Gesellschaft gehört, unter irgend einem Vorwand an ein Nebentischchen gesetzt – oder es muß ein unschuldiges Kind mit an den Tisch – oder es wird in aller Eile ein Vierzehnter eingeladen. Der Vierzehnte! Das ist nämlich ein Geschäft, der Vierzehnte zu sein. In allen großen Städten giebt es tadellose Stutzer, die sich ein Vergnügen daraus machen, in Frack und weißer Kravatte anzutreten und einzuspringen, wenn das Unglück irgendwo „des Teufels Dutzend“ geworfen hat. Ihre Adressen haben sie bei einem Agenten hinterlegt, an welchen sich der Gastgeber telephonisch wendet. Wer nicht zufällig eingeweiht ist, betrachtet sie als seinesgleichen und als Gäste, deren Beziehungen zum Hause er noch nicht kennt. Sie erhalten eine Doppelkrone, das gute Essen haben sie obendrein.

Für die „Vierzehnten“ bedeuten also die „Dreizehnerklubs“, die sich u. a. in London und New-York gebildet haben, um dem Aberglauben Trotz zu bieten, einen wirklichen Verlust. Diese „Dreizehner“ speisen nie anders als zu dreizehn, beziehungsweise in Gruppen von je dreizehn und zwar dreizehn Schüsseln am dreizehnten jeden Monats; selbst die Musikanten, welche die Tafelmusik machen, müssen gerade dreizehn sein und dreizehn Stücke spielen, wofür sie dreizehn Schillinge für den Mann erhalten. Durch die That wollen die Wackeren beweisen, daß sie sich vor keiner Vorbedeutung fürchten; es läßt sich denken, daß diese aufgeklärten Gesellschaften nebenbei auch den anderen Verfehmten, dem Freitag, dem Salze und allerhand Gespenstern zu Leibe gehen.

Fruchtloses Unterfangen! Der Aberglaube wird dennoch recht behalten, einer von den Dreizehnern wohl eines Tags dran glauben müssen und dann wird die Schuld erst recht auf die Ziffer geschoben werden. Rudolf Kleinpaul.     


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Einsame Weihnachten.

Skizzen von Paul von Schönthan.
Mit Zeichnungen von A. Mandlick.

Die frühe Dämmerung des Weihnachtsabends war hereingebrochen. – Ein hochgewachsener Mann in den vierziger Jahren, mit halbergrautem Haupt- und Barthaar, stand etwas nach vorn gebückt am Fenster. Den erhobenen Unterarm hatte er an den Fensterbalken gelegt, der Kopf ruhte auf der äußeren Handfläche und die Finger bewegten sich leise auf der kalten, durchsichtigen Scheibe. Er sah auf das große Haus gegenüber. Im ersten Stockwerk saß ein junges Mädchen am Nähtisch bei der Lampe über eine Handarbeit gebückt, sie hantierte eifrig mit Wollfäden und dann flog die Hand auf und nieder, – die letzten Stiche an einer verspäteten Stickerei. Nebenan waren die Fenster eines Eßzimmers erleuchtet, in der Mitte am runden Tisch unter der Hängelampe hockten und knieten Kinder auf den Stühlen, das jüngste saß auf dem Schoß der Kinderfrau, die aus einem Buche vorlas und die kleine Bande in Zucht zusammenhalten mußte, bis Papa und Mama mit dem Aufbau der Bescherung fertig waren. Im zweiten Stock hinter den weißen Spitzengardinen begannen die Lichter des Baums aufzuflammen, aus den beiden Fenstern gerade gegenüber drang der helle Lichtschein, daß man bis ins Innere blicken und die kleinen Menschen erkennen konnte, die geschäftig hin- und herliefen, vom strahlenden Weihnachtsbaum zu den Tischen und Kommoden, auf denen die Geschenke ausgelegt waren.

Die Straße war menschenleer, nur von Zeit zu Zeit ging unten eilends jemand vorüber – an dem Abend hat niemand Zeit – und jeder sah im Vorübergehen zu den Fenstern der Häuser empor und suchte diejenigen, hinter denen die brennenden Wachskerzen strahlten. „Aha, da geht’s schon los!“ und dabei trabte er weiter.

Der Einsame am dunklen Fenster richtete sich auf, trat an den Schrank und schloß ihn langsam auf. Er suchte mit der Rechten zwischen leise klirrenden Gläsern, dann zog er eine Glocke hervor, eine alte Glocke aus Bronze mit erhabenen Blumen und Blattgewinden, eines jener Stücke, die ehrwürdig werden durch die Vorstellung, daß sie dem liebevollen Fleiße früherer Geschlechter ihre Entstehung verdanken, ehe die toten Maschinen alles tausendfach auf den Markt warfen. Aber noch kostbarere Erinnerungen [818] knüpften sich an diese Glocke.

Sie stammte aus seinem Elternhause. Ihrer vier Geschwister, saßen sie in der dunklen Stube am Ofen zusammen, von den süßen Schauern der Erwartung erfüllt, gruselnd, schweigsam und artig wie kaum jemals, dicht aneinandergeschmiegt, mit kurzen bangen Fragen ihre Aufregung verscheuchend, bis die Klingel nebenan ertönte, die Flügelthüren sich aufthaten und eine blendende Helligkeit ihnen entgegenstrahlte. Tretet ein in das Zauberreich der Kinderpoesie, in dem der fromme Duft brennender Wachslichter, frischer Tannen und der feine Lackgeruch der neuen Spielsachen eure junge Seele umfängt!

Und das ist dieselbe Klingel, die ihn und seine Geschwister einst rief. – Lange hatte sie geschwiegen, dann wurde sie wieder hervorgeholt, als sein Junge groß genug war, um selbständig, aber mit dem zierlichen Fäustchen an die Röcke seiner guten Tante geklammert, in die Stube zu trippeln, zaghaft und schüchtern, mit einem verlegenen Gesicht und vor Erregung gerötheten Backen. An drei Christabenden hat diese Klingel den geliebten kleinen Schatz, sein ganzes Glück, herbeigerufen, wie sie einst ihn gerufen hatte.

Dann fuhr des Schicksals Hand mit einem grausamen vernichtenden Streich in sein Leben. Die Lichter seines Weihnachtsbaumes waren verloschen, vielleicht für immer, er war wieder allein und er verbarg sich mit seiner tiefen Wehmuth vor den andern, vor fremder Freude, vor anderer Glück.

Er hatte sich in einen Lehnstuhl dicht am Schrank niedergelassen, es war dunkel und still im Zimmer, nur im Ofen knisterte es, wenn die verbrannten Kohlen durcheinanderfielen, und an der Zimmerdecke war ein helles schiefes Viereck, der Schein der Straßenlaterne, sichtbar. Er ließ den Kopf etwas auf die Brust sinken und blickte vor sich hin, ins Finstere.

In seinem Schoß lag die alte Klingel, er [um]schloß sie mit seinen Händen, dann lösten sich langsam die [lei]se zuckenden Finger, und er faßte sie an dem wackeligen B[ügel] und hob sie empor, langsam, vorsichtig, damit ihre Stimme nicht erwache. Aber seine Hand zitterte und weckte die wohlbekannten Töne aus unwiederbringlichen, vergangenen Tagen. Er ließ es noch einmal erschallen, das helle, freudige Geklingel – aber es blieb finster rings um ihn, und die Thür öffnete sich so wenig, wie sich Gräber öffnen. –

Dann legte er die Hand auf die Augen und schluchzte.

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Das Postenstehen ist an sich schon eine der langweiligsten Beschäftigungen, und nun gar am Weihnachtsabend, noch dazu, wenn man ein blutjunger Scekadett ist, der erst kürzlich das behäbige Vaterhaus verlassen hat. Es ist ein Pech, gerade am Weihnachtsabend zur Wache kommandiert zu werden, aber einen muß es eben treffen. Es war im südlichen Dalmatien, wo mich dieses Schicksal ereilte; die Marine-Infanterie versah den Nachtdienst auf dem Lande, beim Pulvermagazin, beim Kohlendepot und auf dem Fort X; das letztere ist ein sehr wichtiger strategischer Punkt, der Schlüssel zu Oesterreich vom Süden her.

Die Wichtigkeit meiner Aufgabe – zwei Stunden lang um das Fort herumzuwandeln und auf die finstere Adria hinauszublicken, hatte mich mit der Reizlosigkeit dieses Dienstspazierganges nicht aussöhnen können. Wie ging’s jetzt wohl zu Hause her, und ich stand eingewickelt in den ewigfeuchten, steifen Wachtmantel, der mir in allen Richtungen viel zu groß war, das Gewehr im Arm, auf einem weltentlegenen Felsenvorsprung da unten bei den Morlacken und – wartete auf die Ablösung. Das ist hart, besonders wenn man selber noch ein bißchen Kind ist. Ich dachte an eine Lithographie, die ich auf dem Schulweg bei einem Bilderhändler zu sehen gewohnt war; sie stellte eine eingeschneite Schildwache dar, im Hintergrund waren hellerleuchtete Fenster zu sehen, hinter denen der Christbaum brannte. Jetzt kam ich mir selber so vor, nur der Hintergrund fehlte, – aber siehe da, plötzlich klirrte ein Fenster so ungefähr in Mannshöhe, und eine Frauenstimme rief die italienischen Dialektworte: „La senti“ („Hören Sie!“) herab. Nun sind ja in der Dienstvorschrift dem Wachtposten private Unterhaltungen untersagt, aber … das gute Herz der Ruferin sollte nicht verletzt werden – ich hatte die Frau mit ihrer Tochter schon am Nachmittag gesehen, sie war die Witwe des früheren Fortskommandanten und hatte sich nach dessen Ableben nicht entschließen können, den Ort zu verlassen. Und das noch immer hübsche Töchterchen verblühte in dieser Abgeschiedenheit, als wäre das so vollständig in der Ordnung.

„Kommen Sie doch einen Augenblick herauf, Kadett!“

„Ich darf nicht, Signora.“

„Ach was – ein paar Minuten am Christabend – das ist ja grausam so da unten …“

„Ich kann auch gar nicht, müßte ja an der Wachtstube vorüber …“

„Nicht nöthig, kommen Sie hier herauf – Marietta, Du bist stärker, hilf ihm …“

Diese Worte sprach sie ins Zimmer hinein. Ich weiß nicht, warum ich plötzlich anderen Entschlusses wurde, aber ich lehnte das Gewehr mit dem aufgepflanzten Bajonett an die Wand, hing den Wachtmantel darüber und erklomm das gastlich geöffnete Fenster, aus dem sich [819] schüchtern zwei Mädchenarme mir entgegenstreckten. Dann stand ich in der Stube, in der warmen, hellen Stube, vor einem kleinen Weihnachtsbaum, und die welkende Strandrose reichte mir schweigend ein Glas dampfenden Glühweins und die Mutter machte einen Teller zurecht mit Nüssen, Honigkuchen und Baumbehang. Das leerte sie mir dann alles in die Tasche des Kommißmantels. Dann sollte ich wieder gehen. Aber der Wein war höllisch heiß, ich mußte mit den Händen abwechseln und nahm nur kleine Schlucke. So dehnte sich der Besuch doch auf ein kleines halbes Stündchen aus, während dessen ich mich völlig der kindlichen Freude hingab; ich hatte also doch meinen Weihnachtsabend, und einen mit einem Kuß, den mir die alte Frau mit versteckten Thränen der Rührung gab - es war mir, als küßte mich meine Mutter. Das Mädchen reichte mir die Hand. „Es ist gleich neun,“ sagte sie, sie wußte, daß das die Stunde der Ablösung war. Eine Minute später war ich wieder zu meiner Pflicht zurückgekehrt, in den Wachtmantel geschlüpft und hatte das klirrende Gewehr geschultert. Niemand ahnte, daß ich mein theures Vaterland eine halbe Stunde lang unbewacht gelassen hatte, „aber – sagte ich mir – an dem Abend fängt ja doch keiner Krieg an.“ – Und ich habe mich glücklicherweise nicht getäuscht. Dieser Weihnachtsabend ist ein leeres Blatt in der Weltgeschichte.

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Ja, die Bande des Stammtisches – sie sind unbeschreiblich fest, und mancher kann sich nicht mehr davon befreien. Herr Pfeifer – das ist so ein eherner Stammtischgenosse, das Wirthshaus ist seine Welt, die gewohnte Tafelrunde ersetzt ihm alle anderen Arten des geselligen Verkehrs, die Häuslichkeit, das Familienglück. Er ist ein alter Junggeselle geblieben. „Ich habe den Anschluß versäumt!“ erklärt er auf Befragen, aber in Wirklichkeit hat er ihn gar nie ernsthaft gesucht . . . Er hätte ja das Wirthshausleben aufgeben oder beschränken müssen! Davor hatte er die meiste Angst. „Heute kommt wieder gar niemand!“ sagte er, zum so und so vielten Mal nach der Uhr sehend, denn er saß nur mit zwei Genossen an dem großen runden Tisch.

„Ja, einen Tag vor Weihnachten ...“ meinte einer der Stammtischfreunde erklärend.

„Werde froh sein, wenn der Rummel vorüber ist, kostet nur Geld und bringt einen aus seiner Ordnung,“ bemerkte Herr Pfeifer, und nach ein paar langen Zügen aus der Cigarrettspitze frug er, die Arme auf den blankgescheuerten Tisch legend, sein Gegenüber: „Aber Sie kommen doch morgen, Doktor?“

„Nee, bin in Familie,“ antwortete dieser.

„Und Sie?“ wendete sich Herr Pfeifer etwas unsicher an den andern.

„Bin auch eingeladen, – was machen denn Sie?“

„Was soll ich machen, es ist doch ein Tag wie ein anderer. Der Christabend ist für die Kinder, ich weiß nicht, was wir Erwachsene, die wir keine Kinder haben, dabei thun sollen – hm?“

„Aber es ist doch ein schönes Fest ... wissen Sie, das, was ein Dichter den jährlich wiederkehrenden Schalttag des Lebens nennt,“ meinte der gemüthvolle Doktor.

„Ja, ja,“ lächelte Herr Pfeifer, „es ist ja auch ganz hübsch, die Bescherung und so weiter, bis jeder entdeckt, daß ihm dies zu groß und das zu klein ist, und daß er sich etwas ganz anderes gewünscht hat, dann kommt die heimliche Verdrießlichkeit durchgesickert, alles ist müde, abgespannt ... ah, ich bitte Sie, ich habe es ja bei meinem Schwager ’mal mitgemacht – nie wieder! Ich will nichts hören davon. Meine Wirthschafterin bekommt ihre zwei Zwanzigmarkstücke – ich habe sie ihr schon gestern gegeben, da soll sie sich dafür kaufen, was sie will, und damit basta!“

Der Wirth, ein kleiner wohlgenährter Mann mit einem glänzenden glatten Gesicht, trat heran und stellte sich – die Hände auf die Lehne stützend und darauf trommelnd – hinter zwei leeren Stühlen auf.

„Morgen habe ich wohl nicht die Ehre?“

„Ach natürlich, doch nicht etwa des Festes wegen – hm, der auch!“ antwortete Herr Pfeifer verstimmt.

Der Wirth empfand das Bedürfniß, es gleich wieder gut zu machen. „Darf ich Ihnen einen hochfeinen Karpfen zurückstellen, Herr Pfeifer?“

„Was, Karpfen?“ krittelte der standhafte Stammtischgast, „denke nicht dran. Eß’ das ganze Jahr keinen Fisch, soll ich morgen einen Karpfen essen, der mir nicht schmeckt, nur weil Weihnachtsabend ist? Nein, nur keine solchen Sachen . . . ich kann das nicht ausstehen. Ein Tag wie der andere! Wer wird denn da Geschichten machen . . . Sie, übrigens, ich habe das Ihrem neuen Kellner schon gesagt, wenn er mir wieder ein Glas Bier bringt, so schlecht eingeschenkt, ich schicke es zurück . . .“

„Natürlich, Herr Pfeifer, haben vollständig recht!“ betheuerte der heuchlerische Biedermann von Wirth. Dann drehte sich das Gespräch zwischen den vieren um das Thema Bierpflege, das Geheimniß der Münchener Brauer, die Vorzüge des Pilsener Biers und um die muthmaßliche Rentabilität eines neueröffneten Bierpalasts an der Straßenecke. Zur gewöhnlichen Stunde löste sich die Gesellschaft, die heute nur ein Terzett gebildet hatte, auf.

„Nun also – kommt wirklich keiner morgen?“ frug Herr Pfeifer heimlich seufzend.

Die beiden wiederholten, während sie die Winterröcke anzogen ihre Verneinung. Dann machten sie sich, von dem Oberkellner, dem Wirth und dem Piccolo bekomplimentiert, auf den Weg.

Herr Pfeifer war in der That am nächsten Abend der einzige Gast am Stammtisch, ja überhaupt der einzige in der ganzen Kneipe. Nicht einmal der Wirth ließ sich blicken. Zum ersten Mal war der Pendelschlag der großen runden Wanduhr zwischen den verräucherten Kaiserbüsten zu hören. Der neue Kellner – ihn hatte es getroffen, den Abend im Dienst zuzubringen – stand in der Höhe des Fensters und blickte brütend auf die Häuser gegenüber, um doch auch ’was von einem brennenden Christbaum zu sehen.

Der einzige Gast störte ihn in diesen elegischen Betrachtungen durch die Bestellung eines zweiten Glases Bier, wobei er dem [820] Neuling abermals einschärfte, daß er sich eine ungebührliche „Schaumborte“ verbitte.

Dann holte er die Papierdüte aus der äußeren Brusttasche, stutzte mit der Cigarrenschere den gewohnten Glimmstengel, klopfte ihn bedächtig an der Tischkante ab und steckte die abgekniffene Spitze in die Westentasche.

„Hm, hm –– kommt wirklich keiner!“ sagte er zu sich selber, während er das Streichholz anrieb. Dann ballte er die Serviette zusammen und warf sie abseits auf den Tisch.

„Kellner, bringen Sie mir die „Fliegenden!“

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Der Weihnachtsabend des „ Stammgastes“.


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Die Achillesferse.

Skizze von Emil Roland.

Er hatte nun einmal im Lebenstheater seinen Platz im zweiten Range.

Zuweilen sah er mit stiller Sehnsucht denen zu, die sich dank größerer Energie, vielleicht auch dank einer stolzeren Einbildung auf das theure Ich bei Zeiten besser „abonniert“, ihren Stuhl auf einen dankbareren Boden gesetzt hatten. Neid empfand er dabei nicht, seine Gutmüthigkeit schloß das aus, aber ein dumpfes Gefühl, gemischt aus Hoffnung und Wehmuth, überkam ihn. Sein Dasein war zwar kein unangenehmes; Straßenbettler, verschuldete Kaufleute und hungernde Künstler beneideten ihn zu Dutzenden. Und doch fehlte diesem Leben etwas – das Dasein gab ihm manches Gute, nie das Beste! Es war eben eine Existenz vom zweiten Range, ein Schicksal zweiter Güte!

Die Menschen, die ihn kannten, wußten niemals etwas Böses über ihn zu sagen, und da sich nicht einmal eine lustige Glosse an seinen rothblonden Durchschnittskopf hängen ließ, so erwähnten sie seiner kaum. Plötzlich aber kam eine Zeit, in der jeder von ihm sprach, wo sein Name von Lippe zu Lippe flog und genannt ward im abfälligsten Ton, den „freundliche“ Mitbrüder füreinander haben. Er hatte ein großes Unrecht begangen – eine Braut verlassen, eine ehrbare Familie bloßgestellt, seinen eigenen bürgerlichen Ruf erschüttert. Zwei Monate lief er so Spießruthen in seiner Vaterstadt – dann verließ er sie und siedelte sich anderswo an.

Es ist nicht leicht, „anderswo“ anzufangen, wenn man sich das Dasein in der Heimath selbst verschüttet hat und einen blessierten Ruf mitnimmt, der wie ein Theatergeist immer wieder aus der Versenkung steigt, meist gerade dann, wenn er am nothwendigsten unter derselben hätte bleiben müssen. Die Eisenbahnnetze, die Reisewuth, unter deren Zeichen die Kinder unserer ruhelosen Zeit stehen, lassen keine Achillesferse im Verborgenen. So leicht kommt jemand von dort nach da, fragt, was aus dem Landsmann geworden, zuckt die Achseln, deutet an, wird bestürmt und erzählt – scheinbar ungern, in Wahrheit mit Lust.

So kam auch sein wunder Punkt bald genug zu Tage. Die Mütter warnten ihre Tochter vor ihm, die Männer hielten mit ihrem Vertrauen zurück; die „jeunesse“ streifte ihn mit einem Blicke des Staunens, weil dieser Don Juan sich so gut verstellte, weil er scheinbar so schuldlos einherging und die Belastung seines Gewissens nicht einmal in dem treuherzigen Blicke seiner blauen Augen erkennen ließ.

Ob er das alles merkte? Wer weiß! Still und resigniert ging er seines Weges, einer jener Einsamen, die vielleicht eine Welt in sich tragen, denen aber die Welt der anderen gleichgültig ist, gleichgültig oder beängstigend; nicht gerade ein Unglücklicher, aber doch ein Glückloser, ein Abonnent vom zweiten Range, dessen Schuld allein darin lag, daß er sich ein einziges Mal zum ersten hatte erkühnen wollen.

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Achilles Schmitt – er war wirklich auf den Namen Achilles getauft, die Ferse fand sich erst später dazu – brachte das Kunststück fertig, dreißig Jahre in der Welt zu sein und noch keine Kleinigkeit erlebt zu haben, die vom Gewöhnlichen abwich. Er war wohlbestallter Bankbeamter, weder hübsch noch häßlich, ohne jeden hervorstechenden Zug, ohne eine komische Angewohnheit, ein Mensch, den man oft gar nicht gewahrte, wenn man ihn ansah, der aber – von der höheren Moral aus betrachtet – über vielen glänzenden Existenzen stand. Er war ein stiller Wohlthäter der Armen, ein rührender Sohn, der die Schulden seines Vaters in langjähriger Arbeit abbezahlt und es schließlich dank seinem unermüdlichen Fleiß zu einem leidlichen Wohlstand gebracht hatte.

Gereist war er kaum, gelesen hatte er wenig. Nie auch strich der Zufall oder ein besonderes Erlebniß an die lyrische Saite, die in jedem Herzen aufgespannt ist und nur des Griffes wartet, damit sie tönen kann. Nicht einmal der erblühende Lenz hatte Macht über ihn. Pflicht und Arbeit machten ihn blind, aber nicht, weil er blind sein wollte, nur weil er nicht ahnte, wie schön das Sehen ist.

Da trat eine Wendung ein. Als blaue Pappkarte fiel sie ihm in die Hand, zufällig, ohne daß er ihre Wichtigkeit ahnen konnte.

Ein junger Architekt schob ihm besagte Karte beim Mittagessen über den Tisch. „Schmitt,“ sagte er dabei, „ich muß auf fünf Wochen nach Berlin. Nehmen Sie mir doch das Ding da ab! Es ist wirklich bildend und ich brauche bar Geld, damit ich wenigstens ‚vierter‘ fahren kann – fünfter giebt’s ja leider nicht!“

Achilles nahm das „Ding“. Es war eine Abonnementskarte für Vorlesungen im Stadthaus. „Was soll ich damit?“ fragte er. Am liebsten hätte er dem jungen Manne, der ihm mit dem Anstand eines lustigen Königs gegenübersaß, die Summe geschenkt. Er wagte es aber nicht, zog die Börse und zahlte den Betrag in die gesunde, dankbar sich hinstreckende Hand. Dann steckte er die blaue Karte arglos in seine Brieftasche.

Von dort aus fiel sie ihm täglich in die Hand, wenn er – peinlich ordentlich, wie ihn die Natur und sein Beruf gemacht – etwas aufschrieb oder dem braunen Schildkrötleder einen Geldschein entnahm. Halb zerstreut las er dann auch wohl die Daten der Vortragsabende. Zwei davon waren schon vorüber, der dritte stand unmittelbar bevor. Bildungsbedürfniß stak von jeher in seiner Seele, nur daß er nicht die Zeit oder bloß ein Konversationslexikon gehabt hatte, ihm zu genügen. Auch erschien ihm die gedruckte Karte wie eine Verpflichtung – kurzum: als es an dem betreffenden Tage sieben Uhr schlug, saß Achilles Schmitt wirklich auf Stuhl 102 und schaute gespannt durch seine goldene Brille allem Kommenden entgegen.

Diesmal kam die „Bildung“ von einem Recitator. Er konnte ein ganzes Heldengedicht auswendig, und nachdem er auf einem Stuhle langsam Platz genommen hatte, so, daß sämmtliche Zuhörer die Eleganz seiner übertrieben spitzen Stiefeletten und seiner seegrünen Handschuhe bewundern konnten, begann er ohne Umschweife oder Einleitungsworte die schönen Verse über zweihundert lauschende Häupter hinzuschmettern.

Hinter Achilles verfielen zwei Backfische sofort in krampfhafte Lachzustände, zwei unartige Mädchen mit langen Gliedern und langen Zöpfen, die das Leben im allgemeinen komisch fanden und den Recitator insbesondere. Darüber entrüstete sich neben ihm auf dem Stuhl 103 ein ältliches Fräulein, einer jener

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Ein Weihnachtskränzchen vor hundert Jahren.
Originalzeichnung von W. Zehme.

[822] weiblichen Vortragsmarder, die es viel zu billig finden, für eine einzige Mark von einem zugereisten Genie aus der Tagesprosa in reine Höhen gehoben zu werden. Sie sah in dem Kichern eine Entweihung und wandte sich drohend um. Unwillkürlich rückte Achilles ein wenig nach rechts, und zufällig streifte da sein Blick den Seitendivan, neben dem er saß. Himmel! dachte er, ist so etwas denn möglich?

Er blickte gerade in das Gesicht eines Mädchens hinein, in ein blondes frommes unbewegliches Gesicht, das dem vortragenden Stutzer mit staunender Aufmerksamkeit zugekehrt war. Schnurgerade saß das Mädchen da, die Hände in braunem Leder sittsam auf dem dunkelblauen Kleide ineinandergelegt; sie rührte und regte sich nicht, sie war ganz wie ein Madonnenbild aus dem Glasfenster eines Domes, die Toilette natürlich zeitgemäß umgestaltet.

In derselben Minute begann der Recitator, „lyrisch“ zu werden – es waren echte Liebeslieder, tiefe Klänge von Lust und Glück. Die Backfische lachten wieder; sie fanden den Mann da oben in seiner unbeweglichen Haltung gar zu komisch; er aber, Achilles Schmitt, saß wie ein Veränderter da, zwiefach gefangen von Poesie und Liebe. Das giebt immer ein fragliches Gemisch und unsichere Folgen – zuweilen eine Heirath, zuweilen ein Unglück, meistens eine Thorheit.

Als Schmitt nach Hause kam, dachte er unaufhärlich an die Nachbarin auf dem rothen Divan. War es denn möglich, daß er, der solide gesetzte Achilles, sich so plötzlich wie ein spazierengehender Primaner verliebt hatte?

Mit Spannung sehnte er den nächsten Vortragsabend herbei. Als dieser endlich kam, ging Achilles vorher zum Friseur, band dann einen modernen Klappkragen um, zog neue Raupenhandschuhe an und war zitternd vor Hoffnung bereits mit den Ersten im Saale. Von der Furcht gepeinigt, daß sie am Ende doch nicht wiederkomme, wartete er ängstlich auf seinem Stuhle. Da plötzlich glitt sie an ihm vorbei; ihm war, als streife ihr Blick über ihn hin – er sah den Saum ihres blauen Kleides, sah, wie sie sich ruhig und gemessen niederließ, und wagte noch immer nicht aufzuschauen. Erst ganz spät – der Wanderprofessor, der heute über ägyptische Dynastien las, war bereits bei Ramses dem so und sovielten angelangt und sezierte selbigen sehr hübsch und übersichtlich für das Verständniß der mitteldeutschen Fabrikstadt – erst nach langem Kampfe wanderte sein Blick zu ihr hin, schüchtern und anbetend. Nein, wie reizend sie war! Ob er wohl den Muth finden würde, ihr beim Fortgehen zu folgen, um zu erfahren, wo sie wohnte, wer sie war? Er taxierte seinen Besitz an Muth – nein, zu einem solchen Wagniß reichte er nicht aus.

Und doch hatte ihn die blaue Karte glücklich gemacht, seinem Leben Inhalt gegeben, seinen Träumen Schimmer. Sonst träumte er stets von Kurszetteln, von den Gesichtern fremder Buchhalter – wenn es schlimm kam, von Bankerott und Unterschlagung. Jetzt lugte zu jeder Ecke seines Traums eine wie auf Glas gemalte Heilige herein, und dunkel kam ihm die Ahnung, daß sein Leben doch schöner werden könne, daß er nicht immer im zweiten Range zu sitzen brauche; schließlich tauchte der vermessene Gedanke an eine Heirath auf. Sie wird doch nicht gerade die Tochter des Oberbürgermeisters sein, hoffte er, vielleicht ist sie verwaist, vielleicht hätte sie doch die Güte, mich zu nehmen; das nächste Mal will ich jedenfalls etwas kühner sein.

Und „das nächste Mal“ kam; mit ihm ein Vorleser aus Ungarn, der sich stolz als „Ritter“ ankündigte, eine düstere Erscheinung, die sich mit rollenden Augen und ohne Konzept daran machte, eine übelbeleumdete Persönlichkeit der Geschichte sittlich reinzuwaschen – es wäre nur zu wünschen gewesen, flüsterten sich die Backfische zu, daß er dasselbe Geschäft erst körperlich an sich besorgt hätte.

Wieder zürnte der benachbarte weibliche Schöngeist, der in seiner milden Menschenfreundlichkeit so gern an die Trefflichkeit des Caracalla, oder wer nun gerade das abzuwaschende Subjekt war, glauben wollte. Wieder wie immer zierten Schülergestalten mit übereinandergekreuzten Beinen die Säulenschäfte des Saalhintergrundes, kindliche Gesichter, aus denen das freudige Bewußtsein strahlte, die ganze Weisheit zum halben Preise zu bekommen und noch obendrein gratis im sitzenden Publikum angebetete Schulmädchenköpfe zu entdecken.

Wie immer starrten Armleuchter und Gipsmusen von den Wänden – aber eins war nicht wie sonst. Eine Fremde saß auf dem Platze von Herrn Schmitts Madonna – gerade heute, an dem Abend, wo er trotz seines mangelhaften Muthes den ersten kleinen Schritt zu wagen dachte!

Wer war sie? Wie kam sie auf ihren Platz? Sie mußte doch in Zusammenhang stehen mit ihr! Immer wieder sah er sie an. Einmal trafen sich ihre Blicke – es war ein strenger, unangenehmer Gegenblick, den er abbekam.

Der „Ritter“ – daß es keiner „vom goldenen Vließ“ war, bezweifelte außer Achilles’ Nachbarin niemand – schloß mit einem großen Wortschwall glänzend ab. Hätte der römische Kaiser aus seinem länderfernen Grab die nachträgliche Reinwaschung hören können, sie wäre ihm vermuthlich sehr gleichgültig gewesen; trotzdem hatte das Mundwerk des Ritters allmählich das geschichtlich verbriefte Scheusal zum Engel gemacht. Lautes Beifallklatschen, Verbeugungen des „Ritters“ vom Podium, und die Menge verlief sich.

Draußen war Winternacht und Glatteis. Vorsichtig tastende Gestalten wimmelten aus dem Stadthaus und vertheilten sich in die verschiedenen Richtungen. Gaslaternen, vereinzelte Sterne und ein zuweilen hinter Wolken hervortretender Mond beleuchteten das Nachtbild. Wer Bekannte traf, hakte bei ihnen ein und focht den Kampf mit der Glätte gemeinsam. Einzelne Pilger glitten ängstlich an Wänden und Laternenpfählen hin.

O! dachte Achilles, das wäre nun die beste Gelegenheit, ihr den Arm zu bieten oder wenigstens ihrer Stellvertreterin – denn, wer weiß ... es führen viele Wege nach Rom! Er stand unter dem Thorgang und spähte unter alle Kupuzen, bis er die Gesuchte fand, die rathlos auf den spiegelähnlichen Boden sah. „Mein Fräulein!“ log er entschlossen, „ich habe denselben Weg wie Sie –“

„Woher wissen Sie denn, wo ich wohne?“ fragte eine scharfe Stimme unter dem Schleier hervor.

Er stammelte verlegen etwas Unverständliches und begann dann schnell mit einer Auseinandersetzung über die ernsten Gefahren des Glatteises, so daß die Unbekannte erschrocken den angebotenen Arm ergriff. Und je mehr sie einsah, wie glatt es war, desto fester klammerte sie sich an ihren Begleiter.

„Waren Sie schon im letzten Vortrag?“ fragte er endlich.

„Nein, die Karte gehört mir gar nicht.“

„Wem denn?“ Sein Herz klopfte hörbar.

„Meiner Nicht –“

„Ihre Nichte ist doch nicht krank?“

„Nein. In Berlin.“

Ihn durchzuckte die Vorahnung künftiger Seligkeit – wenn man eine Nichte liebt, ist es immer schon ein Glücksfall, die Tante am Arm zu halten. Dann empfand er dumpfe Angst. Berlin ist so groß, „hat der Tücken soviel und Gefahren!“

Plötzlich glitt die Tante aus; er hielt sie noch rechtzeitig fest. „Wann kommt Ihre Nichte wieder?“ rief er heiser.

„Uebermorgen!“ Sie hörte kaum auf das Gespräch, sie ängstigte sich nur um ihre augenblicklich sehr unsichere Existenz.

„Ich glaube,“ rief sie plötzlich, „Sie stützen sich viel mehr an mir, als ich mich an Ihnen!“ Dabei ließ sie seinen Arm fahren, tappte einem Gitterthor entgegen und wanderte daran hin. Er folgte in drei Schritt Abstand.

Liebenswürdig ist sie nicht, dachte er, aber natürlich – alles kann ja in einer Familie nicht Engel sein; auch Familien müssen von ihren Vorzügen ausruhen.

Ein paar gescheite Leute hatten sich im nächsten Laden Wollsocken gekauft und eilten in diesen mit neuer Sicherheit gleich Schattenbildern vorüber; nun da für sie das Stolpern unwahrscheinlich war, sahen sie spöttisch auf die anderen minder Klugen, zumal auf das wunderliche Paar, das sich langsam und schweigend an den Gartengittern entlang tastete.

„Grundgütiger!“ rief mit einem Mal die Tante; „das war der Herr Rechnungsrath! Was wird der denken – ich mit einem jungen Mann allein auf der Straße!“

Achilles hatte keine Ahnung, was in solchen Fällen Rechnungsräthe zu denken pflegen. Er schwieg.

„Das ist zu peinlich!“ fuhr sie fort. „Aber Gott sei Dank, wir sind gleich am Haus. Herr – ja wie heißen Sie denn, mein Herr?“

„Schmitt –“

„So hören Sie, Herr Schmitt! Sie hätten das nicht thun dürfen, so ohne weiteres eine unbeschützte Dame zu begleiten!“

Achilles raffte sich auf. „Mein Fräulein,“ sagte er muthig, „da ich hoffe, daß uns einst engere Bande verknüpfen, können wir etwaigen Mißdeutungen wohl kühn die Spitze bieten –“

[823] „Engere Bande?“

„Nun ja,“ stammelte er verwirrt, „Bande der Verwandtschaft. Lassen Sie es mich nur offen gestehen: dies Vortragsabonnement hat mir das Glück meines Lebens gebracht!“

Hier gerieth er ins Stottern, verhaspelte sich mehrmals in einem Satze, aus dessen verworrenen Tiefen immer wieder das Wort „sie“ hervorzitterte, das er auf die Nichte, die Tante aber, als groß geschrieben, auf sich bezog, und schloß endlich mit der Frage, ob er in drei Tagen kommen dürfe.

Inzwischen waren sie am Haus der Tante angelangt, auf das diensteifrige Klingeln von Achilles erschien das Mädchen und riß die Hausthür auf. Das Fräulein sah ihn noch immer mit einem sonderbaren Ausdruck an. „Ja, was sind Sie denn eigentlich?“ fragte sie schließlich.

„Bankbeamter Schmitt – Achilles Schmitt –“

„Achilles? O wie trojanisch!“ bemerkte sie mit plötzlicher Freundlichkeit. „Auf Wiedersehen, Herr Schmitt!“

Der wohlbeleibte Hausgeist schlug die Thüre zu; Achilles stand allein auf der glatten Straße.

Das habe ich klug gemacht! sagte er selbstzufrieden. Also in drei Tagen – o! Warum sie nur „trojanisch“ gesagt hat? Achilles war doch wohl mehr ein Grieche!

Und mit einem Herzen voll Seligkeit und Hoffnung stapfte er langsam und vorsichtig über die nächtliche Straße nach Hause. –

Nun kamen die drei schönsten Tage in Achilles Schmitts Leben – Tage ersten Ranges, erster Güte. Die Menschen, mit denen er zusammentraf, wunderten sich über ihn. Was hatte er nur? Die blauen Augen strahlten so sonderbar durch die Brille, und alles an ihm, was bisher indifferent, durchschnittsmäßig gewesen war, trug plötzlich den Stempel einer seltsamen unbeholfenen Seligkeit, bis endlich die Entscheidungsstunde kam und seine Madonna aus dem Rahmen trat.

Klopfenden Herzens ging er in das Haus. Der dicken Köchin drückte er gleich zum Anfang ein großes Trinkgeld in die Hand. Dann stand er im Salon, wartend, Bilder anstarrend ohne eine Ahnung davon, was sie vorstellten – und endlich knarrte die Thür und das aus Berlin zurückgekehrte Heiligenbild stand vor ihm. Hier erreichte das kurze Glück, das Herrn Schmitt beschieden war, seinen Gipfel.

Das Mädchen nickte ihm lächelnd zu, und natürlich verschönte dieses Lächeln ihre Züge noch.

„Wie freue ich mich!“ begann sie. „Sie glauben nicht, wie glücklich ich bin, daß sich alles so gemacht hat! O, wie schön wird nun auch für mich das Leben sein! Aber setzen Sie sich doch, Herr Schmitt – bitte, Ihren Hut!“

Und sie nahm ihm den Hut aus der Hand, so daß er mit seinen ungeschickten Armen fast hilflos dastand, bot ihm einen Stuhl an, setzte sich in die Sofaecke und fuhr fort:

„Verzeihett Sie mir, daß ich gleich gekommen bin! Aber die Tante ist noch bei der Toilette, und sehen Sie – ich wollte Sie doch so gern allein sprechen!“

Er sah sie dankbar an und wollte nun auch etwas sagen, natürlich ihren Namen –

„Wie heißen Sie nur?“ fragte er schüchtern, „ich meine den Vornamen – alles andere weiß ich bereits aus dem Adreßbuch.“

„Ja so,“ entgegnete sie, „das müssen Sie allerdings erfahren! Getauft bin ich Antoinette, aber so nennt mich zum Glück niemand. Antoinette klingt so geziert. Sagen Sie nur auch wie die anderen alle: ‚Toni‘.“

„Toni!“ stammelte er und griff nach ihrer Hand. „Wie bin ich glücklich!“

„Wirklich? Wie mich das freut! Aber Sie verdienen es auch, glücklich zu sein, und die Tante ebenso –“

„Die Tante?“ fragte er verwundert.

„Nun natürlich! Sie muß übrigens gleich kommen, und vorher, Herr Schmitt – vorher möchte ich Sie noch um etwas bitten. legen Sie auch für mich ein gutes Wort ein!“

„Aber gewiß –“

„Sie müssen nämlich wissen, es ist für mich geradezu ein Glücksfall, daß die Tante sich noch verheirathet! Zu erwarten war es ja nicht mehr. Tante ist in vielen Dingen so schwierig, wie soll ich sagen, so streng – o, Sie brauchen nicht zu erschrecken, Herr Schmitt! Sie werden das nicht empfinden – Liebe gleicht ja alles aus! Allein sie hätte mir ohne diese Wendung wohl schwerlich gestattet, zu heirathen, und da ich ebenfalls Pläne habe“ – hier zupfte sie verlegen an ihrem Taschentuch – „ja, da ich sogar schou ganz regelrecht verlobt bin –“

Achilles war aufgesprungen. In ihm wurde es mit einem Male schrecklich klar. „Fräulein Toni!“ stieß er hervor, „wer ist denn eigentlich Ihr Bräutigam?“

Auch Toni fuhr in die Höhe. „Aber Herr Schmitt, Sie sind ja schrecklich blaß geworden! Nicht wahr, das Verloben greift an? Indessen beruhigen Sie sich nur, die einleitenden Feierlichkeiten sind das Schlimmste – wenn man erst das Jawort hat, so wird es wirklich sehr nett.“

„Den Namen,“ rief er, „den Namen Ihres Bräutigams!“

„O – Sie kennen ihn!“ entgegnete sie, erstaunt über sein aufgeregtes Benehmen. „Sie haben ja sein Vortragsabonnement übernommen, Platz 102 – Sie wissen doch! Im Stadthaus sahen wir uns – dann reiste er fort – ach, Sie glauben nicht, welchen Schrecken ich bekam, als statt seiner dann plötzlich Sie erschienen! Ich konnte ja nicht ahnen, daß derselbe Platz auch Ihnen und meiner Tante noch Glück bringen sollte. Dann traf ich ihn in Berlin wieder, zufällig – in der Pferdebahn – und dann – nun dann hat sich’s eben gemacht! Nicht wahr, Herr Schmitt, wir feiern Doppelverlobung – aber was haben Sie nur? Sie sehen ja ganz leichenblaß aus!“

Achilles war auf einen Stuhl gesunken.

„Antworten Sie doch!“ flehte Toni. „Nicht wahr, Sie setzen es bei der Tante durch, daß wir beide uns auch haben dürfen?“

Da nahm er ihre Hände in die seinen, Hände, die ihm trotz ihrer Nähe im Grunde ebenso unerreichbar waren als die gemalten Finger der Glasheiligen im Dome, und sagte vernichtet: „Alles thu’ ich, was Sie wünschen, Toni!“

Da ging die Thüre auf und die Tante rauschte herein. Sie trug ein altmodisches Ripskleid und eine seltsame Frisur. Selbst Achilles, der kein Modegeck und besonders in diesem Augenblick keiner Kritik fähig war, ahnte dunkel, daß so etwas unerlaubt sei.

Toni flog ihr um den Hals. „Wir machen Doppelverlobung und morgen steht’s unter den Anzeigen!“ Dann umarmte sie Herrn Schmitt und rief selig: „Onkel Achilles, wie danke ich Dir!“

Er wußte nicht, was thun. Die Situation trieb ihn weiter. Nur eins stand klar vor seiner Seele: aufklären konnte er das Mißverständniß nicht, jetzt nicht. Dazu reichte sein Muth nicht aus. So gab er denn der Tante die Hand, stammelte Worte von Ergebung, Achtung, Dankbarkeit. Sie hörte ihn gnädig an. Auf ihrem Gesicht stand geschrieben, was sie dachte. „Wie wird mein Kränzchen sich wundern!“

Zuletzt erschien noch Leonhardt, der junge Architekt, mit einem großen, kleidsamen Schlapphut und einer genialen Kravattenschleife von überzeugendstem Blau. In der Erinnerung glaubte Achilles später noch eine Bowle auftauchen zu sehen, die man getrunken hatte, Scherze des übermüthigen Architekten, das strenge starkknochige Gesicht der Tante und ein Madonnenprofil, das, von ihm abgewendet, lächelnd in die Züge eines Glücklicheren schaute.

*               *
*

Am Tage darauf – Leonhardt war stets für rasche Erledigung – stand die Doppelverlobung im Tageblatt.

Zwei Tage erschien Achilles nicht bei seiner Braut. Er ließ sich mit einer heftigen Erkältung entschuldigen. In Wahrheit war alles in ihm vernichtet und zerbrochen. Am dritten Tage erschien der Architekt in seiner Wohnung und sagte energisch:

„Schmitt – Ihr Betragen ist nur mit etwas zu erklären, mit Zahnweh. Haben Sie das aber nicht, so sind Sie unentschuldbar und müssen mit!“

Achilles sah ihn mit dem traurigen Blick eines kranken Thieres an. Da drohte Leonhardt mit dem Finger.

„Den wohlmeinenden Rath gebe ich Ihnen: machen Sie die Tante nicht böse! Ich versichere Sie, in ihrem Grimm kann sie furchtbar sein, und ich glaube, ziemlich geladen ist sie schon –“

Schmitt griff nach seinem Ueberzieher. Plötzlich ließ er ihn fallen. „Ich kann nicht, Leonhardt!“ rief er, „ich kann wirklich nicht – ich habe mich geirrt.“

Der Architekt nahm eine kalte strafende Miene an. „Herr Schmitt,“ sagte er streng, „in solchen Dingen irrt man sich nicht. Thut man es aber doch, so ist man gewissenlos. Nun, ich habe meine Toni, und zum Glück gehen mich die Angelegenheiten ihrer Tante nicht allzuviel an.“

[824] Und fort war er!

Ich könnte, sagte Achilles nach langem Sinnen zu sich selbst, mit einer Frau wohl in Frieden leben, auch wenn sie meinem Ideal nicht entspräche, aber das kann ich nun und nimmer – Onkel sein, wo ich lieber Gatte wäre!

Noch am selben Abend schrieb er seiner Braut ab, so schonend als möglich, alle Schuld auf sich ladend, sich selbst heruntermachend, als wäre er der elendeste Verbrecher, den die Sonne beschien. – –

Vierzehn Tage lang hütete Herr Schmitt das Haus; endlich aber mußte er wieder ins Geschäft. Da sah er, was er angerichtet hatte; strafende Blicke trafen ihn, man kannte ihn nicht mehr, grüßte ihn kaum. Die Achillesferse machte sich geltend. Herr Schmitt war der „bewußte“ Schmitt geworden. Sein Ruf hatte den tadellosen Glanz von ehedem ganz verloren.

Endlich beschloß er, fortzuziehen. Seine auswärtigen Geschäftsverbindungen machten es ihm leicht, anderswo eine Stellung zu finden. So brach er seine Existenz ab und verließ die Stadt, wo er sich erkühnt hatte, drei Tage auch einmal ein Glück erster Sorte zu genießen. Die blaue Karte nahm er mit sich; er trug sie als Talisman in der Brieftasche.

Nur eines wünschte er noch, ein Abschiedswort von Tonis Lippen, ein Wort der Verzeihung. Er umwanderte stundenlang das Haus, in steter Angst vor der Tante, bis der Zufall ihm eine letzte Wohlthat erwies.

Toni kam am Arme ihres Bräutigams. Dieser wollte pfeifend an Achilles vorüber. Der aber trat auf Toni zu. „Fräulein Toni,“ begann er schüchtern, „ich reise morgen für immer ab – sagen Sie mir noch ein gutes Wort!“

Da wandte sie ihm stolz den schmalen Kopf zu, sah ihn kalt und vernichtend an und entgegnete schneidend:

„Ich hätte nie gedacht, Herr Schmitt, daß Sie so verderbt sind!“

Diese Worte waren der Schluß seines Traumes.

Die Madonnenlippen sprachen sie zuerst aus, und sie blieben hängen als Aufschrift über seinem Leben.

In der neuen Heimath that er niemand etwas zu leide, lebte musterhaft hin, still und resigniert. Dafür belohnte man ihn denn auch, indem man Herrn Schmitts Verderbtheit nicht etwa erklärlich fand, sondern nie aufhörte, sich stets aufs neue über sie zu – wundern.


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Deutsche Bühnenleiter.

Max Grube.

Unter den hervorragenden deutschen Bühnenleitern ist Max Grube einer der jüngsten, dem Alter wie der Würde nach. Am 25. März 1854 geboren, hat er die vierzig noch nicht erreicht, und seit Dezember 1890 „Oberregisseur“ des Königlichen Schauspielhauses zu Berlin, hat er seine Direktionsfähigkeiten kaum zwei Spielzeiten hindurch bewähren können. Nichtsdestoweniger hat er sich die allgemeinste Achtung zu erwerben gewußt, und man sieht wieder mit langentbehrtem Vertrauen in die Zukunft der königlichen Bühne. Grube heißt nicht „Direktor“, er ist es aber dennoch. Er selbst lehnte diesen Titel ab, da er nicht der Meinung ist, daß „eine Würde, eine Höhe“ die Vertraulichkeit entfernen müsse. Im Gegentheil: er verspricht sich ein ersprießliches Zusammenwirken von Haupt und Gliedern nur dann, wenn beide einem Körper angehören. Darum ist er auch entschlossen, niemals damit aufzuhören, selbst zu spielen, wie bedrohlich immer die Direktionsgeschäfte anwachsen mögen. Die Schauspieler haben mehr Vertrauen – das ist sein Glaubensbekenntniß – offenbaren leichter ihre künstlerische Seele, den Kern ihres Könnens, wenn der Führer unter derselben Schminke sich müht wie sie; wenn sie in ihm für jeden Zug, den sie aus sich herausholen, nicht das von außen kommende Verständniß des wenn auch noch so wohlwollenden Kunstliebhabers finden, sondern das von innen aufsteigende Verständniß des Handwerksgenossen, der jeden Tag in die Lage kommen kann, denselben Zug machen zu müssen; die Schauspieler fühlen sich viel enger mit einem Leiter verwachsen, der wie sie der öffentlichen Kritik sich aussetzt, der wie sie Sturm und Wind des Kampfes um Erfolg sich um die Nase pfeifen läßt und die Gefahr nicht scheut, im öffentlichen Urtheil selbst unter diesen oder jenen seiner Mitkämpfer gestellt zu werden.

Als Grube seinen heutigen Posten antrat, war seine Stellung nichts weniger als beneidenswerth. Das Königliche Schauspielhaus hatte jahrzehntelang an einem Stillstand gekrankt. Grube übernahm dasselbe ohne ein einheitliches Ensemble, ohne ein hoffnungsvolles Repertoire, dagegen trat er die volle Erbschaft von Mißtrauen und Geringschätzung an, welche die litterarischen und kunstverständigen Kreise der Hauptstadt dem königlichen Theater gegenüber empfanden. Und es ist seither besser geworden, Mißtrauen und Geringschätzung haben sich während der kurzen Zeit der Grubeschen Leitung in Vertrauen und Achtung verwandelt. Nicht daß die königliche Bühne heute schon die Stellung in Berlin einnähme, die sie einnehmen müßte: an der Spitze des künstlerischen Lebens! Aber viel ist doch schon geschehen.

Nach drei Richtungen hin hatten sich Grubes Bemühungen zu erstrecken; was der Bühne noththat, war erstens eine Erneuerung, eine Blutverjüngung des Personals, zweitens ein einheitlich abgestimmtes und charakteristisch bewegtes Zusammenspiel in einer den Anforderungen der Gegenwart entsprechenden Jnscenierung und drittens eine Belebung des Repertoires. Das war alles nicht leicht. Denn Grube war nicht Herr über sein Haus wie ein Direktor, der auf eigene Rechnung spielt, und wenn seine Absichten auch ein geneigtes Ohr beim Intendanten Grafen Hochberg fanden, so giebt es doch an einem großen Hoftheater Schwerkräfte mannigfachster Art, die niemand im ersten Anlauf überwinden kann. Seit Grubes Herrschaft weht ein frischer Hauch im Hoftheater, und daran muß man sich für den Anfang genug sein lassen.

Grubes Bühnenleitung ist zwei Einflüssen unterworfen: den Nachwirkungen der Meininger Schule und der scharf ausgesprochenen Verständigkeit seines Wesens. Er hat als Meininger begonnen und als Meininger geendet, bevor er nach Berlin kam, und die Schule des Herzogs Georg zeigt sich überall in seinen scenischen Anordnungen. Wohl tritt das Aeußerliche zurück: die peinliche Treue der Dekorationen und die Echtheit der Requisiten; das ist nur einmal möglich, und jede Nachahmung ist abscheuliches Plagiat. Aber die innere Verbindung von Dichterwort und Dekoration, von Rolle und Requisit – das ist von Meininger Herkunft. Nicht der Glanz des Rahmens ist hierbei das Entscheidende, sondern seine genaue Uebereinstimmung mit dem Text. Mit geläutertem Geschmack hergestellt, ist dieser Einklang von Leib und Kleid, von Wort und Bild ein mächtiges Hilfsmittel, um die erwünschte Stimmung zu erzeugen, die Illusion vollkommen zu machen. Zu mechanisch aber, zu absichtlich herbeigeführt, kann die dem Dichter peinlich folgende Inscenierung gerade das Gegentheil der beabsichtigten Wirkung erzeugen, nämlich die Illusion zerstören. So z. B. wenn bei den Worten Fausts im Osterspaziergang:

Und, bis zum Sinken überladen,
Entfernt sich dieser letzte Kahn –

dieser „letzte Kahn“ wirklich erscheint, wie auf ein Stichwort aus der Versenkung emporsteigt, wenn dann Menschen ihn anfüllen und die Zurückbleibenden am Ufer mit Hüten und Tüchern schwenken. Das, was der in die Ferne schauenden Phantasie in bunter überreicher Fülle erscheinen soll, wird hier dürftig in die Nähe gerückt. Die Einbildungskraft sieht bei den Worten Fausts nicht nur den letzten Kahn, sondern auch alle, die vorangegangen waren, voll fröhlichen Lärms und bunt bewimpelt. Der eine Kahn aber giebt dem Auge eine unwillkommene kleinliche stumme Illustration zu den Worten; er verringert das Bild und schwächt den Eindruck. Das ist nur ein Beispiel für viele, wie eine überdeutliche Inscenierung verflacht. Dieser Gefahr dessen, was man „Meiningerei“ nennt, hat sich Grube noch nicht entwunden; er steckt noch zu tief in der Schule. Wir erwarten von ihm das volle Maß seiner Kunst erst dann, wenn er die werthvollen Meininger Bildungseinflüsse völlig verarbeitet und sich zu freier Entfaltung seiner eigenen Anschauung durchgerungen haben wird.

Das, was er selbst aus seinem eigenen Wesen hinzubringt, ist [825] eine scharfe Verständigkeit. Grube vereinigt eine gediegene Geistesbildung mit einem durchdringenden und anschmiegsamen Verstande. Er faßt die Gedanken eines Grillparzer ebenso sicher wie die eines Schiller. Im Schauspielerischen führt ihn diese Fähigkeit zur Pflege des Charakteristischen, bei sich selbst wie bei andern. Der wie ein schwerer Strom hinfließende, alles in Rhythmus ertränkende sogenannte „Idealstil“ ist ihm zuwider. Ihm selber spielt freilich sein Scharfsinn oft gar üble Streiche. Als Schauspieler grübelt er zu viel. Sein Hamlet, sein Shylock, sein Franz Moor, sein Kaliban, sein Narziß, sein Richard III, sein Bancban, vor allem sein Mephisto, sie haben alle einen gemeinsamen fatalen Grundzug: sie sind erklügelt, des Gedankens Blässe haftet ihnen an. Aber nicht zu leugnen ist’s: es ist eine interessante Blässe. Man freut sich dieses Darstellers tiefster Charaktere, weil man sich sagt: der Mann hat sie verstanden, den Dichter und sein Geschöpf, und er hat den Muth, seine Einsicht, mag sie noch so kraß der schauspielerischen Gewöhnung widersprechen, in That umzusetzen.

Gleichzeitig ist Grube jedoch viel zu klug, um die Klugheit an anderen zu überschätzen. Er weiß ganz gut, daß der Schauspieler mit Klugheit allein eben nicht weit kommt, und so ist der Anhaltspunkt, wonach er das Talent eines Kunstjüngers bemißt, nicht der Vortrag einer Rede, sondern – der Schrei. Wer seines Inneren gesammelte Gefühle in einen Schrei zusammenzupressen vermag, das ist ein Schauspieler. Mit dieser Ueberzeugung steht er im Berliner Schauspielhaus formend und umformend vor einem Kunstkörper, in dem das Verschiedenartigste sich zusammenfindet. Altes neben Neuem, Recitatoren neben Charakteristikern, Männer der reinen Uebung neben natürlichen Talenten, Pensionäre neben frischem Blut. Keine leichte Arbeit mit einem Ziel vor Augen, das erst die langsam schreitende, Altes allmählich entwurzelnde Zeit zu erreichen helfen kann!

Hamlet.   Shylock.   Franz Moor.
Max Grube.

Noch einige Worte über Grubes äußeren Lebensgang. Er ist in Dorpat geboren, seine Mutter war eine Polin. Das Deutsche erlernte er erst in seinem vierten oder fünften Jahre, als er nach Breslau kam, wo er auch das Gymnasium besuchte. In seinem zehnten Jahr war er zum ersten Mal im Theater; der „Freischütz“ wurde gegeben, am nächsten Tage wußte er das Textbuch auswendig. Damals schon schwärmte er dafür, Schauspieler zu werden; vor der Hand begnügte er sich jedoch, ein leidlicher Schüler zu sein, E. T. A. Hoffmann und Schiller zu verschlingen, litterarische Kränzchen zu gründen und unter Beihilfe des alten Holtei eine Tragödie zu schreiben. Mit 18 Jahren ließ sich Grube von Professor Bürde in Dresden, dem Gatten der Bürde-Ney und Lehrer am Konservatorium, auf seine schauspielerischen Fähigkeiten prüfen. Der gütige Herr rieth nicht ab, aber die meist aus Pastoren und Justizräthen bestehende Familie Grubes war entsetzt über des ungerathenen Sprößlings Absicht, unter die Komödianten zu gehen. Die Folge war: der unternehmungslustige Max ging durch. Er reiste mit der kleinen Summe, die er sich in Breslau durch Privatstunden erspart hatte, geradeswegs nach Meiningen und empfahl sich hier in einem langen bangen Schreiben voll Herzensqual und heimlichen Stolzes der gütigen Frau Wiedmann, die den Brief dem Herzog zeigte. Grube wurde stracks gegen 40 Gulden monatlich angestellt, galt übrigens als guter Briefstilist und schlechter Schauspieler. 1873, beim ersten Gastspiel der Meininger in Berlin, sprang er für einen erkrankten Kollegen als Junker Fabio in „Was ihr wollt“ ein und gefiel; die 40 Gulden steigerten sich auf 75 Gulden, aber weitere Anerkennung wollte nicht kommen. „Gehen Sie Holz hacken“, rieth ihm Direktor Grabowski. Beim zweiten Berliner Gastspiel 1875 verließ er die hoffnungslose Stellung und ging nach Pyrmont, wo er Nachfolger Lautenburgs, des jetzigen Direktors des Berliner Residenz-Theaters, in Charakterrollen wurde. Direktor Borsdorff, der außer in Pyrmont auch in Detmold, Osnabrück, Münster, Bielefeld, Dortmund spielte, hatte es darauf abgesehen, die „Meininger“ nachzuahmen, wobei er sich der guten Dienste Grubes erfreute. Mit Borsdorff ging Grube noch 1875 nach Lübeck, wo er im Hause Geibels gastlich aufgenommen wurde und bleibende litterarische Eindrücke empfing. In Lübeck diente Grube sein Jahr ab, während dessen er übrigens mit Erlaubniß seiner Vorgesetzten weiter spielen durfte; hier lernte er auch seine nachmalige Gattin Fräulein Leisch kennen, die im „Hamlet“ seine Ophelia war. 1877 kam er nach Bremen, verkehrte viel mit Arthur Fitger und Bulthaupt und führte zeitweise die Oberregie. 1881 ging er nach Leipzig, hier „fühlte er sich reif werden“. Später kam ein Ruf nach Dresden ans Hoftheater, wo er sich jedoch nicht in die herrschende deklamatorische Manier finden konnte. So kehrte er 1885 ans Hoftheater nach Meiningen zurück, wo er verblieb, bis ihn 1888 Direktor Anno für das Berliner Königliche Schauspielhaus verpflichtete, dessen Leitung er zwei Jahre später übernahm.

Auch litterarisch hat sich Grube versucht. Mit Koppel-Ellfeld schrieb er ein Schauspiel „Hans im Glück“. Allein verfaßte er einen Einakter „Strandgut“ und ein fünfaktiges Trauerspiel, welches das tragische Geschick des genialen schlesischen Dichters Christian Günther behandelt, ferner ein Festspiel „In des Kaisers Schutz“ und ein Büchlein voll Gelegenheitspoesien „Im Bann der Bühne“. In Bälde soll auch ein Band gesammelter Gedichte von ihm herauskommen.

So steht er schaffend, anregend und organisierend auf einem Posten, der dem schärfsten Urtheil ausgesetzt und offener und verborgener Schwierigkeiten aller Arten voll ist. In frischer Manneskraft ist er vor eine Aufgabe gestellt, wie sie einem Bühnenleiter in Deutschland nicht leicht zufallen kann; bleibt er ihr wie bisher gewachsen, so ist er früh zu einem reichen Dasein auserlesen gewesen, in dem er sich mit allen seinen Fähigkeiten voll auszuleben vermag. Otto Neumann-Hofer.     


[826]

Der Wunderglaube der Weihnacht.

Von Alexander Tille.0 Mit einer Zeichnung von H. Engl.

Wenn sich am Heiligen Abend die Dunkelheit herniedersenkt, alt und jung sich in die Häuser zurückzieht, um den Weihnachtsabend zu feiern, und bald allenthalben die Fenster vom hellen Lichterscheine wiederglänzen, dann bricht nach altem Glauben draußen unter freiem Himmel eine Nacht an, die anders ist als andere Nächte. Wohl scheinen auch in ihr die Sterne freundlich nieder auf die Erde, die im weißen Festkleide daliegt, wohl streicht auch in ihr der Wind dahin über Feld und Wald, wohl such auch in ihr Mensch und Thier Ruhe nach der Arbeit des Tages, und die Pflanze schläft still unter der bergenden Schneedecke den Winterschlaf.

Aber es geht noch ein anderer Hauch durch die Natur, und die Bäume des Waldes knarren und stöhnen anders, als sie sonst zu thun pflegen unter dem Drucke des Sturmwindes, der sie von ihrer Schneelast befreit; denn noch etwas andres zieht neben dem Sturm durch die Lüfte. Das sind die alten germanischen Götter, die eine neue Lehre aus ihrer alten Himmelsburg Asgard vertrieben hat und die nun als Unholde in brausendem Jägerzug, als „wilde Jagd“ „wüthendes Heer“ oder „Wodans Gejaid“ durch die Lande brausen. Unter wildem Gejohle, in das sich das Brausen des Sturmwinds, das Bellen der Hunde, das Schnauben und Wiehern der Rosse und die Wehrufe der Weiber mischen, reitet an der Spitze des Zuges der wilde Jäger auf schwarzem Rosse, in der Hand den Jagdspeer schwingend. Ihm folgt das Jagdgesinde nebst der Meute; Fru Gode oder Frau Holle darf auch nicht fehlen. So geht’s dahin auf dem Rennste1g Thüringens, über Berge und Höhen, über Wald, Thal, Fluß und See, über Fahrstraßen und über die Hütten der Dörfer, die in festlichem Glanze schimmern; Bäume werden entwurzelt, Grenzsteine ausgerissen, Zäune niedergebrochen und selbst die Schornsteine gefährdet.

Ein kluger Mann kann die Bahnen der tollen Jagd leicht vorauswissen. Er braucht nur alle Kreuzwege aufzusuchen, denn das ist Gesetz in jener Welt, der das wilde Gejaid angehört, daß jeder Kreuzweg besucht werden muß. Aber man hüte sich, zu lange zu verweilen! Denn wer sich von Wodans Jagd überraschen läßt, für den giebt es nur noch eine Rettung: sich platt auf den Boden zu werfen und mit geschlossenen Augen, das Gesicht nach der Erde gewendet, den unheimlichen Zug vorüberbrausen zu lassen. Wer das versäumt, wird mitgenommen und muß mitjagen bis zum letzten Tage, oder er erfährt irgend einen Schaden an seinem Leibe.

Bei Moosburg in Oberbayern stand dereinst ein Mann am Kreuzweg, als die wilde Jagd vorüberzog. Da fuhr ihm ein Messer in seine Achsel, und weder er noch ein anderer vermochte dasselbe berauszuziehen. Ein Jahr lang ging er damit umher. Da rieth ihm die Dorfesalte, sich in der Weihnacht wieder auf den Kreuzweg zu stellen. Der das Messer hineingestoßen habe, werde es schon wieder herausziehen. Er ging dahin und harrte lautlos des Kommenden. Da vernahm er in der Ferne ein Brausen, als ob das Meer über Bayern hereinbreche. Gleich darauf hörte er einen sprechen. „Gestern habe ich mein Messer in diesen Holzblock gesteckt; nun nehm’ ich’s wieder mit!" Dann stürmte es über seinem Leibe dahin, daß ihm die Sinne vergingen. Als er wieder zu sich kam, so endet die Sage, da war er des Messers ledig.

Nur in seltenen Fällen erweist sich die wilde Jagd als freigebig. Einst lauerte ein Knecht auf dem Heuboden auf den nächtlichen Zug und schaute zur Dachluke hinaus. Als die Unholde anlangten, rief er kecken Muthes: „Gebt mir auch was!“ Da flog ihm aus der Luft ein gewaltiger Pferdeschenkel zu.

So verhängnißvoll die wilde Jagd dem einzelnen werden kann, der ihr vorwitzig oder wohl gar aus reiner Neugier entgegentritt, so segensreich wirkt ihr Umzug draußen in der Natur. Ihre Bahnen kann man im Frühjahr leicht erkennen: wo das Gras und das Korn am reichlichsten sprießt, wo die Fruchtbäume voller blühen und in den Gärten der Salat am kräftigsten aufschießt, da ist der wilde Jäger drüber gefahren. Oft geht mitten durch ein Grundstück ein Streifen, wo die Wintersaat üppigere Halme ansetzt oder die Kartoffeln doppelt so groß gerathen wie rings umher. Das sind die Stellen, über welche die Rosse der wilden Jagd dahingebraust sind.

Es giebt aber auch stille Weihnachtsnächte, in denen sich kaum ein Lüftchen rührt und keine Flocke Schnee fällt. Das kommt daher, weil das wilde Heer die Gegend verlassen hat und dieses Jahr auf andern Bahnen streift. Dann stehen die Aussichten fur den Landmann schlecht und er macht sich bittere Sorgen um den Ausfall der kommenden Ernte. Wenn aber zur Weihnachtszeit ein starker Wind geht, dann schließt man auf ein fruchtbares Jahr. Wenn’s in der Christnacht schneit, so geräth der Hafer; das Grüne zu Weihnachten aber bedeutet Osterschnee.

„Wie sich das Wetter von Christtag bis heiligen Dreikönig hält,
So ist es das ganze Jahr bestellt.“

Jeder Tag entspricht dabei einem Monat und ist vorbedeuteud für ihn. Ist die Christnacht vor Mitternacht trüb und finster, so gedeiht das vor dem Christtag geborene Vieh nicht wohl. Ist die Christnacht nach Mitternacht klar, so gedeiht das nach dem Christtag geborene Vieh gut und umgekehrt.

In der Mitternachtsstunde erreicht die Heiligkeil der Zeit ihren Höhepunkt, und wenn es vom Thurm zwölf Uhr schlägt, dann ist es aus mit der Herrschaft und den Gesetzen der Zeit, dann ist es zeitlos wie die Ewigkeit. Tausende von Jahren vergehen im Nu und ein Menschenleben erscheint kaum einen Augenblick lang. In der Pflanzenwelt sind in der Mitternachtsstunde der Christnacht die Naturgesetze aufgehoben, und mitten in Schnee und Eis blüht um diese Stunde ein Frühling, mit dessen Duft und Pracht sich kein irdischer Lenz zu messen vermag.

Den Lesern der „Gartenlaube“ ist es wohl bekannt,[1] daß seit dem fünfzehnten Jahrhundert auf deutschem Boden die Sage geht von Apfelbäumen, die in einer Stunde Knospen und Blüthen hervorbringen und Aepfel zeitigen, aus deren Gestalt man die Zukunft zu erkennen vermag. Ueber das ganze Abendland verbreitet ist die Sage von der Rose von Jericho, welche sich in der Christnacht öffnet und dem Lande, in dem sie sich befindet, seine künftigen Geschicke vorhersagt.

In einem elsässischen Dorfe, unweit Mariastein, steht ein „Rosenknopf“ (Rosenknospe), welcher nie verblüht. Das Jahr über ist er geschlossen, in der Christnacht aber entfaltet er sich und wirft weithin duftend einen lichten Schein. Er stammt von dem „Rosenhurste“ ab, an welchem die Jungfrau Maria auf der Flucht nach Aegypten die Windeln ihres göttlichen Kindes getrocknet hat. Je länger die Rose blüht, desto fruchtbarer wird das Jahr.

Vor dem Oberthore des in Lothringen gelegenen Dorfes Diemeringen liegt ein großer Hopfengarten. Wer sich mäuschenstill und unbeschrien zwischen elf und zwölf Uhr in der Christnacht an den Ort begiebt, der sieht, wie fingerlange und saftige Hopfensprossen aus dem Boden herausbrechen, die Leute sagen dann: „Der Hopp (Hopfen) kommt.“ Sowie es vom Kirchthurm Zwölfe geschlagen hat, ziehen sich die Sprossen wieder in die Erde zurück, und auch das schärfste Auge vermag in dem gefrorenen Boden nicht die Stelle zu erkennen, wo sie gestanden hatten.

Auch außerhalb Deutschlands, doch noch auf germanischem Boden, findet sich dieser Glaube. Noch unter Karl I. wurde in England an [827] jedem Weihnachtsfeiertag dem König und der Königin in feierlicher Prozession als Gabe ein Zweig von dem berühmten Weißdornstrauch in Glastonbury überreicht, der beim Volke in dem Rufe stand, daß er in der Christnacht ausschlage und am Christtag über und über blühe. Auch um ihn hatte sich schon früh das Epheugrün der Sage geschlungen und ihn zu einem Sprößling des Stabes gemacht, den Joseph von Arimathia eigenhändig am Christabend in die Erde steckte und der sogleich Wurzeln schlug, Blätter trieb und am nächsten Tage mit milchweißen Blüthen bedeckt war. In jeder Christnacht blühte er, und alle seine Abkömmlinge besaßen die gleiche Fähigkeit. So ging es lange Jahrhunderte. Als aber 1753 in Quainton in Buckinghamshire ein Ableger des Glastonburyer Dornstrauches in der Weihnacht keine Sprossen trieb, während Tausende von Zuschauern mit Fackeln und Laternen an Ort nud Stelle versammelt waren, da behauptete das Volk, der 25. Dezember des neuen, eben damals auch in England eingeführten Gregorianischen Kalenders sei nicht der wirkliche Christtag; es weigerte sich, ihn als Fest zu begehen, und diese Weigerung behielt scheinbar recht, als der Weißdorn am 5. Januar wie gewöhnlich blühte, und das Volk war nicht eher beruhigt, als bis eine Verordnung erschien, welche befahl, den alten Christtag gleich dem neuen zu feiern.

Der Segen, den die Weihe der Nacht der athmenden und der leblosen Natur bringt, ist tausendfach: aber um ihn festzuhalten und ihn sich dienstbar zu machen, bedarf es doch des Eingreifens der Menschenhand.

Der Schwabe wie der Schwede windet in der Julnacht ein Strohseil um seine Obstbäume, der Aargauer ein Strohband, das er zur Zeit des Osteraufläutens geflochten hat; in Böhmen und Tirol schlägt und schüttelt man die Fruchtbäume, während es zur Christmette läutet, und in Pillersee ging man ehedem zur gleichen Stunde in den Obstanger, klopfte mit krummem Finger an jeden Baum und rief: „Aus, Baum; heut’ ist heilige Nacht, bring’ wieder viel Aepfel und Birnen!“ In Alpach (Tirol) läßt man jeden Baum von der Dirne umfassen, welche den Teig zum Weihnachtszelten geknetet und die Arme noch voller Teig hat; in Reichenberg (Böhmen) ladet man die Bäume höflich zum Abendessen ein und schüttet ihnen dann, da sie dieser Einladung gemeinhin nicht Folge leisten, die Reste davon hin, und am Rhein hing man vor Zeiten Epheuranken, Mistelkränze und Strohbüschel an den Fruchtbäumen auf – die letzten Reste des alten Opfers für die Wachsthumsgeister.

Aber der Zauber der Mitternachtsstunde erstreckt sich noch weiter. Die Glocken aller versunkenen Kirchen und Kapellen lassen ihr Geläut ertönen, die Gräber öffnen sich und geben den Toten für eine Stunde Leben und Bewegung wieder, Berge thun sich auf und lassen den, der im Besitz der „blauen Blume“ ist, den Eingang finden zu den Pforten der Unterwelt, wo Schätze auf Schätze gehäuft liegen und wo jeder zulangen und mitnehmen darf, soviel er will. Aber auch in diesem Reiche giebt es keine Zeit, und was dem Sterblichen als eine Minute erscheint, sind achtzig lange Erdenjahre. Ein Augenblick – er besinnt sich, daß er umkehren müsse; er schreitet zur Schwelle, die Pforte öffnet sich, und er tritt ans Tageslicht. Aber statt der blonden Locken deckt spärliches graues Haar seinen Scheitel, vom Kinn wallt ihm ein langer weißer Bart hernieder, und um ihn ist alles anders geworden. Seinen Heimathort erkennt er kaum wieder, die Menschen tragen andere Kleider und sehen ihn scheu an – es bleibt ihm nichts übrig, als nach der Kirche zu schreiten, dem einzigen Orte, der unverändert geblieben ist, und dort – in Staub zu zerfallen.

Wo ein Fluß, ein Bach durchs Thal rauscht, zwischen dessen Ufern fließt nicht mehr Wasser in der Weihestunde, sondern lauterer kostbarer Wein, und wer ihn schweigend trinkt, dem giebt er Schaffenskraft und Lebensfreude, Liebesglück und blühende Kinder und Enkel. Ein Mann in Gainfahrn in Niederösterreich glaubte das nicht. Er besaß viel Muth, und so ging er nach der Sage nachts zwölf Uhr an den Bach und schöpfte. Dabei sagte er: „Ich hab’ gehört, in der Christnacht wird Wasser zu Wein.“ Da erscholl hinter ihm eine tiefe Stimme: „Und ich habe gehört, Dein Kopf, der wäre mein.“ Damit riß es ihm rückwärts den Kopf ab, und am nächsten Morgen fand man den kopflosen Leichnam liegen.

Auch auf die Thierwelt wirkt die Weihe der Nacht. Wenn die Sonne um Mitternacht unter dem Horizonte, in dem Augenblicke, wo sie ihren neuen Jahreslauf anfängt, ihre beiden Freudensprünge macht, dann sinkt alles Vieh in den Ställen und alles Wild im Walde nieder auf die Kniee und betet. So geht in Schwaben die Sage. In Kärnten und Tirol reden die Pferde und Kühe der Bauern in derselben Stunde. Sie erzählen sich dann, was im kommenden Jahre geschehen wird, und wenn mancher wüßte, was sie plaudern, so könnte er daraus großen Vortheil ziehen. Manchmal freilich muß er auch kommendes Unheil hören. So ging es einem neugierigen Bauern, der sich am Christabend in die Raufe legte und horchte. Eben hob die Thurmglocke zum Schlage aus, da hörte er, wie der Grauschimmel zur Liese sagte: „Dies Jahr machen wir noch mit unserem Bauer los!“ Der Schreck warf ihn aufs Krankenlager, und bald zogen ihn die eigenen Rosse nach dem Friedhof.



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Mamsell Unnütz.

Roman von W. Heimburg.
(6. Fortsetzung.)


Allmählich kam die bunte lustige Karnevalszeit heran. Therese saß über den neuesten Modezeitungen; der Lieutenant zeichnete ihr den Anzug einer schwedischen Bäuerin auf, den er reizend fand und wie geschaffen für ihre blonde Schönheit. Sie waren beide nach Tische allein im Eßzimmer zurückgeblieben. Papa Krautner und der Offizier hatten bei dem jungen Paare gespeist. Fritz war abgerufen worden, der alte Herr aber gegangen, sein Mittagsschläfchen zu halten. Vor den beiden standen die halbgeleerten Mokkatassen; über ihnen zogen die leichten blauen Ringel der Cigarette hin, die der Offizier rauchte. Die Luft war warm, nach Tabak, Orangen und Kaffee duftend. Im Kamin verglühte das Feuer und warf seinen Schein auf das spiegelnde Parkett bis zu dem Smyrnateppich unter dem massiven Tisch. Das fahle Licht des Januartages erhellte nur dämmerig das trauliche Zimmer. Die Zeitung knisterte in den Händen der jungen Frau und der Bleistift, welchen der Lieutenant führte, glitt hastig über das Papier. Sie blieben beide stumm, sie waren zum ersten Male ganz allein.

Nun verschränkte Therese die Arme unter der Brust und schaute unverwandt auf den Zeichnenden.

„So,“ sagte er möglichst unbefangen und doch nicht imstande, seine innere Erregung und das Beben seiner Stimme zu verbergen, „so – denken Sie sich nun die Farben dazu, die lebhafte bunte Stickerei, das wunderschöne Blau des Mieders, und Sie haben ungefähr eine Vorstellung davon. Ich sah diese Tracht auf einem schwedischen Schiffe; der Kapitän hatte seine junge Frau bei sich, eine blonde schöne Frau wie – Sie, Therese.“

Sie zuckte empor und ward glühend roth.

Dann wiederum tiefe Stille.

Sie erhob sich endlich und ging schweigend zum Kamin hinüber, ergriff den Feuerhaken und schürte in der Gluth. Er war ihr mit den Augen gefolgt, und sie mußte seinen Blick gefühlt haben, denn sie wandte sich um.

„Wollen wir ein wenig Schlittschuh laufen?“ fragte sie hastig.

„Wenn Sie befehlen!“

Therese trat jetzt in die Fensternische, um nach dem Himmel und dem Thermometer zu seheu. Er erhob sich und folgte ihr. So standen sie eng zusammen in dem abgeschlossenen Raume, fast ganz verborgen von dem bunten gewirkten Vorhang. Ein grünliches Licht quoll durch die kleinen bleigefaßten Scheiben – nur eine einzige hatte eine klarere Farbe.

„Wie oft habe ich hier gestanden,“ sagte er leise, „meinen Cornelius Nepos in der Hand, lernend und über das Buch in den Hof schauend, als wilder Junge jede Minute bedauernd, die mich hier oben hielt. Und dann, später einmal, da stand ich hier auch“ – und seine Hand streckte sich gegen die neue Scheibe aus – „Lasseu Sie die Erinnerungen!“ kam es fast bittend von ihren Lippen.

„Wollen wir also aufbrechen?“

„Ja!“ erwiderte sie; aber sie zögerte trotzdem. Und plötzlich wandte sie ihm voll ihr schönes Antlitz zu; es war mit Purpur überzogen. „Sagen Sie mir nur eins,“ klang es wie ein Hauch zu ihm hinüber, „daß Sie mir verziehen haben!“

„Nein – niemals!“

Sie sah ihn furchtsam an, dann senkte sie die Augen, zitternd und mit der Hand hinter sich greifend, um sich auf die Fensterbank zu stützen.

„Wie könnte ich der verzeihen, die mich meines Lebensglückes beraubt hat?“ fuhr er bitter fort. „Wollte ich dies Unrecht vergessen – ich müßte mich selbst vergessen können!“ Damit verbeugte er sich und ging. Therese blieb wie betäubt zurück.

Das Stubenmädchen kam nach einer langen Weile herein.

„Frau Doktor?“

Sie erhob sich schwerfällig. „Was wollen Sie?“

„Der Herr Lieutenant erwartet Frau Doktor zum Schlittschuhlaufen.“

Sie hatte die Hand an die Stirn gelegt. „Sagen Sie, ich bedaure, nicht kommen zu können, es sei zu spät geworden und – ich hätte Kopfweh. Oder nein, sagen Sie das letzte nicht!“

[828] Sie ging dann in die Kinderstube, aber der Kleine war drunten bei der Großmutter. So stieg sie die Treppe hinab und setzte sich still in den Lehnstuhl am Ofen, das Tändeln der alten Dame mit dem Kinde beobachtend.

„Was sagst Du nur zu dem Lieutenant, Therese?“ fragte diese mit einem Mal. „Er ist nach Berlin befohlen und soll dem Kaiser berichten über das Gefecht. Gelt, Bub’, der kann lachen!“

„Woher weißt Du das?“ fragte Therese sonderbar hastig.

„Vom Fritz. Der Brief ist vorhin gekommen, gerade als Du herunterschicktest, daß Du nicht mit aufs Eis wollest. Der Frieder muß heute abend schon reisen.“

Therese schwieg, sie war ganz roth geworden.

„Die Herren in der ‚Traube‘ haben ihm gestern abend auch so zugeredet, er solle über seine Erlebnisse und über das ganze Thun und Treiben in der Kolonie drüben einen Vortrag halten," fuhr die Räthin fort. „Ich glaube, er hat’s versprochen für nächste Woche. Weißt, da werden sich die Andersheimer die Köpfe schier blutig stoßen um die Plätze, denn das Afrikanische ist ja just Mode."

Mamsell Unnütz, die eben in die Krautnersche Villa ging, um Frieder beim Einpacken zu helfen, traf ein paar Minuten später mit Frau Therese im Hausflur zusammen.

„Wo gehst Du hin?“ fragte die junge Frau.

„Zu Frieder hinüber.“

„Warie, ich komme mit; das heißt, ich will zu Papa!“

Drüben in der Villa suchte Therese sofort das Zimmer ihres Vaters, Julia das ihres Bruders auf.

In der einfachen Stube des Hausherrn wogte ein blauer Tabaksdampf. Der alte Mann saß mit der langen Pfeife im Lehnstuhl; ihm gegenüber mit der Cigarre sein Schwiegersohn. Der Offizier hatte sich auf den Rand des Tisches gesetzt und hielt eine Cigarette in den schlanken Fingern.

Vater und Gatte begrüßten freundlich die junge Frau; Frieder richtete sich stumm aus seiner nachlässigen Stellung auf. „Ist Julia vielleicht auch mitgekommen?“ fragte er.

„Ja,“ erwiderte Therese, „sie will Ihren Koffer packen.“

„Brav von ihr!“

Sie trat hinter den Stuhl des Vaters; sie wolle sich nicht setzen, meinte sie, nur sehen, wie es ihm gehe; er sei bei Tisch so blaß gewesen.

„Deshalb kommst Du?“ rief der alte Herr lachend. „Ich bin munter wie der Fisch im Wasser!“ Er stand auf und ging vor den einzigen Spiegel über der Kommode. „Muß doch einmal nachschauen, es hat einen zuweilen beim Kragen, man weiß nicht wie!“ murmelte er.

„Aber, Papa, mach’ doch keine Witze!“ rief der Doktor, „Du siehst aus wie das Leben selbst.“

„Ja, das ist wohl wahr, Fritz,“ erwiderte jener und rückte sich etwas unbehaglich wieder in dem Stuhle zurecht. „Indessen – siehst Du, vorgestern erst bin ich Frau Norban begegnet, sie saß in ihrem Wagen wie die Gesundheit selber – und heute liegt sie auf den Tod.“

„Frau Norban?“ rief Therese. „Davon hast Du mir ja gar nichts gesagt, Fritz!“

„Ich selbst höre eben das erste Wort.“

„Wie? Du bist doch Arzt bei Norbans?“

Er that einen leisen Zug an der Cigarre. „Wie es scheint, nicht mehr,“ gab er dann ruhig zurück.

Die junge Frau wurde auf einmal dunkelroth. „Du kommst wohl jetzt aus der Mode?“ sagte sie scharf. „Bei Brinkmanns und Voigts bist Du seit Neujahr ja auch nicht mehr Arzt!“

Er lachte. „Seit wann bekümmerst Du Dich so eingehend um meine Praxis, kleine Frau?“

„Ich habe mich stets darum bekümmert, mehr als Du denkst! Jedenfalls läßt es mich nicht so gleichgültig, wie es Dich läßt, ob Du noch der erste und gesuchteste Arzt der Stadt bist oder nicht!“ antwortete sie erregt.

„Nun! Nun!“ murrte der alte Herr, der nicht wußte, ob es Spaß sei oder Ernst.

Der Doktor lachte noch immer; der Lieutenant zündete sich langsam eine neue Cigarette an.

„An Deiner Stelle suchte ich doch aus diesem Neste herauszukommen,“ fuhr sie fort; „es müßte Dir ja leicht werden, eine Professur in Heidelberg oder sonstwo zu erchalten. Aber Du bist ganz zufrieden mit dem alten Schlendrian hier und läßt Dir von den Leuten Unglaubliches bieten.“

„Frieder,“ sagte der Doktor etwas scharf, „frage doch einmal Seine Majestät, ob er nicht zufällig einen Leibarzt braucht; meine Gattin würde sich ungeheuer für eine Frau Leibärztin eignen.“

Der alte Herr lachte und hustete überlaut; Frieder stand auf. Ohne auf den Scherz des Arztes einzugehen, verbeugte er sich höflich und empfahl sich unter dem Vorwand, seiner Schwester helfen zu wollen.

„Aber nun sage mir doch um Gotteswillen, Kind, was ist in Dich für ein Hochmuthsteufelchen gefahren!“ rief nun der Doktor, rasch wieder gut gelaunt. Und er haschte ihre Hand und zog die Widerstrebende zu sich heran. „Bietet denn Frau Norban mitsamt den beiden anderen Ungetreuen schon einen Grund, meine hiesige recht angesehene Stellung aufzugeben?“

Sie warf den Kopf zurück und strich sich über die Stirn; es war, als kehre ihr langsam die Besinnung wieder. „Es thut mir nur leid, daß Du hier versauern willst,“ sagte sie leise, „und ich ärgere mich auch über die Undankbarkeit der Menschen.“

„Thörichtes Herz, überlaß das doch mir; ich habe soviel Gelegenheit, mich über Dankbarkeit zu freuen. Aber wir müssen heim, unsere Spielstunde mit Bubi kommt; es wird dämmerig. Gute Nacht, Großpapa!“

Sie gingen durch den Garten heim und traten zusammen in die Kinderstube. Die Wärterin hatte die Lampe angezündet und den großen weichen Filzteppich auf die Erde gebreitet; das Kind, das im kurzen weißen Flanellröckchen darauf saß, streckte dem Vater jauchzend die Aermchen entgegen. Leise verließ die alte Frau das Gemach, und die Stunde, die bisher für Eltern und Kind die schönste gewesen war, begann. Aber wunderlich, die Lust wollte heute nicht so recht kommen.

„Du bist gar nicht bei der Sache!“ scherzte der Doktor und warf der jungen Frau, die am einen Ende des Teppichs hockte, den Ball zu, dem das Kind eilig auf allen Vieren nachkrabbelte.

„In der That, ich – ich bin so müde heute,“ sagte sie und rollte den Ball dem Jungen entgegen, der ein ganz verwundertes Gesicht machte; dann erhob sie sich und setzte sich in einen Stuhl.

„Du hast vielleicht Kopfweh, Herz?“

„Ja, ein wenig.“

„Sei still, kleiner Krakehler, Mama hat Kopfschmerzen,“ flüsterte er nun dem Kleinen zu und ergötzte sich an dem offenen Mündchen und den fragenden Blauaugen, womit dieser erst das Flüstern anhörte, um dann laut aufzujauchzen.

„Geh’ in Dein Zimmer, Therese, dort ist’s still; ich komme Dir bald nach.“

Sie stand auf und ging hinaus. Sie wußte nicht, wie ihr war, und sie wollte es nicht wissen. Sie hätte irgend etwas thun mögen, etwas Tolles, Unvernünftiges – nur eine Ableitung, nur hinweg mit dem, was hinter ihrer Stirn tobte, was sie erregte bis aufs Blut! Seit Wochen schon, wo sie ging und stand, sah sie dasselbe – ein schönes gebräuntes Männergesicht unter blondem Haar, dessen helle Augen sie nie anzusehen schienen und ihr doch bis in den Grnnd der Seele drangen, sie in unerträglichem Banne haltend – immer diese gleich kühle überlegene Persönlichkeit, die, ohne mit der Wimper zu zucken, der größten Gefahr entgegentreten, aber auch lächelnd zu Tode verwunden konnte.

Und der hatte einst ihr gehört, ihr allein!

Sie stemmte die geballten Fäuste auf das Fensterbrett. Wie lächerlich sie doch war! Was ging er sie denn noch an! Sie hätte ihn ja haben können, wenn sie gewollt – sie hatte ihn eben nicht gewollt und war die vergötterte Frau eines anderen geworden – eines anderen ....

„Nun, Kleine, noch immer ohne Licht?“ erklang in diesem Augenblick die Stimme ihres Gatten.

„Noch immer!“ sagte sie müde.

Er ließ sich aufs Sofa nieder und gähnte vernehmlich. „Schatz,“ bat er, „sei nicht böse – aber die heutige Geschichte hat mich fertig gemacht.“

[829]

Die erste Tanzstunde mit Herren.
Aus René Reinickes „Album für Backfische“. Verlag von Adolf Titze in Leipzig.
Für die „Gartenlaube“ in Holz geschnitten.

[830] Sie fragte nicht: „Was für eine Geschichte?“ und erfuhr somit auch nicht, daß er eine schwere Amputation hatte vollziehen müssen.

„Komm ein wenig zu mir, Therese!"

Sie stand langsam auf und kam herüber, aber sie schmiegte sich nicht wie sonst an ihn. Er zog sie an sich. „So, nun will ich weiter nichts in der Welt.“

Sie antwortete nicht, sie zuckte nur unmerklich die Schultern, so unmerklich, daß er es nicht fühlte, obgleich er sie im Arme hielt. So saßen sie schweigend, und endlich nach langer Zeit sagte sie halblaut. „Es wäre aber doch schön!"

„Was denn?“

„Wenn Du irgend etwas thätest, um irgend etwas –“

„. . . Ordentliches zu werden,“ ergänzte er. „Bist doch ein närrisches Ding! Lassen Dich denn Frieders Lorbeeren nicht ruhen?“

Sie zuckte abermals die Schultern, und nach einer Weile kam es tonlos und schwerfällig von ihren Lippen. „Was geht mich der Frieder an!“


Der Frieder war wirklich in die Mode gekommen. Die Blätter hatten lange Artikel über ihn gebracht, die ausführlich berichteten, daß er nach Berlin befohlen worden und wie es zugegangen sei bei der Audienz. Und dann hatte der Bürgermeister des Städtchens angezeigt, daß Lieutenant Adami zum Besten des Baufonds für Wiederherstellllng der Elisabethkirche in Andersheim einen Vortrag über seine Erlebnisse im deutschen Schutzgebiet Ostafrikas halten werde.

Der Gefeierte selbst veränderte bei alledem keine Miene, er blieb genau so formell und so freundlich wie immer; er rauchte ebenso seelenruhig seine Cigaretten in ununterbrochener Folge, lief mit Frau Therese Schlittschuh und tanzte mit ihr in den Gesellschaften, die man ihm zu Ehren gab. Aner er tanzte mit ihr durchaus nicht häufiger als mit anderen.

Dabei wurde Therese blasser und gereizter denn je, und der Doktor gerieth in ernstliche Sorge; ängstlich besprach er sich mit seiner Mutter über diese seltsame Veränderung.

„Nun, Du bist der richtige Doktor für die Famille,“ erklärte diese gelassen; „ich gebe Dir den Rath, stelle Dir einen Hausarzt an. Als ob’s etwas wäre, wenn eine junge Frau einmal Launen hat! Als ich jung verheirathet war, da habe ich Deinem seligen Vater – meiner Seel’ – einmal den Stiefelknecht am Kopfe vorbei geworfen.“

Er mußte lachen und war ein paar Tage beruhigt, um dann desto besorgter zu werden.

Aber plötzlich schien alles verschwunden, was Theresens Laune getrübt hatte, und diese Umwandlung geschah an dem Tage, an dem Frieder Adami seinen Vortrag im Kasino hielt. Therese kam gegen Abend noch ziemlich mißmuthig in Tante Riekchens Stube, um mit Julia zu dem Vortrag zu gehen, denn die Räthin war zu ihrem Kummer durch Migräne ans Bett gefesselt und Tante Riekchen, in Kissen und Decken eingemummt, war in ihrem Rollstuhl schon zur „goldenen Traube“ gefahren; dort sollten einige Männer sie unter Anleitung des Doktors mitsamt dem Stuhle in den Saal tragen. Seit Jahren war sie nicht mehr aus dem Hause gegangen, aber heute – sie hätte um keinen Preis fehlen mögen bei dem Vortrag ihres Lieblings.

Julia konnte nicht anders, sie mußte mit. Gern wäre sie zu Hause geblieben, aber Tante Riekchen hatte fast geweint, als sie Einwendungen machte, und so zwängte sie sich in ihr bestes Kleid, das ihr allerorten zu knapp geworden war. Sie fühlte sich unbeholfen und unglücklich darin und Therese sagte auch sofort, sie wolle ihr ein Tuch borgen, denn die Taille sitze ja unter jeder Kritik. Die stolze Frau hätte um die Welt nicht mit dem schlecht angezogenen Mädchen in den Saal treten mögen und half nun selbst, Julia ein weißseidenes Tuch mit zarter Goldstickerei in geschmackvollen Falten umzustecken; auf der linken Schulter befestigte sie es mit einer kleinen römischen Mosaikbrosche in Form eines Dolches – es war das einzige Andenken, das Julia von ihrer Mutter besaß und das sie zögernd hervorgesucht hatte.

So kamen sie in den bereits gefüllten Saal des Gasthauses, in dem sämtliche Gaskronen brannten.

Die Honoratioren von Andersheim waren vollständig erschienen Für Therese fand sich ein Platz in der vordersten Reihe belegt; Julia setzte sich zur Seite des Podiums neben den Fahrstuhl des alten Fräulein Trautmann. Sie konnte den ganzen großen Raum bequem übersehen, wagte aber nicht, die Augen zu heben; sie hatte Angst, große Angst, wie wenn sie die volle Verantwortlichkeit für das zu tragen hätte, was ihr Bruder rede und thue; und ihr Vertrauen war gering, sie zweifelte, daß er imstande sei, gut zu sprechen.

Schon beim Hereinkommen hatte sie flüchtig gegenüber an der Wand neben einigen anderen Herren Fritz bemerkt, aufmerksam gemacht durch Theresens ärgerlichen Ausruf: „Bitte, sieh nur, wie mein Mann ausschaut. Er hat sich nicht mal umgezogen!“ Dann hatte Julia nicht mehr hinübergesehen. Endlich wagte sie es und bemerkte, daß seine Augen groß und wie verwundert auf sie gerichtet waren. Der Blick traf sie verwirrend; sie glaubte darin zu lesen, daß sie sich zu auffallend geschmückt habe, und erröthend senkte sie aufs neue den Kopf.

Irgend ein Sonett, er konnte sich nicht besinnen, wo er es gelesen, kam dem Doktor drüben unabweisbar in den Sinn:

„Sie stieg vom Kapitol die Stufen nieder,
Da purpurn schon die Sonne Roms versank.
Nie sah mein Auge, seit es Schönheit trank,
So stolzes Haupt, so königliche Glieder.
Als trüg’ ihr Reiz nach keines Menschen Dank,
Hielt sie gesenkt die breiten Augenlider.“

Und er wandte sich zu dem alten „Onkel Doktor“, dem Vormund des Mädchens, und sagte ehrlich verwundert zu ihm:

„Sehen Sie nur, was aus dem kleinen schwarzbraunen Püppchen für ein stolzer Schmetterling geworden ist und wie gut das goldgestickte Tuch sie kleidet!“

Und dann sandte er die Blicke zu seiner jungen blonden Frau hinüber, und ein Zug von Rührung ging über sein Gesicht. Das Reizendste, Süßeste, Beste in diesem ganzen Saale gehörte ja doch ihm! Er liebte sie, liebte sie jetzt, wo sie blaß, gereizt, nervös war, vielleicht noch zärtlicher als sonst. Er bemühte sich, einen Blick, einen Gruß von ihr zu erhaschen – vergebens; sie sah nicht herüber.

Und nun erschien der Redner. Seine Verbeugung war tadellos, seine äußere Erscheinung nicht minder. Der Frack saß ganz vorzüglich, und die leichte Blässe seines Gesichts machte sich sehr interessant.

„Wenn man,“ begann er, „etwas erzählen will, so soll man es vollständig thun! Nun ist mir seit jener Stunde, da ich wieder deutschen Boden betrat, keine Frage häufiger gestellt worden als die: ‚Wie kamen Sie auf den Gedanken, nach Afrika zu gehen?‘ Und ich vermuthe, daß auch hier in diesem Saale mancher zunächst den Grund kennenlernen möchte, der mich hinübertrieb in den Dunklen Erdtheil. Ich will ehrlich sein – ich habe mich immer für Afrika interessiert, habe mit Begeisterung unsere Fortschritte dort verfolgt. Nichts gleicht der Bewunderung, die ich unseren kühnen Pionieren zollte, welche Gefahren, Mühen und Entbehrungen nicht scheuten und nicht scheuen, jenes Land zu erforschen. Natürlich ging aber dem Entschluß, selbst an dem gewaltigen Werke theilzunehmen, ein besonderer Anstoß voraus. Welcher Art dieser war, das zu wissen ist kaum von Werth für zweite und dritte – nehmen wir an, ich wollte ‚alten Gram heilen in neuer Luft‘. Also genug davon! Daß es mir nebenbei nicht an dem ehrlichen festen Willen fehlte, zu nützen, zu lernen und zu lehren, ja Blut und Leben für ein großes Ziel einzusetzen, glaube ich bewiesen zu haben.

Gestatten Sie mir denn, verehrte Herrschaften, in meiner Schilderung mit dem Augenblick zu beginnen, da ich, an der Treppe der Kommandobrücke eines mächtigen Kriegsschiffes stehend, die Thürme und Dächer der guten Stadt Kiel im Winternebel verdämmern sah und das heimathliche Wasser unter dem Buge rauschen hörte, der einem südlichen Meere zustrebte. Eine wahrhaft klägliche Abschiedsstimmung hatte sich meiner bemächtigt, die mir das, was ich in der Heimath besessen, was ich verlor und meiden sollte, zauberischer und unersetzlicher als jemals vormalte, so daß ich mich als den unglücklichsten Menschen des Erdballs betrachtete. Und ganz wahr ist’s nicht, was die Philosophen behaupten, daß Entfernung von dem Orte, wo einem Leid geschehen, die Schmerzen mildere. Mir persönlich hat die Sehnsucht nach der Heimath viel zu schaffen gemacht.“

[831] Julia hatte unwillkürlich Therese angeschaut. Das Gesicht der jungen Frau war fast weiß; wie verzehrend hingen ihre Blicke an dem schlanken Manne dort oben. Und nun wandte er langsam sein Gesicht ihr zu und sekundenlang tauchten vier Augen ineinander in einem Blick, der Julias Herz wie wahnsinnig pochen machte, der ihr das Blut in die Wangen trieb, bis ein Schwindel sie erfaßte. Sie hörte nicht, was ihr Bruder noch sprach, sie hatte die Hände ineinander verschränkt, so fest, daß es sie schmerzte. Sie dachte nur eins – ob Fritz diesen Blick bemerkt hatte, und was denn nun werden solle, nachdem die Zwei sich so angeschaut und – großer Gott! Bisher hatte sie ja immer nur Angst gehabt, daß Frieder sich abermals von seiner Liebe hinreißen lassen, daß er unglücklich sein könnte, wenn er sie sähe – an Therese hatte sie nicht gedacht, sie war ja die Frau, die geliebte Frau eines andern, glücklich und beneidenswerth. Und nun – – nein, es war ja nicht möglich! Sie zwang sich, ruhig zu sein, sie blickte zu der jungen Frau hinüber. Die saß setzt mit rosigem Gesicht da, langsam den Fächer bewegend, und schien ernst aber unbewegt zuzuhören. Keine Spur mehr von jenem blitzartigen Austausch verborgenen Verständnisses wie vorhin. Sie sah auf Fritz; er saß ruhig zwischen seinem Schwiegervater und dem Onkel Doktor und folgte eifrig den Worten des Redners. Und sie sah über die ganze Versammlung hin – lauter der Situation angemessene gespannte Mienen. Sie athmete auf. Das Schreckliche hatte niemand gemerkt als sie – war es denn wirklich gewesen, war’s nicht ein Traum?

Und doch konnte sie das Auge nicht mehr von den beiden lassen. Aber sie schauten sich nicht mehr an. Ein paarmal bei heiteren Schilderungen lief beifälliges Lächeln die Reihen entlang, um Theresens Mund aber zuckte es nicht einmal, und Julia meinte, sie höre gar nicht, was er sage, sie denke – o sie denke – mein Gott, an was? Und das erstickende, athembeklemmende Gefühl überkam sie wieder.

Nun hatte er geendet; ein lautes Beifallklatschen hallte durch den Saal. Julia sah, wie ihr Bruder die zwei Stufen des Podiums herunterschritt und die ausgestreckte Hand Theresens mit unbewegtem Gesicht an die Lippen führte – dann trat er zu der alten Dame und küßte ihr ebenfalls die Hand.

„Schön! Sehr schön!“ flüsterte Fräulein Riekchen matt. „Aber – Frieder – nein, nicht hier – später!“

„Was wünschest Du, Tante?“

„Ach, mein Bub’, ich hatte gar nicht gewußt, daß Dich ein Kummer fortgetrieben hat,“ sagte sie mit Thränen im Auge.

Er lächette. „Man muß seine Rede ein wenig ausschmücken; beunruhige Dich nicht, Tante!“

Er schob selbst den Fahrstuhl den schmalen Gang zwischen den Sitzen hin, und Julia schritt hinter ihnen, stumm, mit glühenden Wangen und gesenkten Augen.

In der Nähe der Thür, wo sich noch die Menschen drängten, traf man mit Papa Krautner zusammen. Dieser lenkte plötzlich den Fahrstuhl auf eine Seitenthür zu und winkte den anderen, nachzukommen; ein paar Sekunden später befand sich die Familie allein in einem kleinen Nebenzimmer. In dessen Mitte unter dem brennenden Kronleuchter stand ein gedeckter Tisch. auf dem, verheißungsvoll genug, jedem Teller eine Anzahl Gläser zugesellt war.

Der alte Herr Krautner schien ganz berauscht von den Erfolgen seines Gastes und hatte sich vorgenommen, den netten tüchtigen Kerl, der sich so brav herausgemacht hatte, ordentlich zu feiern.

„So,“ sagte er, „und nun wollen wir auf das Wohl des Redners trinken – bitte die Herrschaften, Platz zu nehmen, die Austern kommen bald.“

Tante Riekchen erklärte aber sofort aufs bestimmteste, sie wolle heim, und der Doktor sagte, er müsse so wie so noch rasch zu einem Schwerkranken und wolle dann gleich die Tante nach Hause bringen. Nun befahl der Gastgeber, man solle mit dem Servieren warten, und benutzte die Pause, um drinnen in der Gaststube ein Glas „Echtes“ zu trinken.

Julia fand sich plötzlich mit Frieder und Therese allein. Es war nicht sehr warm in dem Zimmer, das eine schäbige Gasthofeleganz zeigte, dennoch schien es ihr furchtbar schwül. Therese saß auf dem mit rothem Plüsch bezogenen Sofa, Frieder stand vor dem gedeckten Tisch und las die Speisekarte.

Zerstreut schaute Julia im Zimmer umher, sie betrachtete die Oeldruckbilder des Kaisers und der Kaiserin und die schrecklichen Tapeten.

Sie hätte nach Hause gehen müssen, um die erregte alte Frau zu beruhigen, nach der Räthin zu sehen, deren Kopfweh nach solchen Migränetagen sich gegen Abend in Eigensinn und Schelten aufzulösen pflegte, und es hielt sie doch wie mit eisernen Klammern auf ihrem Platze; sie wollte nicht, daß die beiden allein bleiben sollten – wurden sie heute vor sich selbst bewahrt, dann mochte morgen im nüchternen Tageslicht der tolle Spuk verschwunden sein.

Und endlich kam der Doktor wieder, und nun war ja alles gut.

Sie erhob sich.

„Bitte, nehmt es mir nicht übel, wenn ich gehe,“ sagte sie, „ich glaube, es ist nicht recht, daß ich die Tante allein lasse.“ Und schon war sie an der Thür.

„Aber, Julia!“ rief der Doktor und folgte ihr.

Doch sie eilte mit dem Rufe. „Ich bitte Dich, Fritz, bleibe!“ die Treppe hinunter, ergriff ihren Mantel, der in der Garderobe noch einsam neben Theresens Sachen am Nagel hing, und eilte hinaus auf die dunkle Straße.

Plötzlich fühlte sie sich gehalten.

„So erlaube wenigstens, daß ich Dich nach Hause begleite,“ sagte der Doktor, „der Weg ist weit, und es liegt ein Stückchen einsamer Chaussee dazwischen.“

„Ich bitte Dich, Fritz, geh’! Dein Schwiegervater wird anfangen wollen zu speisen,“ bat sie ungeduldig.

„Papa Krautner? Der sitzt jetzt noch hinter einem frisch bestellten Glas und disputiert so eifrig mit Onkel Doktor, daß er nicht eher daran denken wird, er habe Gäste, bis ich ihn am Rockärmel nehme. Die paar Minuten machen nichts mehr aus.“

„Ich will aber nicht, daß Du mitgehst!“ rief sie außer sich, „hörst Du, ich will nicht!“ Sie stampfte hörbar auf den Boden. „Ich kann mich allein schützen!“ – Und im Scheine der Straßenlaterne sah er ein aufgeregtes ängstliches Gesicht, aus den Augen aber leuchtete ein entschiedener Wille.

Sie wandte ihm den Rücken und ging raschen Schrittes davon.

Er zuckte die Schultern und kehrte zurück. „Wunderlich,“ sagte er, „nicht die kleinste Gefälligkeit nimmt sie an. Meine Mutter würde es ‚Bettelstolz‘ nennen – oder steckt ’was anderes dahinter? Ich weiß doch, daß sie ungern abends allein auf der Straße geht.“

Er trat in die Gaststube und holte den Schwiegervater, der mit rothem Kopfe seine kolonialpolitischen Ansichten verfocht. „Du Papachen, wir wollen essen; droben warten Therese und Frieder mit Schmerzen auf uns.“

Als sie eintraten, stand die junge Frau an dem eisernen Ofen, hatte ihren Fuß auf den Vorsprung der Ofenthür gesetzt und ließ den Flammenschein darüber spielen. Frieder kam eben vom Fenster zurück.

„Endlich!“ murrte Therese, „wir haben eine Ewigkeit gewartet.“

Fritz zog sie zum Tische. „Du glühst ja förmlich,“ sagte er, „wie kannst Du Dich so dicht an den eisernen Ofen stellen? Du wirst Dir Deinen schönen Teint verderben, Du Leichtsinn!“

Sie schauerte zusammen. „Mich fror so sehr,“ murmelte sie und betrachtete angelegentlich die Nummer in ihrer Serviette.

*               *
*

„Fritz,“ bat am anderen Tage Fräutein Trautmann, „weißt Du denn nicht, ob Frieder etwa eine unglückliche Liebe gehabt hat?“ Die alte Dame kam gar nicht zur Ruhe seit gestern. „Wie hat er doch gesagt – ‚Ich wollte alten Gram heilen in neuer Luft‘?“

Der Doktor lächelte.

Weißt Du, Tante, Klappern gehört zum Handwerk. Frieder hat’s verstanden, sich sofort der hiesigen Damenwelt interessant zu machen. Meines Erachtens sieht er nicht aus wie ein Liebeskranker, und – ehrlich gestanden – wenn einer wirklich deshalb fortgeht, so hängt er es nicht an die große Glocke. Vielleicht ist’s ja auch möglich, daß er hier noch eine alte Flamme hat, der er aufbinden wollte, daß er ihrer Sprödigkeit halber [832] übers Meer hinüber sei. Gieb Dich also zufrieden, Tantchen – Dein Frieder ist ein Spaßvogel!“

„Julia sagt das auch; aber sonst ist er doch so ernst,“ seufzte Fräulein Riekchen, „und mir will er nicht Rede stehen.“

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Der Karneval zog ins Land. Bunt und lustig wie immer am Rheine, füllte er die Luft mit Schellenklang, Pritschenschlag und Musik und blendete die Augen durch leuchtende Farben.

Therese erschien plötzlich wie ausgewechselt. War sie vordem allzu still und gereizt gewesen, so hatte sich ihrer jetzt ein wahrer Uebermuth bemächtigt. „Das echte rheinische Mädchenblut,“ meinte lachend der Doktor, als sie in einem kurzen Kostüm aus hellblauem mit weißen Rosen durchwirkten Atlas, mit Puderfrisur und hohen Stöckelschuhen im Salon umherlief und sich von ihm haschen lassen wollte.

„Drunten wartet der Wagen,“ mahnte er dann, ihr nacheilend, „und was noch schlimmer ist, die Mutter. Komm, laß Dir den Mantel umhängen!“ Aber sie floh von einer Ecke in die andere, und zuletzt sprang sie auf das Sofa, alles mit einem sonderbaren Lachen, das er noch nie von ihr gehört hatte. Und als er, auf den Scherz eingehend, den Tisch dicht heran schob, um sie zu fangen, da sprang sie gar auf den Tisch, und er nahm sie glückselig auf den Arm, wie er es mit seinem Jungen zu thun pflegte.

Nun musterte sie ihn plötzlich von oben herab mit kalten Augen und verändertem Gesicht. „Dieses altdeutsche Barett kleidet Dich entsetzlich!“ sagte sie.

„Du siehst um so reizender aus, Therese.“

„Bitte, laß mich los!“ forderte sie.

„Ja, unter einer Bedingung.“

„O, ich weiß schon!“ Und sie hatte sich blitzschnell hinuntergebeugt und ihn in die Wange gebissen, daß die Spur ihrer kleinen Zähne dunkelroth darin zurückblieb. Ebenso rasch stand sie auf der Erde und sah ihn mit einem Blicke an, in dem sich Ekel mit Zorn mischten.

Er bemerkte ihn nicht. „Nun, das ging schon über den Spaß,“ sagte er ruhig und wischte mit dem Taschentuch die schmerzende Stelle ab.

„Du weißt doch, ich kann diese Albernheiten nicht leiden,“ erwiderte sie, und auf einmal begann sie zu schluchzen. „Ach, es ist ja alles so gräßlich dumm auf dieser Welt, alles, alles! Und heute ist – Karneval!“

Er schüttelte den Kopf.

„Weißt Du, Deine Nerven sind sehr angegriffen,“ sagte er, „und wärst Du meine Patientin, so müßtest Du hier bleiben.“

Ein Weilchen darauf lag das Haus still da, das junge Paar und die Frau Räthin waren zum Ball gefahren; das Kind schlief und ebenso drunten das alte Fräulein. Nur aus Julias Fenster schimmerte noch Licht; sie saß und sorgte sich um fremdes Glück und schalt sich selbst ob ihrer spukhaften Phantasie. Ihr reiner Mädchensinn sträubte sich heftig gegen das, was immer aufs neue ihr Mißtrauen wachrief. Hätte sie nur jenen Blick nicht gesehen, hätte sie nur nicht gewußt, daß Therese schon einmal die Treue gebrochen! – Aber das war keine Treue, die am Altar beschworen war, sagte sich das Mädchen, keine, die durch das Heiligste auf der Welt befestigt wurde. Und sie dachte an den blonden Buben droben in seinem Bettchen und wurde ruhiger. Lange blieb auch der Frieder nicht mehr hier, und dann würde Theresens oberflächliches Herz sich wieder auf sich selbst besinnen. Wenn er nur erst abgereist wäre! Schlecht ist Therese nicht, sicher nicht; sie läßt sich nur so hinreißen durch alles, was sie bewundern zu müssen glaubt – nein, schlecht ist sie nicht! – –

Am andern Tage gegen Abend kam der Doktor aus dem Hause seines Schwiegervaters, den er täglich zu besuchen pflegte. Auf der Freitreppe der Villa zögerte er, besann sich und beschloß durch den Garten zu gehen, anstatt am Rheine entlang. Die Ballnacht lag ihm noch in den Gliedern. Man war erst in der Morgenfrühe heimgekehrt, und als er kaum schlief hatte man ihn schon wieder herausgeklingelt, um einem Opfer des Karnevals die Wunde zu verbinden, die ihm das Bierseidel eines Nebenbuhlers geschlagen. Die unerquickliche Scene, die sich in einer Gesellenherberge abspielte, hatte ihm die ohnehin nicht rosige Stimmung vollends verdorben.

Therese war unbestritten Ballkönigin gewesen und hatte die Huldigungen der jungen Männerwelt hingenommen wie ein Mädchen, das noch über Herz und Hand verfügen darf. Und er hatte viertelstundenlang in irgend einer Ecke gestanden und sich geärgert, daß einer vernünftigen Frau solche Thorheiten Vergnügen machen konnten, hatte sich vorgenommen, ihr in aller Ruhe zu erklären, daß jetzt mit dem Besuch der Gesellschaften aufgehört werden müsse, denn sie sei ihm zu nervös und das Tanzen für sie ein Unding. Sie war in der That nach jedem Tanze bleicher geworden und ihre Augen immer fieberhafter.

Heute früh war er noch nicht dazu gekommen, mit ihr zu reden, denn sie hatte geschlafen, und bei Tisch hatte er zu seiner Ueberraschung die Mutter oben gefunden. Therese hatte sie eingeladen, ragout fin mitzuessen, das Lieblingsgericht der alten Dame. Und ehe noch der Nachtisch gekommen war, hatte sich die junge Frau abermals schlafen gelegt. Wenn er jetzt nach Hause kam, konnte er endlich wohl mit ihr reden.

Blaugrüne Dämmerung umgab ihn, zu dunkel, um die Gegenstände noch deutlich zu erkennen, doch hell genug, um gerade noch sehen zu können. Hie und da schimmerte ein Streifchen liegen gebliebenen Schnees am Rande der Rasenflächen, und seitwärts leuchteten die weiß angestrichenen Baumstämme des Obstgartens wie Gespenster durch das Dunkel. Er ging, seine Cigarre rauchend, nicht den nächsten Weg, sondern um das große Rasenrund herum und kam an dem Gartenhäuschen vorüber, das unmittelbar an der Mauer gegen den Rhein lag. Der alte Herr hatte, als er den Garten kaufte, das alterthümliche Ding wieder ausgebessert und möbliert, da es vom Fenster aus eine köstliche freie Aussicht über den Strom gewährte. Er weilte hier gern im Vorfrühling, wenn es noch nicht möglich war, im Freien zu sitzen oder im Spätherbst, wenn kalte Winde den Rhein heraufzogen. Zur Winterszeit war es verschlossen.

Fritz schritt gedankenvoll vorüber und stolperte fast über die breiten Sandsteinstufen, die sich kaum von dem Gartenweg abhoben. Dann verließ er den Garten und stand ein Weilchen vor der Thür des eigenen Grundstücks am nachtdunklen Strome. Da hörte er seitwärts ein scharfes kratzendes Geräusch und gewahrte einen Schatten, der unterhalb des Gartenhäuschens an der Mauer hinunterglitt; er mußte fast aus dem Fenster des Häuschens gekommen sein. Mit langen Schritten begann der Doktor dem Flüchtling zu folgen, allein Dunst und Nebel hatten dessen Gestalt im nächsten Augenblick verschlungen. So hielt er es für gerathener, umzukehren und nachzusehen, ob etwa in das Gartenhaus eingebrochen worden sei, um nöthigenfalls den Hausherrn zu benachrichtigen. Vielleicht hatte da auch ein Flößer ein komfortables Nachtquartier gesucht.

Der Garten lag jetzt finster und spukhaft einsam da, nur meinte er aus der Verbindungsthür mit dem eignen Garten etwas Lichtes huschen zu sehen – oder doch nicht? Er mußte sich wohl geirrt haben, denn als er eben wieder hinblickte, glaubte er bestimmt, den leuchtenden Birkenstamm neben der Pforte damit verwechselt zu haben, und schritt nun rasch nach dem Gartenhaus hinüber. Es überraschte ihn, die Thür, die in dieser Jahreszeit immer verschlossen zu sein pflegte, nur angelehnt zu finden.

Er zündete im Vorflur sein Taschenlaternchen an und betrat die winzige Stube.

Niemand hler.

Er öffnete den Wandschrank – der Gartenrock des alten Herrn hing da, der Strohhut darüber. Auf der anderen Seite standen Tassen, Fidibusbecher und ein altes Messingkohlenbecken in ungestörter Beschaulichkeit beieinander. Er leuchtete an die Fenster; sie waren geschlossen, nur ein Laden war nicht zugeriegelt und klaffte etwas. Er befestigte ihn vollends und sah dann weiter umher; der Fußteppich vor dem Sofa lag schief gerückt, sonst – –

Plötzlich richtete er sich empor und starrte wie gebannt auf einen Gegenstand zu seinen Füßen, dann bückte er sich und erfaßte ein leichtes weißes, mit Goldstickerei verziertes seidenes Gewebe.

„Julias Tuch,“ sagte er und wußte selbst nicht, warum ihn so jählings ein tiefer innerer Zorn packte. „Julias Tuch!“ wiederholte er und lachte kurz auf.

Er löschte das Licht in der Laterne und setzte sich auf das

[833]

Photographie von Franz Hanfstaengl Kunstverlag in München.
Am Murgsee.
Nach einem Gemälde von J. G. Steffan.

[834] ächzende kleine Möbel, als müsse er erst Kraft sammeln, das unerhörte fassen zu können. Ein Mann, der aus dem Fenster springt; und Julia mit ihm in diesem abgelegenen Winkel – allein! Das stolze Mädchen, das ihm bis jetzt so rein und klar erschienen war wie – ja, es fiel ihm gar kein Vergleich ein. „Aber das kommt von der Lieblosigkeit, mit der sie aufgezogen wurde,“ murmelte er bitter. „Und doch – trotz alledem ist’s unbegreiflich! Aber warnen muß ich sie, ihr helfen, rathen!“

Er sprang auf und eilte ins Freie, das Tuch in der Hand. Es war völlig dunkel geworden. Eins der Krautnerschen Dienstmädchen begegnete ihm in der Nähe der Verbindungsthür beider Grundstücke.

„Ist vielleicht meine Frau bei ihrem Vater?“

Frau Doktor war heut’ noch gar nicht hier,“ antwortete das Mädchen; „es ist überhaupt gar niemand bei uns gewesen außer Ihnen, Herr Doktor. Der Herr Lieutenant sind schon seit ein paar Stunden fort; ich glaube, er wollte zu Fuß nach“ – sie nannte ein Städtchell in der Nähe – „ich hört’ es nur, wie er es zum Herrn sagte.“

„Ja, ich weiß,“ antwortete er zerstreut und ging.

In seinem eigenen Hause sah er Licht, im Kinderzimmer und im Boudoir seiner Frau. Bei Tante Riekchen war es dunkel. Er öffnete die Thür zu ihrem Zimmer und fragte hinein: „Ist Julia da?“

„Ja!“ antwortete die tiefe klangvolle Stimme des Mädchens.

„Warst Du bis jetzt daheim?“

Ein kurzes Schweigen, dann ein „Nein!“

„Verzeih – wo warst Du, Julia?“

„Ich –“ wieder eine Pause, „wie kann Dich das interessieren?“

Er antwortete nicht darauf. „Willst Dll in einer Viertelstunde auf einige Minuten in mein Zimmer kommen – in das Studierzimmer?“

„Gern!“ scholl es zurück.

Fritz begab sich in sein Zimmer, legte das Tuch sorgsam auf den Schreibtisch und ging zu seiner Frau.

Therese lag auf ihrem Sofa im Boudoir, die Lampe war mit einem dunklen Schleier verhängt. Sie sah bleich aus und ein Frösteln schüttelte ihren Körper.

„O weh!“ sagte er besorgt, „willst Du meine Praxis vermehren?“

„Ich bin so müde,“ klagte sie.

„Du hättest ein wenig an die Luft gehen sollen – warst Du heute gar nicht aus?“

„Nein!“ stieß sie hervor.

„Immer hier auf dem Sofa? Dann wundert mich Dein Frieren nicht. Hast wohl gelesen? Wenn Du das doch lassen wolltest, sobald Du angegriffen bist.“

„Ich möchte so gern schlafen.“

„Das heißt wohl, ich soll Dich verlassen, Kind? Gut, aber morgen habe ich ernsthaft mit Dir zu reden; so geht das nicht weiter, Therese!“

Sie fuhr empor. „Was geht nicht so weiter?“

„O! O! Heute nicht, morgen! Sei vernünftig und schlafe Dich aus – ich werde sorgen, daß alles ruhig bleibt!“ Er nickte ihr ernst zu und verließ das Zimmer.

„O, diese Frauen!“ murmelte er und klopfte an Tante Riekchens Thür.

„Willst Du kommen, Julia?“

„Sofort!“ antwortete sie.

Er ging voran, setzte sich an seinen Arbeitstisch und schraubte die angezündete Lampe höher, dann stützte er die Wange auf die Hand. Er hatte Herzklopfen wie ein Schuljunge. Gleich darauf trat sie ein.

Er betrachtete sie, wie sie nun vor ihm stand, ohne ein Wort zu sprechen. Sie sah leidend aus; es war ihr kindliches Gesicht nicht mehr. Er meinte auf einmal, etwas in den schönen Zügen zu erkennen, das an innere Kämpfe, an heimliche Leidenschaft mahne.

„Julia,“ begann er, und das Sprechen ward ihm schwer, „Du weißt, daß Du in mir immer einen Freund, einen Bruder gehabt hast – oder war ich es Dir nicht, Julia?“

Sie blickte ihn an und das Zucken ihrer Mundwinkel verstärkte sich; es sah fast hochmüthig aus.

„O, gewiß!“ antwortete sie.

„Du wirst Dir denken können, daß es einen Bruder aufs schmerzlichste und peinlichste berühren muß, entdeckt er an der Schwester –“

Er stockte und ging im Zimmer auf und ab; er wußte nicht, wie er ihr kundthun sollte, daß er ihr Geheimniß entdeckt. „Sieh das Tuch!“ sprach er endlich heiser und deutete auf das Gewebe neben der Lampe.

Sie sah es an und dann ihn, ruhig, mit einem Ausdruck von Verwunderung in den Blicken.

„Ich fand es eben – Du hast es wohl vergessen bei Deinem Stelldichein im Gartenhaus – im Schmerz des Abschieds, vielleicht auch –“ Und gereizt durch ihre Ruhe. „Ach, Julia, Kind, wie konntest Du Dich soweit vergessen!“

Ihre Augen hatten sich unheimlich erweitert. „Das Tuch – ich, ich soll es –?“

„Sei aufrichtig gegen mich, Julia!“ bat er. „Daß Du einmal lieben würdest – das mußte ja kommen, aber ich habe gemeint, es würde da, wie es Brauch und Sitte ist, bei Tante Riekchen oder bei mir ein achtbarer Mann anklopfen, der frank und frei Deine Hand begehrt; niemals habe ich gedacht, daß Du einem – Liehhaber gehören würdest, mit dem Du Dich verstecken mußt, der durch das Fenster seinen Weg nimmt!“

Sie fuhr empor.

„Du bist wahnsinnig!“ schrie sie. „O, das ist – das ist –“ Dann verstummte sie jäh, und ihre Hand tastete nach der Lehne des Sofas, während sie die andere vor die Augen legte, als sei ihr schwindlig geworden. „Mein Gott!“ klang es durch das Gemach.

„Ja, es ist besser, Du leugnest nicht und schenkst mir Vertrauen, es kann ja noch alles gut werden. Ich bitte Dich, Julia, sage mir alles, laß mich mit dem Manne reden! Ich bin bereit, wenn auch mit schwerem Herzen, Dich zu entschuldigen. Du hast keine Mutter gehabt, Tante Riekchen hat nicht verstanden, Deine Liebe zu gewinnen – Du bist herzenseinsam gewesen all die Zeit her, hast vielleicht den Muth nicht gehabt, der Tante zu sagen: ‚Ich liebe und werde geliebt!‘ – Ich will Dein Vertrauen ehren, Dir helfen – aber beichte, Kind, sage mir, wer es ist! So kann es ja doch nicht fortgehen; es ist Deiner und unsrer unwürdig!“

Er war neben sie getreten und streichelte ihr das Haar. „Sprich doch, Unnütz, sprich!“ sagte er bittend.

„Ich kann nicht! Ich kann nicht! Laß mich!“ rief sie, seine Hand zurückstoßend; ihre verstörten Augen irrten durch das Zimmer, als wisse sie nicht, ob sie wache oder träume.

„Du kannst nicht?“

„Nein! Nein!“

Und sie brach in ein kurzes nervöses Lachen aus. „Gieb das Tuch her, ich will gehen!“

„Nein, Du gehst nicht!“ rief er heftig, gereizt durch das Lachen. „Du entkommst mir nicht! Ich als Herr dieses Hauses dulde nicht, daß man mit Fingern auf die deuten darf, welche Kindesrechte hier genoß – also rede, sprich!“

Sie eilte vor ihn hin mit aufgehobener Hand, als wollte sie den Schimpf durch einen Schlag rächen. „Mit Fingern auf mich deuten?“ stieß sie hervor.

Er erfaßte die Hand und zog sie nieder. Julias kreideweißes Gesicht hatte einen unheimlichen Ausdruck.

„Besinne Dich! Dieses Tuch trugst Du vor ein paar Tagen; ich sah Dich darin, als Dein Bruder den Vortrag hielt. Irre ich mich? Ja oder nein!“

Sie senkte plötzlich den Kopf. „Es ist mein Tuch,“ sprach sie tonlos.

„Und wer war bei Dir?“

„Ich kann es nicht sagen.“

„Du willst es mir nicht gestehen?“

„Nein!“

Da stieg ihm der Zorn heiß zu Kopfe. „Ich hab’s nie für möglich gehalten, daß Du auf lichtscheuen Wegen gehen könntest,“ rief er empört. „So geh’ – wir sind geschieden!“

Sie schritt hinaus, das Tuch in der schlaff herabhängenden Hand, die ganze Gestalt wie gebrochen. Erst an der Thür warf sie den Kopf in den Nacken und richtete sich empor.

(Fortsetzung folgt.)

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[835]

Weihnachts-Büchertisch.

Gute Bücher sind wie gute Freunde – niemals sind sie willkommener als in der Muße stiller Festzeiten und langer Winterabende.

Kein Wunder, daß gerade Weihnachten ein Fest der Bücher geworden ist, für die Kleinen wie für die Großen. In erster Linie aber für unsere Kleinen! Nicht nur daß sie das tiefste Interesse, die unbefangenste Lust für ihre Bücherschätze mitbringen – es ist auch bei Schriftstellern und Verlegern das gleiche Bestreben vorhanden, vor allem der Jugend das Mannigfaltigste und das Beste zu bieten. So stellt denn auch der „Weihnachtsbüchertisch“ der „Gartenlaube“ billig in die erste Reihe die

Schriften für die Jugend.

Für die Jüngsten bringen die „Thiere aus Haus und Hof“ (Stuttgart, Effenberger) eine reiche und, was ebenfalls von Werth ist, „unzerreißbare“ Anschauungswelt, ebenso das „Leinwandbilderbuch“ „Aus der Thierwelt“ (Eßlingen, J. F. Schreiber). Der Verlag von Gustav Weise in Stuttgart bietet in der „Kleinen Feuerwehr“ von A. Baisch und F. Flinzer, in den eigenartig illustrierten Heften „Hinter dem Gitter des Thiergartens“ und „Einen Tag vor Weihnachten“ Anregendes in Wort und Bild. – „Aus Hänschens Jugendzeit“ nennt sich ein Buch, zu dem Fritz Reiß die Zeichnungen und W. Herbert die Verse geliefert hat; namentlich hübsch gelungen sind die Illustrationen. L. Meggendorfer wird mit seinen „Lustigen Zieh- und Drehbildern“ manchem unserer Kleinen ein herzliches Lachen abgewinnen; erschienen sind sie, ebenso wie „Hänschens Jugendzeit“, bei Schreiber in Eßlingen.

Ein etwas höheres Alter setzen die Bücher des Ströferschen Kunstverlags in München voraus: „Frohe kleine Gäste“, „Was braven Kindern gefällt“, „Großmütterlein“, „Was der Kuckuck ruft“, „Guck! Guck!“, „Feiertagsgeschichten“ und „In Pelz und Flaum, Prachtgestalten aus dem Thierreiche“. Hier ist durchweg ein hübscher Text durch Bilder illustriert, die mit wirklichem Geschmack ausgewählt und mit allen Hilfsmitteln namentlich auch der Farbentechnik wiedergegeben sind. Ebenbürtig schließen sich diesen Erscheinungen an das von Cornelie Lechler herausgegebene „Kunterbunt“, „Wilh. Heys fünfzig Fabeln“ und „Ludwig Bechsteins Märchenbuch für Kinder“ (Stuttgart, Effenberger). – „Der Mütter Schatzkästlein“ (Berlin, Alexander Duncker) giebt eine reiche Auswahl von Liedern und Sprüchen zum Auswendiglernen für die Kinder.

Was die „Universalbibliothek für die Jugend“ seit Jahren an gesunder geistiger Kost den Heranwachsenden bietet, ist in weite Kreise gedrungen. Heuer liegen sieben neue Bändchen in dem bekannten rothen Gewande vor. O. M. Seidel schließt seine Sammlung deutscher Reime, von der die beiden ersten Theile voriges Jahr an dieser Stelle besprochen wurden, mit dem Büchlein: „Buntes aus dem Leben. Der Verkehr des Kindes mit der Welt“; Dr. Werner Werther giebt „Parabeln von Krummacher und Herder“ sowie O. Glaubrechts Erzählung „Das Heidehaus“ in Bearbeitungen für die Jugend; Dr. K. Burmann schildert unter dem Titel „Deutsches Götterbuch“ die altdeutsche Götterwelt; ferner sind hier neu herausgegeben „Robert Reinicks Märchen“, „Am Lagerfeuer“ von Kapitän Mayne Reid und „Antinahuel“ von Gustave Aimard, zwei Erzählungen, deren Abenteuer auf amerikanischem Boden spielen. – Eine ähnliche Sammlung von Unterhaltungsschriften, nur mit begrenzterem Stoffgebiet, hat der Verlag von Carl Flemming in Glogau mit seinen „Vaterländischen Jugendschriften“ ins Leben gerufen. Wir heben daraus hervor: „Franz von Sickingen“ von Ludwig Ziemssen, „Barbarossa“, „Seydlitz“ und „Leuthen“ von Franz Kühn, „Albrecht Dürer“ von H. Berger, „Das Türkenmal“ von Ferdinand Sonnenburg und „Der neue Prophet“ von Ernst Kornrumpf.

Ein Unternehmen, das die eingehendste Beachtung der Eltern und Lehrer verdient, ist „Gustav Weises Naturgeschichte in Bildern“. Schon früher ist davon „Das Thierreich“ mit 250 Abbildungen erschienen, jetzt hat sich daran „Das Pflanzen- und Mineralreich“ mit 270 Illustrationen angereiht. Der Anschauungsunterricht findet hier Vorlagen von überraschender Treue und Mannigfaltigkeit.

Für die reifere Jugend liegen die neuesten Jahrgänge von Spemanns illustrierten Zeitungen für Knaben und Mädchen, „Der gute Kamerad“ und „Das Kränzchen“, je in einem stattlichen Bande vor. – Von Werken patriotischen Inhalts sind zu nennen „Jederzeit kampfbereit!“, ein mit vielen Abbildungen und Schlachtenplänen ausgestattetes Buch (Leipzig, Hirt und Sohn), in dem Oskar Höcker und Arnold Ludwig unter Mitwirkung militärischer Fachmänner „Geschichtliche und militärische Bilder von der Entwicklung der deutschen Wehrkraft“ in anschaulichster und belehrendster Weise entwerfen; weiter „1870 und 1871, zwei Jahre deutschen Heldenthums“, von Gustav Höcker (Glogau, Flemming). Die Phantasie besonders der Knaben liebt es, mit allen möglichen Helden, wießen, braunen und schwarzen, sich in die verwegensten Abenteuer zu stürzen, deren Schauplatz bald das Meer mit seinen Wundern und Gefahren, bald die Indianergebiete Nordamerikas, bald Afrikas heiße Steppen sind. Unter den Schriften, welche derartige Stoffkreise für die Jugend behandeln, zeichnen sich durch spannenden Inhalt und gediegene Ausstattung vor allem aus Armands „Amerikanische Jagd- und Reiseabenteuer“ und “Der blau-rothe Methusalem“ von Carl May (Stuttgart, Union). Eine afrikanische Kolonialgeschichte, die schon die neuesten Forschungsergebnisse für die sachkundige Darstellung verwerthet, erzählt C. Falkenhorst unter dem Titel „Am Viktoria-Njansa“ (Leipzig, Brockhaus); Friedrich J. Pajeken bietet zwei neue Schilderungen aus dem Westen Nordamerikas, „Ein Held der Grenze“ (Leipzig, Hirt) und „Jim, der Trapper“ (Stuttgart, Effenberger); E. von Wasmer läßt in dem Buche „Ueber den Sternen“ afrikanisches Sklavenleben den Mittelpunkt bilden, J. H. O. Kern giebt „ernste und heitere Geschichten aus dem Leben deutscher Seeleute“ unter der Ueberschrift „Unter schwarz–weiß–rother Flagge“ (Glogan, Flemming). „Die Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm haben in der „Großen Ausgabe“ (Berlin, Hertz) die 25. Auflage erlebt, hoffentlich noch lange nicht die letzte!

Junge Mädchen werden angenehm davon überrascht sein, daß bei G. Weise in Stuttgart aus dem Nachlasse von Emmy v. Rhoden, der Verfasserin des „Trotzkopf“, jetzt „Trotzkopfs Brautzeit“ herausgegeben worden ist. Das Buch weist dieselben Vorzüge auf wie das frühere, das so rasch beliebt geworden ist. – Clementine Helm zeigt in dem Bändchen „Friedas Mädchenjahre“ (Stuttgart, Krabbe), daß sie eine gemüthvolle Erzählerin ist, die auch geschichtliche Stoffe gewandt zu behandeln weiß. – Wie alljährlich so hat sich auch heuer pünktlich Ottilie Wildermuths „Jugendgarten“ eingestellt (Stuttgart, Union), auf den schon in Nr. 47 ausführlicher hingewiesen worden ist; ferner die Gaben für die weibliche Jugend, die unter Thekla von Gumperts Leitung bei Flemming in Glogau erscheinen. Es liegen vor der 37. Band von „Herzblättchens Zeitvertreib“, der 38. Band des „Töchteralbums“, der 13. und 14. Band des „Bücherschatzes für Deutschlands Töchter“. – Endlich ist in der gleichen vornehmen Ausstattung und mit einem Inhalt von ähnlichem litterarischen Werth wie der erste Jahrgang – unter anderen haben Ernst Eckstein, Martin Greif, Julius Sturm Beiträge geliefert – der zweite Band von „Maienzeit, Album für die Mädchenwelt“, herausgekommen (Stuttgart, Union).

Romane. 0 Novellen. 0 Gedichte.

Es ist für die „Gartenlaube“ eine ehrenvolle Pflicht, an der Spitze dieser Rubrik zunächst einiger Werke zu gedenken, welche in der „Gartenlaube“ zuerst das Licht der Oeffentlichkeit erblickt haben und nunmehr in Buchform sich der deutschen Lesewelt vorstellen. Es sind dies die „Truggeister“ von Anton v. Perfall, „Ein Götzenbild“ von Marie Bernhard und „Der Klosterjäger“ von Ludwig Ganghofer (die beiden ersteren bei Ernst Keils Nachfolger, das letztere bei Bonz in Stuttgart erschienen). Wir sind überzeugt, daß diese Erzählungen bei unsern Lesern noch in guter Erinnerung stehen und in ihrem veränderten Gewande noch manchen neuen Freund zu den alten sich gewinnen werden. Ganz besonders aber werden die beiden illustrierten Ausgaben der Werke von E. Marlitt und W. Heimburg auch heuer wieder vielen eine Freude machen. Die „Gesammelten Romane und Novellen“ von E. Marlitt sind bereits vollständig in 2. Auflage erschienen, die von W. Heimburg bis zum 8. Bande vorgeschritten. Auch Herman SchmidsGesammelte Schriften“ bringen wir unsern Lesern in Erinnerung. Herman Schmid ist bekanntlich einer der besten Vertreter des bayerischen Dorf- und Bauernromans.

Aus dem Vorstellungskreise der nordischen Mythologie hat Felix Dahn den Stoff zu einer kleinen Novelle geschöpft, die durch Eigenart des Konflikts wie durch märchenhaft-rührende Züge gleich sehr fesselt. (Leipzig, Breitkopf und Härtel.) Sie führt den Titel „Die Finnin“ und behandelt die tragische Liebe einer in einsamer Inselwildniß aufgewachsenen Finnenjungfrau zu einem „weißen Göttersohne“, der aus dem „milderen Westen“ an ihren Strand verschlagen wurde. – Karl Manno, dessen von kräftigem Humor getragene Novelle, „Ein süßer Knabe“ einst so vielen Beifall gewann, hat dem „süßen Knaben“ ein weibliches Gegenstück folgen lassen in seiner „Gräfin Gerhild“ (Stuttgart, Fr. Frommann). Freunde des Pferdesports werden in dieser an wildbewegter Handlung reichen Geschichte ausgiebig ihre Rechnung finden. Denn Roß und Reiter sind einmal die ausgesprochene Vorliebe dieses Autors. – Ernst Eckstein, der es wie wenige verstanden hat, in seinen groß angelegten Romanen aus der römischen Geschichte die ferne Vergangenheit vor uns lebendig werden zu lassen, bietet diesmal in seiner „Themis“ (Berlin, Grote) ein dramatisches Bild aus dem großstädtischen Treiben des heutigen Berlin; es ist ein mit Geschick aufgebauter Kriminalroman, der freilich an den dunklen Seiten menschlicher Leidenschaft nicht vorübergeht. – Rudolf v. Gottschall führt uns in seinem neuen Roman „Verkümmerte Existenzen“ (Breslau, Schlesische Verlagsanstalt) ebenso ergreifende wie lebenswahre Beispiele jener Unglücklichen vor, die nach einer guten Erziehung und vortrefflichen Schulbildung durch irgend ein widriges Geschick Schiffbruch gelitten haben und nun unter dem Zwiespalt ihrer Lebensgewohnheiten und ihrer Lebensbedingungen zu Grunde gehen oder langsam dahinsiechen. – Hans Arnolds „Neues Novellenbuch“ (Stuttgart, Bonz) hat bereits die zweite Auflage erlebt.

Rudolf Lindaus neuer Roman „Martha“ (Stuttgart, Cotta) trägt das Gepräge eines welt- und menschenkundigen Verfassers. Die Charaktere sind aus dem Leben gegriffen und mit sicherer Hand gezeichnet, [836] die Handlung, an sich einfach und ruhig verlaufend, ist reich an interessanten Episoden. – „Hermann Ifinger“, der neueste Roman des geistreichen Adolf Wilbrandt, wurde infolge äußerer Ereignisse schon viel genannt. Das Aufsehen, welches die gegen eine Stelle des Werkes in Oesterreich erhobene verfehlte Anklage hervorrief, darf seinen wahren Ruhm nicht in Schatten stellen. Es ist eine echte Dichterarbeit, voll tiefer Gedanken und von erquickender Schönheit der Sprache.

Eine fesselnde, in ihrer Besonderheit geistvolle Novelle – „Löwenblut“ – hat Wilhelm Lauser aus dem Nachlaß des Dichters Ferdinand Kürnberger herausgegeben (Leipzig, H. Minden). – Fritz Anders behandelt in seinen vortrefflichen „Skizzen aus unserem heutigen Volksleben“ Fragen und Mißstände unseres öffentlichen Lebens in einer Form, die im leichten Gewande des Humors den tiefsten Ernst verbirgt und hoffentlich bei recht vielen ein nützliches Nachdenken weckt; Charlotte Niese entfaltet in ihren reizenden Bildern „Aus dänischer Zeit“ eine unverkennbare Begabung für Kleinmalerei. Beide Bändchen sind bei Grunow in Leipzig erschienen. – Ernstes und Heiteres aus dem Wiener Volksleben erzählt der auch unsern Lesern wohlbekannte Plauderer V. Chiavacci in seinem Buche „Klein-Bürger von Groß-Wien“ (Stuttgart, Bonz). Wolfgang Kirchbach erweist sich in seiner Novellensammlung, „Miniaturen“ (Stuttgart, Cotta) als ein Talent, das geistvollen Humor mit einem naiven Ton zu verbinden weiß, darin an Gottfried Keller erinnernd.

Wir fügen noch einige Werke an, die an sich nicht neu sind, aber durch ein neues, oft festlich prächtiges Gewand sich ein Anrecht erwerben, auf einem Weihnachtsbüchertisch vertreten zu sein. Von Ottilie Wildermuths Gesammelten Werken und von Berthold Auerbachs Schriften haben wir schon an anderer Stelle gesprochen. Ferner ist Hackländers zweibändiger Roman „Eugen Stillfried“ in einer von A. Langhammer hübsch illustrierten Ausgabe (bei Krabbe in Stuttgart) erschienen, Ernst v. Wolzogens Romancyklus „Blau Blut“, in welchem „Die Kinder der Excellenz“, „Die tolle Komteß“ und „Der Thronfolger“ begriffen sind, liegt in der geschmackvoll ausgestatteten Salonausgabe von „Engelhorns Allgemeiner Romanbibliothek“ vor, und der reizenden Erzählung von Jeanne Schultz „Was der heilige Josef vermag“, ebenfalls ursprünglich einem Bestandtheil der genannten Romanbibliothek, ist sogar die Ehre einer illustrierten Prachtausgabe zu theil geworden, zu welcher der gerade durch seine Romanillustrationen berühmte französische Zeichner E. Bayard die Bilder geliefert hat.

An der Spitze der poetischen Litteratur haben wir die zweite umgearbeitete Auflage von Hermann Linggs machtvollem Epos „Die Völkerwanderung“ (Stuttgart, Cotta) zu nennen, weiter den Cotta’schen Musenalmanach für das Jahr 1893; wir werden über den wiederum überaus reichhaltigen und fein ausgestatteten Band noch Genaueres mittheilen. – Ernst Scherenbergs patriotische Dichtungen haben bei unserem deutschen Volke immer guten Anklang gefunden. In der neuesten (3.) Auflage seiner „Gedichte“ ist der Inhalt seiner früheren Sammlung mit neuen Gesängen vereinigt, die im Laufe des letzten Jahrzehnts entstanden sind. Auch durch Anton OhornsOrdensmeister“ (Berlin, Grote), einen Heldensang aus den Kämpfen des Deutschordens gegen die Polen, weht ein warmer patriotischer Hauch.

Esaias TegnérsFrithjofssage“ hat von jeher die deutschen Uebersetzer gelockt – ist es doch eine dankbare Aufgabe, den Wohllaut und die poetische Kraft der Verse des schwedischen Dichters in unserer Muttersprache wiederzugeben. Den älteren Uebersetzungen hat sich eine neue von Fr. Ohnesorge angereiht (Leipzig, Th. Knaur), die sich durch Treue gegen das Original auszeichnet und sich gut liest. – Feines Formgefühl und stilistische Gewandtheit zeigt Ludwig Fulda in seiner Uebersetzung von Molières Meisterwerken. Der Band umfaßt „Tartüff“, „Misanthrop“, „Gelehrte Frauen“ und „Der Geizige“ (Stuttgart, Cotta).

Seit Hebel und Fritz Reuter in so klassischer Weise der Dialektdichtung eine Bahn gebrochen haben, sind die mundartlichen Erzählungen und Gedichte häufig geworden. Wer gerne deutsche Stammeseigenart in diesen Spiegelbildern schaut, wird an den schwäbischen Gedichten von Eduard Hiller, „Naive Welt“ (Stuttgart, Lutz), seine helle Freude haben, und nicht weniger an den frischen „Gedichten in westricher (westpfälzischer) Mundart“ von Ludwig Schandein (Stuttgart, Cotta).


Gechichte. 0 Kulturgeschichte. 0 Biographie.

Als ein vortreffliches Hausbuch ist längst bekannt K. F. Beckers Weltgeschichte. Professor Wilhelm Müller hat sie noch vor seinem kürzlich erfolgten Tode zum drittenmal neu bearbeitet und bis auf die Gegenwart fortgeführt. Auch der Abbildungsstoff ist in der neuesten Auflage wesentlich bereichert.

Für unsere strebsamen Gymnasiasten bildet ein schönes Weihnachtsgeschenk das Buch von Hermann BenderRom und römisches Leben im Alterthum“ (Tübingen, Laupp). Es erscheint eben in einer neuen, den Fortschritten unserer Kenntnisse von der alten Weltbeherrscherin Rechnung tragenden Ausgabe. – Anziehend geschrieben ist das Werk von Alwin Schultz „Deutsches Leben im 14. und 15. Jahrhundert“ (F. Tempsky in Prag). Aus einer Fülle von Einzelzügen ist hier ein charakteristisches Gesammtbild deutscher Sitte und Kultur am Ausgang des Mittelalters zusammengestellt, ein Bild, das um so lebendiger wirkt, als eine reiche Illustration die Schilderung unterstützt und das Fremdartige unserem Empfinden nahebringt. Das Werk ist in einer besonderen Familienausgabe erschienen, die unbedenklich jedem in die Hand gegeben werden kann. – Rudolf von GottschallsNationallitteratur des neunzehnten Jahrhunderts“ (Breslau, Trewendt) ist jetzt in sechster Auflage erschienen. Schon darin liegt ein Gradmesser für die Brauchbarkeit dieses Werkes, das in vier Bänden eine Fülle von Stoff, eine annähernd vollständige Uebersicht über die Entwicklung der deutschen Litteratur in diesem Jahrhundert bis herab zur jüngsten Zeit bietet. Wer daher Ueberblick und Urtheil über unser litterarisches Leben vor allem in der Gegenwart sucht, wird an dem Buche Gottschalls nicht vorübergehen können. – „Das junge Deutschland“ von Joh. Prölß, welches das Werden von Gutzkow und Laube schildert, ist schon früher hier angezeigt worden. – Eine stets neu untersuchte Frage der Litteraturgeschichte, die nach der innersten Bedeutung von Shakespeares Hamlet-Figur, hat durch Richard Löning in seinem Buche „Die Hamlet-Tragödie Shakespeares“ (Stuttgart, Cotta) eine durch Einfachheit überraschende und überzeugende Beantwortung erfahren.

Hermann Lüders ist als Maler oft und viel mit dabei gewesen, wenn wichtige Begebnisse im Vaterland sich abspielten. Seine von ihm mit Zeichen- und Schreibfeder beschriebenen Malerfahrten „Unter drei Kaisern“ (Berlin, Grote) sind eine Art Blüthenlese aus der Geschichte der letzten vier Jahrzehnte.

Auf dem Felde der Biographie ragt hervor die prächtige Schrift des Altmeisters W. H. Riehl, „Kulturgeschichtliche Charakterköpfe“, wahre Kabinettsstücke scharfer, plastischer Darstellung. Sie liegen bereits in zweiter Auflage vor.


Prachtwerke.

Zu den hervorragendsten Erscheinungen auf dem Gebiet der Prachtwerke zählen dieses Jahr unstreitig die neue Prachtausgabe von Uhlands Gedichten und die Allerssche Bismarck-Mappe, aus denen wir bereits in Halbheft 23 und 25 verschiedene Proben gegeben haben. Am nächsten steht ihnen wohl die Mappe von C. Röchling, „Unser Heer“ (Breslau, C. T. Wiskott). Röchling ist einer unserer besten Militärmaler, der unsere Jungens im bunten Rock mit einer geradezu verblüffenden Realistik darzustellen weiß und insbesondere für die gemüthlich-humorvolle Seite des Soldatenlebens im Frieden einen trefflichen Blick hat. Diese beiden Eigenschaften des Künstlers kommen denn auch in den Blättern von „Unser Heer“ zu glücklichem Ausdruck. Die – verkleinerte – Probe auf S. 837 stellt eine mit Gewehrreinigen beschäftigte Gruppe dar.

Wie Röchling seine Musketiere, so kennt René Reinicke seine – Backfische. Das hat er mit seinem „Album für Backfische“ (Leipzig, Ad. Titze), aus dem wir Seite 829 eine Probe geben, aufs neue bewiesen. Wie reizend sind diese halb erschlossenen Mädchenblüthen, die es doch verstehen, sich schon ganz damenhaft zu geben! Und wie unterhaltsam die Typen der jungen Herren, vom steifen Anfänger bis zum weltgewandten Salonhelden, wie belustigend der Klavierspieler, welcher im Schweiße seines Angesichts auf die Tasten hämmert! Die hübsche Blondine im Mittelgrund scheint schon recht tief versunken zu sein in die neue Lust des Tanzes mit einem Herrn, denn vergeblich sucht der Tanzmeister ihre Aufmerksamkeit für seine Ausstellungen zu gewinnen. Ja ja, in der „ersten Tanzstunde mit Herren“ wird eben das Tanzenlernen Nebensache!

In ernsthaftere Regionen führt uns ein Werk, das recht eigentlich „einem Bedürfniß unserer Zeit entgegenkommt“. Seit langer Zeit war bei uns Deutschen die Neigung, Denkmale zu errichten, nicht so lebhaft entwickelt, wie dies gegenwärtig der Fall ist. Unserer Generation mußte darum auch ein Werk erwünscht sein, welches wie „Die deutschen Bildsäulendenkmale des XIX. Jahrhunderts“ von Hermann Maertens (Stuttgart, Jul. Hoffmann) die mustergiltigen Leistungen des laufenden Jahrhunderts zusammenstellt und so nicht bloß dem Laien eine Uebersicht, sondern auch dem Künstler Vorbild und Anregung giebt. Auf die Bedürfnisse des Fachmanns ist im Text noch besonders Rücksicht genommen.

Vom Fels zum Meer führen uns zwei landschaftliche Prachtwerke. „Alpenglühen“ nennt sich das eine (Stuttgart, Union). Es bietet Naturansichten und Wanderbilder aus den weiten Gebiete der Alpen von den Gestaden der „Riviera di Ponente“ bis hinüber zu den Geheimnissen des Karst. Der Text stammt aus der Feder eines vortrefflichen Kenners der Gebirgswelt, des Frhrn. A. von Schweiger-Lerchenfeld. Das Werk erscheint eben jetzt in zweiwöchentlichen Lieferungen. – Das andere ist ein bescheidenes, aber recht hübsch ausgestattetes Bändchen, eine Beschreibung der Insel und des Badelebens von Helgoland (Leipzig, Titze). Adolf Lipsius ist der Verfasser des lebendig und einnehmend geschriebenen Textes, die Abbildungen sind nach Photographien gemacht.


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Blätter & Blüthen.

Das Christkind im Hause. Ein wunderbarer Zauber umwebt das Weihnachtsfest, einer jener unvergänglichen Reize, welche allen Umwandlungen der Kultur trotzen und den Wechsel der Anschauungen überdauern, da sie aus jahrtausendelangem Sinnen und Glauben des Volkes hervorgegangen sind. Weihnacht! Die Neige des Jahres, die bedeutungsvolle Zeit der Wintersonnenwende, hat einst die frohen Feste des Heidenthums gesehen und sieht jetzt die sinnige Feier des Christenthums; wir fühlen uns in dieser Zeit durch reine Liebe gehoben – und wir opfern noch, wenn auch unbewußt, den alten Göttern der nordischen Völker. Als Schimmelreiter und Knecht Ruprecht besucht uns der strahlende Sonnengott Wuotan, Frau Berchta zu Ehren werden da und dort noch Umzüge veranstaltet – und in den geheimnißvollen „Zwölf Nächten“ sind auch wir leicht ein wenig abergläubisch und wollen nach der Art unserer Vorfahren in der Zukunft lesen.

Die Alten wissen, welchen Zauber die alten weihnachtlichen Volksgebräuche auf ihr jugendliches Gemüth ausgeübt haben, und wer sich in der Erinnerung dessen freut, der will wohl diese herzliche Lust auch seinen Kindern voll bewahren. Leider bröckelt von den alten Weihnachtsbräuchen einer nach dem anderen ab. Früher hat den artigen Kindern das Christkind den strahlenden Weihnachtsbaum und all die schönen Gaben gebracht; in diesem Glauben suchte man die Kleinen solange wie möglich zu erhalten. Heute sind es Vater und Mutter, Onkel und Tante, welche die Kinder beschenken, und damit geht ein liebliches Stück Hauspoesie verloren. Es ist ja sehr schön, wenn jetzt die Kinder im Theater Weihnachtsmärchen ansehen, aber ihre Großeltern haben andere Weihnachtsvorstellungen erlebt, welche das Auge nicht so sehr blendeten, jedoch das Herz um so mehr erwärmten, da sie ganz für das einfache kindliche Gemüth berechnet waren: die Ankunft des Knechts Ruprecht und des Christkindes wurde schon lange vorher angekündigt, und wenn der ersehnte Zeitpunkt da war, dann spielten die Erwachsenen mit voller Würde ihre Rollen, und bezeichnend war es, daß zu solchen Familienvorstellungen sehr oft die Dienstleute mit herangezogen wurden. In weißen, bunt bebänderten Kleidern traten sie möglichst fein und zart auf, das Gesicht versteckten sie hinter Larven, und mit feiner Stimme sprachen oder sangen sie in recitierender Weise die Verse. Das geschieht mitunter jetzt noch auf dem Lande; in den Städten – und leider wohnt heute schon die Hälfte der Deutschen in Städten – sind diese Gestalten verschwunden. Hier und dort erscheint wohl auch in der Stadt ein trauriger Knecht Ruprecht, der den umgewendeten Schlafrock über den Kopf gezogen hat und in seiner schlechten Vermummung in einem dürftig beleuchteten Zimmer die Kinder aufsucht – er spricht ein paar unverständliche prosaische Worte und geht von dannen, nachdem er den Sack mit Nüssen und Aepfeln zurückgelassen hat. Das Christkind bekommen die Kinder vollends nimmer zu Gesicht. Und doch würde das Zurückgreifen auf die alte Sitte viel zur Erhöhung der Weihe des Tages beitragen. Unsere Vorfahren wußten mit geringem Aufwand solche Hausfeste zu veranstalten, und denjenigen, die sie wieder aufnehmen möchten, wird die Mittheilung eines kurzen Christkindliedes und -spieles nicht unwillkommen sein; denn wenn auch viele das, was sie in ihrer Jugend geschaut haben, nachahmen möchten, so haben sie doch meist die Reime vergessen, welche dem Ganzen erst zur rechten Wirkung verhelfen. Karl Weinhold hat in seinem Werke „Weihnacht-Spiele und -Lieder aus Süddeutschland und Schlesien“ auch das nachfolgende kurze Christkindlied aus Niederschlesien mitgetheilt.

Gewehrreinigen auf dem Flur.
Aus „Unser Heer“ von C. Röchling. Verlag von C. T. Wiskott in Breslau
für die Gartenlaube verkleinert in Holz geschnitten.


 „Der Engel und das Christkind.“
Der Engel tritt ein, weißgekleidet, in der Hand ein Schwert, und singt:

Vom Himmel hoch da komm ich her,
Ich bring’ euch neue gute Mär,
Der guten Mär bring’ ich so viel,
Davon ich singen und sagen will.

Das Christkind tritt ein, bunt gekleidet, in der Hand eine Ruthe, und singt:

Ein’ schön’ guten Abend geb’ euch Gott,
Ich komm’ herein ohn’ allen Spott,
Hat es fromme Kinder innen,
Die fleißig beten und singen künnen,
Die fleißig in die Schule gehn
Und züchtig vor dem Tische stehn?
Wenn sie fleißig beten und singen,
So werd’ ich eine große Bürde bringen.

 Engel.

Ei, liebes Christkind, wenn ich dir soll die rechte Wahrheit sagen,
So muß ich über die kleinen Kinder klagen,
Wenn sie in und aus der Schule gehn,
Bleiben sie auf den Gassen stehn.
Die Bücher thun sie zerreißen,
Die Blätter in die Winkel schmeißen.

 Christkind.

Ei, lieber Engel, hätt’ ich das eher vernommen,
In das Haus wär’ ich nicht gekommen,
Da hätt’ ich mir meine Gaben erspart
Und wär’ wieder gen Himmel gefahr’n.

 Engel.

Ei, liebes Christkind, bist nicht so hart
Gegen die kleinen Kinder zart;
Sie wollen fromm sein und beten,
Daß du kannst mit dein’ Gaben vor sie treten.

 Christkind.

Ach, lieber Engel, weil du der Kinder thust gedenken,
So will ich ihnen etwas geben und schenken,
Damit sie an das heilige Christkind gedenken.

Das Christkind theilt seine Gaben aus, unterdessen singt der Engel:

Ach, liebes Christkind, wenn ich wär’ wie du,
So hieb’ ich mit der Ruthe zu.

Der Engel und das Christkind bleiben voreinander stehen und singen:

Wir stehen auf einem Lilienblatt
Und wünschen euch allen ein’ gute Nacht,
Ein’ schön’ gute Nacht, ein’ fröhliche Zeit,
Die uns der Herr Christus vom Himmel bereit.

Im Hinausgehen:

Gute Nacht, gute Nacht, gute Nacht,
Wir haben uns noch weiter bedacht;
Wir haben draußen stehn ein’ schönen Wagen,
Der ist mit lauter Gold und Silber beschlagen.

Dieses Christkindlied war seiner Zeit mit einigen Veränderungen in Deutschland weit verbreitet. In einer der veränderten Fassungen beschert das Christkind nicht, sondern empfiehlt sich mit dem Versprechen:

„Gute Nacht, gute Nacht, ihr lieben Kindelein,
Die Christnacht will ich wieder bei euch sein.“

Das mitgetheilte Christkindlied soll übrigens denjenigen Eltern, welche für derartige Hausfeste Sinn haben, nur als Anregung dienen, zweckmäßige Aenderungen lassen sich leicht anbringen. Wer sich überdies die Mühe geben will, Großvater und Großmutter um Rath zu fragen, der wird in vielen Fällen noch andere Weihnachtspiele erfahren und zur Freude seiner Kinder verwerthen können. *      

Der Cotta’sche Musen-Almanach. Zum drittenmal begrüßen wir diesen durch Inhalt und Ausstattung gleich ausgezeichneten Musen-Almanach, welcher mit Glück bemüht ist, die Erinnerung an seinen klassischen Vorgänger wachzuhalten; denn auch dieser neue Jahrgang 1893 enthält [838] Perlen deutscher Dichtung. Den feinsinnigen Herausgeber Otto Braun haben unsere berühmten Sänger aufs beste unterstützt, und die Verlagsbuchhandlung hat der Sammlung ein des Inhalts würdiges Kleid gegeben und sie mit sechs sauber ausgeführten Kunstbeilagen geschmückt. An der Spitze stehen Prosadichtungen. „Fräulein Susannens Weihnachtsabend“, eine Humoreske von Marie von Ebner-Eschenbach, die mit einfachen Mitteln einen rührenden Eindruck hervorruft, und eine Novelle von Max Haushofer, „Der Floßmeister“, eine stimmungsvoll beleuchtete und gut erzählte Geschichte aus dem Volksleben. Beide Erzählungen zeigen einen gemeinsamen Zug: die schmerzliche Täuschung braver Menschen, welche aber in sich die Kraft finden, sich über dieselbe hinwegzusetzen. Den Reigen der poetischen Erzählungen eröffnet das umfangreiche Gedicht „Gulnare“ von Otto Roquette, es behandelt jene orientalische Mär von dem Fischer, welcher Sultan wird und die Tochter des Veziers heirathet, die er, ohne es zu wissen, früher als Ware in einem Korbe vom Markte nach Hause getragen hat. Die Erzählung geht einher in der weitbauschigen Gewandung des Ostens, aber der behaglich plauderhafte Ton hat etwas Anmuthendes. Eine kecke Anekdote behandelt Heinrirh Kruse mit gewohnter Naivität in „Godiva“; die Erzählung „Liebet eure Feinde!“ von Karl Woermann, in Terzinen abgefaßt, singt das Lied von einem braven Manne, der ebenso tapfer dem Feind wie dem Vorurtheil trotzt und zu Grunde geht, indem er einem Nebenbuhler das Leben rettet. Farbenprächtig ist „Don Juans Ende“ von Ernst Eckstein, der uns den gefährlichen Besieger der Frauenherzen als einen Reuigen und doch Unverbesserlichen vorführt, und „Die letzte Rose“ von Adolf Stern, welcher den Tod eines im russischen Feldzug 1812 aus dem Leben scheidenden Italieners schildert. Den knappen Ton der schottischen Balladen trifft Ernst Ziel in „Frau Gonerill“ und „Kathrin von Liebenzell“. An Herweghsche Dichtweise klingt „Béranger“ von Johannes Proelß an. Sonst finden sich unter den Balladen neben Bildern aus der Geschichte poetische Anekdoten und Genrebilder. Hermann Lingg, Heinrich Vierordt sind die Verfasser der Gedichte getragenen Stils; Stephan Milow, Johannes Trojan, Carl Weitbrecht u. a. haben die Genrebilder beigesteuert. Werthvolles enthält auch der Abschnitt „Gedichte verschiedenen Inhalts“. Graf von Schack in seiner Epistel erklärt dem fränzösischen Chauvinismus den Krieg, feiert aber die Großthaten Frankreichs in Kunst und Litteratur, Adolf Wilbrandts Gedicht „Auf dem Kalvarienberg“ hat den Schwung der Hymne; geheimnißvoll beleuchtet ist „Abwärts“ von Wilhelm Jensen; „Lucifer“ von Felix Dahn und „Walpurgis“^ von Rudolf von Gottschall sind zwei an altbiblische Ueberlieferung und neue Volkssage anknüpfende Gedankendichtungen, von denen die erstere an Lord Byrons Mysterien erinnert. In diesem Abschnitt und in dem folgenden, „Lyrische Dichtungen“, begegnen wir einer großen Zahl namhafter Sänger neben minder bekannten Talenten; wir heben aus der langen Reihe den durch mehrere eigenartige Lieder vertretenen Johann Georg Fischer, ferner Emil Rittershaus, Julius Rodenberg, Max Kalbeck, Martin Greif, Prinz Emil von Schönaich-Carolath, Alberta von Puttkamer, Carl Hecker, Ludwig August Frankl, Arthur Fitger, Heinrich Bulthaupt, Georg Scherer hervor. Zur Spruchdichtung haben Ludwig Fulda, Adolf Pichler, Max Kalbeck Treffendes beigesteuert. Kaum eine Tonart, welche die neue Lyrik angeschlagen, ist in dem „Musen-Almanach“ unvertreten, und das Publikum, so verschieden seine Geschmacksrichtung sein mag, findet hier seine Lieblinge wieder.

Der Porträtmaler.
Nach einem Aquarell von A. Greil.

Navidad. Allenthalben diesseit und jenseit des Oceans hat man in dem zu Ende gehenden Jahre den vierhundertjährigen Gedenktag der Entdeckung Amerikas gefeiert. Millionen von Europäern haben inzwischen in der Neuen Welt eine neue Heimath gefunden und wetteifern mit dem alten Mutterlande Europa in den Werken des Friedens. Aber den ersten weißen Ansiedlern „drüben“ hat kein glücklicher Stern geleuchtet; kurz und traurig ist die Geschichte der ersten spanischen Burg in der Neuen Welt, welche den Namen „Weihnachten“ trug.

Am 24. Dezember 1492 befand sich Kolumbus mit dem Admiralsschiff „Santa Maria“ und dem kleineren Schiffe „Niña^ auf einer beschwerlichen Fahrt an der Nordwestküste von Haiti. Zwei Tage lang hatte er kein Auge zugethan und erschöpft begab er sich nach seiner Kajüte in der Meinung, daß er das Steuer sicheren Händen anvertraut habe. Aber kurz vor Mitternacht scheiterte das Admiralsschiff auf einer Sandbank. Dieser Unglücksfall, bei welchem die Mannschaft und die Ladung des Schiffes gerettet werden konnten, wurde als eine göttliche Fügung betrachtet und gab den Anlaß zur Gründung der ersten spanischen Ansiedlung an jenem Orte.

Haiti war den Spaniern so verlockend erschienen, daß sie die Insel Espagnola genannt hatten. „Ihre Berge und Ebenen, ihre Auen und Fluren sind so schon und üppig!“ schrieb Kolumbus. „Hier könnte man alle Feldfrüchte bauen, alle Art Vieh züchten, Städte und Dörfer gründen!“

Vor allem aber zeichnete sich die Insel in den Augen der Spanier durch ihren vermeintlichen Goldreichthum aus. So erklärten sich auch 39 Begleiter des Kolumbus gern bereit, hier zu bleiben; sie hofften, durch Tauschhandel mit Eingeborenen rasch reich zu werden. Sie errichteten ein Kastell, und Kolumbus gab ihm den Namen „Navidad“, d. h. Weihnachten. Am 4. Januar 1493 nahm er Abschied von den ersten Kolonisten Amerikas. „Ich hoffe zu Gott,“ hatte er noch am zweiten Weihnachtstage in sein Tagebuch geschrieben, „daß ich bei meiner Zurückkunft von Kastilien hier eine Tonne Goldes finden werde, welche die Zurückgebliebenen eingetauscht haben, und daß diese inzwischen die Goldminen selbst und die Spezereien in solcher Fülle entdeckt haben, daß, ehe drei Jahre vergehen, der König und die Königin die Eroberung Jerusalems in Angriff nehmen können.“

Trügerische Hoffnungen! Am 27. November 1493 erschien Kolumbus auf seiner zweiten Entdeckungsreise wieder vor Navidad. Kein Spanier kam ihm entgegen. Er fand nur die Trümmer des Kastells, und in dem Grase der Umgegend einige Leichen. Soviel von den Indianern der Umgebung herauszubringen war, hatten die ersten Ansiedler der Neuen Welt sich Uebergriffe gegen die Eingeborenen zu Schulden kommen lassen, wurden angegriffen und sämmtlich getötet.

So knüpfen sich traurige Erinnerungen an das erste Weihnachtsfest der Christen jenseit des Atlantischen Oceans. *      

Der Porträtmaler. (Mit Abbildung.) Es ist keiner der bedeutendsten in seiner Kunst, der Meister, den unser Bildchen darstellt. Einst mag es wohl Zeiten gegeben haben, da er sich selbst für ein Genie hielt, da ihm der Himmel voller Geigen und voller – Bestellungen hing. Aber die grausame Welt, sie hat ihn schnöd verkannt und achtlos hinweggesehen über sein künstlerisches Lockenhaupt, sein genial blitzendes Auge und seine mittelmäßigen Bilder. Schritt um Schritt hat er so seine Ansprüche herabstimmen müssen, und heute ist er froh, eine recht bescheidene „Schönheit“ des Städtchens auf der Leinwand verewigen zu dürfen. Aufrecht und steif sitzt ihm die ältliche Dame, der Maler aber arbeitet mit grimmigem Eifer an ihrem Konterfei. In seinem Hirne spuken wohl noch die Träume von wunderbaren Frauenköpfen, an denen er sich einst begeistert und die er als den einzig würdigen Stoff für seinen Pinsel erachtet hat. Es hat nicht sollen sein! Doch ein süßer Trost ist ihm geblieben: seine Auftraggeberin wird es ihm nicht verübeln, wenn er seinem Talent die Zügel schießen läßt und ein klein wenig „idealisiert“.

Spiegelnde Kohle. Bekanntlich ist der Diamant mit der Steinkohle genau dasselbe seiner Natur nach; seiner „Zusammensetzung“ nach kann man nicht sagen, denn die Kohle gehört zu den „Elementen“, zu den nicht zusammengesetzten Körpern. Der Diamant ist krystallisierter Kohlenstoff. Nun wird man es begreiflich finden, daß es seit lange die Beschäftigung von Naturforschern gewesen ist, den amorphen – nicht krystallisierten – Kohlenstoff in die krystallisierte Form überzuführen. Abgesehen von der wissenschaftlichen Bedeutung liegt die riesige industrielle Wichtigkeit der Lösung dieser Frage auf der Hand. Die Versuche, die Kohle zu schmelzen und dadurch zur Krystallisation zu zwingen, haben aber bis jetzt noch zu keinem entschiedenen Ergebniß geführt, obgleich schon wiederholt von einzelnen behauptet worden ist, daß es ihnen gelungen sei.

Nunmehr berichtet ein Forscher, W. Luzi, in den „Berichten der deutschen Chemischen Gesellschaft“ von einer Entdeckung, die zwar nicht [839] die Umwandlung der Kohle in Diamant bedeutet, die aber vielleicht doch von hohem industriellen Werthe werden kann; es handelt sich nämlich um die Verwandlung der Kohle in eine andere Art von krystallisiertem Zustand, in spiegelnde Form.

Ein Porzellantiegel wurde auf eine außerordentlich hohe Wärme erhitzt (gegen 1770° C.); nachdem das Porzellan eine Zeitlang auf dieser Temperatur erhalten worden war, wurde plötzlich die Luftzufuhr zur Flamme, welche dieselbe nichtleuchtend und heiß gemacht hatte, abgestellt, so daß sie sich in eine leuchtende, rußende Flamme verwandelte.

Der Ruß einer leuchtenden Flamme ist nun bekanntlich nichts anderes als fein vertheilte Kohle. Die Flamme wurde immer kleiner gedreht, was etwa eine Viertelstunde lang hingezogen wurde. Nach dieser Zeit war der Porzellantiegel mit einer eigenthümlichen Masse beschlagen. War er unglasiert, so sah er jetzt genau wie mit Graphit überzogen aus – Graphit, das Material der Bleistifte, ist auch Kohlenstoff, die dritte Form desselben neben Diamant und Kohle; war dagegen das Porzellan glasiert, so zeigte es einen hellen silberfarbigen, ganz metallisch aussehenden und vollkommen spiegelnden Ueberzug. Dieser Kohlenstoffspiegel ist vom Silberspiegel kaum zu unterscheiden. Theilweise haftet er so fest am Porzellan, daß man mit einem Tuche daran reiben kann, ohne daß er abgeht, zum Theil sondert er sich aber auch ab, indem dabei prächtig spiegelnde Facetten von wundervollem Glanze entstehen. Blättert man diesen Kohlenstoff los, so rollt er sich zusammen wie Metallspäne. Die abgeblätterten, biegsamen, spiegelnden Kohlenstoffhäutchen haften wie Blattsilber an allen Körpern, an Glas, an den Fingern, am Holz. Sie lassen übrigens trotz ihrer Dünne keine Spur von Ächt durch, was also die Verschiedenheit dieses Kohlenstoffs von dem Diamant vollständig darthut und zugleich beweist, daß es außer dem Diamant noch eine andere krystallisierte Form des Kohlenstoffs giebt.

Am Murgsee. (Zu dem Bilde S. 833.) Der schönste Punkt an der Südseite des vielgerühmten Wallenstädter Sees in der Ostschweiz ist Murg. Eine Wanderung von vierthalb Stunden führt von hier durch das geologisch merkwürdige Murgthal empor zu den drei Murgseen, von denen der oberste und größte 1825 Meter über dem Meere und 1400 Meter über dem Spiegel des Wallenstädter Sees liegt. Auf unserem Bilde findet der Leser den untersten der drei Seen, in dessen tief eingesenktes Becken sich die Wasser der oberen Seen über eine jäh abstürzende Gesteinsmauer ergießen. Es ist ein überaus einsames schwarzgrünes Gewässer, in ödem Felskessel gelegen, der durch rauhe Felswände und jähabschießende Geröllhalden gebildet wird. Außer Alpengräsern und niedrigem Buschwerk findet man als Vertreter der Pflanzenwelt hier nur noch Berg-Erlen und schön geästete Arven. Die zerklüfteten Bergmassen im Hintergrunde gehören zum Weißkammstock, einem Bergzuge der Glarner Alpen; nur beschwerliche Jochsteige führen über ihre Schultern hinüber ins Thal von Glarus. Der Münchener Maler J. G. Steffan, der Schöpfer unseres Bildes, versteht es mit einer seltenen Meisterschaft, die wilde Natur des Hochgebirgs auf seinen Gemälden wiederzugeben, und so ist auch der tiefe Ernst der Murgseelandschaft vortrefflich von ihm getroffen worden. H.     

Neuestes zur altamerikanischen Kultur. Für die Leser des ersten Artikels „Altamerikanische Kulturbilder“ in Halbheft 22 der „Gartenlaube“ wird es von Interesse sein, zu erfahren, daß der in demselben mehrfach erwähnte Dresdener Mayaforscher, Professor Förstemann, gerade in den Tagen, als unser Artikel erschien, eine Entdeckung gemacht hat, die uns die höchste Bewunderung für die wissenschaftlichen Leistungen jenes merkwürdigen alten Kulturvolkes in Centralamerika abnöthigt. Professor Förstemann fand nämlich in der Dresdener Mayahandschrift derselben, aus der wir eine Seite abbildeten, Zahlenzusammenstellungen, die erkennen lassen, daß die Mayas wechselnde Monate von je 29 und 30 Tagen (wie auch die alten Griechen) hatten, und zwar neben den anscheinend älteren und mehr für den Götterkultus bedeutsamen Zeiträumen von 20 Tagen, die wir in dem zweiten Artikel „Altamerikanische Kulturbilder“ ebenfalls als „Monate“ bezeichnet haben, obgleich sie mit dem Mondumlauf nichts zu thun haben. Nun findet sich ferner unter diesen Zahlenzusammenstellungen eine jener in dem ersten Artikel erwähnten Zahlenreihen, die einen Zeitraum von 11958 Tagen in 198 Monate zu 29 Tagen, 207 Monate zu 30 Tagen und 6 Schalttage zerlegt. Berechnet man danach die genaue Dauer eines Monats, so kommt man zu dem staunenswerthen Ergebniß, daß die Mayas den Monat zu 29,526 Tagen angenommen haben, also, da der wirkliche synodliche Mondumlauf 29,53 Tage dauert, nur um vier Tausendstel eines Tages zu klein! Es muß uns in der That die größte Bewunderung vor der Höhe jener alten Kultur erfüllen, wenn wir sehen, wie dieses Volk ohne die uns zu Gebote stehenden kunstvollen astronomischen Apparate so genaue Ergebnisse erzielte und dieselben, ohne die uns geläufigen rechnerischen Hilfsmittel der Bruchrechnung, in so wahrhaft genialer Weise in ganzen Zahlen zum Ausdruck zu bringen verstand. Dr. P. Schellhas.     

Unsere Weihnachtsbilder. Obenan unter dem künstlerischen Schmuck unseres Halbhefts steht die farbige Kunstbeilage. Es ist ein in seiner Einfachheit rührender Stoff, den R. Beyschlag aus dem vielgestaltigen Weihnachtsleben herausgegriffen hat: eine Mutter, die ihres Kindes Christbaum schmückt, und die Großmutter, die gekommen ist, auch ihre Gabe unter den geputzten Baum zu legen, während einer liebenswürdigen Tante Weihnachtssendung noch des Auspackens harrt. – In figurenreichem Bilde führt uns W. Gause auf den Bahnhof einer Großstadt zu der Zeit der Weihnachtseinkäufe (S. 808 u. 809). Reisende aus allen Lebenskreisen, von der vornehmen Dame mit ihrem aufgeputzten Töchterchen bis zum Bauernweib im bunten Kopftuch und zum Urlauber im bunten Rock, drängen sich an die Wagen des bereitstehenden Zuges, und keines ist darunter, das nicht in Koffer, Tasche, Korb, Paket oder Schnupftuch irgend eine geheimnißvolle Weihnachtsspende mit sich führte. Doch ja – die beiden Geschäftsleute links, die hat der Weihnachtszauber offenbar noch nicht berührt. Es gibt ja leider, und zumal in der Großstadt, auch solche Käuze! – Vor Paris 1870, welch ein Gegensatz! Das waren böse Weihnachtstage, in die uns O. Gerlach mit seinem Bilde (S. 813) zurückversetzt; aber unsere wackeren Krieger ließen sich den Humor nicht verderben. Also herbei mit einem Tannenbäumchen, und ist es auch dürftig und verkümmert – herbei mit allem, was an Lichtern aufzutreiben ist! Hell lodert im Kamin des feinen Salons das wärmende Feuer, gespeist vielleicht von dem vorletzten der bequemen Lehnstühle, und das Gefühl treuen kameradschaftlichen Zusammenhaltens muß die Freuden der Heimath ersetzen. – Und nun noch ein Blick in die fernere Vergangenheit, in ein „Weihnachtskränzchen vor hundert Jahren.“ (S. 821.) „Es ändern sich die Zeiten und wir mit ihnen“, sagt ein alter Spruch. Aber im Grunde ändert sich vielfach nur das Gewand – was darunter im Menschenherzen wohnt von Freude und Sorge, sieht sich in allen Jahrhunderten merkwürdig gleich. Sollte man nicht denken, ein heutiges Damenkränzchen habe zum Scherz das Urgroßmutterkleid angelegt und stichle nun angestrengt drauf los, um schnell, schnell noch vor dem herandrohenden Weihnachtsabend die bunten Sächelchen fertig zu bringen, welche nothwendig unter dem Lichterbaum liegen müssen? Dort steht er schon in der Ecke, es ist nur noch ein Tag Zeit, also Eile, so viel als möglich! Eine kleine Bemerkung dazwischen muß natürlich von Zeit zu Zeit gemacht werden – ganz wie bei uns. Die beiden Kunstfertigen der Gesellschaft haben das Spinett geöffnet und geben, vielfach gebeten und nach tausend Ausreden, ein Arioso zum besten, auf welches dann niemand aufmerkt – ebenfalls ganz wie bei uns. Wahrhaftig, wären die Watteaukleider nicht und die flackernden Kerzenlichter, der altmodische Stuhl und die ganze altfränkische Umgebung, so könnte man ganz gut statt der Jahreszahl 1792 die heutige unter dieses Weihnachtskränzchen schreiben!



KLEINER BRIEFKASTEN.

(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

B. H. in Mannheim. Die in dem Artikel „Rothe Nasen – eine Folge des Brillentragens“ (Siehe Halbheft 21) erwähnten Brillenstege werden von der Firma vorm. E. Busch in Rathenow fabriziert. Die Firma liefert jedoch nicht an Private. Sie müssen daher die Brillenstege durch einen Optiker von dort beziehen.

A. L. Freiberg i. S. Besten Dank für Ihre Mittheilung! Es ist sehr erfreulich, daß unser Aufruf in Halbheft 20 so gute Früchte trägt und daß nun auch die deutsche Papierindustrie für den Erfinder des Zellstoffpapiers Fr. G. Keller ins Zeug gehr. Wir wünschen der Sammlung des „Vereins sächsischer Papierfabrikanten“ reichen Erfolg. Auch der „Papierzeitung“ und den Herren A. Wertheim u. Co. in Hamburg gebührt alle Anerkennung dafür, daß sie sich thatkräftig den Bemühungen anschließen, dem verdienstvollen Manne einen sorgenfreien Lebensabend zu bereiten.

A. U., Kapkolonie. Wir können Ihnen folgende Rezepte für Herstellung eines guten Hausbieres angeben. In einen reinen Kessel (Waschhauskessel) gießt man 100 Liter weiches Wasser und giebt dazu 5 Kilogramm guten Hopfen, 1 Kilogramm Wachholderbeeren, 30 Gramm Koriander und 30 Gramm Weinsäure (Weinsteinsäure). Nunmehr bringt man den Kesselinhalt ins Kochen. Nach Beginn des Kochens muß man das Feuer noch eine halbe Stunde unter dem Kessel weiterbrennen lassen; der an der Oberfläche der Flüssigkeit auftretende Schaum ist vollständig zu entfernen, da sonst das Bier später trübe wird. Nach dem halbstündigen Kochen gießt man den Kesselinhalt durch ein Haarsieb und läßt das Gebräu bis auf 19 bis 20 Grad Celsius abkühlen. Alsdann diebt man ein halbes Kilogramm frische Hefe hinzu und hält das Gefäß so lange verdeckt, bis sich die Oberfläche weiß überzogen hat. Nunmehr füllt man das Gebräu in ein Faß, bringt dieses in den Keller und läßt es dort 48 Stunden zum Gähren lagern. Während dieser Zeit füllt man alle sechs Stunden etwas kaltes Wasser auf und läßt das Bier dann gut verspundet nochmals 48 Stunden liegen. In dieser Zeit klärt es sich vollständig, und das fertige Hausbier kann jetzt auf Flaschen gezogen werden. – Im Anhaltischen und in der Provinz Sachsen stellt man auf dem Lande und in kleinen Städten ein „Hausbier“, das auf Flaschen gefüllt wird, wie folgt her: 2 Liter Lagerbier, 10 Liter Wasser, für 10 Pfennig doppeltkohlensaures Natron (Natriumbicarbonat, Natrium bicarbonicum=, für 115 Pfennig Weinsäure und einige Eßlöffel gestoßenen Zuckers werden zusammengemischt, auf Flaschen gefüllt und verkorkt. Dieses Bier hat einen angenehmen Geschmack, ähnlich wie Weißbier.

Johanna II., Kaima, Rußland. Soweit unsere Kenntniß reicht, ist das Leben der sittenlosen Königin Johanna II. von Neapel wohl ein sehr wechselvolles gewesen, eine besondere Tragik aber können wir nicht darin finden. – Uebrigens, einen bescheidenen Vorschlag: Sie sind sehr wißbegierig und haben insbesondere viel geschichtliches Interesse, welches zu befriedigen Sie sich gar oft an die „Gartenlaube“ wenden. Wir wollen Ihnen ja gern dienen; aber wie wäre es, wenn Sie sich ein für allemal ein Konversationslexikon, Pierer, Meyer, Brockhaus oder was Sie wollen, anschaffen. Sie fahren dabei gewiß weit besser – und wir auch ein bißchen!


[840]
Allerlei Kurzweil.


Weihnachtshieroglyphen.

Durch die Anfangsbuchstaben der Bilder sind die Konsonanten eines Weihnachtstextes angegeben. Die Vokale müssen errathen und hinzugefügt werden.

Citatenräthsel.

Aus jedem der folgenden Schillerschen Citate ist ein Wort zu wählen, so daß dadurch ein Citat aus „Wallensteins Tod“ gebildet wird.

1. Das Glück ist falsch, unsicher der Erfolg.      Demetrius. I.
2. Nicht Strenge legte Gott ins weiche Herz des Weibes.      Maria Stuart. II. 3.
3. Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen.      Demetrius. I.
4. Für einen Knaben stirbt ein Posa nicht.      Don Carlos. V. 9.
5. Du sprichst von Zeiten, die vergangen sind.      Don Carlos. I. 2.
6. Ich hab’ hier bloß ein Amt und keine Meinung.     Wallensteins Tod. I. 5.
7. Ehrt den König seine Würde,
0 Ehret uns der Hände Fleiß.  Das Lied von der Glocke.
8. Den stolzen Sieger stürzt sein eignes Glück.     Jungfrau von Orleans. I. 5.
9. Dem Mann zur liebenden Gefährtin ist
0 Das Weib geboren.  Jungfrau von Orleans. III. 4.


Kombinationsaufgabe.

Seher. Aster. Birne. Treue. Recht. Thran. Laube. Binuë. Bohle. Fulda.

Aus jedem der obigen Wörter ist durch Veränderung eines Buchstabens und Umstellung der übrigen Buchstaben ein neues fünfstelliges Wort zu bilden. Die durch die Veränderung gewonnenen Buchstaben, welche genau in der Mitte der neuen Wörter stehen, sollen den Namen eines bekannten Abenteurers des vorigen Jahrhunderts ergeben.

Es bezeichnet: 1. einen Baum, 2. einen Vogel, 3. einen Fluß in Afrika, 4. einen berühmten Mathematiker, 5. einen Vornamen, 6. einen Baum, 7. eine Stadt am Rhein, 8. eine in Norddeutschland, 9. einen in der Bibel genannten Berg, 10. einen Vornamen. A. St.     


Auflösung der arithmetischen Aufgabe auf S. 804:
Man streiche die Zahl 98 dreizehnmal, die Zahl 61 sechsmal und die Zahl 51 fünfmal; dann bleibt:

a) 11 X 98 = 1078;
b) 10 X 61 = 0610;
c)0 4 X 51 =0 204.
00 25 1892.


Auflösung des Citatenräthsels auf S. 804:
Wer meinen Feind nicht haßt, kann nicht mein Freund sein.
 E. v. Wildenbruch, „Die Quitzows“. IIa 9.


Auflösung der Dominoaufgabe auf S. 804:
A behielt: / C setzte: / D setzte:

Der Gang der Partie war: A 3/6, B –, C 6/6, D 6/5; A 5/3, B –, C 3/3, D 3/1; A 1/5, B –, C 5/5, D 5/2; A 2/3, B –, C 3/0, D 0/4; A 4/3.


Auflösung der Skataufgabe Nr. 7 auf S. 772:
Die Kartenvertheilung ist folgende: Skat: e7, s7.

Mittelhand: eW, eK, e9, e8, gZ, rO, sD, s9, s8 (= 40)
Hinterhand: gW, eD, eO, gD, gO, g9, g8, g7, r9, sZ (= 40)

Das Spiel nimmt folgenden Verlauf:

1. rW, eW, gW (M. 6)
2. e9, eO, eZ (V. 13)
3. gK! gZ, gO (M. 17)
4. eK, eD, rD (H. 26)
5. sZ! sK, s9 (H. 14)
6. r9, r8, rO (M. 3)
7. s8, gD, sO (V. 14)
8. rK, rZ, g9 (M. 14)
9. e8, g8, r7 (0)
10. sD, g7, sW (V. 13)

Jeder Spieler hat in seinen Stichen 40 Augen erhalten.


Auflösung der Damespielaufgabe auf S. 804 :

1. f 2 – e 3 0 D c 1 – f 4 †
2. d 4 – e 5 0 f 6 – d 4 †
3. b 4 – c 5 0 d 6 – b 4 †
4. a 5 – g 3 ††† h 4 – f 2 †
5. e 1 – g 3 †0 g 5 – h 4 0a, b)
6. g 3 – f 4 0 h 6 – g 5 0c)
7. f 4 – h 6 †0h 4 – g 3
8. h 6 – g 7 und gewinnt.

a) 5. ...... g 5 – f 4
00 6. g 3 – e 5 †0 h 6 – g 5
00 7. g 1 – f 2 und gewinnt.
b) 5. ...... b 8 – a 7
00 6. b 6 – c 7 0 g 5 – h 4
00 7. c 7 – d 8 D und gewinnt.
c) 6. ...... h 4 – g 3
00 7. f 4 – h 2 † 0h 6 – g 5
00 8. h 2 – g 3 und gewinnt.


Auflösung der magischen Figur
auf S. 804:

1. Hegel, 5. Niger,
2. Thoas, 6. Rhone,
3. Felix, 7. Nelke,
4. Indus, 8. Baden.

Auflösung des Rösselsprungrebus
auf S. 804:

Das Talent bedarf der Pflege, um zu gedeihen, das Genie nur Raum, um sich zu entfalten.

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Auflösung der Logogriphaufgabe auf S. 804:
Bora, Kinn, Dorn, Reis, Ritter, Eid, Regel, Fugen, Haufe, Hebel, Wahl, Messe, Gericht, Kaste, Mitte, Ende, Dahn, Brigg, Urahn, Art, Wende, Hela, Erbe, Heil, Bart, Bogen, Nase. (Anderer Fehler sind gute Lehren.) Born, Kien, Horn, Reis, Gitter, Lid, Hegel, Eugen, Hauff, Nebel, Wahn, Messe, Gedicht, Kante, Mette, Erde, Hahn, Brieg, Krahn, Arm, Wunde, Hera, Erbe, Seil, Bast, Bogen, Base. (Besser umkehren, denn fehl gehen.)


manicula 0Hierzu die farbige Kunstbeilage XIV: Unter dem Weihnachtsbaum. Von R. Beyschlag.
(Kunstbeilage XIII wird mit Halbheft 28 ausgegeben werden.)

Soeben erschienen! Schönstes Festgeschenk für das deutsche Haus. Soeben erschienen!
Uhlands Gedichte. Pracht-Ausgabe.
Mit Illustrationen vvn W. L. Arndt, G. Cloß, G. Koch, H. Makart, G. Max, A. Zick u. A. In Prachtband gebunden, mit Goldschnitt. Preis 12 Mark.

Uhlands Gedichte tragen wie wenig Dichterwerke den Beruf in sich, in einer illustrierten Pracht-Ausgabe ein hervorragendes Geschenkwerk zu werden. Die neue, mit Bildern hervorragender Künstler geschmückte, reich ausgestattete Cotta’sche Ausgabe ist ein passendes Festgeschenk für Jedermann, besonders auch für die heranwachsende Jugend. Auf dem diesjährigen Weihnachtsmarkt dürfte kaum ein zweites Prachtwerk von ähnlicher Bedeutung zu finden sein, welches mit so glänzender Ausstattung einen so mäßigen Preis verbindet.

Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung in Stuttgart.



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Vergl. „Gartenlaube“ 1889, Halbheft 27, „Noch einmal auf den Spuren des Weihnachtsbaums“.