Die Gartenlaube (1892)/Heft 4
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Halbheft 4. | 1892. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahrgang 1892. Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf. alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.
Weltflüchtig.
Der Sommer ging zu Ende. Bettina sah mit Wehmuth die schönen Tage schwinden und fühlte immer mehr, wie theuer ihr der einsame Fleck Erde geworden war. Fast täglich unternahm sie mit den Verlobten und Ludmiller weite Segelfahrten, und gewöhnlich saß Ewald Monk am Steuer ihres Bootes. Der Lotse erwies sich so gefällig gegen die Badegäste und wußte so trefflich über Land und Leute Auskunft zu geben, daß man ihn auch bei Spaziergängen an der Küste zum Führer wählte. So kam es, daß sich von Tag zu Tag ein herzlicherer Verkehr zwischen ihm und Bettina herausbildete. Ihr dünkte es köstlich, mit ihm zu wandern, er plauderte dann von seinen Fahrten, und sie hörte ihm mit Vergnügen zu. Monk aber fühlte sich an ihrer Seite stolz und glücklich. Es lag für ihn ein Reiz in ihrer Erscheinung, in ihrem stillen sinnigen Wesen, der ihn seine ruhige berechnende Art hier und da ganz vergessen ließ. Sie besaß einen scharfen Blick für alles Schöne, und während sie Feld und Wald durchstreiften, entdeckte sie buntfarbige Blätter, Blumen und Herbstgräser, die sie zusammenlas und kunstvoll zum Strauße band. Er folgte dann jeder ihrer anmuthigen Bewegungen mit den Augen und empfand die Schönheit ihrer Formen, den Reiz ihrer Bewegungen, den Glanz ihrer blauen Augen, ohne sich Rechenschaft über den Eindruck zu geben, den sie auf ihn übte. Und er bewunderte auch ihre stille Kühnheit. Sie wagte sich im Boot bei jedem Wetter aufs Meer, und niemals hatte er einen Angstruf aus ihrem Munde gehört. So war es kein Wunder, daß er an die herannahende Abreise der Badegäste mit Schrecken dachte und sich immer wieder mit der Frage abquälte: wie kann ich sie halten?
Als Ludmiller eines Tages ein geräumiges Boot für die Fahrt nach dem Dampfer bestellte, erschrak Ewald so heftig, daß er die Frage: „Zur Abreise?“ nur mit Anstrengung über die Lippen brachte.
„Ja mein Bester,“ entgegnete dieser. „Am 10. September muß ich wieder in Berlin sein.“
„Und die Horsts und Fräulein Wesdonk?“
„Wir reisen alle zusammen. Wollen Sie auch für unser Gepäck Sorge tragen?“
Ewald nickte und ging, um mit Pischel das Nähere zu verabreden; ihm schien plötzlich sein stolzer Glückstraum für immer zu zerrinnen.
Kurz vor Sonnenuntergang kam die ganze Badegesellschaft aufs Höwt, sie wollte sich noch einmal am Anblick des Meeres weiden. Und dieses zeigte im röthlichen Sonnenglanz einen Farbenzauber, der die jungen Mädchen entzückte. Ewald Monk stand stumm und traurig bei der Thür des Wachthauses und hörte den Lauten der Bewunderung zu. Als die kleine Gesellschaft die Höhe endlich verlassen wollte, trat Horst auf den Lotsen zu, um sich von ihm zu verabschieden; der aber sagte, daß er in jedem Falle am nächsten Morgen die Gäste zum Dampfer führen werde. Er schritt mit ihnen zur Wolfsschlucht
[102] hinab, und da es sich hier unter den Bäumen traf, daß Bettina hinter den übrigen zurückblieb, um einen mit rothen Beeren geschmückten Zweig zu pflücken, so sagte er in gepreßtem Tone zu ihr: „Wenn es Ihnen bei uns gefallen hat, Fräulein Wesdonk, sollten Sie doch wiederkommen!“
Sie schlug langsam die Augen zu ihm auf. Es war ein seltsamer Glanz darin, als sie erwiderte: „Das werd’ ich auch, und zwar im nächsten Sommer schon.“
„Ist das ein Wort, auf das man bauen kann?“
„Ja, mein Freund.“
Sie reichte ihm die Hand und über sein Gesicht ging ein glückliches Lächeln. „Das freut mich, freut mich wirklich,“ sagte er, kräftig ihre Hand schüttelnd. „Ich wollt’, Sie blieben dann für immer ... Was wir sind, wir Massower, sehen Sie, mein liebes Fräulein, wir würden alles mögliche thun, um Ihnen den Aufenthalt hier angenehm zu machen und ich ganz besonders ...“ Er rang einen Augenblick nach Athem, dann fuhr er kühner fort: „Mir wird der Winter hier recht lang werden, es fehlt mir ’was, das mir lieb geworden ist ... Sehen Sie, liebes Fräulein, ich weiß nicht recht, ob ich das so sagen darf, ich bin nur ein Lotse, aber – ich hab’ Sie lieb, und das darf man wohl immer sagen, selbst wenn es mit der Liebe geht wie mit den Sonnenstrahlen, die nicht durch die Wolkenbank können. Sie stehen für mich jenseit der Wolkenbank und es mag für ein vornehmes Fräulein gleichgültig, ganz gleichgültig sein, was in unserm armseligen Dorf brennt und sich verzehrt. Doch das ist gewiß – wenn der Tag kommen sollte, wo Sie einen Mann brauchen, der sein Blut für Sie giebt, dann rufen Sie den Ewald Monk!“
Bettina hatte indessen nach dem Wipfel einer Buche geblickt, der vom letzten Strahl der Sonne getroffen wurde. Jetzt wandte sie sich zu dem Sprecher, dessen Gesicht sich geröthet hatte, dessen graue Augen wärmer blickten als je zuvor. Ewald erschien ihr als die Verkörperung der Ehrlichkeit und Treue, und es machte sie stolz, in der Brust dieses braven Burschen das heilige Feuer der Liebe entzündet zu haben. Aber noch besaß sie Besonnenheit genug, um sich von der eigenen Wallung des Bluts nicht fortreißen zu lassen.
„Sie haben mir Ihre Ergebenheit bewiesen,“ erwiderte sie. „Es macht mich glücklich, einen so aufrichtigen Freund zu besitzen, einen Freund, lieber Monk! Im nächsten Jahre – wenn ich wiederkehre – will ich sehen, ob Sie dann noch immer treu zu mir halten.“
„Ich bin wie ein Schiff, das bloß einen Kurs steuert. Und Sie, Fräulein Wesdonk, werden Sie gerne zurückdenken?“
Sie errothete bei der Frage und schickte sich an, zu gehen. Nach einigen Schritten erst hielt sie an, und da er mit gesenktem Kopf und düsterem Blick dastand, nickte sie freundlich und sagte:
„Ja, die Erinnerung wird mir lieb sein.“
Die Abreise der Sommergäste erhielt durch den Kommandanten ein festliches Gepräge. Dieser hatte das Boot bekränzen lassen und begleitete die Freunde mit seinem eigenen Fahrzeug bis zum Dampfer. Pischel und die Lehrersfrau hatten die letzten Blüthen der Gärten gepflückt, um den Damen kleine Sträußchen zu verehren; die Lotsen trugen ihren Sonntagsanzug. Auch der Gastwirth, bei dem die Abfahrenden manchen Abend verbracht und manche Flasche geleert hatten, kam zum Landungsplatz, um Lebewohl zu sagen und die Herrschaften zu bitten, sein Haus „bestens zu rekommandieren“.
Ewald Monk, der an diesem Morgen das Boot steuerte, verwandte kaum den Blick von Bettina, die einige tiefrothe Georginen in ihren Gürtel gesteckt hatte. Mit strahlenden Augen sah sie über das flimmernde Wasser.
Als der Dampfer in Sicht kam, gab es ein Grüßen und Abschiednehmen, das kaum enden wollte. Bettina reichte Ewald noch einmal die Hand und sagte: „Auf Wiedersehen!“ Nach ein paar Minuten brauste der Dampfer davon, und das Mädchen stand auf dem Verdeck und winkte noch einmal mit der Hand. Ihr letzter Blick traf Ewald, der mit der Linken das Steuer lenkte und mit der Rechten den Hut schwang; das Licht der Morgensonne umfloß seine Gestalt. Wie hoch und kräftig er sich aufreckte, gleich den Seehelden aus der Wikingerzeit! Und vielleicht bedurfte es nur des Kriegs, um ihn zu ruhmvollen Thaten zu führen!
Während der Reise zog die Wehmuth in Bettinas Herz und je näher sie der Hauptstadt kam, desto tiefer wurden die Schatten in ihrer Seele. Als sie vor der Wohnung ihrer Stiefmutter stand, sagte sie sich beklommen: „Nun liegt die Freiheit hinter mir und vor mir die alte Enge.“
Frau Rosita war schon seit einiger Zeit von Baden-Baden zurück; sie begrüßte die Ankommende süß lächelnd mit der Bemerkung: „Die Seeluft hat Dir die Farben der Gesundheit wiedergegeben, Du bist also glücklich und heiter gewesen.“
„Die gleichen Merkmale lassen mich bei Dir auf die gleiche Stimmung schließen. Du siehst völlig verjüngt aus, liebe Mama.“
„Ach ja, mein Kind, ich habe in Baden-Baden einigermaßen Erholung gefunden – dank meinen lieben Freunden. Du ahnst nicht, wen ich dort getroffen habe – den Grafen Guido.“
„Ah!“
„Nein, blick’ nicht so finster, liebste Betty, der Zufall hat uns zusammengeführt, und ich konnte ihm nicht ausweichen, ohne mich lächerlich zu machen. Der Graf befand sich auf der Fahrt nach der Schweiz. Unterwegs erfuhr er, daß sich einige seiner näheren Freunde in Baden befänden, und beschloß, sie für ein paar Stunden aufzusuchen. Aus den Stunden wurden sechs Wochen, denn er gerieth in einen Bekanntenkreis, der ihn nicht wieder freigab. In Badeorten ist es schwer, Personen, die uns einst nahestanden, zu meiden; die Freunde des Grafen waren auch die meinigen; ich suchte ihn erst durch abstoßendes Benehmen von mir fern zu halten, erreichte aber damit nichts weiter, als daß ich mich lächerlich machte. Du kennst seine Liebenswürdigkeit, seinen feinen Takt, und – was willst Du, mein Kind, er ist mehr zu beklagen als Du. Er hat Dich wahrhaft geliebt, indessen seine Verlegenheiten, seine Stellung, sein Beruf – Du begreifst. Das Geld ist die ausschlaggebende Macht unserer Tage.“
„Ja, ich begreife –“ entgegnete Bettina in bitterem Tone und wandte sich der Thür zu. „Kann ich unter den früheren Bedingungen wieder bei Dir wohnen?“
„Gewiß, mein Kind, freilich – nun, das weitere können wir beim Abendbrot besprechen. Schüttle erst den Reisestaub ab und mache Dir’s bequem, ich werde unterdessen den Tisch decken lassen.“
Als sich die beiden Frauen eine halbe Stunde später am Theetisch gegenübersaßen, erzählte Rosita ausführlich ihre Erlebnisse in Baden, rühmte nochmals, wie aufmerksam und liebenswürdig Graf Trachberg sich benommen habe, und gestand zuletzt, sie habe ihm gestattet, während des Winters ihr Haus zu besuchen.
Bettina erbleichte; ihr graute vor dieser Gesellschaft, in welcher man, als wäre nichts geschehen, nach wenigen Monaten schon wieder die freundlichen Bande anknüpfte mit denen, die mit Menschenherz und Menschenglück ein frevelhaftes Spiel getrieben hatten. Nach einer Weile sagte sie tonlos: „Ich kann ja dem Herrn aus dem Wege gehen.“
„Mit der Zeit wirst auch Du versöhnlichen Gefühlen Raum geben müssen.“
„Niemals – doch da ich mit dem Grafen Trachberg nichts mehr zu schaffen habe, so ist es gleichgültig, wie ich über ihn denke.“
„Er gehört immerhin zur Familie Deines Schwagers ...“
„Ist kein Brief von Mathilde eingetroffen?“ fragte Bettina, um von dem peinvollen Gespräch abzulenken.
„Gestern kam einer an, der den Poststempel Mexiko trägt. Er liegt auf meinem Schreibtisch.“
Das erregte Mädchen nahm hastig das Schreiben an sich und las es. Die Schwester meldete ihre Ankunft in Mexiko, berichtete klagend über die Beschwerden der weiten Reise und schloß mit der Bemerkung, daß sie noch keine Bestimmungen über ihre Zukunft treffen könne; Bettina müsse jedenfalls den Winter über noch in Berlin ausharren.
Bettina legte verstimmt den Brief zur Seite, und ihre Stiefmama theilte offenbar, wenn auch aus anderen Gründen, dieses Gefühl, als sie unmuthig bemerkte: „Unsere Mathilde denkt zu viel an ihr liebes Ich, als daß sie anderen helfen könnte. Du wirst daher bei Deinen Zukunftsplänen gut thun, die Schwester [103] aus dem Spiele zu lassen. Zum Glück bietet Dir die Berliner Gesellschaft immer noch Aussichten genug, um eine gute Partie zu machen.“
„Ich denke nicht daran, zu heirathen,“ bemerkte Bettina kurz.
„Das sagt jedes junge Mädchen um seinen Idealismus zu beweisen, doch laß uns ehrlich sein, mein Herz: echtes Glück winkt jeder Frau nur in der Ehe. – Wir können vorläufig noch keine Bälle und Theater besuchen, wohl aber mit unseren Bekannten im engeren Kreise verkehren, und ich bin sicher, daß es uns noch im Laufe des Winters gelingen wird, für Dich eine passende Verbindung zustande zu bringen.“
Bettina fühlte sich durch das Gespräch mehr und mehr empört und rief mit Nachdruck. „Bitte, Mama, sprechen wir nicht mehr darüber!“
Allein Frau Rosita ließ sich nicht beirren, sie antwortete ebenso bestimmt: „Du bist sentimental, das taugt nicht. Wir müssen über diesen Gegenstand sprechen, denn es liegt in Deinem wie in meinem Interesse, klare bestimmte Ziele ins Auge zu fassen. So gern ich Dich bei mir habe, Betty – Du mußt Dich doch mit dem Gedanken vertraut machen, daß ein Zusammenleben auf die Dauer unmöglich ist. Es kann sein, daß ich nach Ablauf des Trauerjahrs mich in Paris ansiedle, ja Du dürftest es mir nicht verargen, wenn ich mich dann entschließen würde, den Witwenschleier abzulegen. Gewiß, ich habe Deinen Vater sehr geliebt und tief betrauert, aber es ist für eine Frau, die gewohnt war, den Mittelpunkt weiter Gesellschaftskreise zu bilden, demüthigend und unerträglich, allmählich bei Seite geschoben zu werden oder dort nur geduldet zu sein, wo man früher den Ton angab. Zudem hat jeder Mensch die Berechtigung, sich auszuleben, und so würde ich vielleicht, wenn ein liebenswürdiger Mann in geachteter Stellung mir seine Hand anträgt, nicht Nein sagen. Du siehst, ich bin ganz offen –“
„Und ich will Dir ebenso offen und ohne jede Empfindlichkeit antworten. Wenn dieser Fall eintritt, so werde ich Dir keinen Augenblick im Wege sein; ich ziehe mich mit meinem Erbe in einen stillen Erdenwinkel zurück, wo nichts mich hindert, nach Gefallen zu leben. Während dieses Winters aber kannst Du jeden Versuch sparen, eine ‚gute Partie‘ für mich zustande zu bringen, denn ich bin fest entschlossen, auf keinen Varschlag dieser Art einzugehen.“
„Nun wohl! Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied; der eine zerschlägt die Güter, welche das Schicksal ihm verliehen hat, der andere formt sich daraus den glänzenden Schmuck seines Lebens. Junge Mädchen sollten sich ihre Zukunft gestalten, solange der Schmelz und die Frische der Jugend vorhalten.“
Mit dieser Mahnung wurde Bettina entlasen, und als sie sich früh zur Ruhe niederlegte, ließ sie die friedlichen Tage in Massow noch einmal an ihrer Seele vorübergleiten. Mit dem Seufzer: „Ach, wär’ ich doch wieder dort – in der Stille, fern vom kleinlichen Kampf!“ entschlummerte sie.
Einige Wochen nach der Rückkehr fand Lisas Vermählung mit Garcia Diaz statt, und Bettina betheiligte sich voll Eifer an den Zurüstungen. Da der Sanitätsrath einen großen Verwandten- und Freundeskreis besaß, so wurde das junge Paar mit Gaben überschüttet. Und wie durch einen Blumengarten schritten die Verlobten zum Altar, denn die Trauung fand in den weiten Gesellschaftsräumen der Horstschen Wohnung statt, die mit grünen Gewinden, mit blühenden Rosenbüschen, mit Palmen und Orangenbäumen ausgeschmückt waren. Das Brautpaar fühlte sich in den schönen duftigen Räumen, umdrängt von all den Freundschaftsbeweisen der Gäste, wunderbar erhoben und die Freude ließ sie beide ihre Anmuth und Heiterkeit doppelt entfalten. Im Strahl des Glücks, das sie empfanden, trat die Schönheit und der Jugendglanz ihrer Erscheinung sieghaft hervor.
Nach einem rauschenden Feste begaben sich die Neuvermählten am Abend zum Bahnhof, um nach London abzureisen. Bettina war die einzige aus der Gesellschaft, welche sie begleiten durfte. Beim Abschied umarmte Lisa die Freundin unter Thränen und flüsterte ihr ins Ohr. „Bitte, nimm Dich meines armen Papas an, damit er die Lücke im Haus nicht allzu schwer empfindet.“ Bettina versprach es mit innigem Händedruck. –
Die nun ganz Vereinsamte hielt ihr Versprechen und ging der kleinen Lotte mit Rath und That so tapfer zur Hand, daß Lisa wenigstens im Haushalt nicht vermißt wurde. Der Sanitätsrath nahm die freundlichen Bemühungen seines Mündels sehr dankbar auf, freute sich stets, wenn er sie abends bei Tische sah, und klopfte ihr wohl launig auf die Schultern mit dem Bemerken, sie sei ein gutes verständiges Mädel und werde ihrem Vater immer ähnlicher. Nachdem jedoch der Gang der Dinge im Horstschen Hause wieder geregelt war, zeigte sich bei Lotte ein Hang zur Eifersucht. Diese wollte das Verdienst, die Schwester ersetzen zu können, ungeschmälert für sich in Anspruch nehmen, und so zog sich Bettina allmählich zurück. Sie besuchte dann in ihren Erholungsstunden bisweilen die Ludmillers, machte aber die überraschende Entdeckung, daß der lustige Reisegefährte in der Stadt völlig umgewandelt war. Er zeigte sich zu Hause launenhaft und zänkisch. Die Reibungen, denen er im Theaterleben ausgesetzt war, raubten ihm den Humor. Während des Winters erhielt er ein verlockendes Anerbieten für Amerika, und da er erklärte, einer Auffrischung bedürftig zu sein, so ging er mit Ludmilla nach der neuen Welt, wo er jahrelang festgehalten wurde.
So war Bettina ganz auf sich angewiesen; allein sie besaß viel geistige Regsamkeit, und da sie den Drang in sich verspürte, ihre Fähigkeiten zu entwickeln, nahm sie mit Eifer ihre Musikstudien wieder auf und trat in den Frauenchor der Hochschule für Musik ein. Konsul Wesdonk hatte bei der Erziehung seiner Töchter großen Werth auf die körperliche Ausbildung gelegt und beide Mädchen von früh auf turnen und schwimmen lassen. Bettina hatte sich, was bei ihrer etwas schmächtigen Gestalt niemand vermuthete, viel Kraft und turnerische Gewandtheit erworben. Als sie nun in der Zeitung eine Anzeige des Inhalts fand, daß für eine höhere Töchterschule eine Turnlehrerin gesucht werde, bewarb sie sich um die Stelle und ertheilte den Unterricht während des Winters an vier Nachmittagen in der Woche. Sie verdiente damit soviel, daß sie die theuren Klavierstunden bei einem der besten Lehrer bezahlen konnte, und außerdem fühlte sie sich immer neu erfrischt von dem fröhlichen Treiben der jugendlichen Mädchenschar.
Mit der Stiesmutter kam sie fast nur während der Mahlzeiten zusammen. Die beiden Frauen gingen verschiedene Wege, und da Bettina ein Hinterzimmer nach dem Garten zu bewohnte und sehr selten die Gesellschaftsräume vorn betrat, so wußte sie kaum, mit wem Frau Rosita verkehrte. Zuweilen sah sie die hohe Gestalt des Grafen Trachberg kommen und gehen; zitternd wich sie dann aus.
Noch war das Trauerjahr der Witwe nicht zu Ende, da ward Bettina eine völlig niederschmetternde Ueberraschung zu theil. Als sie eines Abends ins Speisezimmer trat, das sie stets als eine Art neutralen Boden betrachtet hatte, wurde sie durch den Anblick ihres ehemaligen Verlobten erschreckt. Er saß Rosita gegenüber am hell erleuchteten Tisch und löste eben eine Auster aus der Schale. Bei Bettinas Erscheinen erhob er sich, und über sein blasses Gesicht ging eine jähe Röthe. Das Mädchen wollte durch die Thür zurücktreten, allein Rosita, die eben ihren Champagnerkelch geleert hatte, sprang auf, faßte sie bei der Hand und rief lachend: „Wozu das Versteckspielen! Du bist verständig und wirst heute mit Gleichmuth tragen, was vor einem Jahre Dich geschmerzt hätte. Mein Kind, Du sollst es zuerst erfahren, daß Graf Guido und ich Verlobte sind. So, jetzt ist’s heraus, und nun erwarte ich von Deinem guten Herzen, daß Du dem Bösewicht da drüben aufrichtig verzeihst und neidlos auf unser Glück ein Glas Champagner leerst.“
Bettina hatte die Empfindung, als breche der letzte Halt, auf den ihr Glaube an Aufrichtigkeit und edleres Empfinden sich gestützt hatte; kraftlos sank sie auf einen Stuhl. Während Rosita die Kelchgläser füllte, rang sie nach Fassung, und als ihr das Glas gereicht wurde, irrte schon ein mattes Lächeln um ihre Lippen, und sie sagte in leicht bebendem Tone: „Das kam freilich unerwartet, allein Du hast recht, ich bin neidlos genug, um Dir ein Glück zu gönnen, das mir nicht beschieden war.“
Sie nippte an dem schäumenden Trank und setzte dann den Kelch so plötzlich nieder, als ob er Feuer wäre. Die letzten Worte hatte sie mit leisem Hohn gesprochen, der Graf aber glaubte in seiner Selbstgefälligkeit, wirkliches Bedauern heraushören zu dürfen.
Die Verlobten wollten nach Tisch ausfahren. Als Rosita [104] das Zimmer verließ, um Toilette zu machen, schickte sich auch Bettina an, in ihr Zimmer zurückzukehren, die Stiefmutter aber rief übermüthig: „Du bleibst, bis ich wiederkomme. Noch ist das Eis nicht zwischen Euch gebrochen und ich will Euch versöhnt wissen. Bitte, sprecht Euch ohne Zeugen aus – Ihr habt zehn Minuten Zeit.“
Sorglos lachend verließ sie die beiden. Ihre Absicht, dem Grafen einen Beweis ihres Vertrauens zu geben, wurde von diesem nicht nach Gebühr gewürdigt, denn kaum verlor sich das Geräusch ihrer Schritte, so eilte Guido auf seine frühere Braut zu. „Bettina, Sie hassen, Sie verachten mich,“ flüsterte er erregt, „ich fühle es. Doch bei Gott, ich konnte nicht anders handeln, ich mußte mich der eisernen Nothwendigkeit beugen – mein Herz aber gehört Ihnen. Wir sind beide Opfer eines unerbittlichen Geschicks, das uns dennoch nicht ganz zermalmen kann, wenn wir klug handeln. Bleiben Sie bei uns, Bettina! Ist für mich die Gefahr des Ruins abgewendet, so findet sich vielleicht ein Ausweg. In jedem Falle hoffe ich Ihnen beweisen zu können, daß mir nichts in der Welt höher steht als Ihr Glück.“
Er hatte sie bei den letzten Worten mit einem heißen Blick angeschaut und wollte ihre Hand erfassen. Sie aber trat weit von ihm zurück, der blonde Kopf erhob sich stolz, und ihre Augen blitzten.
„Herr Graf,“ sagte sie schneidend, „wenn jemand in diesem Hause Mitleid verdient, so ist es Ihre Verlobte. Sie haben mich soeben einen Blick in Ihr Inneres thun lassen, der mich erschreckt. Noch weiß ich nicht, was ich in Zukunft beginnen soll, allein darüber wenigstens bin ich im Klaren – nie werde ich mit Ihnen unter einem Dache leben.“
„Bettina, Sie verkennen meine Absicht –“
Der Graf kam nicht dazu, sich zu vertheidigen, denn Rosita kehrte zurück und während sie ihren Handschuh zuknöpfte, fragte sie so obenhin: „Nun – habt Ihr Euch ausgesprochen?“
„Vollkommen,“ antwortete Bettina. „In drei Tagen verlasse ich Berlin.“
„O, also unversöhnlich? Wie schade, ich hätte Dich so gern bis zum Herbst in meiner Nähe gehabt; es giebt so mancherlei zu thun ... Indessen, ich achte Deine Gefühle, und nichts liegt mir ferner, als Deine Entschließungen beeinflussen zu wollen. Du bist ja selbständig und kannst Dein Leben ganz nach Deinem Gefallen gestalten. Aber etwas Freundschaft bewahre Deiner Mama wenigstens ...“
Sie reichte Bettina lächelnd die Hand und schmiegte sich dann mit einer halb stolzen halb zärtlichen Bewegung an den Grafen, der ihr den Arm geboten hatte und sie jetzt hinausführte. Bettina schaute den beiden in stummem Schmerze nach.
„Ob ich sie warne?“ fragte sie sich und schüttelte dann langsam den Kopf. „Sie würde mir nicht glauben, würde mich für eine eifersüchtige Närrin halten,“ murmelte sie. Tief aufathmend fügte sie nach einer Weile hinzu: „Welch’ einer Gefahr bin ich entronnen!“ – – –
Als Bettina am nächsten Tage ihren Turnunterricht gegeben hatte, wurde sie auf der Straße von der Mutter ihrer Lieblingsschülerin erwartet und zum Essen eingeladen. Sie hatte um so weniger Grund, die Freundlichkeit abzuweisen, als der Gatte der Dame ein Geschäftsfreund ihres Vaters gewesen war. So verbrachte sie denn einige Stunden im Kreise heiterer und liebenswürdiger Menschen, und als sie sich vom Tische erhob, sagte der Hausherr. „Wir haben für den Abend eine Loge im Theater genommen und bitten Sie recht sehr, uns Gesellschaft zu leisten. Halms ‚Sohn der Wildniß‘ wird gegeben, und wie ich höre, soll sehr gut gespielt werden. Sie haben zwar das Trauerkleid noch nicht abgelegt, allein die Pietät erleidet sicher keine Einbuße, wenn sie sich ein ernstes Schauspiel ansehen.“
Bettina ließ sich überreden. Sie kannte Halms romantische
[105] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.
Dichtung nicht und während der ersten Scenen sah sie den
Vorgängen auf der Bühne mit gleichgültiger Miene zu. Die
Vorstellung schien ihr unglücklich gewählt zu sein, und nur die
Rücksicht auf ihren freundlichen Wirth hielt sie ab, das Theater
zu verlassen, in dessen Luft sie sich beengt und bedrückt fühlte.
Sobald jedoch Parthenia, die weiche poesieumflossene Tochter der
Kultur, und Ingomar, der rauhe Sohn der Wildniß, sich gegenübertraten,
ward ihre Theilnahme gefesselt. Die Handlung erhielt
für sie mit einem Male sinnbildliche Bedeutung. Zwischen
Parthenia, der Tochter Roms, und Ingomar, den eine Völkerwelle
aus den Wäldern Galliens an die Grenzen der Civilisation
geworfen hatte, bestand ein ähnliches Verhältniß wie zwischen ihr
und Ewald Monk.
Der Lotse im einsamen Massow wurde ihr zum Sohn der Wildniß. Was diese Illusion so leicht erweckte, war vor allem auch der Umstand, daß der Darsteller des Ingomar denselben tiefen Klang der Stimme, die gleichen Bewegungen der breiten ausgespreizten Hand hatte wie Ewald und daß im letzten Akt, wo sich der Sohn der Wildniß dank Parthenias erziehender Liebe die Früchte der Kultur zu eigen macht, diese Aehnlichkeit eine ganz überraschende wurde.
Vor allem prägte sich ihr unauslöschlich jenes Liebesgespräch ein, in welchem die gefangene Parthenia mit ihrem stillen Reize den rauhen Ingomar zu ihren Füßen niederzwingt, wo dem reckenhaften Manne plötzlich die Frage sich aufdrängt: „Was ist denn Liebe, sag’?“ Wie Parthenias Antwort gleich einer Himmelsbotschaft in Bettinas Seele drang, dieses einfache schlichte Wort:
„Zwei Seelen und ein Gedanke,
Zwei Herzen und ein Schlag.“
Und der Sohn der Wildniß fragt weiter:
„Und sag’, woher kommt Liebe?“
„Sie kommt und sie ist da.“
„Und sag’, wie schwindet Liebe?“
„Die war’s nicht, der’s geschah.“
Das ist’s, klang es in Bettinas Innern, „die war’s nicht, der’s geschah.“ Konnte meine Liebe zu Guido schwinden, zum Abscheu werden, so war es keine Liebe, die mich einst mit ihm verband. Fort mit ihm! – Und über den Grafen, den Typus einer selbstsüchtigen Kultur, erhob sich riesengroß Ewald, der Naturmensch, dessen unverdorbenes Herz noch empfänglich war für die veredelnde Kraft der Liebe. Mit glühenden Wangen und leuchtenden Augen folgte sie der Entwicklung der Handlung, und als diese mit einer rettenden heldenhaften That Ingomars abschloß, wurde ihr das Schauspiel zum Orakel. So würde Ewald in gleicher Lage handeln, sagte sie sich, so würde er emporwachsen zu edler sittlicher Kraft, wenn er eine Parthenia fände. Und es erschien ihr mit einem Male als eine erlösende würdige Lebensaufgabe, die gebundenen Kräfte in des Lotsen Seele frei zu machen, ihn zu erheben durch die Macht der Liebe.
Während sie das Theater verließ und nach Hause fuhr, wich der Bann des Geschauten keinen Augenblick von ihr, und verlockend tönten noch immer die Verse an ihr Ohr:
„Zwei Seelen und ein Gedanke,
Zwei Herzen und ein Schlag.“
Frau Rositas Zofe öffnete die Thüre der Wohnung, und während jene voranleuchtete, bemerkte Bettina, daß ein Brief für sie auf einem Tischchen im Flur lag; sie erwartete Nachricht von Lisa, welche inzwischen nach Madrid übergesiedelt war und seither nichts mehr von sich hatte hören lassen; hastig erbrach sie daher das Schreiben und las die in eckigen plumpen Schriftzügen hingestellte Frage: „Haben Sie denn Massow ganz vergessen?“ Unterzeichnet waren die Worte mit „Ewald Monk.“
Kaum war sie allein in ihrem Zimmer, so brach sie in Jubel aus. Sie küßte den Brief und sagte mit strahlendem Antlitz: „Nein, ich habe Dich nicht vergessen, Ewald! Dein Mahnruf [106] kommt zur rechten Zeit. Jetzt weiß ich, wo meine Heimath liegt. Ich will Deine Parthenia sein, Du Sohn der Wildniß!“
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An einem sonnigen Aprilmorgen verließ Bettina Berlin; in dem an ihrer Seite hängenden Täschchen trug sie ein Checkbuch und in ihrem Handkoffer den Plan zu einem Landhaus. Sie hatte nur drei Tage gebraucht, um ihre Angelegenheiten zu ordnen und sich zu einer Uebersiedlung nach Massow vorzubereiten. Der Sanitätsrath hatte ihr Vermögen ihr ausgeliefert. Sie übergab die Werthpapiere einem sichern Bankhaus und konnte fortan über 60000 Mark frei verfügen. Da sie die Absicht hegte, sich in Massow auf alle Fälle dauernd niederzulassen, so wandte sie sich an einen ihr befreundeten jungen Baumeister mit der Bitte, ihr den Aufriß zu einem Landhaus zu zeichnen, mit Küche, Vorrathskammer und Waschranm im Erdgeschoß, vier Zimmern im ersten Stock, einer Mansarde sammt Balkon und Trockenboden im Giebelraum. Der Architekt hatte seine Aufgabe in einigen Tagen so gut gelöst, daß der Entwurf von jedem gewandten Maurer- oder Zimmermeister ausgeführt werden konnte. Betreffs der Kosten hatte er bemerkt, daß er weder den Preis der Grundstücke noch des Baumaterials in Massow kenne, allein es sei anzunehmen, daß das ganze Landhaus bei einfacher Ausführung nicht mehr als 15000 Mark und nicht weniger als 12000 Mark kosten werde. Und das aufzuwenden, war Bettina fest entschlossen.
Sie wollte am Meer unter geraden treuen Menschen ein neues Leben führen. Sie hatte der Töchterschule eine Vertreterin gestellt; keiner ihrer Bekannten war in ihre Zukunftspläne eingeweiht. Ihre Stiefmutter und der Sanitätsrath glaubten, daß sie im Hause des Schullehrers oder des Lotsenkommandanten von Massow die schone Jahreszeit zubringen und im Herbst in die Stadt zurückkehren werde. Schon hatte sie ihren Platz im Zuge eingenommen und war eben dabei, ihr Handgepäck unterzubringen, da stieg hastig ein Passagier in den Wagen, dessen Anblick sie höchlich überraschte – es war der Geiger Franz Rott. Dieser stand bei der unverhofften Begegnung nicht minder erstaunt da und erst nach einer Weile brach er in die Worte aus: „Welch’ glücklicher Zufall!“
Bettina verwünschte innerlich das Zusammentreffen mit Rott. Kaum hatte dieser seinen Geigenkasten untergebracht„ so stellte er die schwer zu umgehende Frage. „Wohin reisen Sie?“
Sie nannte ihr Ziel, und der Musiker erwiderte lachend, daß er Massow auf seinen Künstlerfahrten noch nicht berührt habe; wo der Ort zu suchen sei.
Seine Reisegefährtin verstand sich zu näheren Angaben.
„Ah, dort liegt irgendwo in der Nähe die Besitzung meiner Freundin, der Gräfin Lindström. Die Dame ist Musikschwärmerin und hat mich wiederholt gebeten, meine Sommerferien auf ihrem Schloß zu verbringen, allein ich konnte mich nicht entschließen, die Rolle eines ‚Bratenbarden‘ zu spielen. Wissen Sie Neues von Ihrer Freundin Lisa Diaz?“
Bettina antwortete, daß sie persönlich seit Monaten keine Nachricht erhalten, wohl aber vom Vater Lisas erfahren habe, Diaz bewerbe sich in Madrid um eine Lehrerstelle am Konservatorium.
„Ihre Freundin hat ihr Lebensglück sehr unsicheren Händen anvertraut,“ bemerkte Rott, die Stirn runzelnd.
„Inwiefern?“
„Diaz ist ein liebenswürdiger Gesellschafter, ist voll Munterkeit, sobald er Anregung findet, empfänglich für alles Schöne und Gute und ein musikalisches Talent, allein diesen Vorzügen stehen nicht wenige Fehler gegenüber, die in seiner Nationalität wurzeln. Als echtes Kind des Südens ist er träge und nachlässig. Ich wohnte mit ihm in einer Zeit zusammen, da er sich um einen Preis bewarb. In den Stunden, wo er üben sollte, lag er auf dem Sofa und trieb Jongleurkünste oder andere Possen. Je heftiger ich in ihn drang, seine Zeit zu nützen, desto mehr scheute er vor der Arbeit zurück. Es schien mir – als ob der Gedanke an ein Müssen ihn unfähig mache, sich zu rühren. Wie alle Faulenzer aber wiegt sich Diaz in Glücksträumen, und wenn er – was freilich selten vorkommt – Ersparnisse macht, so legt er sie in der Lotterie an. Er ist in allen tieferen Fragen naiv wie ein Kind und abergläubisch – nun wie ein Spanier. Ich fürchte, Ihre Freundin hat jetzt schon die Entdeckung gemacht, daß man nicht ungestraft unter Palmen wandelt. Ein Mädchen, welches sein Vaterland oder seine Bildungssphäre verläßt, um dem Manne seiner Wahl zu folgen, muß viel über Bord werfen, ehe es auch nur die Zufriedenheit erreicht.“
„Sie fällen über Ihren Freund ein herbes und nicht eben kameradschaftliches Urtheil,“ versetzte Bettina unwillig.
„Diaz war niemals mein Freund, obgleich wir in Berlin häufig miteinander verkehrten. Beweis dafür ist der Umstand, daß er seit seiner Abreise keine Silbe an mich geschrieben hat, trotzdem er Verpflichtungen hatte, es zu thun. Ueberdies glaubte ich, daß unser gemeinsamer Antheil an dem Schicksal Lisas mir eine freimüthige Aussprache gestatten würde. Ich wünsche aufs innigste, daß meine Befürchtungen sich niemals erfüllen möchten.“
Es trat eine Pause ein, während der Zug sich in Bewegung setzte. Bettina war peinlich berührt, daß sie mit Rott in dem Wagen zweiter Klasse allein blieb. Seine Bemerkung über Lisas Wahl war ihr schwer aufs Herz gefallen, und der Satz: „Ein Mädchen, welches sein Vaterland oder seine Bildungssphäre verläßt, um dem Manne seiner Wahl zu folgen, muß viel über Bord werfen –“ grub sich ihrem Gedächtniß scharf ein. Sie hätte lieber von der Zukunft geträumt, statt eine Unterhaltung zu führen, die sich um Vergangenes drehte.
In der Hoffnung, daß der Reisegefährte vielleicht bald aussteigen werde, stellte sie nach einer Weile die Frage: „Wohin fahren Sie, Herr Rott?“
„Ich durchjage noch mit der Geige in der Hand Skandinavien,“ erwiderte dieser munter. „In Kopenhagen erwartet mich eine Sängerin, mit der ich mich zu einem sechswöchigen Musikattentat auf die Besitzer dänischen und schwedischen Goldes verbündet habe. Liegen diese Konzerte hinter mir, so ziehe ich mich mit dem Raub in die Felsenklüfte Tirols zurück, wo meine Sippe haust. Dort will ich zwei Monate rasten und in der Einsamkeit meine Nerven beruhigen.“
Bettina ergab sich in ihr Schicksal, seine Gesellschaft bis zur Hafenstadt ertragen zu müssen. Die Unterhaltung wurde fortgesetzt, und der Geiger plauderte in anregendster Weise über Musik, er gestand auch, daß er Bettina während des Winters wiederholt im Chor der Hochschule bei Schüleraufführungen gesehen habe. Von Station zu Station wuchs Bettinas Interesse an dem jungen Künstler, dessen rauhes Wesen und barsche Geradheit sie bisher abgestoßen hatten. Zu ihrer Ueberraschung erkannte sie jetzt, wie heiter und freundlich er lächeln, wie leicht und gefällig er unterhalten konnte. Er hatte viel erfahren in der Welt und legte ohne Zaudern seine Vergangenheit vor ihr bloß. Er war ein Bauernsohn; der Vater hatte ihn früh in die Klosterschule gesteckt, damit ein ‚geistlicher Herr‘ aus ihm werde. Der strengen Zucht entlief er aber als ein Vierzehnjähriger. Von der Mutter heimlich unterstützt, war er nach der Schweiz gewandert, um Naturwissenschaften zu studieren. Allein die Liebe zur Musik, die schon im Kloster geweckt worden war, hatte ihn langsam von der Wissenschaft abgedrängt. Vor sechs Jahren war er nach Berlin gekommen, um unter Joachims Leitung Geiger zu werden. Unter Hunger und Kummer, so schloß er seinen Bericht, habe er sich durchgerungen, nun sei er glücklich. Die Frühnebel, welche über dem Morgen seines Lebens lagen, seien zerstreut – er sehe die Sonne.
Bettina bemerkte ein seltsames Leuchten in den stahlgrauen Augen ihres Gefährten, ein Abglanz innerer Wärme verklärte seine Züge. Wie schön er sein kann, der Sohn des Tiroler Bauern, sagte sie sich im stillen; laut erwiderte sie: „So sind Sie also ein Priester der Kunst geworden und lehren die Völker, daß auch die Musik etwas Göttliches sei.“
„So weit bin ich noch nicht – mir fehlt die Weihe.“
„Die Weihe?“
„Ja, die Weihe der Liebe und des Schmerzes,“ entgegnete Rott. „Ein echter Künstler muß jene Höhen und Tiefen menschlichen Empfindens kennenlernen, welche die Liebe bringt. Ich bin ein nüchterner Alltagsmensch, der auf den Frühlingssturm wartet. Was ich jetzt als Geiger zu vergeben habe, ist schöner Ton, Technik, ein wenig Phantasie, aber das Beste fehlt – der Ausdruck tiefen Gefühls. Vielleicht stehe ich ihm nahe, dem holden Genius, welcher die höchste Lust in der einen, das tiefste Leid in der andern Hand trägt, vielleicht –“
Das Mädchen empfand mit einem Male unter Rotts Blicken eine Beklommenheit, die ihr alle Unbefangenheit raubte. Bei der [107] Klarheit und Offenheit seines Wesens war es kaum zu verkennen, von wem der Künstler die Weihe erwartete. Der Gedanke aber, daß er ihr seine Liebe erklären könne, rührte in ihr die widerstreitendsten Gefühle auf. Es überraschte und verwirrte sie, daß die rauhe Außenseite dieses Mannes einen so weichen Kern barg. Sie war erstaunt über sein Wissen, seine geistige Frische, seine Willenskraft und konnte sich nicht verhehlen, daß in seinem Lächeln, seiner freimüthigen Sprache, in der Ehrlichkeit seines Wesens ein eigener Zauber liege. Allein sie wollte diese Empfindung nicht in sich aufkommen lassen und wehrte sich gewaltsam gegen die Macht, welche der ernste Mann über sie zu erlangen drohte. Sie sprang plötzlich von ihrem Sitze auf, schaute durchs Wagenfenster und rief beim Anblick eines in der Ferne auftauchenden Thurmes erleichtert aus: „Dort liegt die Hafenstadt!“
Rott hatte die Gemüthsbewegung von ihrem Gesicht abgelesen und richtig gedeutet. Ein Schatten ging über sein Gesicht und seufzend antwortete er: „Wo wir uns trennen müssen.“
Er blieb schweigsam bis zur Ankunft des Zuges. Bettina wollte sich hier von ihm verabschieden, allein er unterbrach sie rasch mit den Worten: „Sie werden mir hoffentlich gestatten, daß ich Sie an Bord des Schiffes bringe und mich so ein klein wenig erkenntlich zeige für die Gastfreundschaft, welche mir einst Ihr Vater erwies.“
Sie lächelte und überreichte ihm den Gepäckschein; es that ihr wohl, daß er ihres Vaters gedachte, und als er mit der Sicherheit des vielgereistett Mannes einen Dienstmann mit der Besorgung ihrer Gepäckstücke betraut und ihr den Arm gereicht hatte, um sie aus dem Menschenhaufen hinaus zu führen, sagte sie in warmem Tone: „Da Sie mich an Vergangenes erinnern, so habe ich Ihnen noch Dank zu sagen – durch Ihr wundervolles Spiel beim Leichenbegängniß meines Vaters hielten Sie diesem die ergreifendste Nachrede.“
Rott wollte einen Wagen herbeirufen, Bettina aber meinte, daß der kurze Spaziergang bis zum Landungsplatz der Schiffe eine wohlthuende Abwechslung sei nach der mehrstündigen Eisenbahnfahrt. So schritten denn beide Arm in Arm zum Hafen hinunter. Das lärmende Treiben dort lenkte sie von wehmütigen Gedanken ab. Der Künstler hatte mit scharfem Blicke den kleinen Dampfer für Massow aus der Menge der Fahrzeuge herausgefunden; er begleitete seine Gefährtin aufs Verdeck, wählte ihr einen bequemen Platz aus und ging dann wieder ans Land, um die Ankunft des Gepäckträgers zu erwarten. Die kurze Zwischenzeit benutzte er, um einen Strauß Veilchen und Schneeglöckchen einzukaufen. Er reichte ihr die Blumen beim Abschied, sah ihr tief in die Augen und wünschte ihr glückliche Reise. Dann setzte er schüchtern hinzu: „Darf ich ‚Auf Wiedersehen!‘ sagen?“
Mit freundlichem Lächeln reichte sie ihm die Hand und antwortete: „Auf Wiedersehen!“ – Sie hatte nicht das Herz, ihm mit einem kalten Nein zu antworten.
Als sich der Dampfer nach einigen Minuten in Bewegung setzte, sah sie Rott an Bord des für Kopenhagen bestimmten Schiffes. Er schritt gedankenvoll über das Hinterdeck und blies von Zeit zu Zeit die blauen Rauchwolken einer Cigarette in die Luft. Durch das Rauschen des vorüberfahrenden Dampfers erst wurde er aus seinen Träumereien aufgeschreckt, und wie sein Blick Bettina streifte, welche grüßend seine Blumen in die Höhe hielt, ging ein heller Schein über sein Gesicht und er sprang zur Kommandobrücke hinauf, um sie nochmals sehen und einen letzten Gruß mit ihr austauschen zu können. Und so wie er dort oben stand, von der hellen Mittagssonne beleuchtet, im flatternden Mantel, mit dem wehenden Haar über der breiten Stirn, prägte sich sein Bild ihrer Seele ein. Nach einer Weile machte sie mit leisem Schrecken die Entdeckung, daß dadurch ein anderes, ähnliches aus ihrer Erinnerung verdrängt werde. Sie erhob sich und schritt auf dem Verdeck hin und her, um die Erinnerung an diese Zusammenkunft los zu werden, aber es gelang ihr nicht. Wider ihren Willen kehrten ihre Gedanken von dem, was vor ihr lag, immer wieder zu dem Gespräch mit Rott zurück. Nachdenklich lehnte sie sich gegen die Schanzverkleidung des Schiffes und schaute hinunter in das schäumende Wasser; da stieg ein lieblicher Duft zu ihr auf.
„Ah, seine Blumen!“ rief sie entschlossen. „Dieses Duften des Frühlings hat es mir angethan; fort damit!“
Sie schleuderte das Blumensträußchen ins wirbelnde Fahrwasser, und als es ihren Blicken entschwunden war, setzte sie mit einer kräftigen Bewegung hinzu: „Aus der Welt, in welcher eine Rosita ihr Glück sucht, will ich nichts in mein Naturparadies mit hinübertragen.“
Während der Fahrt wurde Bettina sehr enttäuscht durch die Mittheilung des Kapitäns, daß sie nicht darauf rechnen dürfe, von den Leuten aus Massow abgeholt zu werden, diese kämen nur während der Sommerzeit mit dem Boote heraus. So mußte sie an einem der größeren Küstenorte landen, von wo sie mit einem gemietheten Leiterwagen nach vierstündiger Fahrt auf holperigen und sandigen Wegen matt und zerschlagen Massow erreichte. Sie stieg im Schulhause ab. Die Lehrersfrau konnte ihre Verwunderung darüber, daß das Fräulein so früh und ganz allein in Massow eintreffe, nicht verhehlen. Als Bettina am gemeinsamen Abendtisch Platz genommen hatte, um eine Tasse Thee nebst einem Pfannkuchen zu genießen, enthüllte sie den Wirthsleuten ihren Plan, sich dauernd im Dorfe niederzulassen.
Sie hatte erwartet, daß die guten Leute bei dieser Eröffnung in freudige Zustimmung ausbrechen würden, allein zu ihrer Ueberraschung schüttelten beide den Kopf und der Lehrer fragte nach einer Weile, ob sie sich das auch wirklich überlegt habe; es sei hier zu Lande nicht der Brauch, daß ein Mädchen für sich allein lebe, und Leute wie der Herr Pastor würden das wahrscheinlich für unschicklich erklären. Bettina antwortete, daß ihr Gewissen die Richtschnur ihrer Handlungen bilde. Der Lehrer meinte, mit diesem Grundsatz möge der auskommen, der seinen Nebenmenschen nicht brauche, in Dörfern aber begegne man dem Nachbar zu oft, um seiner Gefälligkeit entrathen zu können. Besser sei es schon, wenn sie sich in den Schutz einer Familie begebe. Wolle sie nicht im Schulhause bleibeu, so werde der Lotsenkommandant sie gewiß gern bei sich aufnehmen, wenn sie in ihren freien Stunden den Kindern Musikunterricht ertheile. Bettina schwieg – sie konnte ja doch nicht sagen, daß sie weder des Lehrers noch des Lotsenkommandanten bedürfe, daß ein anderer ihr bald seinen starken Schutz gewähren werde.
Am folgenden Morgen erkundigte sie sich nach Ewald Monk und erfuhr, daß er als Lotse ein Vollschiff nach der Hafenstadt führe. Sie schritt durch die Felder, am Landhaus des Kommandanten vorüber, wo an den Hecken und Bäumen eben das erste junge Grün hervorsproßte; sie wollte sich einen Platz auswählen für ihr künftiges Heim und entschied sich für eine Staffel am Abhang des Höwts. Dort lag, etwa vierzig Meter über dem Meere, ein flaches Gelände, welches sich vortrefflich zur Anlage einer Villa eignete. Man hatte von da einen schönen Ausblick über die Bucht und die Küsten des Festlandes. Seitwärts von der Staffel, etwa fünfundzwanzig Fuß tiefer und jenseit des Fahrwegs, lag ein Bauernhof mit bemoostem Strohdach, der dem alten Bräuning gehörte. Vor dem Acker senkte sich das Land nicht jäh, sondern in schräger Linie zum Meere hinab, und ein Pfad schlängelte sich von der Höhe zwischen silberweißen Sandhaufen zum Wasser hin. Bettina, deren geschäftige Phantasie schon Landhaus und Garten auf dem Feld entstehen sah, entwarf Pläne um Pläne. Ein Ziergärtchen mit Rosenbüschen, Bosketten und zwei Obstbäumen sollte vor dem Hause angelegt werden, dahinter ein Gemüsegarten. Sie war bald von ihrem Vorhaben derart erfüllt, daß sie den Flächenraum schrittweise abmaß und vertheilte.
Im Laufe des Tages führte sie den Lehrer zu der künftigen Baustelle hin und fragte ihn, wem der Acker gehöre. Sie erfuhr, daß Bräuning der Besitzer sei. Als sie nun die Absicht enthüllte, das Feld zu kaufen, ermahnte der Lehrer zur Vorsicht, denn „oll’ Bräuning“ sei ein schlauer Fuchs, der gern seinem Nebenmenschen Schlingen lege. Bettina meinte, die Warnung könne sich nur auf die Höhe der Kaufsumme beziehen, und erkundigte sich, was das Stück Land wohl werth sei. Der Lehrer schätzte es auf zweitausend Mark, fügte jedoch hinzu, daß Bräuning jedenfalls mehr fordern werde. Bettina war als Tochter eines Kaufmanns nicht ganz unerfahren in geschäftlichen Dingen, sie beauftragte den gefälligen Mann, mit Bräuning in Unterhandlung zu treten, ohne dem Bauern zu verrathen daß sie die Kauflustige sei.
Sie dachte sich die Ordnung der Angelegenheit unter diesen biederen Menschen unendlich leicht, allein zu ihrer Ueberraschung [108] erklärte Bräuning, der Acker sei ihm um keinen Preis feil. Als Bettina den Lehrer, der ihr diesen Bescheid brachte, erschrocken anschaute, beruhigte sie derselbe und meinte. „Oll’ Bräuning will zunächst den wahren Käufer ausspionieren, nach drei Tagen wird er schon seinen Preis stellen.“
Diese drei Tage waren für Bettina eine harte Geduldsprobe. Es regnete heftig, und so war sie ans Haus gefesselt; ihr Bechsteinscher Flügel, den sie am Tage vor der Abreise von Berlin nach Massow gesandt hatte, war noch nicht eingetroffen, und Ewald kehrte von seiner Lotsenfahrt nicht zurück. Eine geheime Scheu hatte sie bisher abgehalten, das Haus des Kommandanten aufzusuchen, am dritten Tage nach ihrer Ankunft aber veranlaßte sie die Langeweile, nach dem Landhaus hinüberzugehen. Ihr Erscheinen rief auch hier die größte Ueberraschung hervor.
„Wie, Fräulein Wesdonk, schon in Massow?“ rief der Hausherr. „Ei, das ist herrlich! Mit wem sind Sie gekommen? Mit Horsts natürlich? Ah, wie ich mich freue!“
Als Bettina erröthend und zögernd gestand, daß sie allein gekommen sei, in der Absicht, sich hier ein eigenes Heim zu gründen, sahen die Freunde sie so verwundert an, als zweifelten sie an ihrem Verstande. „Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst,“ sagte die Hausfrau. „Sie sind noch zu jung, um ein Einsiedlerleben zu führen. Auch würden Sie in manche Bedrängniß gerathen – indessen das können wir ja beim Abendbrot besprechen. Vor allen Dingen heißen wir Sie herzlich willkommen.“
Bettina blieb bis spät am Abend in dem gastlichen Hause, allein sie schied mit einer Verstimmung in der Seele. Sie hatte im Laufe der Unterhaltung die Ueberzeugung gewonnen, daß weder der Hausherr noch dessen Gattin ihren Plan billigten und daß beide den Verkehr mit ihr abbrechen würden, sobald sie Ewald Monk ihre Hand reichte. Grollend fragte sie sich, mit welchem Recht denn der Kommandant sich so hoch über diejenigen stelle, die doch seine Berufsgenossen waren! Ewald setzte weit öfter Leben und Gesundheit aufs Spiel als er. Sie fand, daß sie einem schmählichen Vorurtheil gegenüberstehe und daß es verdienstlich sei, demselben Trotz zu bieten.
Am andern Morgen hatte endlich der Regen aufgehört und die Sonne brach durch das zerflatternde Gewölk. Während Bettina beim Frühstück saß, trat der Lehrer in die Stube und berichtete ihr, daß Bräuning vorhin dagewesen und für seinen Acker den Preis von dreitausendfünfhundert Mark gefordert habe.
„Bieten Sie ihm morgen dreitausend,“ erwiderte Bettina in freudiger Erregung.
Dieser Tag schien sie für das bange Harren seit ihrer Ankunft entschädigen zu wollen, denn als sie um zehn Uhr zum „Utkiek“ hinaufstieg, um einen Blick über das Meer zu werfen, erkannte sie in dem Manne, der vor dem Wachthäuschen saß, Ewald Monk. Ein freudiges Erschrecken ging durch ihre Glieder und unwillkürlich rief sie laut seinen Namen. Ihr Ruf hatte eine überraschende Wirkung, beim Klang ihrer Stimme wandte sich Monk blitzschnell um, und als er Bettina lächelnd und rosig wie der Morgen selber vor sich sah, sprang er mit einem Freudenschrei auf und schloß sie stürmisch in seine Arme.
Sie duldete seine rauhe Zärtlichkeit, sein wildes Ungestüm gefiel ihr. So mußte er sein, der starke Sohn der Wildniß, und so mußte sich die Liebe äußern, die echte, von der es hieß: „Sie kommt und sie ist da.“
Ewalds Jubel hatte einen alten Lotsen aus dem Häuschen herausgelockt; es war derselbe, den Bettina an jenem ersten Abend auf dem Höwt gesprochen und der ihr die Kuriositäten gezeigt hatte. Lachend verbeugte sie sich, als Ewald sie dem Kameraden als seine „lewe Brut“ vorstellte. Der Alte schüttelte ihr kräftig die Hand, und sie erinnerte ihn an ihre erste Unterredung, bei welcher er ihres Bräutigams als eines der besten unter den „Seebefahrenen“ gedacht habe. Und Ewald fühlte sich so stolz, als sei das Höwt die erste Staffel zum Himmel.
Nach einer Weile schlug Bettina vor, er solle sie mit seinen Eltern bekannt machen. Ewald fuhr sich mit der Hand hinters Ohr, eine Bewegung, die er stets machte, wenn ihm etwas unbequem oder bedenklich erschien, dann schob er den Hut in den Nacken, ergriff ihre Hand, sagte: „Wat möt, dat möt!“ und schickte sich zum Gehen an, nachdem er noch die Wache dem Kameraden übergeben hatte.
Auf Bettinas Bitte schlugen sie die Richtung nach Bräunings Acker ein. Unterwegs gestand ihr Ewald zögernd, daß er armer Leute Kind und daß sein Vaterhaus nicht viel mehr als eine Baracke sei.
„Was liegt daran!“ erwiderte das Mädchen heiter. „Wir bauen uns ein besseres Haus, in dem es Dir hoffentlich gefallen wird.“ Sie zeigte ihm Bräunings Feld und sagte. „Das da habe ich zum Bauplatz gewählt, gefällt Dir der Ort?“
Und wieder kraute sich der Lotse bedenklich hinterm Ohr. Dies Land mit einem hübschen Haus darauf zu besitzen, gefiel ihm sehr wohl, aber die Nachbarschaft behagte ihm nicht. Indessen war er Kathrein zu nichts verpflichtet, denn noch hatte glücklicherweise kein „Verspruch“ stattgefunden. Und daß er der Tochter des Konsuls vor der Kathrein den Vorzug gegeben hatte – das konnte ihm am Ende niemand im Dorfe verübeln, selbst Bräuning nicht. So erklärte er sich denn mit Bettinas Plan einverstanden.
Diese gab ihm nun Aufschluß über ihre Vermögenslage und meinte, daß ihre Mitgift zwar bescheiden sei, doch immerhin für ein einfaches Leben ausreiche. Ewald aber erklärte, daß sie die reichste Frau in Massow sei, und insgeheim sagte er sich: „Nun soll mir einer kommen!“
Und gerade der Mann, an den er dabei gedacht hatte, tauchte in diesem Augenblick bei der Düne auf – der Lotsenkommandant. Er sah den Untergebenen streng an, und die Frage schwebte auf seinen Lippen, warum Ewald den Utkiek verlassen habe.
„Koch übernahm für mich die Wache,“ meldete der Lotse dem Vorgesetzten, erfaßte dann Bettinas Hand und sagte keck: „Ich wollte den Eltern eben meine Braut vorstellen, Fräulein Wesdonk.“
Der Kommandant stand einen Augenblick starr da vor Ueberraschung, dann griff er an die Mütze und erwiderte kühl: „Meinen Glückwunsch –“ Mit einer Verbeugung gegen Bettina entfernte er sich.
Bettina fühlte, daß ihre Wangen glühten, und sie schalt sich um ihrer Schwäche willen. Ewald aber lachte und meinte, der Alte habe sich nicht schlecht gewundert; der dünke sich ja seinen Leuten gegenüber ein Herrgott.
Als die Braut das Häuschen betrat, in welchem ihr künftiger Gatte geboren war und noch wohnte, wurde ihre frohe Stimmung stark herabgedrückt. Das war weit verwahrloster, als sie sich gedacht hatte, und sie nahm sich vor, den Eltern ihres Ewald eine menschenwürdige Behausung zu schaffen. Die Thüre, durch welche sie eintrat, hing schief in den Angeln, die Wohnstube, in die sie geführt wurde, war so niedrig, daß sie sich unwillkürlich bückte. Eine dumpfe Luft legte sich ihr beklemmend auf die Brust. Die Mutter Ewalds war eben in der Küche damit beschäftigt, Heringe zu braten, und als der Sohn sie hereinrief, kam sie in schmutzigen vertragenen Kleidern zum Vorschein, eine fettige Gabel in der Hand.
Bei der Erklärung des Sohnes, daß Fräulein Wesdonk sich mit ihm versprochen habe, kreischte die Alte vor Verwunderung auf und lief hinters Haus, um den Vater zu rufen. Ewald lachte über das Gebahren der Mutter, Bettina jedoch konnte sich nicht verhehlen, daß die Frau weder gutmüthig noch ehrwürdig aussehe. Auch Vater Monk, der jetzt hereingehinkt kam, gehörte nicht zu den angenehmen Erscheinungen. Die Gicht hatte ihm seit Jahren arg zugesetzt, und er führte eine Sprache, die sich sehr in Gegensätzen bewegte, in keinem Falle aber für ihn einnahm; entweder fluchte er wie ein Türke oder er schmeichelte wie ein Kind.
Als Bettina ihm mit einigen herzlichen Begrüßungsworten die Hand reichte, knickte er vor Höflichkeit fast zusammen, küßte ihr die Hände und nannte sie fast bei jedem Satz, den er sprach, „mein Herzchen, mein Engelchen, mein traut’stes Kindchen.“
Frau Monk wischte geschäftig mit der Küchenschürze den Stuhl ab, auf den sich ihre neue Schwiegertochter setzen sollte, und stopfte dabei eine graue Haarsträhne. die ihr über den sehnigen braunen Hals hing, unter die Haube.
Bettina wollte den Glückstag nicht vorübergehen lassen, ohne ein gutes Werk gethan zu haben. Sie äußerte, daß Ewalds Vaterhaus gar eng und gebrechlich sei, und als der alte Monk zur Antwort gab, daß er sich in dem feuchten Teufelsnest die gottverfluchte Gicht geholt habe, fragte sie, welche Summe wohl erforderlich sei, um ein nettes helles Häuschen an die Stelle des baufälligen zu setzen.
Der Alte rieb sich mit der schäbigen Mütze, die er in der Hand hielt die Kniee und meinte, für zweitausend Mark ließe sich schon ein hübsches Haus aus Fachwerk herstellen.
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[110] „Nun, so wird mir Ewald wohl gestatten, daß ich seinen Eltern diese Summe anweise,“ sagte sie gütig lächelnd. „Wir wollen dann zu gleicher Zeit bauen.“
Die Alten erschöpften ihren ganzen Wortvorrath in Dankesbezeigungen und priesen Ewald glücklich, daß er solch einen Engel zur Frau bekomme. Diesem Engel aber wurde es bei den Alten allmählich bange. Dem Brodem des Häuschens entschlüpfend, gestand sich Bettina, daß allzuviel Honig von den Lippen ihrer künftigen Schwiegereltern geflossen sei. Indessen, wie Ewald so stolz und stattlich an ihrer Seite einherschritt, fühlte sie sich wieder ermuthigt. Ich werde mit ihm leben, nicht mit den Eltern, sagte sie sich beruhigt.
Ewald begleitete sie zum Schulhaus zurück und verkündete jedem, der ihnen begegnete, sein neues Glück. Der Lehrer war bei der Nachricht von Bettinas Verlobung ebenso sehr überrascht wie der Kommandant, und als Ewald sich entfernt hatte, sagte er kopfschüttelnd: „Sie wagen einen kühnen Schritt, Fräulein Wesdonk.“
„Ist Ewald nicht brav?“
„Gewiß, ich achte ihn als einen ehrlichen Mann und tüchtigen Lotsen; allein er steht an Bildung und Lebensart weit unter Ihnen, und hier zu Lande gilt das Sprichwort. ‚Gliek tau Gliek‘ – Sie beide aber sind weit von einander geschieden durch Erziehung, Familie und Bildung.“
„Und ich glaube an ein ausgleichendes Gefühl,“ versetzte Bettina, „und das heißt die Liebe.“
„Möge Ihnen der Ausgleich gelingen!“ entgegnete besorgt der wohlmeinende Mann.
Bettina reichte ihm mit einem sonnigen Lächeln die Hand. „Helfen Sie mir dazu und bleiben Sie mein Freund!“
Der nächste Tag brachte den Verkauf des Bräuningschen Grundstückes zum Abschluß. Für die Summe von dreitausendzweihundert Mark erwarb Bettina den schön gelegenen Bauplatz, dessen Grenzen der Geometer dann genau bestimmte. Sie entwickelte nun in der Verwirklichung ihres Planes eine ungewöhnliche Thatkraft. Sie segelte mit Ewald nach der Hafenstadt, wo Ziegel, Cement und Holz in Fülle zu haben waren, schloß mit einem tüchtigen Maurermeister Verträge ab behufs rascher Ausführung des Baues und einigte sich mit einem Landschaftsgärtner über die Gartenanlagen und Baumpflanzungen.
Als nun aber die Arbeit beginnen und eine Schleife über das abschüssige Vorland bis ans Wasser gelegt werden sollte, kam „oll’ Bräuning“, ein knorriger Bauer, dessen Augen listig unter den buschigen Brauen hervorblinzelten, und erhob Einspruch gegen die Anlage.
„Mit welchem Rechte?“ fragte Bettina, „das Land gehört mir.“
„Soweit es auf der Höhe liegt, ja,“ entgegnete der Bauer ruhig, „aber von der Kante des Ackers an bis zum Wasser liegt auch noch Erde und die gehört mir.“
Bettina war einen Augenblick sprachlos vor Ueberraschung. Sie hatte, gleich dem Geometer, diese schräge bis zum Wasser reichende Fläche für den Untergrund ihres Bodens angesehen, sie war auch überzeugt, daß die Gerichte zur gleichen Ansicht gelangen würden, da die Wassergrenze des Meeres keine fest bestimmbare war und die Brandung häufig bis an den Fuß des Berges reichte. Allein sie konnte die Arbeiten nicht bis zum Abschluß eines Prozesses verschieben.
Was nun thun? Ewald wußte keinen Rath, ihn brachte der Gedanke aus der Fassung, daß Bräuning sich für die eigenen und Kathreins zerstörte Hoffnungen schadlos halten wolle. Der Lehrer aber schlug Bettina einen Vergleich vor und versprach ihr dabei seine Unterstützung. Als diese zu persönlicher Unterhandlung den Hof Bräunings betrat, sprangen ihr zwei große Hunde mit wüthendem Gebell entgegen, und sie bemerkte, daß hinter der Hecke ein dralles Bauernmädchen stand, das sich an ihrem Erschrecken weidete. Bettina war jedoch nicht feig. Das plÖtzliche Anspringen der Hunde hatte sie erschreckt, nicht eingeschüchtert. Sie ging den Hunden furchtlos entgegen, worauf diese sie kläffend umkreisten, ohne aber einen Angriff zu wagen. Im Hause sah sie zwei Burschen, welche sie erst herausfordernd anstarrten und dann langsam hinausgingen, um Bräuning zu rufen.
„Oll’ Bräuning“ begrüßte Bettina mit höhnischer Unterwürfigkeit, und als sie sich zu einem friedlichen Vergleich erbot und nach der Höhe seines weiteren Anspruchs fragte, forderte er fünftausend Mark.
Diese Unverschämtheit wies sie entrüstet zurück durch die Bemerkung, daß eine solche Forderung für den Sandhaufen, auf dem kaum der Strandhafer gedeihe, einer Erpressung gleichkomme. Der Bauer antwortete mit pfiffigem Lachen, er habe so viel von der neumodischen Gartenkunst gehört, daß er glauben müsse, der Stadtmamsell werde es nicht schwer fallen, auf dem Sandhaufen einen Weinberg anzulegen. Weinberge von solcher Größe aber bezahle man in der Regel höher als mit fünftausend Mark.
Nun erklärte Bettina ernst und bestimmt, sie sei zu einer ernsthaften Auseinandersetzung gekommen, nicht um Proben seines Witzes zu hören. Sei er dazu nicht in der Laune, so möge das Gericht die Entscheidung treffen. Sie werde unterdessen Mittel finden, ihren Bau durchzusetzen. Damit verließ sie rasch den Hof.
Am Abend lungerte „oll’ Bräuning“ vor dem Schulhaus herum und nachdem er des Lehrers habhaft geworden war, sprach er vom Wetter, vom Kohlpflanzen und kam endlich auf seinen Handel mit „der Stadtmamsell“ zu sprechen. Ganz beiläufig erkundigte er sich, ob diese wohl dreitausend Mark für das Vorland zahlen werde.
Der Lehrer erwiderte lachend. „Ihr irrt Euch, Nachbar, die Stadtmamsell, wie Ihr das Fräulein nennt, ist wirklich nicht auf den Kopf gefallen. Sie steht schon mit Pischel in Unterhandlung und wird dessen Wiese an der Wolfsschlucht kaufen, falls Ihr Euch bis morgen Mittag zwölf Uhr nicht zu einem verständigen Ausgleich entschlossen habt.“
„Und das Kornfeld?“
„Nun, das verkauft sie an ihren Freund Schmidt, einen Berliner Advokaten, der sich ein Landhaus an der See erbauen will.“
Schon in der Frühe des anderen Tages stand „oll’ Bräuning“ im Schulhaus und gab seinen Rechtsanspruch auf das Vorland für achthundert Mark preis. Bettina zahlte die Summe, allein ihr Glaube an die Biederkeit der Landbewohner war etwas erschüttert. Doch tröstete sie sich damit, daß keine Regel ohne Ausnahme sei, und warf „oll’ Bräuning“ zu den Ausnahmen.
Ich kenne zwei gute Freunde, die hatten sich einmal entzweit.
Ein Vertrauensbruch bildete die Ursache des Zwistes – ein
vermeintlicher Vertrauensbruch; denn bei näherer Untersuchung
löste sich derselbe in ein Mißverständniß auf. Doch ich will die
Geschichte kurz erzählen.
Freund A. hatte dem Freunde B. eine Mittheilung über eine dritte Person gemacht und, als er sich von ihm trennte, hinzugefügt: „Das habe ich Dir aber sub rosa gesagt.“ Freund B. übersetzte das lateinische Sprichwort mit „verblümt“, dachte sich das erzählte Ereigniß noch schlimmer, als es in Wirklichkeit war, und da ihm kein Stillschweigen auferlegt war, sprach er weiter davon. Es wurde eine Klatschgeschichte daraus, und A. warf dem Freunde vor, er habe das in ihn gesetzte Vertrauen mißbraucht.
„Du hast mir ja gar nicht zu verstehen gegeben, daß die Sache geheim gehalten werden soll!“ wehrte der andre ab.
„O, bitte, ich habe es Dir ausdrücklich ‚sub rosa‘ gesagt!“
„Nun ja! Das heißt doch ‚verblümt‘.“
„Verblümt?“ meinte Freund A. entrüstet. „Ich habe nicht geglaubt, daß Du so unwissend bist.“ Er ging an den Bücherschrank, holte einen Band von Brockhaus’ Konversationslexikon, schlug den Artikel „Sub rosa“ auf und hielt das Buch dem Freunde vor.
Dieser las zu seinem Erstannen. „Sub rosa (lat., eigentlich ‚unter der Rose‘) heißt bildlich und sprichwortlich soviel als ‚im Vertrauen‘ oder ‚insgeheim‘, z. B. jemand etwas mittheilen. Die alten Deutschen pflegten nämlich eine Rose als Symbol der Verschwiegenheit bei ihren Gastmählern von der Decke auf die Tafel herabhängen zu lassen, um damit anzudeuten, das man die bei demselben durch frohe und heitere Stimmung hervorgerufenen Aeußerungen wieder vergessen und wenigstens anderen nicht mittheilen solle.“
[111]
Freund B. ging betrübt von dannen. Zu Hause schlug er den betreffenden Artikel in Meyers Konversationslexikon nach; aber auch dort fand er die gleiche Erklärung und noch den Zusatz, daß dieselbe Sitte bereits den alten Römern bekannt war. Doch er ließ sich nicht werfen. Er holte Goethes Gedichte, schlug das zweite der „Lieder“ auf und schrieb folgenden Brief:
„Lieber Freund! Gestatte auch dem Dichterfürsten zu der fatalen Rosengeschichte ein Wort:
‚Dichter lieben nicht zu schweigen,
Wollen sich der Menge zeigen,
Lob und Tadel muß ja sein!
Niemand beichtet gern in Prosa,
Doch vertrau’n wir oft sub Rosa
In der Musen stillem Hain.
Was ich irrte, was ich strebte,
Was ich litt und was ich lebte,
Sind hier Blumen nur im Strauß;
Und das Alter wie die Jugend,
Und der Fehler wie die Tugend
Nimmt sich gut in Liedern aus.‘
So singt Goethe. Du wirst mir wohl zugeben, daß der Dichter, der sich der Menge gern zeigen will, wenn er seine Fehler sub rosa mittheilt, durchaus nicht bezweckt, sie in den Schleier des Geheimnisses zu hüllen, sondern sie vielmehr durch die Blume, in bildlicher Sprache seinen Lesern zu erkennen giebt. Alle Achtung vor den fleißigen und gelehrten Mitarbeitern der Konversationslexika – allein unser Goethe ist doch ein Sprachgewaltiger, und es dürfte erlaubt sein, in der Auslegung von Sprichwörtern ihn als Führer zu nehmen.“
Bald darauf saßen beide Freunde wieder versöhnt nebeneinander und meinten. „Das sind aber recht gefährliche Redensarten, denen im Leben eine so verschiedene Auslegung zutheil wird. Wer hat recht? Wie ist das Sprichwort entstanden?“
Ich war in ihrem Bunde der dritte, und was wir über die Entstehung des geflügelten Wortes sub rosa ermitteln konnten, sei im nachstehenden kurz mitgetheilt. –
Die Rose, die Königin der Blumen, hat im Laufe der Geschichte ihre Bedeutung in der symbolischen Blumensprache wiederholt gewechselt. Als die Schwelgerei und der Luxus im alten Rom ihren Höhepunkt erreichten, da war auch der Rosenkultus am meisten verbreitet. Bei den üppigen Gelagen durfte niemals die Blume der Liebesgöttin fehlen – Venus nämlich hatte die Rose mit ihrem Blute roth gefärbt; die Römer erzählten sich, die Rose sei ursprünglich weiß gewesen, da habe einst Venus sie pflücken wollen und, als sie sich dabei an den Dornen verletzte, mit ihrem Blute die Blume geröthet, die seitdem diese Farbe behalten habe.
Um einen Begriff von der Rosenliebhaberei der Römer in der Zeit des Sittenverfalls zu geben, möchten wir nur an den berühmten Speisesaal Neros erinnern, dessen Decke und Seitenwände sich drehten und abwechselnd die Jahreszeiten vorstellten; anstatt des Regens fielen dabei ungeheure Rosenmassen auf die kaiserlichen Gäste herab. Nach den Berichten von Suetonius soll Nero für eine einzige Abendmahlzeit Rosen um 90000 Mark gekauft haben.
Als Aegyptens berüchtigte Königin Cleopatra einmal den Antonius empfing, ließ sie den Fußboden des Speisesaals eine Elle hoch mit Rosen bedecken und darüber Netze spannen, damit man auf diesem Blumenteppich bequem gehen konnte.
So wurde in dem Rom der Kaiser die Rose zu der Blume des Genusses, und erst das Christenthum versuchte, ihr eine andere sinnbildliche Bedeutung zu geben. Die Rose wurde als Blume der Unschuld der heiligen Jungfrau Maria geweiht. In Frankreich wird noch heute am 8. Juni das Rosenfest gefeiert, welches auf jene alten Bestrebungen zurückzuführen ist. Der heilige Medardus soll, wie die Sage erzählt, im Dorfe Salency bei Noyon einen jährlichen Preis von 25 Livres gestiftet haben, welcher dem tugendhaftesten Mädchen des Dorfes zuerkannt werden sollte. Das Mädchen erhielt dabei einen Rosenkranz und wurde als „Rosenmädchen“ (Rosière) gefeiert. So wurde die Rose zum Sinnbild der Keuschheit. Das Volk verehrte sie aber nach wie vor auch als die Blume der Liebe, wie dies mittelalterliche Dichtungen, der „Roman de la rose“ und das beliebte höfische Epos „Flore und Blanscheflur“, d. h. „Blume und Weißblume“ oder „Rose und Lilie“, beweisen.
Damit aber sind die symbolischen Bedeutungen der Königin der Blumen noch nicht erschöpft.
In Okens „Allgemeiner Naturgeschichte“ lesen wir in Bezug auf die Rose: „… sehr wohlriechend und für die Königin der Blumen gehalten, das Sinnbild der Unschuld, der Freundschaft und der Verschwiegenheit –“ und Novalis singt: „Verschwiegener Eintracht volle Rosen trägt er (der Wein) bedeutend in der Hand.“
In unserer Zeit scheint, wie die tägliche Erfahrung lehrt, die Bedeutung der Rose als der Blume der Verschwiegenheit weiteren Volkskreisen unbekannt geworden zu sein. Früher war das anders.
Im „Rosetum Historiarum“, im „Historischen Rosengarten“ von Hammer, der im Jahre 1654 zu Zwickau erschien, findet sich folgende Stelle: „Etliche haben eine Rose über den Tisch hängen lassen und, wenn die Gäste haben heimgehen wollen, zu ihnen gesagt, daß sie unter den Rosen beisammen gesessen.“
Ausführlicher wird über diese Sitte berichtet in dem Riesenwerke „Großes Vollständiges Universallexikon aller Künste und Wissenschaften“, welches von dem Hallenser Verleger Joh. Heinrich Zedtler in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts herausgegeben wurde. „Vor Alters her,“ lesen wir hier, „pflegte man eine Rose über die Tische zu hängen und zwar darum, damit ein jeder, sobald er sie erblickte, eingedenk wurde, daß er dasselbe, was er in geheim hörete, verschweigen sollte; daher auch das Sprichwort geblieben, wenn man einem guten Freunde etwas sonderliches und geheimes, das verschwiegen bleiben soll, offenbaret, dabei zu sagen pflegt: sub rosa dictum – das sei unter der Rose gesagt.“
Diese Bedeutung des Sprichworts sub rosa war auch dem Straßburger Dichter Sebastian Brant bekannt; denn in seinem 1494 zu Basel erschienenen „Narrenschiff oder das Schiff von Narragonia“ findet sich (Kap. 7, Vers 13) die Redewendung [112] „under der rôsen sagen“ in dem Sinne „im Vertrauen sagen“.
Der Ursprung der Sitte, die Rose beim Gastmahl als Sinnbild der Verschwiegenheit zu benutzen, wird auf die Römer zuruckgeführt. Der schon erwähnte Joh. Heinrich Zedtler beruft sich auf die Verse eines „römischen Poeten“, welche besagen „Die Rose ist die Blume der Venus. Damit nun deren Liebeshändel geheim gehalten würden, widmete Amor der Mutter Gabe dem Harpokrates. Darum pflegt der Gastgeber über die für seine Freunde bereitgehaltenen Tische eine Rose zu hängen, damit die Festgenossen wissen, man solle schweigen über das unter der Rose Gesagte.“
Unter den Alterthümern Roms befindet sich auch eine Bildsäule des Harpokrates. Sie stellt ein sitzendes Kind dar, welches einen Finger vor den Mund hält. Dieses Kind ist der ägyptische Gott Horus der Jüngere, welcher ursprüglich die Sonne zur Zeit der Wintersonnenwende verkörpern soll. Die Haltung seines Fingers führte die Griechen auf den Einfall, aus ihm den Gott des Schweigens zu machen. Unter dem Namen Harpokrates wird er in der griechischen Litteratur zum ersten Male von Eratosthenes, dem berühmten Bibliothekar von Alexandrien, erwähnt – von demselben Eratosthenes, der als der erste die Größe der Erde auf Grund einer Gradmessung berechnete und prophetisch das Vorhandensein einer „Neuen Welt“ zwischen den Küsten des Atlantischen Oceans und dem Ostrande Asiens vermuthete. Eratosthenes lebte von 275 bis 195 v. Chr. Ein Mysterienkultus knüpfte sich in der griechisch-römischen Welt an die geheimnißvolle Gestalt des Gottes, besonders fanden seine Priester frühzeitig den Weg nach Rom. Die Rose aber hatte Harpokrates von Aegypten, der Heimath seines Kultus, nicht mitgebracht. Dort setzte man vielmehr Horus den Jüngeren in Beziehung zu einer anderen Blume: die ägyptische Mythe ließ ihn aus einer geöffneten Lotusblnme hervorgehen. Doch wie in Rom die Rose bei Festen zum Schmuck diente, so fehlte in Aegypten die Lotusblume bei keinem Festgelage; die Gäste steckten sich Lotusknospen ins Haar und hielten sie einander zum Riechen hin, wie die Gäste bei anderen Völkern sich Weinbecher reichen. In der griechisch-römischen Welt gab man dem neuen Gotte an Stelle der ägyptischen eine heimische Blume, die Rose. Wenn wir dabei an die homerische Sage von den Lotophagen denken, welche aus der Lotuspflanze einen Wein bereiteten, der das Gedächtniß an die Vergangenheit in den Menschen auslöschte, so wird es uns begreiflich erscheinen, wie die Rose in Verbindung mit Harpokrates zum Sinnbilde der Verschwiegenheit werden konnte.
Es ist nicht möglich, ganz genau festzustelten, wann die dichterische Phantasie des Volkes Harpokrates mit der Rose schmückte, so viel aber darf man wohl annehmen, daß die schöne Sitte, unter der Rose beisammen zu sitzen, nicht in der wüsten zügellosen Kaiserzeit entstanden ist, sondern ihren Ursprung in einer Zeit hat, wo die Sitten einfacher waren und die römische Tugend sich noch bewährte.
Doch gleichviel, von wem die Sitte stammt; es läßt sich nicht leugnen, daß sie lange Zeit geübt wurde und daß sie Veranlassung zur Bildung des geflügelten Wortes „sub rosa“ gegeben hat. Die Sitte schwand, das Wort blieb. Die Menschen, die mit der Geschichte desselben nicht vertraut waren, wußten es nicht zu deuten und fanden eine naheliegende Erklärung: „sub rosa“ wurde wie das französische „Sous la fleur“ aufgefaßt, im Sinne von „durch die Blume“, „verblümt“.
Und doch ist es schade, daß wir bei fröhlichen Festen nicht mehr „unter der Rose“ sitzen. Wir Männer wissen, daß der Wein die Zungen löst, und sehen im frohen Kreise die Menschen nicht gern, welche die leicht entstehenden, unbedachten Worte fleißig sammeln und weiter tragen. Unsere Leserinnen wissen, daß auch der Kaffee dieselbe lösende Wirkung besitzt. Man sollte sich zwar auch in solchen Fällen zu bemeistern wissen, aber da wir Menschen einmal bei festlichen Gelegenheiten reden müssen und schwach sind, so sollten diese vertraulichen Reden wenigstens nicht weiter getragen werden. Denn das Weitertragen und Vergrößern und „Verblümeln" des Gehörten führt erst recht zu Klatsch und Verleumdung.
Frau Ajas „Frohnatur“.
Frau Aja Wohlgemuth“ pflegte sich die Mutter Goethes in ihrem Alter gern zu nennen, wenn sie einmal der Heiterkeit ihres Herzens übersprudelnden Ausdruck gegeben hatte. „Liebe Mutter Aja“ – so klang die Anrede, wenn die Freunde ihres Sohnes, die alten wie die jungen, die vornehmen wie die geringen Standes, verwöhnte Fürstlichkeiten und verfahrene Sturm- und Dranggeister, sich an die Frau Rath mit Fragen, Bitten, Grüßen wandten oder es sich wohl sein ließen am „runden Tisch“ in der „blauen Stube“ des stattlichen Hauses „zu den drei Leyern“ auf dem Großen Hirschgraben zu Frankfurt a. M. – Woher diese Bezeichnung „Frau Aja“ für Goethes Mutter?
Goethe selbst, der beim Niederschreibeu der Erinnerungen „Aus meinem Leben“ lebhaft die Ferne beklagte, in welche die goldne Zeit der eigenen Jugend seinem Gedächtniß entrückt war, hat über den Namen eine unverständliche irrthümliche Auskunft gegeben. Wo er im 18. Buch von „Wahrheit und Dichtung“ den Besuch der Grafen Friedrich und Christian Stolberg in seinem Vaterhaus schildert und erzählt, wie die Mutter den jungen Brauseköpfen, als sie im überschäumenden Drang ihres Freiheitsgefühls gar ein Gelüsten nach „Tyrannenblut“ äußerten, den feurigsten und edelsten Wein aus ihrem Keller heraufgeholt habe – nur solches Tyrannenblut dürfe in ihrem Hause fließen! – hat er den Ursprung ihres Namens auf die italienische Bezeichnung für eine Hofmeisterin zurückgeführt. Er wußte nicht mehr, daß die gleiche Vorliebe für „altdeutsche Art und Kunst“, die ihn auf den Stoff des „Götz“, des „Faust“ gelenkt, den jungen Geistern damals diesen Namen in den Sinn gebracht hatte. „Frau Aja“ heißt in dem alten Volksbuch von den Haimonskindern die Mutter der heldenkühnen Neffen Karls des Großen. Als Frau Rath die Freunde ihres Sohnes mit feurigem 1712er bewirthete, da mußte sich ihnen unmittelbar der Vergleich ihrer Lage mit jener Scene in dem Volksbuch aufdrängen, wo die herrliche Haimonsmutter ihre als Pilger verkleideten Söhne mit dem besten Wein aus ihrem Keller bewirthet. Als das Ideal einer Mutter, die ihrem herangewachsenen Sohne die theilnehmendste Freundin, die tapferste Verbündete und eine „Wirthin wundermild“ ist, wurde Frau Rath gepriesen, da sie zum ersten Male „Frau Aja“ genannt ward.
Und als das Ideal einer im Beglücken des Sohnes glückseligen Mutter ist dem Bewußtsein unseres Volkes das Bild dieser Frau eingeprägt, der zu erleben vergönnt war, daß die Grundelemente ihres Wesens, ihre „Frohnatur“ und ihre „Lust zu fabulieren“, in dem Sohne fortwirkten und aufblühten als die bewegenden Kräfte eines weltbewegenden Dichtergeistes. So anziehend und lebensfrisch auch das Bild der jungen Elisabeth Textor war, das später Otto Müller in seinem Roman „Der Stadtschultheiß von Frankfurt“ auf Grund der Angaben in Bettinas „Briefwechsel Goethes mit einem Kinde“ über die Mädchenzeit der Frau Rath entwarf, im Gedächtniß der Fachwelt lebt sie vor allem fort in der reifen Weiblichkeit einer Mutter. So hat der Sohn ihr Wesen festgehalten: als Dichter in der herrlichen Frauengestalt, die in „Hermann und Dorothea“ als Mutter Hermanns ihr poetisches Abbild ist, als Charakterzeichner in den Kapiteln aus „Wahrheit und Dichtung“, die ihrer ausführlicher erwähnen.
Aber erst seit der Erschließung des Goetheschen Familienarchivs in Weimar, die vor wenigen Jahren nach dem Tod seines überängstlichen Hüters, des letzten Enkels von Goethe, erfolgte, ist uns Frau Aja wieder ganz lebendig geworden, dank den zahlreichen Briefen von ihrer Hand, die dort verborgen waren. Da erschienen 1885 zum ersten Male in authentischer Form ihre Briefe an die Herzogin Anna Amalie, die Mutter Karl Augusts, und vier Jahre später die „Briefe an ihren Sohn, Christiane [113] und August von Goethe“. Im Herbst des vorigen Jahres endlich ist in der auf die Schätze des Goethearchivs gegründeten Neuausgabe der Werke des Dichters eine Schrift zu Tage getreten, welche den stark angezweifelten historischen Werth der oben erwähnten Bettinabriefe in einer Weise außer Zweifel stellte, wie sie kaum noch erhofft und erwartet wurde. Es ist nun erwiesen, daß die Briefe, welche der „Briefwechsel mit einem Kinde“ von und über die Mutter Goethes enthält, echt sind, daß sie wirklich auf Veranlassung des Dichters geschrieben wurden, der, als er an seine Selbstbiographie ging, sich an die junge Frankfurterin Bettina Brentano mit der Bitte um ihre Hilfe wandte, da sie ja der Mutter eigenstes Wesen, ihre Märchen und Geschichten, ihre Eigenheiten und Eigenschaften aus jugendfrischem Gedächtniß darstellen könne.
Diesem Wunsche entsprach das kluge, den Dichter schwärmerisch verehrende Mädchen mit treuem Fleiße und mit der ihr eigenen Begabung lebendig stimmungsvoller Schilderung. Die zahlreichen Blätter unterwarf dann Goethe einer Bearbeitung mit der Absicht, sie im Zusammenhang unter dem Titel „Aristeia der Mutter“ der Selbstbiographie einzufügen. Aristeia – so nannte Homer die Gesänge, welche der besondern Verherrlichung eines Helden galten. So sollte die „Aristeia der Mutter“ Zeugniß geben, „wie die Mutter einst sich herrlich hervorgethan hat unter den Frauen“. Die Ausführung dieses Vorhabens unterblieb. Erst jetzt sind die Kapitel ans Licht getreten. Und nunmehr gewinnt auch neben dem Bild der Mutter Goethes aufs neue das Mädchenbild der Tochter des ehrenfesten Frankfurter Stadtschultheißen Johann Wolfgang Textor bedeutsame Geltung.
Die romantische Liebe der jungen Frankfurter Schulzentochter für den unglücklichen schwermüthig schönen Kaiser Karl VII., dessen Krönung sie als elfjähriges Mädchen mit hatte anwohnen dürfen und der in den folgenden Jahren als ein Flüchtling in seiner getreuen Krönungsstadt weilte, darf nun auch vom Historiker zu ihrer Charakteristik verwandt werden. Und gleichgültig für das Werden des Goetheschen Genius ist es wahrlich nicht, daß seiner Mutter tiefstes Herzenserlebniß eine solche selbstlose Hinneigung zu einem unerreichbar über ihr Stehenden war. Die uneigennützige, muth- und begeisterungsvolle Mädchenliebe, die ihr Sohn später in dem Klärchen seines Egmont gefeiert hat, war als Knospe auch in dem Herzen lebendig, das seinem Gemüthsleben die Eigenart mitgab. Ist es nicht ein diesem Klärchen verwandtes Bild, das vor uns aufersteht, wenn wir bei Bettina und jetzt in der „Aristeia“ als Bekenntniß der alten Frau Rath lesen: „Da er einmal offne Tafel hielt, drängte ich mich durch die Wachen und kam in den Saal anstatt auf die Galerie; es wurde in die Trompeten gestoßen, bei dem dritten Stoß erschien er in einem rothen Mantel, den zwei Kammerherren abnahmen; er ging langsam mit gebeugtem Haupt. Ich war ihm ganz nah und dachte an nichts, noch daß ich auf dem unrechten Platze wäre; seine Gesundheit wurde von allen anwesenden großen Herren getrunken, und die Trompeten schmetterten dazu, da jauchzte ich laut mit, der Kaiser sah mich an und nickte mir.“
„Sie sagte mir,“ schließt Bettina ihren Bericht, „daß sie’s zum ersten Male in ihrem Leben erzähle; das war ihre erste rechte Leidenschaft und auch ihre letzte.“
Das früh entwickelte Mädchen, das von ihren Schwestern schon vorher wegen ihres eigenartigen Wesens, ihrer Vorliebe für Märchenpoesie und künstlerischen Zeitvertreib „die Prinzeß“ genannt wurde, war damals vierzehn Jahre alt. Ein Jahr später starb der Kaiser in München und sein Tod hinterließ ein „weihevolles Gefühl innigster Verehrung und Liebe“ in ihrer Seele. Zwei weitere Jahre gingen hin und Elisabeth reichte die Hand zum Lebensbund dem kaiserlichen Rath Johann Kaspar Goethe, einem fast vierzigjährigen Manne von Charakter und Ansehen und ruhigem Wesen, dem Wunsche der Eltern folgend, „ohne viel nachzudenken“. Und wieder ein Jahr darauf ward ihr Sohn, ihr ältester, der später ihr einziger blieb, Johann Wolfgang Goethe, geboren. Wenn wir lesen, was Frau Aja als Greisin der jungen Brentano von der Entstehung jener frühesten Herzensneigung gebeichtet, die in ihrem Herzen als „etwas Großes“ aufging, wie sie den bleichen Kaiser mit den melancholischen dunklen Augen im Dome hatte beten sehen – so theilt sich uns die Empfindung mit: nicht nur die „Frohnatur“ und die „Lust zu fabulieren“ hat Deutschlands größter Dichter von seiner Mutter geerbt, sondern auch die Großartigkeit des Empfindens, die alles Kleinliche abwies, jenen Zug zur Hingabe an das Bedeutende, welche das Geheimniß seiner Größe als Dichter ist.
Nun da wir neuerdings auch über eine sorgfältige biographische Zusammenstellung all der Zeugnisse über ihr Leben und Wesen verfügen, wie sie auf Grund des gekennzeichneten neuen Materials und kleinerer Beiträge Karl Heinemann in dem Buche „Goethes Mutter“ (Verlag von A. Seemann in Leipzig) hat erscheinen lassen, nun läßt sich leicht nachweisen, wie dieser Zug zum Großen den eigentlichen Grundton der vielgerühmten „Frohnatur“ von Frau Aja gebildet hat. All die kleinlichen Bedenken, welche die Mehrzahl der Menschen verhindern, [114] sich so zu geben, wie sie sind, und in sich das zu entwickeln, was sie als echt und tüchtig empfinden, waren ihrer starken Seele fremd, die in frohem Aufblick zu dem Gotte, der sie geschaffen, auch nur so sich zeigen wollte, wie er sie geschaffen. Frau Aja selbst hat ihre Eigenart auf das „ungefälschte und starke Naturgefühl“ zurückgeführt, „das ihre Seele vor Rost und Fäulniß bewahrt“. „Doch da mir Gott die Gnade angethan, daß meine Seele von Jugend auf keine Schnürbrust angekriegt hat, sondern daß sie nach Herzenslust hat wachsen und gedeihen, ihre Aeste hat weit ausbreiten können und nicht wie die Bäume in den langweiligen Ziergärten zum Sonnenfächer ist verschnitten und verstümmelt worden; so fühle ich alles, was wahr, gut und brav ist, mehr als vielleicht tausend andere meines Geschlechts …“
Derselben einfach großen Auffassung von Gott, Natur und Menschenthum entsprang ihre Fähigkeit, die anderen Menschen zu nehmen wie sie sind und nach ihren guten Eigenschaften zu beurtheilen. „Ich habe die Menschen sehr lieb – und das fühlt alt und jung, gehe ohne Prätension durch diese Welt und das behagt alten Evassöhnen und -töchtern – bemoralisiere niemand – suche immer die gute Seite auszuspähen – überlasse die schlimme dem, der den Menschen schuf und der es am besten versteht, die scharfen Ecken abzuschleifen, und bei dieser Methode befinde ich mich wohl, glücklich und vergnügt.“
Diese ihre „Methode“ darf aber keineswegs verwechselt werden mit jener bequemen Moral, die voll satten Behagens die Hände im Schoße ruhen und den lieben Herrgott einen guten Mann sein läßt. Als unermüdliche, rüstig überall selbst zugreifende Hausfrau und Mutter hat sie bis ins hohe Alter jeden Tag ein reichlich Tagewerk verrichtet und darüber nie die Kunst verlernt, sich und ihren Lieben, so weit es möglich, „ein hübsches Leben zu zimmern“. Wohlzuthun und mitzutheilen – das war ihr höchster Genuß. „Ordnung und Ruhe,“ schrieb sie an Frau von Stein, „sind die Hauptzüge meines Charakters; daher thu’ ich alles gleich frisch von der Hand weg, das Unangenehmste immer zuerst, und verschlucke den Teufel (nach dem weisen Rath des Gevatters Wieland), ohne ihn erst lang zu begucken; liegt dann alles wieder in den Falten, ist alles Unebene wieder gleich, dann biete ich dem Trotz, der mich in gutem Humor übertreffen wollte.“
Daher ist alles Sorgen und Bangen um das Ungewisse ihr ebenso zuwider wie jedes Heuchlerthum; alle konventionelle Lüge ist ihr eitel „Schnickschnack“ und das ewige Geklage über die Schlechtigkeit der Welt bei so vielen Menschen, „die es ganz gut haben könnten“, ist ihr ein Greuel. „Mit Murren und Knurren bringt’s niemand um ein Haar weiter, und das Schicksal dreht seine Maschinen, ob wir lachen oder weinen,“ das ist so eine echte Frau Aja-Stelle, und der Spruch im „Götz“: „Freudigkeit ist die Mutter aller Tugenden“ ist ihr aus der Seele geschrieben. Darum beklagt sie die Menschen, die sich „das arme Bißchen von Leben so blutsauer machen, ohne daß das Schicksal im geringsten daran schuld ist.“
„In der Ungenügsamkeit, da steckt der ganze Fehler.“ Sie suchte umgekehrt dem Tag, der Stunde zu genügen und war darum befähigt, das Gute, das diese jeweils brachten, dankbar zu genießen. So zeigte sie sich jeder Widerwärtigkeit wie jeder frohen Ueberraschung in gleichem Grade gewachsen. Keine Ehre, womit sie das spätere Leben so reichlich bedachte, brachte sie in Verlegenheit; keine Heimsuchung – und das Schicksal ließ sie von jeder Art kosten – raubte ihrer Seele das Gleichgewicht. Die Herzensfrische, mit der sie an die Herzogin Anna Amalie von ihrem Leben und Treiben schreibt, gewinnt durch die Fassung in gestelzte Wendungen höfischer Höflichkeit nur an Wirkung: so grüßt uns die frische freie Waldesluft, wenn sie uns durch die verwitterten Bogen eines zopfigen Parkthors entgegenströmt. Frau Aja läßt der Fürstin keinen Zweifel, daß es nur der menschliche Werth ist, den sie an ihr verehrt. Als einmal die Herzogin die Vermuthung ausspricht, der Zusammenstrom vieler anderer Fürstlichkeiten in Frankfurt werde ihr kaum noch Interesse übrig lassen für Nachrichten vom Weimarer Hofe, antwortet sie: „Durchlauchtigste Fürstin!
Alle Kaiser, Könige, Churfürsten im ganzen Heiligen Römischen Reich können meinetwegen kommen und gehen, bleiben und nicht bleiben, wie’s die Majestäten und Hoheiten für gut finden, das kümmert Frau Aja nicht das geringste, macht ihr Herz nicht schwer – Essen, Trinken, Schlafen geht bei der guten Frau so ordentlich seinen Gang, als ob nichts vorgefallen wäre. Aber dann geht es aus einem ganz andern Ton, wenn so eine Freudenpost (aus Weimar) kommt; ja, da klopft’s Herz ein bißchen anders …“Umgekehrt, wenn Einsamkeit, Krankheit, Sorge sie quälten, zeigte sie sich keineswegs bereit, vor dem Unglück die Waffen zu strecken. Da kam ihr die „Lust zu fabulieren“ zu Hilfe, die sie in ursprüglicher Kraft besaß; die malte ihr tausend Wege zum Besseren aus. „Doch Geduld, es hat sich in meinem Leben schon so manches Wunderbare zugetragen, das am Ende immer gut war, daß ich gewiß hoffe, man spielt jetzt am 4. Akt, der 5. ist nahe, es entwickelt sich und geht alles brav und gut.“
Es hat sich in neuerer Zeit die Fabel gebildet, Goethe habe es leicht gehabt, in Kunst und Leben voran zu kommen, da er ein reicher Frankfurter Patriziersohn gewesen sei, dem die Laufbahn geebnet war. Und auch seiner glücklichen Mutter wird nachgesagt, daß eine so vom Schicksal bevorzugte Frau keine besondere Kunst nöthig gehabt habe, um sich als Meisterin des Glücks zu bewähren. Das gerade Gegentheil ist aber der Fall. Ihre gesunde Frohnatur hat erst im läuternden Feuer des Unglücks ihre Geschmeidigkeit und Widerstandskraft gewonnen. Ihrer Ehe mit dem viel älteren, ernsten und strengen Rath Goethe fehlte von vornherein das Glück der echten vollen Liebe. Und welche Schmerzen hat sie auch als Mutter durchlebt! Sechs Kindern gab sie das Leben, drei Knaben und drei Mädchen; vier davon starben früh, aber doch nicht eher, als bis ihr herziges Dasein der Mutter ein Besitz geworden war, dessen Verlust sie aufs tiefste erschüttern mußte. Was dann die beiden überlebenden betrifft, Wolfgang und Kornelie, so hat ihr Erstgeborner, ihr „Hätschelhans“, der ihr später so stolzes Glück bereiten durfte, in seiner Kindheit und Studentenzeit ihr unendlich viel Sorgen gemacht, während die Tochter mit früh verdüsterter Seele ihrer Frohnatur den Widerhall versagte, nach dem sie so sehnlich verlangte.
Und in diesem Schicksal spiegelte sich der Zwiespalt, in dem sie sich mit dem Gatten überhaupt befand. „Kinder brauchen Liebe“, dieser schöne Spruch Lessings war Anfang und Ende ihrer Erziehungskunst; Zucht und Strenge war dagegen der leitende Gesichtspunkt des grämlichen Mannes, der mit aller Gewalt die Nutzanwendung eines verfehlten Lebens seinen Kindern zu gute kommen lassen wollte. Der Titularrath Goethe war keineswegs ein Patrizier, sondern eines reichen Handwerkers Sohn. Er hatte sich umsonst um ein städtisches Amt beworben; der kaiserliche Rathstitel war jetzt ein Schild, das nach außen hin ein Leben deckte, dessen reiche Kräfte sich in keinem Amt und Beruf ausleben konnten. Gelehrte Liebhabereien mußten ihm einen Ersatz bieten, und als die Kinder heranwuchsen, erhob er ihre Erziehung zum Beruf. Dabei entwickelte sich jener Gegensatz der Eltern zum ungesunden Extrem; wo der Vater durch Zwang vorgesetzte Ziele zu erreichen trachtete, wollte die Mutter nur dem freien Wachsthum der Natur fördernd und hütend nachhelfen. Er gehörte zu „jenen unfrohen Naturen, die den Genuß des Lebens als etwas Strafbares ansehen“, Frau Aja betrachtete den freudigen Genuß des Lebens als den menschenwürdigsten Gottesdienst. Nach welch pedantisch herzlosen Grundsätzen der alte Rath seinen Sohn erzog, erhellt zur Genüge aus dem einen Beispiel, daß dieser als Student in Leipzig auf Befehl des Vaters seiner Mutter nicht schreiben durfte. Diese Methode, aus der sich auch sein Geiz dem Sohn gegenüber erklärt, brach der Tochter Kornelie den jungen Lebensmuth in seiner ersten Entfaltung; sie wurde ein in sich gekehrtes, altkluges, freudloses Mädchen. Den feurigen Sohn machte sie zum Rebellen im Vaterhaus, und ohne die Mutter wäre es mehr als einmal zum völligen Bruch zwischen Vater und Sohn gekommen. Als „Götz“ und „Werther“ den Namen Goethe zu einem gefeierten machten, konnte der Sohn die Rechnungen für den Druck dieser Bücher nur mit heimlich geliehenem Gelde bezahlen, und der Vater jammerte, weil er seine Advokatenpraxis vernachlässigte. Was hatte Frau Aja in all den Zeiten zu vermitteln, auszugleichen, mit heiterem Wort und weicher Hand zu glätten und zu mildern! und dann kam das lange Siechthum des früh gealterten, vom Schlage gerührten Mannes!
Wie sehr die Verhältnisse im Goetheschen Vaterhause geeignet waren, den Lebensmuth auch einer starkherzigen Frau zu beugen, das wird uns nun erst recht klar, da wir in Heinemanns Buch alles im Zusammenhang dargestellt finden. Erst jetzt zeigt sich, in welch’ hohem Grade die fröhliche Lebensweisheit der Frau Aja erkämpft, einer Welt schmerzlicher Erfahrungen abgerungen war. Es zeigt sich ferner, daß sie ebenso in der späteren Zeit, in der sie in freier Selbständigkeit ihr Witwenleben gestalten konnte und an den Triumphen und Dichterthaten ihres Sohnes eine Quelle [115] überschwänglichen Glückes hatte, nur einer bewundernswürdigen Selbstbeherrschung den Frohsinn verdankte, der ihr Dasein verklärte. In der langen langen Zeit ihrer Witwenschaft hat sie der Sohn nur dreimal besucht! Und wie hat sich ihr Herz in all diesen Jahren nach ihrem herrlichen Wolf gesehnt, wie ist sie aufgegangen in ihm und eingegangen mit feinstem Verständniß in all sein Thun und Beginnen.
Aber auch diese Wehmuth der Einsamkeit vermochte sie mit ihrer tröstenden Philosophie in die Flucht zu schlagen: „Alle Freuden, die ich jetzt genießen will, muß ich bei Fremden, muß ich außer dem Hause suchen – denn da ist’s so still und öde, wie auf dem Kirchhof – sonst war’s freilich ganz umgekehrt. Doch da in der ganzen Natur nichts an seiner Stelle bleibt, sondern sich in ewigem Kreislauf herumdreht – wie könnte ich mich da zur Ausnahme machen – nein, so absurd denkt Frau Aja nicht. Wer wird sich grämen, daß nicht immer Vollmond ist, und daß die Sonne jetzt nicht so warm macht wie im Julius – nur das Gegenwärtige gut gebraucht und gar nicht dran gedacht, daß es anders sein könnte; so kommt man am besten durch die Welt – und das Durchkommen ist doch (alles wohl überlegt) die Hauptsache.“
Goethes bekannte „Lebensregel“
„Willst du dir ein hübsch Leben zimmern,
Mußt dich ums Vergangne nicht bekümmern,
Das Wenigste muß dich verdrießen;
Mußt stets die Gegenwart genießen,
Besonders keinen Menschen hassen
Und die Zukunft Gott überlassen –“
hat nur in Verse gefaßt, was seine Mutter hier und immer aufs neue als ihres Lebens Regel verkündigt hat. Und so finden wir die Frohnatur der Mutter wieder und wieder zu ewigem Leben verdichtet in der frohen Kunst des Sohnes. Aber wäre diese Frau auch nicht die Mutter des großen Dichters gewesen, die Zeugnisse ihres Lebens würden trotzdem ihre bleibende Bedeutung haben. Andere haben sich „lachende Philosophen“ genannt, aber ihr Lachen war ein gezwungenes, vom Verstande erpreßt: Frau Aja wollte keine Philosophin sein, hat keine Bücher über die Kunst zu leben geschrieben und doch war sie voll echter Lebenskunst und Lebensweisheit, eine lachende Philosophin, deren Lachen von Herzen kam und darum auch herzhaft klang, das mit seiner ansteckenden Kraft berufen ist, noch in vielen Seelen widerzuklingen und gute Dinge auszurichten.
Dem reich ausgestatteten Heinemannschen Buche, an welchem nur zu bedauern bleibt, daß der schöne, sorgfältig gesammelte und geordnete Stoff in ihm keine abgerundetere Gestaltung gefunden hat, verdanken wir auch die Kenntniß des Familienbildes, das Rath Goethe im Jahre 1762 von seinem Freunde, dem Darmstädter Seekatz, hat malen lassen. Auch dieses Bild ist durch Bettina von Arnim der Nachwelt erhalten worden und hat erst neuerdings die Beglaubiguug seiner Echtheit erfahren, Bettinas Schwester, Meline von Guaita, erstand es nach dem Tode der Frau Rath für Bettina, aus deren Nachlaß es in den Besitz ihres Schwiegersohnes Herman Grimm überging. Erst seit kurzem besitzen wir Zeugnisse dafür, daß dies Bild wirklich die Familie des Kaiserlichen Rathes Johann Kaspar Goethe darstellt, was die arkadische Tracht und die nach Italien verweisende landschaftliche Staffage zweifelhaft gemacht hatten. Erstere aber entsprach dem Geschmack der Zeit und des Malers, letztere der Vorliebe für Italien, die der junge Goethe ja von seinem Vater geerbt hatte. Auf große Aehnlichkeit hat dies einzige auf uns gekommene Bild der jungen „Frau Rath“ wohl wenig Anspruch zu machen, aber in Haltung, Gebärde und Ausdruck finden wir doch lebensvoll jenen Geist ursprünglicher innerer Sicherheit und Empfindungskraft verkörpert, mit welchem Frau Aja in Glück und Unglück allezeit ihrer Frohnatur die Treue gehalten hat.
Die Astronomie auf der Straße.
Unsere Leser haben durch die in Halbheft 10 und Halbheft 24 des vorigen Jahrgangs gegebenen Anleitungen schon einigermaßen eine feste Stellung gewonnen inmitten der verwirrenden Massen von Sternen, die von dem nächtlich dunkeln Himmelsdome zu uns herniederstrahlen. Wir wollen versuchen, weiter in die Kenntniß dieser Wunderwelt einzudringen. Ein drittes Theilkärtchen möge diejenige Gegend des gestirnten Himmels herausheben, welche durch die Sternbilder des Großen Bären, des Großen Löwen, des Raben, der Jungfrau, des Bootes und der Krone gekennzeichnet ist. Denkt man sich die Linie, welche die beiden Sterne 1 und 2 des Großen Bären verbindet und welche früher zur Auffindung des Polarsterns diente, nach der dem letzteren entgegengesetzten Seite verlängert, so weist dieselbe nach der ungefähr in Trapezform angeordneten Sterngruppe des Großen Löwen, von welcher schon früher die Sterne Regulus und Denebola hervorgehoben wurden.
Verlängert man ferner den Bogen, der die Sterne 5, 6 und 7 an der Deichsel des Großen Wagens (dem Schwanz des Großen Bären) verbindet, etwa um das Doppelte, so stößt man auf Arktur im Sternbild des Bootes. Jeder, der zum ersten Male mit Hilfe von einfachen Orientierungslinien eine oberflächliche Kenntniß des Nachthimmels sich zu erwerben sucht, wird später zugeben, daß jener Bogen von der Deichsel des Großen Wagens aus das bequemste Mittel zur Auffindung des Arktur an die Hand giebt, und der Laie wird gut daran thun, diesem Stern gleich anfangs besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden, da er, als einer der glänzendsten Sterne des ganzen nördlichen Himmels, besonders in die Augen fällt. Arktur ist von röthlicher Farbe und mit starker Eigenbewegung begabt: er ist einer der Sterne, an denen zuerst Halley im Jahre 1719 die selbständige Bewegung der Fixsterne wahrnahm.
In seiner weiteren Fortsetzung leitet jener Bogen, der zu Arktur führte, nach der Spica (Kornähre) in der Jungfrau und weiterhin nach dem Sternbild des Raben, einer in Vierecksform stehenden Gruppe von vier ungefähr gleich hellen Sternen.
Unweit von Arktur, zwischen diesem und dem Löwen, erkennt man den „das Haar der Berenice“ genannten Sternnebel; schon mit bloßem Auge ist derselbe in eine Summe von vielen kleinen Sternen aufzulösen; Heis zählte deren siebzig, die aber alle unter vierter Größe sind; auch mehrere Doppelsterne befinden sich darunter. Der Name „Haar der Berenice“ stammt von Konon, einem Freund des Archimedes, der damit die Gemahlin des Ptolemäus Euergetes, Königs von Aegypten, verewigte.
Auf der andern Seite des Arktur befindet sich die treffend so genannte „Krone“ mit dem Hauptstern Gemma (Edelstein); die am deutlichsten sichtbaren Sterne der nördlichen Krone sind ziemlich genau in Form eines nach Norden offenen Halbkreises angeordnet; Heis, der wegen der Schärfe seiner Augen berühmt war, zählte in dem Sternbild ohne Fernrohr einunddreißig Sterne, alle von der dritten Größe und darunter; unter ihnen befinden sich mehrere regelmäßig veränderliche Sterne und Doppelsterne. In der Nacht vom 12. auf den 13. Mai 1866 entdeckten Birmingham und Fergubar in der Krone einen neu aufflammenden Stern von mehr als zweiter Größe, fast so hell wie Gemma; aber schon in derselben Nacht nahm seine Größe rasch ab und nach neun Tagen war er bereits dem bloßen Auge unsichtbar geworden. Es zeigte sich nachträglich, daß er schon früher von Argelander als ein Stern neunter bis zehnter Größe verzeichnet worden war; gegenwärtig ist er noch mit dem Fernrohr zu beobachten und wird als der Stern T in der nördlichen Krone aufgeführt.
Wem die obige Angabe zur Auffindung des Sternbilds der Krone nicht genügt, der möge die Sterne 2 und 7 des Großen Bären in Gedanken durch eine Linie verbinden; diese geht in ihrer Verlängerung über 7 hinaus ungefähr durch die Krone.
Der erwähnte Arktur zeigt eine entschieden röthliche Färbung, weshalb er oft genug von unkundigen Laien mit dem Planeten Mars verwechselt wird. Wir benutzen diese Gelegenheit, über die Farben der Fixsterne überhaupt einige Bemerkungen anzufügen.
Die Zahl der Sterne, welche außer den weißen mehr oder weniger bestimmt in Farben wie blau, roth, gelb, grün erscheinen, ist nicht unbeträchtlich; allein an rothen einfachen Sternen werden gegenwärtig mehr als sechshundert gezählt. Manche scheinen regelmäßig sich wiederholenden Veränderungen ihrer Farbe unterworfen zu sein, wieder andere dauernden Aenderungen.
Die Alten erwähnen nur weiße und rothe Sterne; roth nennen sie z. B. Arktur, Aldebaran, Pollux, Alpha im Orion und merkwürdigerweise auch Sirius, der doch heutzutage unzweifelhaft glänzend weiß erscheint. Als Gewährsmann hierfür wird meist Ptolemäus angeführt, der von Sirius als einem Stern spricht, welcher „noch röther als Mars“ sei; Schjellerup behauptet, daß diese Angabe des Ptolemäus über die Farbe [116] des Sirius von späteren Bearbeitern des Almagest ihm unterschoben worden sei; allein da auch andere alte Schriftsteller wie Cicero, Horaz und Seneca den Stern als roth aufführen, so scheint es sich in der That beim Sirius um ein Beispiel fur eine in geschichtlicher Zeit erfolgte Farbenänderung zu handeln.
Eine besondere Beachtung wurde von Seiten der Astronomen den farbigen Doppelsternen geschenkt; die beiden Sterne eines Doppelsterns sind nämlich meist von sehr ungleicher Helligkeit und von ungleicher Farbe; in der Mehrzahl der Fälle ist der größere röthlich oder gelblich, der kleinere grünlich oder bläulich. Arago giebt eine Zusammenstellung einer großen Anzahl von solchen Sternenpaaren, die meist unter sich verschiedene Farben aufweisen; er vermuthet, daß bei manchen Paaren die blaue oder grüne Färbung des kleineren Sterns nichts Wirkliches, sondern das Ergebniß einer optischen Täuschung, eine bloße Gegensatzwirkung sei, welche darauf beruhe, daß ein schwaches weißes Licht bei Annäherung eines starken rothen Lichts grün erscheine und in Blau übergehe, wenn das benachbarte helle Licht gelblich sei. Durch einen einfachen Versuch will er die Fälle, wo bloße Täuschung vorliegt, von denen, wo jene Färbung eine thatsächliche ist, von einander trennen: er verdeckt durch einen Faden oder eine Blende im Innern des Fernrohrs den Hauptstern des Paars; verliert dann, sagt er, bei der Bedeckung des größeren Sterns der kleinere seine Farbe und erscheint weiß, so war die grüne oder blaue Färbung, in der er sich zeigte, wenn beide Sterne gleichzeitig sichtbar waren, nichts als eine Täuschung, andernfalls ist die Färbung als eine wirkliche anzunehmen.
Eine Erklärung für die Farbenänderungen an Sternen hat Zöllner versucht, und diese Erklärungsweise ist zusammen mit derjenigen einer Reihe von anderen merkwürdigen astrophysikalischen Erscheinungen in einer umfassenden Hypothese enthalten, welche Zöllner für die allmähliche Entwicklung der Weltkörper überhaupt aufgestellt hat und welche wir hier in aller Kürze wiederholen. Er nimmt auf Grund von spektralanalytischen Untersuchungen fünf Entwicklungsphasen an, die jeder Weltkörper zu durchlaufen habe: erstens die Periode des glühend-gasförmigen Zustands (Sternnebel), zweitens die Periode des glühend-flüssigen Zustands (Fixsterne ohne wahrnehmbare Helligkeitsänderungen), drittens eine Zeit der Rothgluth und der Schlackenbildung, wobei sich eine Kruste auf dem Weltkörper, eine nichtleuchtende kältere Oberfläche zu entwickeln beginnt (Erklärung der Sonnenflecken), viertens eine Periode der Eruptionen, während welcher durch den Druck der inneren heißen Massen die erkaltete Oberfläche gewaltsam gesprengt wird (allmähliches Verschwinden von Fixsternen als Folge der Krustenbildung, bezw. plötzliches Aufleuchten eines scheinbar neuen Sterns als Folge von Ausbrüchen), fünftens eine Periode der vollendeten Erkaltung.
Wir geben diese Hypothese vorläufig ohne weitere kritische Betrachtungen
wieder. Langanhaltende Beobachtungen, besonders mit Hilfe
der Spektralanalyse und der Photographie, werden vielleicht in der
Zukunft die astronomische Wissenschaft auch einer alle Erscheinungen umfassenden
Erklärung für die Farbenverschiedenheiten der Fixsterne näher
bringen. Dr. C. Cranz.
Der Zeitgeist im Hausstande.
Von R. Artaria.
(3. Fortsetzung.)
Eine Stunde später war der „Donnerstag“ auf seiner Höhe
angekommen, der Salon wollte die Menge der Gäste nicht
fassen, man mußte das Nebenzimmer öffnen. Frau von Düring
strahlte förmlich, sie überblickte, nachdem alle vorgestellt, untergebracht
und mit Thee versorgt waren, voll Genugthuung das Ganze und
sagte zu ihrer Nachbarin auf dem Sofa:
„Sehen Sie, liebe Excellenz, das ist doch ein ungeheurer Vorzug dieser Kunststadt, daß man so leicht interessante Menschen um sich haben kann. Zu uns drängen sie sich ja auch förmlich, besonders seit Vilma neulich auf dem Bazar solches Aufsehen gemacht hat. Es wird dem Kinde überhaupt in einer Weise gehuldigt … ganz merkwürdig, sage ich Ihnen …“
Die kleine gelbe Excellenz wußte genau, was nun weiter folgen würde, sie hörte also gar nicht hin, sondern schaute aus zusammengekniffenen Augen zu der Stelle hinüber, wo Vilma im lebhaften Gespräch mit Thormann etwas abgesondert von den übrigen stand.
„Ach so – eine neue Aussicht,“ dachte sie. „Also deshalb ist die gute Düring so aufgeregt. Hm, eine vornehme Erscheinung ist er gerade nicht, dieser Herr Maler, aber Vilma muß ja für jede gute Partie dankbar sein; wollen abwarten, ob sie ihn wirklich fängt …“
Zwischen den Gästen durch lief Hedy, um auf japanischen Schalen dünne Kuchenschnittchen und Brötchen, mit billiger Wurst belegt, anzubieten. Ihre schwarzbestrumpften Beine sahen etwas storchartig unter dem kurzen Röckchen hervor, aber Frau von Düring hielt darauf, bei ihrer Jüngsten den kindlichen Anstrich noch für einige Zeit aufrecht zu erhatten. –
Die „Interessanten“ hatten sich mittlerweile, einem gewissen Ahnungsvermögen folgend, aus der aristokratischen Region weg an den Mitteltisch verzogen, wo Paula den Thee eingoß, und waren bald in lebhafter Unterhaltung begriffen. Hier saß, in der Erwartung, daß Thormann auch dazu komme, Karoline Wiesner, dann Emmy, die für die ernste Paula eine große Vorliebe hatte, neben ihr der Medizinalrath, auch Doktor Seiler, der Journalist, war dabei. Vor ihm empfand Emmy eigentlich eine gewisse Scheu, denn er galt für eine böse Zunge, weil er gewöhnlich das sagte, was die anderen dachten. Sie blickte nach Hugo aus, er saß fest am Tisch der Excellenzen und entwickelte dort die untadelhafte Liebenswürdigkeit, welche der Stolz seiner Gattin war und sie für manches abgekürzte Verfahren in der eigenen Häuslichkeit tröstete. –
Die Erzählungen über das, was man in letzter Zeit „mitgemacht“ hatte, wurden ausgetauscht; Doktor Seiler erklärte es für ein traumhaftes Ideal, einmal wieder um elf Uhr nach dem Genuß einer guten Cigarre ruhig zu Bett gehen zu können.
„Dieses Glück genieße ich jeden Abend,“ sagte lächelnd Thormann, der nun auch seinen Sitzplatz einnahm, während Vilma sich für eine Zeitlang nach dem Zimmer der Jugend wandte. „Ich glaube aber nicht, daß Sie es lange aushalten würden, Herr Doktor!“
Dieser schlug nur schwärmerisch die Augen nach der Decke auf.
„Nun, wie war’s denn gestern bei Wenkheims?“ fragte ihn zu gleicher Zeit Emmy. „Haben Sie sich gut unterhalten, war es hübsch?“
„Unterhalten, meine Gnädige –“ er rückte den Kneifer höher und betrachtete sie erstaunt – „wie kommen Sie zu dieser seltsamen Frage? Unterhält man sich hier irgendwo bei einem Souper? Dann bitte, geben Sie mir die Adresse, daß ich schleunigst dort Besuch mache, ich möchte das gerne auch einmal erleben.“
„Sie können doch das Uebertreiben nicht lassen,“ sagte nun Linchen. „so schlimm kann es nicht gewesen sein!“
„Nicht schlimmer als gewöhnlich, aber doch sehr schlimm! Es ist ja immer dasselbe Elend: erst ein unangenehmes Herumstehen in einer Stube, die nur für halb so viele Platz hat, als drin sind, die Damen natürlich in einer Reihe auf dem Sofa und den Stühlen sitzend. Daß nicht eine jemals auf den Gedanken kommt, mit ihrer Theetasse aufzustehen und in das Gebiet der schwarzen Fräcke überzureten –“
„Das möchte ihr schön bekommen,“ lachte Emmy.
„Dann das Souper, der Haupt- und Glanzpunkt! Ein langer Tisch voller Leute, die ihre Ellbogen nicht rühren können; man macht krampfhaft Unterhaltung, eingekeilt zwischen zwei ältlichen –“
„Vorsicht!“ rief der Medizinatrath.
„Na ja, ich sage nichts weiter. – So geht es also fort bis zu Käse und Butter, ein paar schlechte Trinksprüche müssen auch noch angehört werden, und das heißen gebildete Menschen ein Vergnügen! Wenn man sich nicht hinterher im Rauchzimmer etwas davon erholen könnte, wäre es nicht auszuhalten.“
„So!" rief nun Emmy, zu erbost, um noch Furcht zu empfinden, „so, da kommen Sie mir gerade auf das rechte Gebiet, Herr Doktor! Dieses Ihr geliebtes Rauchzimmer ist eine ganz abscheuliche Einrichtung, daß Sie es nur wissen! Sonst fing nach dem Souper eine hübsche Unterhaltung an –“
„Die Töchter des Hauses musizierten!“ warf er sarkastisch dazwischen.
„– und die Herren machten wenigstens den Versuch, liebenswürdig zu sein! Heute aber – wie unhöflich! – rennen sie ins Rauchzimmer, um zu Geschäftsgesprächen zusammen zu hocken und die Frauen im Nebenzimmer gänzlich unbeachtet zu lassen.“
„Ei, diese können sich ja ebenfalls untereinander vortrefflich unterhalten!“ lachte er heimtückisch.
[117]
[118] „Das thun sie auch, natürlich! ... Aber es ist doch wahrhaft komisch, sie mit ihren Männern einzuladen und dann abgesondert in ein Zimmer zu setzen. Wissen Sie, was die Männer ihnen mit einer solchen Gewohnheit stillschweigend sagen: um des Essens willen sind wir gekommen, das ist nun vorüber. Solange ihr jung und schön waret, thaten wir dergleichen, uns mit euch zu unterhalten. Nun an euch nichts mehr zu sehen ist, haben mir euch auch nichts mehr zu sagen, denn interessante Gespräche kann man mit Frauen nicht führen.“
„Ich glaube, Du thust den Männern Unrecht,“ sagte Linchen seelenruhig. „Sie sind meistens nach Tisch viel zu faul, um interessante Gespräche führen zu können!“
„Das war ein tiefes Wort, liebe Freundin,“ versetzte der Medizinalrath. „Aber außerdem erlauben Sie mir in aller Bescheidenheit noch hinzuzufügen, daß man solche Gespräche nicht gern vor Frauen führt, weil sie dieselben nicht verstehen. Sie sind völlig undiscipliniert für eine bedeutendere gesellige Unterhaltung. Ereignet sich der seltene Fall, daß einer anfängt, sachlich zu reden, so kann man darauf schwören, daß sofort zwei bis drei Damen ein Privatgespräch mit ihren Nachbarn beginnen. Thut man ihnen dann wirklich so Unrecht mit der Vermuthung, daß das Interessante sie nicht interessiere?“
„Jawohl thut man das,“ rief die Vorkämpferin ihres Geschlechts, „denn das Sachliche sind gewöhnlich Geschäfts- oder Dienstgespräche, die ohne Rücksicht auf uns geführt werden. Gerade umgekehrt verhält es sich, als wie Sie sagen! Die Männer haben keinen Sinn mehr für das allgemein Interessante, sie stecken in ihrem besonderen Fach, lesen nur ihre Zeitung, kümmern sich nichts um Kunst und Litteratur – ich behaupte geradezu, sie sind schuld an dem Niedergang der Geselligkeit!“
„Und den Hauptschuldigen vergessen Sie alle beide,“ fiel Thormann ein, der dem Streite bisher still belustigt zugehört hatte.
„Noch einer!“ rief der Doktor, „heraus mit ihm, damit er als Prügelknabe für beide Geschlechter diene! Wer ist es?“
„Nun, ich denke, die Gesellschaft selbst, die sich so sonderbar entwickelt hat. Warum müssen die Leute so oft auf diese Weise zusammenkommen, wenn sie nichts miteinander zu reden haben? Ich behaupte, ein denkender und arbeitender Mensch braucht nur ein sehr bescheidenes Maß von Gesellschaft, das heißt: von solcher Art. Einfaches Zusammenkommen, ein Gespräch unter ein paar guten Freunden, das ist eine andere Sache, das ist, was ich Geselligkeit nenne!“
Er sah, während er dies sagte, ruhig vor sich hin und konnte deshalb den glänzenden Blick nicht bemerken, der aus Paulas Augen auf ihn herüberfiel. Wie oft hatte sie inmitten ihrer öden Welt hier sehnsuchtsvoll das Gleiche gedacht, nun sprach es jemand offen aus! Sie mußte an sich halten, um jetzt nicht in lebhafte Zustimmung auszubrechen, aber ein einziger Gedanke, wieviel Zuvorkommenheit den Männern gegenüber in diesem Salon bereits ausgeübt werde, gab ihr die kühle Haltung wieder. Von ihr wenigstens sollte das niemand sagen!
„Mein Verehrtester,“ erwiderte indessen der Doktor, „Sie sprechen von einem zu hohen Standpunkt aus. Der schwache Mensch hat nun einmal das Bedürfniß, zu gewissen Zeiten mit seinesgleichen essend und trinkend zusammenzusitzen; von der Bauernhochzeit an bis zu unseren Unterhaltungsgesellschaften ist dieser Grund immer der gleiche!“
Da Thormann nur schweigend mit den Achseln zuckte, sagte Linchen: „Gut, dann soll unsere vielgepriesene Bildung diesen Grund wenigstens etwas besser verhüllen. Von allen Seiten stopft man die Leute voll mit Wissenschaft und Kunst, sie erleben die merkwürdigsten politischen und sozialen Veränderungen, sehen in einem Jahr mehr als unsere Vorfahren in zwanzig und können trotzdem, wenn sie beisammen sind, nur vom Theater oder vom Wetter reden. Mir kommt es immer zu sonderbar vor, wenn ich ihre Klagen über gesellige Langeweile höre.“
„Nun freilich,“ meinte der Medizinalrath. „Am lautesten schreien immer die, welche am wenigsten zur Unterhaltung beitragen, und die sind überall in der Mehrzahl. Wo es anders war, in jeder durch ihre Geselligkeit berühmten Zeit, da gaben eben eine handvoll geistreicher Leute den Ton an und beherrschten die anderen. Sind jene fort oder tot, so ist’s wieder aus; bei dem gewohntichen Menschen setzt sich Bildung nicht in Gedanken um.“
Doktor Seiler stimmte lebhaft zu. Beiden entgegnete Emmy mit gerötheten Wangen:
„Sie werden mich für sehr verwegen halten, wenn ich jetzt nochmals für uns Heutige spreche. Ich habe ein starkes Gefühl dafür, daß wir unserer Zeit verpflichtet sind und daß unsere Gleichgültigkeit ihre Uebel vermehrt. Die Gesellschaft, über die wir klagen, sind wir alle selbst, uns trifft die Verantwortung für ihre Langeweile, wir könnten sie sehr vermindern, wenn wir etwas mehr Rücksicht und freundliches Wohlwollen unter uns erwecken würden. Geistreiche Leute sind selten, gewiß, daraus folgt aber noch nicht, das der mittelmäßig Begabte das Gleichgültigste, Zufälligste, das ihm gerade einfällt, an seine Mitmenschen hinreden darf. Man macht körperlich Toilette für Gesellschaften, sollte man sie nicht auch geistig machen, nicht das in der Unterhaltung vermeiden können, was völlig verbraucht und selbstverständlich ist? Soll man sich nicht erinnern, das der Gastgeber für die Freundlichkeit der Einladung wohl die Gegenleistung einer thätigen Theilnahme an der Unterhaltung beanspruchen kann? Wenn die Gäste dessen eingedenk wären und die Wirthe von dem ihnen zustehenden Rechte Gebrauch machen wollten, das Gespräch ein wenig zu führen und auf bedeutendere Dinge zu lenken – dann käme doch wohl auch für mittlere Menschen eine schöne erfreuliche Geselligkeit heraus, die das Essen und Trinken nicht als Hauptsache ansehen würde und das Rauchzimmer entbehren könnte.“
„Das wuSte ich,“ sagte der Medizinalrath lachend, „daß schließlich noch der ‚besagte Hammel‘ seinen Tritt bekommen würde. Gut denn – Sie sollen recht behalten„ schreiten wir zur Besserung! Natürlich müssen die Damen dann die Cigarren bei sich im Zimmer dulden –“
„Als ob die deutschen Frauen daran nicht schon längst gewöhnt wären, Sie Heuchler!“
„Dann hängen wir eine Tafel über das Sofa: ‚Kinder-, Toiletten- und Magdgespräche sind verboten‘.“
„Und an die Wand gegenüber: ‚Börsen-, Fakultäts- und Dienstgespräche ebenso‘.“
„Hierauf erinnere sich die gebildete Hausfrau ihrer geselligen Aufgabe: möglichst vorzüglich zu kochen, ein hübsches Gespräch auf die Beine zu bringen und dann – bescheiden zu schweigen, wenn ‚kluge Männer‘ reden!“
„Er ist unverbesserlich!“ rief belustigt die Malerin, aber ehe sie noch etwas hinzufügen konnte, erklang vom Jugendzimmer her eine scharfe hohe Sopranstimme, begleitet von den Tönen eines altersschwachen Flügels.
„O Gott!“ seufzte Doktor Seiler halblaut; Emmy und Linchen suchten um Paulas willen harmlos erfreute Mienen zu machen, und die erstere fragte: „Wer singt denn drinnen?“
„Frida Gersdorff, wie es scheint,“ erwiderte Paula frostig, dann stand sie rasch auf und wandte sich zu der Gruppe von jungen Mädchen, die nun in lichten Kleidern über die Schwelle hereindrängten, um ohne Verletzung der Schicklichkeit weiter plaudern und lachen zu können.
„Ja,“ sagte Linchen, während drinnen der „Mo–ho–hondesglanz“ in einem gis, welches halb g war, „hereinschien“ – „das ist die Frucht der theuer erkauften Stunden. Ich habe bis jetzt lauter Erfolge gesehen, bei deren Anhören man lieber aus dem Zimmer ging. Muß das Unglückswurm auch noch singen, es wäre an ihren übrigen Eigenschaften schon vollständig genug!“
Auf der Schwelle erschien jetzt Mister Francis und spähte nach Vilma aus, die ihm entschlüpft war, um Paulas verlassenen Platz am Tische dort einzunehmen. Bisher hatte er drinnen seine heißen Flammen an ihrem berückenden Lächeln und Blick genährt, das gedachte er fortzusetzen und trat hinter ihren Stuhl. Welch ein langweiliges Gespräch sie da führten! Und das entzückende Mädchen machte dabei gegen „den Alten“ ein verehrungsvolles Gesicht, welches Francis durchaus mißfiel. Er fühlte das Bedürfniß, mit etwas ordentlich Greifbarem diese Unterhaltung zu durchkreuzen, und sobald eine Pause von zwei Athemzügen Länge eintrat, beugte er sich vor und fragte ohne Umstände, ob Vilma morgen mit ihm Schlittschuh laufen wolle. Thormann betrachtete den kecken Burschen von der Seite, Vilma aber sagte: „Die Bahn ist ja noch gar nicht offen.“
„O doch, ich habe heute gelaufen schon.“
„Aber es ist ja polizeilich verboten!“ rief Emmy.
„O ja, Polizei verboten, dennoch es war ein sehr gutes skating. Polizei nicht konnte laufen als schnell als ich ...“
[119] Alle lachten, Francis blieb dabei, die Bahn werde morgen eröffnet, allein Vilma belehrte ihn mit soviel sittiger Würde, daß sie als junges Mädchen nicht mit einem jungen Herrn ohne Begleitung aufs Eis gehen möchte, und nickte ihm dabei so kurz verabschiedend zu, daß der verliebte Heißsporn nothgedrungen seinen Rückzug nehmen mußte. Thormanns helle Augen strahlten freundlich warm zu ihr hinüber. Das war endlich einmal wieder nach seinem Sinn, im übrigen behagte ihm die Atmosphäre dieses Salons sehr wenig und vor allem nicht die Herrin desselben, deren übertriebene Zuvorkommenheit ihn geradezu anwiderte.
„Sie ist Deine, sie ist Dein!“ klang inzwischen die tröstliche Schlußversicherung von drinnen her; ungemessenes Bravo aller derer folgte, welche den Gesang jämmerlich gefunden hatten. Man erhob sich allerseits, viele drängten ins Musikzimmer und bestanden heldenmüthig auf Fortsetzung der Qual. Aber es fehlte an weiteren Ausübenden: das eine Fräulein „genierte sich“, das andere hatte keine Noten da, Vilma selbst war nicht musikalisch. Plötzlich ertönte der Ruf: „Paula! Paula soll Violine spielen!“ Man stürzte sich auf das blasse Mädchen, das mit scharf zusammengezogenen Brauen in fast feindlicher Haltung dastand und auf alles Drängen nur mit kurzer Verneinung antwortete.
„Was für ein seltsam herbes Geschöpf,“ sagte leise Thormann zu dem Medizinalrath, „man sollte sie wahrhaftig nicht für die Schwester dieser reizenden Vilma halten.“
„Sie ist ein vollkommener Blaustrumpf,“ entgegnete dieser ebenso. „Will Medizin studieren, allein die Alte leidet’s nicht, ist so schon unglücklich genug über dieses Kuckucksei in ihrem Neste!“
„Aber Fräulein Paula, warum wollen Sie sich denn durchaus nicht hören lassen?“ bat jetzt einer der jungen Leute.
„Weil ich es nicht liebe, mich lächerlich zu machen,“ erwiderte sie schroff. „Das thut jeder, der seine ungenügende Fertigkeit zur Schau stellt. Lassen Sie mich, ich spiele sicher nicht!“
„Nun sehen Sie, so ist sie wieder,“ klagte voll Entrüstung die gleichfalls herbeigekommene Mama. „Statt es unseren lieben Gästen angenehm zu machen, gerade jetzt, wo alles so munter ist, diese unfreundliche Weigerung! Das ist wirklich häßlich von Dir, Paula!“
„Mama,“ flehte diese mit todbleichen Wangen, „ich bitte Dich!“ – und die Mutter, welche dieses Sprühen der Augen bei ihr kennen mochte, verzichtete verdrießlich auf weiteres. In demselben Augenblick flüsterte ihr Hedy ins Ohr: „Vilma kann ja tanzen!“ und Frau von Düring fuhr elektrisiert herum. „Ja, Du hast recht, mein Goldkind – Vilma, höre – meine Herrschaften, eine kleine Weile Geduld, dann sollen Sie eine Wiederholung des Schleiertanzes sehen, der neulich in der Pantomime auf dem Adlersbergschen Ball solches Aufsehen machte.“
„Aber Mama,“ rief Vilma in den allseitigen Beifall hinein, „wie kannst Du nur daran denken? Hier, allein ohne die anderen Mitwirkenden, ohne alle Stimmung dafür –“
„O, die Stimmung ist vorhanden,“ rief begeistert Francis und ihm nach ein halbes Dutzend junger Herren.
„Du tanzest Dein Solo!“ entschied die Mama. „Geh, drapiere Dich ein bißchen und komm schnell zurück! Frida kann dazu spielen, dort liegen ja noch die Noten!“
Thormann wartete auf eine entschiedene Ablehnung und fühlte sich unangenehm berührt, als Vilma mit einem der jungen Mädchen zu flüstern begann und dann, diese nachziehend, leichtfüßig aus dem Zimmer eilte.
Aber seine Stimmung hielt nicht an, als nach einer von der Jugend mit Gesellschaftsspiel ausgefüllten Viertelstunde draußen Tamburingerassel ertönte, Frida ans Klavier eilte und unter einem rauschenden Balletsatz Vilma ins Zimmer schwebte. Welch entzückendes Geschöpf! Feine schmiegsame Gewänder, goldgegürtet, zeigten ihren edlen Wuchs, goldene Ringe klirrten an ihren feinen Knöcheln und umspannten die bloßen Arme; ein duftiger Schleier, durchsichtig wie Spinnweb, umhüllte reizend Kopf und Gesicht und fiel bis zu den Füßen nieder. Die Hand mit dem Tamburin hing lässig zur Seite, nun erhob sie dieselbe und begann im Takt der Musik langsam hin und herzuschreiten. Aber bald wurden die Bewegungen schneller, sie warf das Tamburin zur Seite, zog den Schleier ganz allmählich vom Haupt und begann nun, sich neigend und beugend, ihn faltend und schwingend, ein so wundervolles Spiel, daß jedes Auge gebannt an dem Wechsel dieser Linien hing, und zuletzt, als sie nach leidenschaftlichster Bewegung plötzlich regungslos dastand, die herrlichen Arme mit dem Schleier hoch erhoben, das ganze vollendete Ebenmaß ihrer Gestalt zeigend, da brach ein Beifallssturm los, an dem auch der Künstler sich begeistert betheiligte. Mit der Hand an Stirn und Herzen grüßte die holde Tänzerin dankend und war dann entschwunden.
„Na,“ sagte der Landgerichtsrath, der es im Klatschen allen zuvor gethan hatte, indem er sich zu Thormann wandte, „das war einmal ein Anblick! Sind Sie nicht auch ganz bezaubert, Sie kühler Nordlandsrecke?“
Dieser fuhr wie aus einem Traum auf. „Bezaubert, ja, das ist der richtige Ausdruck. Aber ich glaube, es wird Zeit, den Zauberpalast zu verlassen, acht Uhr ist längst vorüber; ich habe meiner Kleinen versprochen, um diese Zeit zurück zu sein.“
„Wie? Sie wollen die Wiederkehr der schönen Vilma nicht abwarten, um Ihre Huldigung ihr zu Füßen zu legen? – Welch ein Bär!“ setzte er im stillen hinzu.
„Ich bin ganz ungeschickt, irgend wem Lobeserhebungen ins Gesicht zu sagen,“ versetzte der Maler ehrlich. „Uebernehmen Sie es für mich, Herr Rath, Sie besitzen darin viel mehr Uebung!“
Die Nothwendigkeit, sich bei der Frau des Hauses zu verabschieden, sah Thormann gleichwohl ein, allein diese war so umringt von begeisterten Gästen, daß er eine Zeit lang an dem Tische warten mußte, wo vorhin die Jugend ihre Schreibspiele gemacht hatte. Ein Berg von verkritzelten Blättern lag darauf, sein Blick streifte gleichgültig darüber weg, plötzlich aber sah er schärfer hin, ergriff eines der Papiere, betrachtete es genau und steckte es in seine Brusttasche. Dann verbeugte er sich vor Frau von Düring, beantwortete ihr eindringliches Angeln nach Lobeserhebungen mit einem gemurmelten: „O ja, gewiß, außerordentlich!“ und steuerte mit einem sonderbar gemischten Gefühle dem Ausgange zu. Halb zog es ihn zurück, und doch war er wieder froh, gegangen zu sein.
Zwei Stunden später, als alle Lampen gelöscht, Mutter und Schwestern im Bett waren, schritt Vilma noch in dem kaltgewordenen Salon hin und her. Er war entzückt gewesen, gewiß – das hatte sein Blick während ihres Tanzes deutlich genug ausgesprochen. Aber warum fand sie ihn nicht mehr, als sie zurückkam? Wie bei allen ausschließlich mit sich beschäftigten Leuten war Vilmas Menschenkenntniß sehr mangelhafter Natur, sie kam also endlich zu dem Schluß, daß eben eine starke innere Aufregung der Grund seiner schleunigen Entfernung gewesen sein müsse. Etwas ähnliches hatte ja auch aus den Worten des Landgerichtsraths geklungen, deren feurige Betonung sich auf der letzten, einem Ehemann gesteckten Grenze bewegte. Sie lächelte. So sollte jener sein, dann wäre seine Eroberung ein Kinderspiel! Indessen – es mußte auch so gelingen, sie hatte heute wieder ihre Macht gefühlt, sie würde triumphieren! –
Zur gleichen Stunde saß Thormann in seinem Arbeitszimmer, nachdem er die tausend Neugierfragen seines Töchterleins beantwortet und sie selbft endlich zu Bett geschickt hatte. Vor ihm lag der Zettel von heute abend und jenes Gedicht der Bazarpost. „Die Handschrift ist dieselbe,“ murmelte er vor sich hin, „hier flüchtig mit Bleistift, dort sorgfältig mit Tinte. Also doch aus diesem Kreis! Aber – von ihr kann es nicht kommen, denn sie zog sich ja eben während dieses Spieles an! – Pah!“ er griff nach der Zeitung, „es ist nicht der Mühe werth, darüber nachzudenken. Ich werde das Zeug in den Ofen werfen!“
Jedoch am andern Morgen lag das Zeug nicht im Ofen, sondern in einer Schreibtischlade zwischen Rechnungen, Briefschaften, Notizblättern und Banknoten, welche Herr Lars Thormann dort in anspruchslosem Durcheinander verwahrte, stets mit dem Vorsatze, „nächstens einmal“ aufzuräumen und gründlich Ordnung zu schaffen.
„Der Sonntagnachmittag in der großen Stadt hat doch etwas seltsam Trübseliges,“ sagte Thormann zu sich selbst, als er in scharfer Januarluft seinen gewohnten Spaziergang durch die langen stillen Straßen lenkte. „Es ist die völlige Naturlosigkeit, die einen so widerlich anschaut, man wundert sich, daß der blaue Himmel in diese gemauerten Gänge hereinscheinen mag, wo er nichts zu sehen bekommt als heruntergelassene eiserne Rollläden und verschlossene Hausthore. Selbst die Stille, die in der Natur [120] so köstlich ist, wirkt niederdrückend, man fühlt in jedem Augenblick, daß hier alles tot ist, wenn der Kramladen schließt ... Ich könnte es nicht lange mehr in diesen Straßen aushalten!“
Und während er über die dünne trockene Schneedecke weiter schritt, den Blick geradeaus gerichtet, versanken ihm die nüchternen Häuserreihen und sein inneres Auge wandte sich weit in die Vergangenheit zurück, zu den Sonntagnachmittagen seiner Jugend in der nordischen Heimath. Er sah sich wieder auf den grünen moosbewachsenen Felsblöcken am Ufer des Fjords. Die Frühlingssonne lag warm auf dem Rasen, drüben auf der Anhöhe stand das Kirchlein von Bergsöe, zu dem sie alle am Morgen im Nachen herübergekommen waren. Er hatte dann im Pfarrhause zu Mittag bleiben dürfen, und nachmittags machte er mit Hilde, dem blonden Pfarrtöchterlein, weite Kletterpartien über die Felsen, sie suchten nach den ersten Blumen, legten sich in den warmen Sonnenschein und genossen recht von Herzen das unermeßliche Lebensgefühl der Kindheit. Das waren goldene Zeiten! Dann kamen schwere: der Kampf um die Kunst mit seinem bäuerlichen Vater, die Jahre des Arbeitens und Strebens im fernen Lande, während ihm Hilde daheim in wandelloser Treue anhing, und endlich die kurzen Glückszeiten, wo sie sich angehören durften. Vier Jahre – das letzte getrübt durch ihr schweres Leiden – dann war sie ihm entrissen, die einfache Frau mit dem warmen Herzen. die in ihm ihr Alles auf Erden umfaßt hatte ... Sein nach innen gekehrter Blick sah deutlich ihr Bild – die stattliche Figur, das schlichte aschblonde Haar um das ruhige Gesicht, die anspruchslose Kleidung ... Heute wäre sie vierzig wie er selbst ... sonderbar, er hatte früher nie daran gedacht, daß sie eigentlich alt für ihn war! Und ganz allmählich tauchte hinter dem blassen Bilde der Verstorbenen ein rosiges Köpfchen auf mit lichtblonden Haaren und schaute ihn aus tiefen Augen fragend an.
Seine Schritte beschleunigten sich. „Unsinn, Unsinn!“ murmelte er hastig vor sich hin – wie ihm der Gedanke gerade bei solchen Erinnerungen kam! „Laß Sigrids zweite Mutter nur gut sein!“ hatte sein sterbendes Weib gebeten und, als er im tiefsten Schmerze ein verzweifeltes: „Nie, nie!“ stammelte, sanft hinzugefügt: „Denk’ an dies Wort – nur gut!“ ... Und jetzt mußte er daran denken.
War jenes Mädchen gut? Konnte sie die Nachfolgerin seiner
reinen edlen Gattin werden, eine Gefährtin seiner einsam
gewordenen Seele, eine Mutter für Sigrid? Das letztere wohl
am ehesten, das Kind schien ja ganz entzückt von ihr – aber
auf die übrigen Fragen fand der zweifelnde Mann keine Antwort.
Widerlich war ihm eigentlich alles dort im Hause gewesen, die
schäbige Eleganz und erheuchelte Vornehmheit, die entsetzliche
Mutter mit ihrem Kreise von Intimen, der unangenehme Blaustrumpf
Paula, alles – bis auf die schlanke Gestalt im weißen
Kleide, deren unaussprechlicher Reiz, erquickend für das
Künstlerauge, immer und immer wieder in seiner Erinnerung lebendig
ward ... Seltsam! Nun hatte er lange Jahre ruhig im
gewohnten Geleise gelebt, und beim ersten Male, wo er sich
hervorlocken ließ, fing gleich die Unruhe an. Karoline Wiesner war
eigentlich an der ganzen Sache schuld mit ihren wohlmeinenden
Bestrebungen für Sigrid. Oder hatte sie tiefere Absichten?
Gestern noch sagte sie scheinbar ganz unbefangen, als von Vilma
die Rede war: „Das Mädchen ist vortrefflich angelegt, sie hat
die geistige Anmuth, die bei uns so selten ist, und viel gute
Eigenschaften. Aber aus ihrer Umgebung müßte man sie bald
herausnehmen.“ Galt das ihm? Thormann fühlte sich
unbehaglich bei solch mißtrauischem Nachsinnen. Seine gerade Natur
war dafür nicht gemacht, er vertraute gerne rückhaltlos; nur wünschte
er nicht, von fremdem Willen geleitet zu werden, und konnte sehr
schroff sein, wo er derartiges merkte. Freilich, was berechtigte ihn
denn bis jetzt, an einen Plan der offenen und ruhigen Freundin
zu glauben? Er selbst war nicht unbefangen, das war das Ganze!
So in tiefe Gedanken verloren, durchkreuzte er allmählich die Altstadt und gelangte, ohne es zu merken, in die Vorstadtviertel gegen den Fluß zu, wo verwahrloste alte Häuschen neben hohen Miethkasernen stehen und am Straßenende die verkrüppelten Weiden der Uferböschung sichtbar werden. Die ungewohnte Umgebung weckte ihn doch allmählich aus seinem Sinnen auf, er musterte im Vorbeischreiten den Kleinhandel der Straße, der durch die Sonntagsfeier nicht beschränkt wird, und las gedankenlos die Firmenschilder der meist aus der innern Stadt hierher verzogenen technischen Betriebe. Plötzlich fiel ihm eines unter den Schildern auf, das die Inschrift „Lehrlingshort“ trug, und zugleich vernahm er Musik und singende Stimmen aus einem Raume zu ebener Erde. Neugierig, einen Blick in die Anstalt zu thun, für die er alljährlich seinen Beitrag zahlte, ohne sie jemals gesehen zu haben, trat er ans Fenster und überblickte von da einen ziemlich großen Saal, den einige Dutzend Knaben in sauberen Sonntagskleidern erfüllten. An Tischen sitzend oder stehend, sangen sie zur Violinbegleitung das Lied vom „guten Kameraden“. Die Violine aber ruhte am Halse einer schlanken dunkelgekleideten Mädchengestalt, welche am obern Saalende stand. Und – Thormann fühlte ein grenzenloses Erstaunen in seinem Innern aufsteigen – dieses Mädchen war keine andere als Paula von Düring, der unangenehme Blaustrumpf, der sich neulich beim Empfangsabend der Mutter so schroff und abweisend gezeigt hatte. Hier stand sie als eine ganz andere, mit anmuthig geneigtem Kopf, freundlich lächelnd, und strich so recht nachdrücklich, daß alle mitkommen konnten, die einfache Weise herunter.
„Mein – guter – Kamerad!“ erscholl es zum Schluß klar aus fünfzig jungen Kehlen; Paula nahm die Violine unter den Arm und klatschte der Kunstleistung Beifall. Dasselbe thaten einige Herren, die jetzt aus dem Hintergrund hervorkamen, und ein junges, sehr einfach gekleidetes Mädchen, das sich Paula näherte. Die beiden gaben sich den Arm und schritten nun auf und ab, bald hier bald dort an den Tischen stehen bleibend, wo die jungen Burschen mit Spielen und Lesen angelegentlich und, wie es schien, sehr vergnügt beschäftigt waren. Der stille Beobachter fühlte sich lebhaft angezogen. Sollte er eintreten? Als Mitglied des Vereins konnte er es. Aber dem großen Manne klebte stets eine gewisse Schüchternheit an, er stand also in unschlüssiger Ueberlegung – da sah er sich von innen bemerkt, und nun galt kein Zögern mehr, er klopfte an und trat ein.
Zwischen den aufstehenden Jungen durch kam der Vorstand des Lehrlingshorts freundlich auf Thormann zu, auch die beiden Mädchen hielten im Gehen inne und Paula erwiderte seinen Gruß mit ruhiger Unbefangenheit. Thormann erklärte etwas stockend seinen Wunsch, die Anstalt zu besichtigen, darauf wurde ihm mit großer Zuvorkommenheit alles gezeigt, die Spiele und Bücher, die Musikinstrumente, welche die armen Jungen mit Leidenschaft zu [121] beherrschen suchten, er sah ihre kunstreichen kleinen Arbeiten, hörte mit steigendem Antheil aus der Erzählung des Vorstandes, welch’ entscheidenden Einfluß auf den künftigen Arbeiter die hier erworbene Gewöhnung an gute Sitte, Sparsamkeit und Genügsamkeit habe, und betrachtete mit Hochachtung die Männer, die hier freiwillig ihren Sonntag opferten, um eine Anzahl junger Seelen dem frühen Verderben in der Großstadt zu entreißen. Er vergaß gänzlich, daß nur flüchtige Neugier ihn hereingezogen habe, es wurde ihm warm ums Herz unter dem Walten dieser echten Menschenliebe.
„Und hierher muß man also kommen, mein Fräulein,“ wandte er sich, nachdem alles betrachtet war, mit seinem gutmüthigen Lächeln an Paula, „um Sie spielen zu hören?“
„Diesen Zuhörern genügt es,“ erwiderte sie heiter, „also ist es hier am rechten Platze.“
„Und – halten Sie mich nicht für unbescheiden, aber es interessiert mich wirklich sehr: wie kommen Sie aus Ihren eleganten Kreisen gerade hierher?“
„Durch meinen Lehrer,“ entgegnete sie, das Wort „Latein“ unterdrückend, und bezeichnete mit den Augen einen jungen hübschen Mann, der vom andern Saalende angelegentlich herübersah. „Er widmet sich diesem Werke trotz seiner vielen Berufsstunden mit der edelsten Ausdauer, er erzählte mir davon, und so war es natürlich, daß ich ihm meine Hilfe dabei anbot.“
„Natürlich!“ dachte Thormann, „denn ein Einverständniß der
beiden jungen Seelen wird hier wohl
vorauszusetzen sein! – Und,“ fügte er laut hinzu. „was sagt
Ihre Gesellschaft dazu?“
„Nichts, denn sie kümmert sich nicht um mich. Ich passe auch nicht hinein.“
Ihre Züge überschatteten sich mit dem Ausdruck, den er schon früher an ihr bemerkt hatte. Er fühlte seinen Mißgriff und sagte, bestrebt, den peinlichen Eindruck zu verwischen:
„Es ist sehr anerkennenswert, Fräulein von Düring, daß Sie in solch menschenfreundlicher Weise thätig sind ...“
Der wohlgemeinte Ton klang etwas schulmeisterlich, Paula warf den Kopf zurück und versetzte trocken: „Es macht mir Vergnügen, das ist alles!“
Dann trat sie einen Schritt zurück, gesellte sich wieder zum Töchterlein des Vorstands und ging mit ihr zu dem kleinen Hans, den sein „Großer“ mitbringen durfte, weil die Eltern das Kind allein ließen, um ins Wirthshaus zu laufen. Die Mädchen setzten sich zu ihm und halfen bei dem Kartenhaus, welches der kleine Mann gerade baute.
„Sonderbares Geschöpf!“ dachte Thormann, als er sich verabschiedet hatte und nun durch die öden Straßen heimwärts schritt. „Die ist doch gründlich aus der Art geschlagen. Wie sie sich überhaupt nur so entwickeln konnte?“
Er nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit Emmy darüber zu fragen, er hatte ein Zutrauen zu deren tüchtiger und wahrhafter Natur und war ihr sehr dankbar, weil sie sein mutterloses Kind schon öfters zu den ihrigen hatte kommen lassen und es ebenso in Güte und Strenge hielt wie die eigenen.
Die verwöhnte Sigrid zitterte vor Verlangen, wenn sie zu dem einfachen Vieruhrbrot der Walterschen Kinder durfte, das vorlaute eigensinnige Mädchen wurde still und fügsam, sobald Emmys freundliche Augen den Kinderkreis beberrschten, und sie stellte neuerdings viel öfter, als dem Papa geheuer war, Gedanken an über das Glück, eine Mama zu haben. Auch Emmy selbst hatte neulich, als sie ihn in Linchens Atelier traf, eine Bemerkung so verloren hingeworfen; sie theilte die allgemeine weibliche Mißbilligung gegenüber vermögenden gutmüthigen und unverheiratheten Männern. Aber in Linchens ungemessenes Entzücken über den herrlichen Schleiertanz hatte sie damals nicht eingestimmt, sondern beharrlich geschwiegen. Das war Thormann aufgefallen. – Während dieser Ueberlegungen war er allmählich wieder in die innere Stadt gekommen und sah jetzt, an einer Kreuzung aufblickend, den Landgerichtsrath Walter vor einer Anschlagsäule stehen. Er schien aufmerksam die Plakate zu studieren, bemerkte aber zwischendurch doch den Herankommenden und sagte, dessen Gruß lebhaft erwidernd:
„Sehen Sie einmal dahin, wie das ‚stilvoll‘ ist – derlei muß doch einem Künstlerauge wohlthun!“ Lachend deutete er dabei auf ein Plakat, das einen neu erfundenen Bügelofen anpries. Vor dem Ofen stand in verzückter Betrachtung eine reich gekleidete Patrizierin des sechzehnten Jahrhunderts, zu ihren Füßen spielteu ein paar rosige Liebesgötter in dringender Gefahr, mit ihren kleinen Rückseiten ein Opfer des glühenden Ungethüms zu werden, das im übrigen mit liebevoller Genauigkeit bis zum letzten Riegel und Knopf naturgetreu abgebildet war.
[122] „Ja,“ sagte der Maler, „das ist echt, das wäre noch für ganz andere Dinge als für den Bügelofen ein gutes Aushängeschild. So weit hat man es mit der allgemeinen Erweckung des Stilgefühls gebracht. Unglückliche Renaissance – einst Blüthe des Erlesensten, heute ein trauriger Gemeinplatz, von der Mode befohlen, falsch angewendet, Schablone, Schablone wie so vieles andere! Es wäre wahrhaftig besser, wenn die große Menge, die es doch niemals zu einem personlichen Stilbegriff bringt, auch das Wort nicht als neues Bedürfniß aufgeschnappt hätte. Die wenigsten ahnen, wie grausam sie von ihrer Einrichtung totgeschlagen werden. Ich traf neulich einen, der seine traurigen Artikel schmierte an einem Arbeitstisch, dessen sich der große Lorenzo Medici nicht zu schämen gehabt hätte. Und er fühlte nichts von dem Gegensatz, er kam sich nur ungemein stilvoll vor.“
„Nun,“ lachte der Rath, „der ‚Stil‘ ist eben heutzutage nicht mehr der Mensch, sondern der Tapezier. Aber wo soll es schließlich hinaus? In drei Jahrzehnten haben wir glücklich die drei letzten Jahrhunderte verbraucht, Renaissance, Barock und Zopfzeit, jetzt stehen wir wieder beim Empire. Was weiter? Kommt am Ende ein Zukunftsstil, in welchem jeder Mensch seine Möbel frei wählt und so stellt, wie es seine Verhältnisse, seine Bedürfnisse und Lebensgewohnheiten erfordern?“
„Das wäre dann wirklich Stil,“ sagte Thormann nachdenklich. „Nein, ich glaube nicht, daß die Mehrzahl so vernünftig wird. – Uebrigens, in meinem künftigen Hause werden Sie diesen Stil angewandt sehen.“
Das Gespräch nahm hiermit eine persönliche Wendung, und im weiteren Verlaufe erzählte Thormann dem Landgerichtsrath seine seltsame Begegnung von vorhin.
„Das sieht ihr wieder ganz gleich,“ fuhr Walter lebhaft heraus, „sie ist doch ein ganz absonderliches Geschöps!“
„Aber edel angelegt, wie es scheint?“
„Freilich, freilich, nur zu überspannt und weltfremd. Stellen Sie sich vor, daß sie vergangenen Sommer geradezu einen Volksauflauf veranlaßte, indem sie ein altes Weib, das von dem betrunkenen Sohne mißhandelt und in den Schmutz gestoßen wurde, nicht nur aufhob und tröstete, sondern auch noch an ihrem eigenen Arme nach Hause geleitete – wohlgemerkt, nachdem sie den rohen Bengel vorher tüchtig heruntergeputzt hatte.“
„Das war aber doch schön und muthig von ihr!“
„Gewiß! Allein denken Sie sich nur den Aufzug, das alte schmutzige, heulende Weib an dem Arme dieser jungen Minerva, sämmtliche Gassenbuben hinterdrein – es war wohl begreiflich, daß Frau von Düring bei der Kunde davon eine Ohnmachtsanwandlung bekam.“
„Was ist das eigentlich für eine Frau?“ forschte Thormann.
Walter sah ihn einen Augenblick an und pfiff leise durch die Zähne. Er theilte die Ansicht seiner Frau über unnöthiges Ledigbleiben bei Witwern, er befand sich jedoch im Gegensatz zu ihr hinsichtlich der Personalfrage, die hier möglicherweise in Betracht kommen konnte. Ihm mißfiel für diesen Zweck die hübsche Vilma nicht – ganz im Gegentheil! Einen vermögenden Mann mußte das anmuthige Luxusgeschöpfchen doch haben, also warum diesen hier abschrecken?
„Nun,“ versetzte er deshalb in etwas gedehntem Tone, „Frau von Düring ist gerade keine angenehme Persönlichkeit, aber gewiß nicht weniger werth als viele aus ihren Kreisen –“ das juristische Gewissen beglückwünschte sich zu diesem schönen Satze, dem noch der Schluß nachfolgte: „Ich habe nie eine wirklich nachtheilige Thatsache über sie vernommen. Daß sie arm ist, sehen Sie selbst, allein das ist nur ein Unglück, keine Schande.“
„Was war ihr Mann?“
„Offizier; ist schon lange tot.“
„Und Paula,“ fragte Thormann weiter, „warum steht sie in so scharfem Gegensatz zu Mutter und Schwestern?“
„Ja, mein Gott,“ erwiderte der andere, „das ist doch kein Wunder! Das Mädchen hat eine unbequeme Pedantennatur, sie gehört zu denen, welche für Männer keinen Reiz haben – absolut keinen. Und Mama Düring möchte die Töchter verheirathen, das kann ihr kein Mensch verdenken. Mit Vilma wird es keine Schwierigkeiten haben, aber Paula – nein, die halte ich für unanbringlich.“
„Ich denke, sie will studieren?“
Ja, und das ist der zweite heftige Streitpunkt zwischen ihr und der Mutter, die in solchem Entschluß geradezu eine Familienschande erblickt. Paula könnte auch nicht daran denken ohne die moralische und materielle Unterstützung des alten Professors Mayer, eines Verwandten ihres Vaters, der viel Geld für philanthropische Zwecke ausgiebt und dieses Studium mit auf das große Konto übernehmen will. Aber bis jetzt wehrt sich die Alte mit zäher Beharrlichkeit. Wie sie es fertig bringt, die Wohlthaten des alten Herrn anzunehmen und ihm zugleich die stärksten Grobheiten zu sagen – das ist ihr Geheimniß. Thatsächlich geschieht beides, und er hält aus um Paulas willen, für welche er eine schwer begreifliche Zärtlichkeit gefaßt hat.“
„Er kennt sie vielleicht von Seiten, die das erklärlich machen,“ erwiderte Thormann einfach. „Aber hier sind wir ja schon bei Ihrem Hause angelangt.“
„Kommen Sie mit hinauf?“
„Nein, ich danke, ich muß heute abend noch allerhand erledigen.“
Und die beiden trennten sich. Der Landgerichtsrath kam sehr aufgeräumt bei seiner Frau an und ließ in seinem allerdings etwas freien Bericht über die gepflogene Unterhaltung nicht undeutlich merken, daß Thormann „Symptome für Vilma“ zu haben scheine. Daß sie sofort auf den Köder biß, freute ihn sehr, er hüllte sich ihren dringenden Fragen gegenüber in vielsagendes Schweigen und zuckte nur zweideutig die Achseln, als sie die entschiedene Hoffnung aussprach, daß Thormann klug genug sein werde, sich nicht in den plumpen Schlingen dieser gewissenlosen Kokette zu fangen.
„Er kommt wirklich nicht ...“ Wieder einmal, wie schon öfter diesen Abend, streiften Vilmas Blicke über die bunten Gruppen des Ballsaals und den Kreis ihrer Verehrer nach dem Eingang hin, und sie fühlte allmählich eine solche Enttäuschung in sich aufsteigen, daß es ihr schwer wurde, die gewohnte sieghafte Heiterkeit noch weiter über die Jünglinge hinzustrahlen. Sie war so schön diesen Abend, so weit über das gewöhnliche Geputztsein der anderen hinausgehoben durch ihre herrliche Gestalt und die überlegen einfache Besonderheit ihrer Toilette – so wollte sie von Thormann gesehen werden, begehrenswerth vor vielen, um endlich einmal das Begehren in ihm ernsthaft zu schüren. Und es sollte außerdem eine Machtprobe sein. Gelang es, ihn aus seiner stillen Schwerfälligkeit heraus und hierher zu ziehen, dann war endlich die Sicherheit gewonnen, die sich ihrem spähenden Blicke bis jetzt noch nirgends zeigen wollte.
Die Beziehungen waren ja gewachsen. Thormann erschien öfter bei den Sitzungen im Atelier Linchens und schien lebhaften Antheil an dem Porträt zu nehmen, außerdem bot Sigrids stürmische Liebe zu Vilma manche Gelegenheit, sich dem Vater in günstigem Lichte zu zeigen, und so war allmählich der Grad von näherer Bekanntschaft erreicht worden, wo das Entscheidende in Sicht kommt. Bis hierher kannte Vilma den Weg von früher her genau, weiter aber war sie niemals gelangt, und nun schlug ihr das Herz beim Gedenken an den ungeliebten Mann. Um ihn zu gewinnen, that sie sich vielfach Gewalt an, entwickelte ganz neue Gemüthsseiten und Lebensansichten – allein kein Mensch kann auf die Dauer gegen seine Natur leben, und Vilma folgte den Gesetzen der ihrigen, als sie erst im Scherze, dann dringender den ernsthaften Mann zu überreden suchte, auf ein Stündchen hierher zu kommen. Ein Souper im Nebenzimmer mit Walters, ein bißchen in den Saal hineingucken – was war denn daran so Großes? Mit Bitten und Lächeln und allerliebstem Schmollen hatte sie ihm ihre gänzliche Ungnade verheißen für den Fall, daß er ausbliebe, und jetzt war es beinahe elf Uhr, die Souperpause fing an, und er – blieb aus!
Sie zerrte heimlich an den Bändern des Prachtbuketts, das ihr Francis Weston geschickt hatte, und bedachte die in längeren Zwischenräumen aufsteigenden Gedankenblasen dieses harmlosen Jungen mit so scharfen Vernichtungshieben, daß er erstaunt aufsah und die plötzliche Veränderung ihres Humors ebenso wenig ergründen konnte als sie selbst die Ursache von Thormanns Wegbleiben.
Diese aber bestand ganz einfach in einem gewöhnlichen Blatte Papier. Sigrid hatte es von Dürings mitgebracht, weil ein paar [123] sehr schöne Balldamen von Hedys verständnißvoller Hand darauf gezeichnet waren. Es schien aus einem gewöhnlichen Schulheft herausgerissen zu sein, denn oben stand: „Aufgabe: Worin stimmen Afrika und Südamerika überein und in welchen Stücken sind sie verschieden?“ Und der Papa, dem sie das Blatt zeigte, er kannte die Schrift. Nachdenklich sah er lange darauf hin. „Klug ausgedacht – und doch nicht klug genug!“ murmelte er. Freilich, die Mahnung war ja nur eine ganz zarte – konnte es nicht denkbar sein, daß Vilma sich schon länger im stillen für ihn interessierte? Die männliche Eitelkeit machte einen langen Halt vor diesem Gedanken ... Aber wenn auch, der Schritt blieb unweiblich, widerstrebte seinem Gefühl. Und es kam noch etwas dazu. Gestern, als er auf seinem gewohnten Spaziergang aus nicht näher ersichtlichen Gründen zum Schlittschuhteich im Stadtpark gekommen war, hatte er, gedeckt durch einen großen Baum, Vilma doch mit dem jungen Amerikaner laufen sehen und dabei dasselbe berückende Lächeln, denselben vielsagenden Augenaufschlag, dieselbe Lebhaftigkeit der Rede bemerkt, die sie sonst ihm gegenüber entfaltete. Das hatte ihm zu denken gegeben auf dem Heimweg, den er auffallend schnell wieder antrat, und die Folge seiner Betrachtungen war, daß er dem Balle fern blieb ...
Dort ging mittlerweile das Vergnügen seinen bekannten Gang; das Souper war vorüber, der bedeutsame Tischwalzer wurde von den Töchtern hingebungsvoll getanzt, von den Müttern mit Argusaugen beobachtet, in den Nebenzimmern blieben nur kleine Tischgesellschaften zurück, welchen ein behagliches Gespräch zum Nachtisch mehr Genuß gewährte als die Drehbewegung draußen im vollen Saale.
„Dafür sind die Mütter da,“ sagte der Medizinalrath Hoffmann wohlwollend. „Geh’ nur, Malchen, und unterhalte Dich gut drinnen, ich bleibe hier noch ein wenig sitzen!“
Die Gattin, eine von den schüchternen Frauen, die immer wie vom Gewicht ihrer Häuslichkeit erdrückt scheinen, legte dem blonden blassen Töchterlein, das hier zum ersten Male in die Welt trat, die Hülle um, und beide steuerten mit verlegenen Mienen der Saalthür zu. Vor ihnen rauschte Vilma hinaus, umgeben von fünf sehr jungen Kavalieren. Francis trug das Bukett, er hatte sich beim Souper alle Rechte des ersten Verehrers zurückerobert und wich nicht mehr von ihrer Seite. Frau von Düring in einem Kleide von abgeblaßter lila Seide, einen altersgelben Hermelinkragen auf den runden Schultern kam hinterdrein. Sie warf im Abgehen einen Siegesblick nach dem Tische, wo Walters, Hoffmann, Doktor Seiler und eine Schriftstellerin seiner Bekanntschaft, Fräulein Alwine Neube, saßen.
„Wenn’s nur bald einmal etwas nützt,“ sagte Hoffmann halblaut zu Emmy. „Sie bezieht den Markt nun schon seit einer hübschen Reihe von Jahren.“
„Das ist nicht übel,“ lachte diese, „Sie als Ballvater so sprechen zu hören!“
„Ach so – Sie meinen wegen der Kleinen? Na, das hat gute Wege, die blüht einstweilen im Verborgenen hier. Sie hatte gewaltige Angst, herzukommen, ich rieth ihr, ruhig wegzubleiben, allein das bringen sie doch alle nicht fertig.“
„Einige immerhin! Vilmas eigene Schwester würde keinen Fuß hierher setzen.“
„Die freilich nicht. Aber das ist doch auch ein ganz überspanntes Geschöpf, kein normales Mädchen. Sie will ja im vollen Ernste Medizin studieren!“
„Und was, wenn ich fragen darf, erscheint Ihnen hieran so verächtlich?“ rief jetzt die Schriftstellerin und erhob kampfesmuthig das Haupt. Es war mit braunen Haaren bedeckt, die im Rücken zu einem Kinderzöpfchen vereinigt und mit einer rothen Schleife geschmückt waren. Vorn aber fielen sie in dichten langen Strähnen bis zu den Augenbrauen herab und verhinderten so jede indiskrete Nachforschung über die faltenlose Glätte der Stirn. Die lange Nase, der große Mund und die hervorquellenden Augen allerdings standen in einem gewissen Gegensatz zu der kindlichen Haartracht, ihr Gesammtausdruck ließ auf ein hochgradiges Selbstbewußtsein und verschiedentliche Lebenserfahrungen schließen. Alwine Neube hatte wenig Freunde, das heißt, sie hatte immer neue, und einer von diesen war Doktor Seiler, der heute die Ehre genoß, sie auf diesen Ball zu begleiten. Sie hielt darauf, noch junges Mädchen zu sein, wenn sie auch eine weibliche Begleitung als überflüssig erachtete.
Der Medizinalrath ließ einen kühlen Blick über ihre die Forderungen der Mode mit dem Ideal nicht ganz glücklich vereinigende Toilette gleiten und erwiderte trocken:
„Verächtlich finde ich das Frauenstudium nicht, nur sehr überflüssig, schon deswegen, weil es gänzlich aussichtslos ist.“
Fräulein Neube war nicht die Person, sich bei Abfertigungen von oben herunter zu beruhigen.
„Und warum ist es das?“ rief sie mit blitzenden Augen, „warum ist in Deutschland allein aussichtslos, was in der ganzen Welt, in England, Amerika, Frankreich, Italien, in Skandinavien und der Schweiz, ja sogar in Rußland bereits besteht? Sind die deutschen Frauen dümmer oder die deutschen Männer brutaler als die anderer Völker? Eins davon muß nothwendig der Fall sein!“
„Vielleicht beides!“ sagte Hoffmann philosophisch.
„Nein,“ erwiderte Walter, gegen das Fräulein gewendet, „keins von beiden. Die deutschen Männer wollen der Frau die Stelle erhalten, welche ihr Natur und Weiblichkeit anweisen, die Stelle am häuslichen Herde.“
„Die Natur!“ lachte sie auf. „Das Wort hat für mich, so angewandt, einen wahrhaft belustigenden Klang. Wissen Sie, warum die Naturvölker keine Frauenfrage haben? Weil sie ihre überschüssigen weiblichen Neugeborenen einfach umbringen. Eine wahre Barmherzigkeit gegen unsere deutsche Sitte, sie erst hygieinisch groß zu ziehen, um ihnen dann zu sagen: ‚So, nun sorgt für euch selbst! Ihr seid um eine Million in der Mehrzahl, zweiundvierzig Prozent von euch werden nicht geheirathet, also ernährt euch, nur beileibe nicht durch das, wozu ihr Lust und Begabung habt oder was viel Geld einträgt; das dürfen nur wir Männer thun. Trockenes Brot sollt ihr verdienen, Austern und Champagner aber behalten wir uns vor!‘“
Schön, dachte der Medizinalrath, da kann man ja auch offen reden! „Mit vollem Recht geschieht das,“ sagte er laut. „So lange noch die männliche Leistung der weiblichen in allen geistigen und den meisten körperlichen Dingen überlegen ist, so lange dürfen die Männer einen höheren Lohn für sich beandpruchen.“
„So sprechen die Unterdrücker! Erst knechtet man die Frauen durch Tausende von Jahren, dann wirft man ihnen vor, daß sie es nicht weiter gebracht haben. Wie sollen sie denn vorwärts kommen bei der baren Unmöglichkeit, ihre Fähigkeiten auszubilden und zu verwerthen? Sehen Sie doch die anderen, vom Vorurtheil der Jahrhunderte gedrückten Klassen an, die Juden, die Leibeigenen, die Neger! Ist nicht überall der Emanzipation unmittelbar ein ungeheurer Fortschritt gefolgt?“
„Die Frauen sind keine ‚Klasse‘,“ sagte Walter kopfschüttelnd, „sie standen von alters her auf derselben Stufe mit ihren Vätern und Männern. Hätte die Natur ihnen zwingende geistige Fähigkeiten verliehen, so wäre es für sie viel leichter gewesen, damit durchzudringen, als es heute für einen begabten Arbeiter oder Bauernjungen ist. Und doch setzt es dieser durch und kommt oben auf.“
„Sie vergessen“ fiel Fräulein Neube hastig ein, „daß in der Renaissancezeit, wo man die Frauen in Griechisch und Lateinisch unterrichtete, sofort eine Reihe davon als Gelehrte glänzte.“
„Und ihre Töchter sind ihnen nicht nachgefolgt, sind freiwillig wieder zum gewohnten Frauenleben zurückgekehrt, statt die kostbare Errungenschaft festzuhalten und weiterzubilden. Das spricht doch deutlich genug! Nein, die Natur will die Frau nicht im männlichen Berufe. Hervorragendes in Wissenschaft und Kunst leisten sie nicht, obwohl Tausende von ihnen die Mittel zur Ausbildung besitzen.“
„Und George Sand!“ fuhr das Fräulein auf. „Und Rosa Bonheur, George Eliot, die italienischen Naturforscherinnen, die tüchtigen Schriftstellerinnen unseres eigenen Volkes –“
„Ausnahmen, welche die Regel bestätigen,“ versetzte Hoffmann unerschütterlich. „Nennen Sie mir einmal die Dichterin eines großen gewaltigen Dramas, die Komponistin einer klassischen Oper, die Malerin eines bedeutenden Geschichtsbildes oder die Verfasserin eines bahnbrechenden wissenschaftlichen Werkes – püh, da hat es gleich Luft, meine Verehrte!“
„Sie verlangen sehr ungerechter Weise die Früchte des Studiums, um das wir erst kämpfen müssen. In hundert Jahren wird man Ihnen die Namen nennen!“
Die Schlank- und Stummelaffen.
Direktor des Zoologischen Gartens in Berlin.
Ich glaube, es kann jemand schon ein ausgesprochener Thierfreund und eifriger Besucher zoologischer Gärten sein, und er wird vielleicht doch nicht gleich wissen, mit welchen Affengestalten seiner Erinnerung er unsere Ueberschrift in Beziehung bringen soll; wer gar, von den Koryphäen Schimpanse und Orang-Utang abgesehen als Affen nur die Hanswurste und Raufbolde im Gedächtniß hat, die in dem großen Gesellschaftskäfig des Affenhauses ihr komisches Wesen treiben, dem werden die obigen Namen wahrscheinlich ganz neu sein. Sind ihre Träger doch selten genug in unseren zoologischen Gärten vertreten! Und wer schließlich in einem abgelegenen Einzelkäfig des Affenhauses auf eine in die Ecke gedrückte oder zwei aneinandergeschmiegte, schlanke, schmächtige Affengestalten mit langer Behaarung oder wenigstens eigenthümlichem Haarputz und Bartschmuck stößt, die ihn stilltraurig oder unruhig ängstlich anstarren, der wird sie kopfschüttelnd einige Augenblicke mustern, ohne recht zu wissen, was er daraus machen soll – wenn er sie nicht ganz übersieht. Es sind Angehörige der Gruppe, die ich hier näher schildern will: weniger in gewissen bekannten Formen ausgeprägte und noch weniger durch lustiges oder freches Wesen sich vor- und aufdrängende Erscheinungen, viel zurückhaltender, vornehmer als das gewöhnliche Affenvolk! Alter Affenadel, möchte man sagen, und man hätte in mehr als einer Beziehung recht.
Zunächst in des Wortes eigentlichster Bedeutung, weil wir in den Schlank- und Stummelaffen allem Anschein nach ein uraltes Affengeschlecht vor uns haben. Für die indischen Schlankaffen ist dies thatsächlich nachgewiesen: unzweifelhafte Vertreter dieser Gattung (Semnopithecus) lebten schon in der der unseren vorangehenden großen Erdperiode, dem Tertiär.
Aber auch die Form des Schädels verleiht den Schlank- und Stummelaffen ein vornehmeres Gepräge. Er ist rundlich, der Schnauzentheil tritt gegen den Hirntheil nur wenig vor, und die Knochenkämme und -leisten, die insbesondere dem Schädel des alten Affenmännchens gewöhnlich etwas geradezu Raubthierartiges geben, sind kaum angedeutet. Dementsprechend ist auch das Gebiß verhältnißmäßig nur schwach ausgebildet, und zwar bei den Schlankaffen noch schwächer als bei den Stummelaffen. Das ganze Skelett beider Gruppen zeichnet sich überhaupt durch Schlankheit und Leichtigkeit der Formen aus, wovon ja die Schlankaffen ihren Namen haben. Derjenige der afrikanischen Stummelaffen knüpft an eine Besonderheit ihres Knochenbaues an, insofern bei ihnen der Daumen der Vorderhand äußerlich gar nicht oder nur als Stummel sichtbar ist; und obwohl auch bei den Schlankaffen schon der Vorderdaumen merklich in der Entwicklung hinter den anderen Fingern der Hand zurückbleibt, so hat man die vollständige Verkümmerung doch für wichtig genug gehalten, um neuerdings Schlank- und Stummelaffen von einander zu trennen. Dagegen finde ich nur in wenigen Beschreibungen und nur beiläufig eine Eigenthümlichkeit des Skelettes der Schlankaffen erwähnt, die mir bei Affen als Kletterthieren doppelt auffallend erscheint und in der That auch, bei den Affen der alten Welt wenigstens, sonst nicht wieder vorkommt. Die Schlankaffen haben nämlich merklich längere und stärkere Hinter- als Vorderbeine, die Entwicklung der Hinterglieder überwiegt entschieden die der vorderen, und das bringt natürlich auch charakteristische Abweichungen in der Haltung und Bewegung der Thiere mit sich, wie ich an meinen Pfleglingen täglich beobachten konnte. Die Schlankaffen laufen viel halb aufrecht auf den eingeknickten Hinterbeinen und machen aus dieser Stellung heraus ohne weiteres große Sprünge. Dabei haben sie trotz großer Gewandtheit etwas Hastig-Eckiges in ihrem Wesen, halten und bewegen sich überhaupt so durchaus eigenthümlich, daß jeder, der sie eingehender an lebenden Beispielen studiert hat, auf den ersten Blick imstande ist, zu unterscheiden, ob eine Abbildung nach dem Leben gefertigt ist, oder
[125][126] ob nur einer gewöhnlichen Affenfigur einige spezielle Merkmale des Schlankaffen gewissermaßen äußerlich aufgesetzt sind. Im inneren Leibesbau haben schließlich Schlank- und Stummelaffen noch eine hochbedeutsame, in ihrer Art ganz einzig dastehende Eigenthümlichkeit gemein, nämlich einen zusammengesetzten, getheilten Magen, welcher an den der Wiederkäuer, noch mehr aber an den der Känguruhs erinnert, und es sollte dies meines Erachtens genügen, um beide Gruppen und alle ihre Mitglieder trotz sonstiger Unterschiede für immer als eng zusammengehörig zu erweisen. Diese eigenthümliche, für einen Affen ganz unerhörte Beschaffenheit des Magens läßt natürlich von vornherein auch auf eine besondere Art der Ernährung schließen, und zwar weist sie ganz unzweideutig darauf hin, daß die Schlankaffen sowohl als die Stummelaffen viel ausgeprägtere und ausschließlichere Pflanzenfresser oder genauer gesagt, Grünfresser sind als die übrigen Affen. Diese folgerichtige Annahme wird denn auch durch die Erfahrung an Gefangenen vollauf bestätigt. Unsere Vertreter der Stummelaffen, die Guerezas, ebenso wie die beiden Arten Schlankaffen, die ich bis jetzt gepflegt habe, fraßen regelmäßig, aber sehr wählerisch von dem Heu, das ihnen als Streu und Lager diente, und die Guerezas verspeisten insbesondere mit Leidenschaft täglich einige Köpfe grünen Salat zum Abendbrot, das sie stets begierig erwarteten.
In der äußeren Gesammterscheinung, die ja wesentlich durch die Ausbildung des Haarkleides bedingt wird, zeigen Schlank- und Stummelaffen gewisse durchgehende Eigenthümlichkeiten, die beide Gruppen unterscheiden. Während nämlich die indischen Schlankaffen im allgemeinen ein kurzes Fell besitzen und ihr Haarkleid gewöhnlich nur an einzelnen Stellen des Körpers in Gestalt von Kopfmähnen, Haarkronen, Backenbärten und Halskragen sich besonders entwickelt, zeichnen sich die afrikanischen Stummelaffen sämmtlich durch eine lange, reichliche Behaarung des ganzen Körpers aus, die oft durch schöne, auffallende Zeichnungen noch gehoben wird. Die feineren Verschiedenheiten der Behaarung, Färbung und Zeichnung dienen nun in beiden Gruppen zur Unterscheidung einer ansehnlichen Reihe von Arten, die indessen alle nacheinander in ausführlicher Beschreibung abzuhandeln wenig allgemeines Interesse bieten dürfte. Wir werden uns daher im wesentlichen auf die abgebildeten Arten beschränken.
Da sind zunächst die beiden einträchtig beisammensitzenden Kameraden auf dem unteren Theile unserer Titelvignette! Es ist der weißbärtige Schlankaffe (Semnopithecus leucoprymnus Desm.) von Ceylon, die einzige Art, die ziemlich regelmäßig eingeführt wird und daher auch nicht gerade selten in unseren Thiergärten zu sehen ist. Das harmlose, stille, sanfte Thier ist in seiner äußeren Erscheinung durch seinen Namen in der Hauptsache schon genügend gekennzeichnet: es hat einen weißen Backenbart aus wagrecht abstehenden, mit der Spitze nach vorn gekrümmten Haaren; auch der untere Theil des Rückens und der Schwanz sind grauweiß gefärbt; sonst ist es braunschwarz, der Oberkopf heller und länger behaart. Im Hafen von Colombo können die Seeleute den weißbärtigen Schlankaffen stets um ein Billiges haben, er muß also auf der Insel ganz gemein sein.
Im oberen Gezweige derselben Zeichnung bewegen sich einige Vertreter einer „berühmten“ Schlankaffenart, des Hulman oder heiligen Affen der Inder (Semnopithecus entellus Cuv.). Dieser Affe hat schon in grauer Vorzeit die größten Heldenthaten vollbracht. Ja er ist in der indischen Göttersage sozusagen Perseus und Prometheus in einer Person, indem er eine Göttin aus der Gefangenschaft eines Riesen befreit und diese Gelegenheit benutzt hat, um nebenbei den Menschen zwar nicht das Feuer, aber die in Indien hochgeschätzte Mangofrucht mitzubringen. Den Scheiterhaufen, auf dem er seinen tollkühnen Wagemuth büßen sollte, löschte er aus, und davon hat er heute noch ein schwarzverbranntes Gesicht und schwarze Hände. Im übrigen ist er weißgrau gefärbt; an Stirn, Wangen und Kinn trägt er längere, starr abstehende Haare, aus deren Umrahmung das runde, schwarze Gesichtchen mit lebhaftem, eigenthümlich drolligem Ausdruck hervorsieht.
Der fromme Hindu, der auch heute noch kaum ein Thier tötet, thut natürlich seinem inbrünstig verehrten Affenheiligen am allerwenigsten etwas zu Leide, sondern giebt ihm willig die Früchte seiner Gärten und Felder preis; ja, er läßt sich sogar von ihm im buchstäblichsten Sinne die eben bereitete Mahlzeit vor dem Munde wegnehmen. Durch die gläubige Einfalt des Menschen, welcher sie schon seit undenklicher Zeit in freudiger Demuth ganz nach Belieben schalten und walten läßt, sind nämlich die Hulman in ihrer Heimath so unglaublich dreist und unverschämt geworden, daß sie nicht bloß in die Gärten, sondern auch in die Häuser eindringen und hier stehlen, plündern und zerstören nach Herzenslust. In manchen Gegenden Indiens werden sie so zu einer förmlichen Landplage, und die englischen Behörden müssen zeitweise, damit die Affenschande nicht zu toll wird, mit Massenvernichtungen gegen die geschwänzten Heiligen vorgehen zur Freude der abgeklärteren, vernünftigen Eingeborenen, aber natürlich zum Entsetzen der Frommen im Lande, die felsenfest überzeugt sind, daß der Ort, wo ein Affe fällt, für ewige Zeiten zur Unglücksstätte werde.
Neben Hulman und Weißbart mag hier noch eine weitere Schlankaffenart Erwähnung finden, weil sie durch eine auffallende Eigenthümlichkeit ausgezeichnet ist, die schon in ihrem Namen ausgesprochen liegt: ich meine den Nasenaffen. Durch kräftigeren, schwereren Körperbau nähert er sich mehr den Makaken, der hauptsächlichsten und zahlreichsten Affengruppe der indisch-chinesischen Region, die ja auch stets das Gros der Bevölkerung unserer Affenhäuser stellt.
Der Nasenaffe (Semnopithecus nasicus Cuv.) läßt in der äußeren Ausbildung seines Riechorgans nicht bloß alle Affen, sondern selbst die in dieser Beziehung am reichlichsten bedachten Menschen so weit hinter sich, daß er wegen dieses in der That ganz einzigen Merkmals neuerdings zu einer besonderen Gattung erhoben worden ist. Die „Gartenlaube“ hat übrigens früher (Jahrgang 1883, S. 240) schon eine Abbildung und Beschreibung von ihm gebracht, und ich kann mich deshalb hier um so kürzer fassen. So will ich denn nur noch einmal darauf hinweisen, daß der Nasenaffe auf der Insel Borneo lebt, und daß der absonderliche, längsgefurchte, hakenförmig bis über das Maul herab hängende und in der Mitte zollbreite Nasenschmuck, der wie ein Rüssel beweglich ist, nur dem alten Männchen zukommt, während bei Weibchen und Jungen an die Stelle des imponierenden Hakenriechers ein kleines, niedliches Stumpfnäschen tritt.
Schließlich will ich noch den Schopfschlankaffen (Semnopithecus comatus Desm.) nicht unerwähnt lassen, weil er durch die lange, reichliche Behaarung des ganzen, schwarzgrau gefärbten Körpers, auch der Unterseite und selbst der Außenflächen der Hände und Füße im äußeren Ansehen sich den Stummelaffen nähert. Auf dem Kopfe verlängert und erhebt sich das Haar noch ganz besonders zu einem langen, ziemlich starren Schopf oder besser gesagt Mähnenkamm, der sich bis auf den Hals fortsetzt. Als Standorte werden Hinterindien (Siam) und die großen Sundainseln (Sumatra und Java) angegeben.
Indem wir uns nun zu unserem großen Bilde wenden, gehen wir von den indischen Schlankaffen zu den afrikanischen Stummelaffen über: es stellt den „Stern“ dieser Gruppe dar, den Guereza (Colobus guereza Rüpp.). Dieser Affe gehört auch zu den „berühmten“ Thieren, und zwar zu denen, die in allen Fachwerken weitläufig und begeistert geschildert und schlecht und phantastisch abgebildet werden, die infolge dessen jeder Besitzer einer Naturgeschichte dem Namen nach kennt, aber niemand lebend gesehen hat. Wir thun der Wahrheit wohl keine Gewalt an, wenn wir als die ersten Guerezas, die lebend weiteren Kreisen bekannt wurden, die drei Stück bezeichnen, die im August 1890 in einer Droschke vor unserem Dienstgebäude im Berliner Zoologischen Garten vorfuhren. Sie haben auch zu der Zeichnung Kuhnerts Modell gesessen. Ein Grieche hatte sie von Massanah bis nach Berlin gebracht, aber nur der uneigennützigen Vermittlung von Menges, dem vielgereisten Thierhändler und bekannten Führer der Somali-Schaustellungen, ist es zu danken, daß wir schließlich handelseinig wurden. Ich zahlte doch noch ein ganz erkleckliches Sümmchen, und es hat mich nicht gereut. Denn wenn auch heute keines der Thiere mehr am Leben ist, so hatte ich doch die Gelehrten, Künstler und Tierfreunde mit einem der merkwürdigsten und schönsten Affen bekannt gemacht und Gelegenheit gegeben, die ersten richtigen Abbildungen nach dem Leben anzufertigen. Einer genaueren Beschreibung der Farbenzeichnung des Guerezas überhebt mich das Bild; ich will deshalb nur erwähnen, daß die Art und Weise, wie das Weiß gewissermaßen als Einfassung und Besatz der schwarzen Grundfarbe auftritt, etwas wechselt und danach wahrscheinlich verschiedene geographische Varietäten des weit nach Innerafrika hinein verbreiteten Thieres unterschieden werden können. Hans Meyer, der beharrliche Bezwinger des afrikanischen Bergriesen [127] Kilimandscharo, hat wenigstens in der dortigen Gegend stets nur die als var. candatus bezeichnete Form vorgefunden, bei der nicht bloß die Endquaste, sondern der ganze Schwanz weiß ist; unsere Exemplare gehören einer Abart an, die in der Monographie der Stummelaffen von Rocheprune als „occidentalis“ unterschieden wird. In diesem Spezialwerk ist noch eine ganze Anzahl Arten aus West- und Innerafrika abgebildet und beschrieben; manche, z. B. der Bärenstummelaffe (Colobus ursinus Waterh.), sehen ähnlich aus wie ein Guereza ohne Seitenmähne; andere, wie der Teufelsaffe (Colobus satanas Og.), sind ganz schwarz, wieder andere roth gezeichnet.
Von allen wissen und kennen wir außer den Bälgen und Schädeln kaum etwas; lebend kommen sie, wenn überhaupt, nur ganz ausnahmsweise einmal zu uns. So kehre ich denn um so lieber zum Guereza zurück, als er ohne Zweifel die schönste und interessanteste Art ist.
Das von mir erworbene Kleeblatt, alle drei junge, vielleicht halbwüchsige Bürschchen, zeichnete sich durch etwas Nettes, Anständiges in seinem Benehmen aus, und ähnliches hört man auch von den Beobachtern des Thieres in der Freiheit rühmen. Der Guereza gehört nicht zu den verhaßten Feldplünderern, und er wurde deshalb in Abessinien nur so lange einigermaßen verfolgt, als dort die kleinen runden Lederschilde gebräuchlich waren, die man mit seinem Felle zu zieren liebte. Seit mit der veränderten Bewaffnung auch diese Schilde abgekommen sind, wird er kaum noch behelligt und führt fern von den menschlichen Wohnungen ein friedliches Dasein. „Im Gallalande, woher Ihre Exemplare stammen,“ schreibt mir Menges, „lebt der Guereza in den dichten Wäldern, besonders in tiefen, feuchtwarmen Bergschluchten. Mit Vorliebe hält er sich auf den riesigen Sykomoren (wilde Feige) auf, deren Früchte seine Hauptnahrung bilden. Auch der 20 bis 25 Meter hohe abessinische Wachholder, der dort ganze Wälder bildet, wird viel von ihm besucht.“
Brehm preist auf Grund der übereinstimmenden Berichte, welche seit der Entdeckung des Guereza durch den Frankfurter Abessinienreisenden Rüppell erschienen sind, mit begeisterten Worten die Schönheit, Anmuth und Zierlichkeit der äußeren Erscheinung des Thieres und die Kühnheit und Gewandtheit seiner Bewegung, insbesondere seine kolossalen Sprünge, bei denen der Körper „wie von dem wallenden Mantel getragen“ erscheint. Hans Meyer schildert in Ergänzung dazu anschaulich das gemüthliche Stillleben der kleinen, vier- bis achtköpfigen Gesellschaften in der sicheren Höhe ihrer Baumwipfel und erwähnt dabei eine meines Wissens früher nicht beobachtete und sonst an Affen der alten Welt überhaupt nicht bekannte Gewohnheit, an der man schon von weitem die Anwesenheit einer Guerezabande erkennen kann: es ist dies ein eintöniges, singendes, abwechselnd anwachsendes und abnehmendes Summen, das von den müßig zusammensitzenden Familiengliedern ausgeht und allem Anschein nach der Ausdruck vollkommenen Wohlbehagens ist. Vielleicht ist das Fehlen dieses Wohlbehagens der Grund, warum ich dieses Summen von meinen Pfleglingen nie vernommen habe; sie verhielten sich für gewöhnlich ganz ruhig und pflegten nur ihren geliebten Salat mit einem eigenthümlichen, in der Klangfarbe zwischen dem Winseln der Kapuziner und dem Krähen der jungen Mandrills stehenden Geschrei zu begrüßen.
Damit wären wir am Ende unserer Betrachtungen über die beiden eigenthümlichen Affengeschlechter angekommen, die in unseren zoologischen Gärten durch lebhaftere, auffallendere – und wohlgemerkt in der Gefangenschaft haltbarere! – Genossen so ganz in den Hintergrund gedrängt werden. Was wir über ihren „alten Adel“, über ihre merkwürdigen Abstammungs- und Organisationsverhältnisse sagen konnten, wird aber hoffentlich genügend befunden, um sie einiger Aufmerksamkeit des thierfreundlichen Lesers würdig erscheinen zu lassen.
Im Norden Deutsch-Ostafrikas.
Deutsch-Ostafrika hat nach dem Ausspruche Wißmanns zwei Küsten: die eine umspült der Indische Ocean, die andere liegt an den großen mittelafrikanischen Seen, dem Victoria-Njansa, dem Tanganjika und dem Njassa. Die Sicherung der Karawanenstraße zwischen diesen beiden Küsten ist die Hauptaufgabe, welche deutsche Thätigkeit im Inneren Ostafrikas zu lösen hat.
Soweit im deutschen Schutzgebiete seßhafte ackerbautreibende Stämme in Frage kommen, ist die Befestigung der deutschen Herrschaft mit besonderen Schwierigkeiten nicht verbunden. Nachdem auch der Einfluß der Araber wesentlich gebrochen ist, droht die Hauptgefahr von Seiten der Nomadenstämme, welche sich zu beiden Seiten der Hauptkarawanenstraße zeigen. Die Unterschätzung des Hirtenvolkes der Wahehe hat uns jüngst einen Theil der Schutztruppe gekostet. Wir sollten, durch diese bittere Erfahrung belehrt, einem anderen räuberischen Hirtenstamm, der im Norden von Deutsch-Ostafrika haust, besondere Aufmerksamkeit schenken.
Es sind dies die Massai, über die wir den Reisenden Fischer, Thomson und zuletzt Carl Peters ausführlichere Berichte verdanken. Die Massai bieten vielfache Aehnlichkeit mit den Wahehe.
„Wohnhaft auf den Hochplateaus östlich der Seen,“ schreibt über sie Carl Peters in seinem Werke „Die deutsche Emin Pascha-Expedition“ (R. Oldenbourg, München und Leipzig), „wo Winter und Sommer nicht im Umkreis von 12 Monaten, sondern im Laufe von 24 Stunden jahraus, jahrein nebeneinander wohnen, wo der Winter die Nacht für sich genommen hat, die Tropenhitze bei Tage herrscht, ist der Massai abgehärtet gegen alle Unbilden der Witterung. Schnellen Fußes durcheilt er die Steppen bis in die reichen Länder der Bantu im Süden, ja bis in die Küstenplätze hinein. Entsprechend dem natürlichen Charakter seiner Art, hat er sich eine Religionsvorstellung gebildet, wonach nur die Massai Söhne der Gottheit sind und ein natürliches von Gott bestätigtes Anrecht auf alles Vieh der Erde haben. Wer als Nicht-Massai im Besitz von Vieh betroffen wird, ist des Todes schuldig, und schonungslos mordet der Massai nicht bloß die wehrhaften Männer, sondern das Kind an der Mutterbrust, Mädchen und Greisinnen.“
Den Lesern der „Gartenlaube“ sind die Sitten und Gewohnheiten dieses räuberischen Hirtenvolkes aus den anziehenden Schilderungen Fischers bekannt (vergl. Jahrg. 1885, Nr. 13). Als es sich darum handelte, Emin Pascha zu entsetzen, wurde der Weg durch das Massailand von Afrikakennern wie Wißmann, Reichard und Stanley für unmoglich gehalten. Carl Peters hat ihn gewagt und ist aus den Kämpfen mit den Massai als Sieger hervorgegangen. Aus dieser Thatsache wurde vielfach gefolgert, daß die Gefahr von seiten der Massai eine geringfügige sei, daß frühere Reisende die Bedeutung dieser Räuber übertrieben haben. Die Mittheilungen von Peters in seinem oben genannten Werke berechtigen aber keineswegs hierzu. „Ich habe versucht,“ erklärt Peters, „den Massais durch Waldbrände, durch Leuchtraketen, ja durch eine zufällig am 23. Dezember eintretende völlige Sonnenfinsterniß zu imponieren, aber ich habe gefunden, daß diesen wilden Söhnen der Steppe schließlich doch nur die Kugeln der Repetiergewehre und der Doppelbüchse, und zwar in nachdrücklicher Anwendung gegen ihren eigenen Körper, imponiert haben.“
Man hat die verhältnißmäßige Ungefährlichkeit der Massai auch damit begründen wollen, daß sie keine Flinten, sondern nur Speer und Bogen führen; aber die Schilderung, welche Peters von den Angriffen der Massai entwirft, namentlich von der Art und Weise, in welcher sie Deckung beim Angriff zu finden wissen, läßt sie nicht minder kriegsgewandt wie die amerikanischen Rothhäute erscheinen. „Von Baum zu Baum avancieren die Massai,“ berichtet Peters in seiner Beschreibung des Gefechtes im Flußwalde des Guare Gobit, „immer darauf bedacht, sich gegen die Kugeln zu decken. Ich darf sagen, daß ich in diesen nächsten Minuten mein Leben und uns alle für verloren gab und trotzdem, bei dieser tadellosen Art, anzugreifen, ein Gefühl von Bewunderung für unsere Gegner, welche ich doch zu gleicher Zeit tödlich haßte, nicht zu unterdrücken vermochte.“
Nichts berechtigt uns zu der Annahme, daß es gelingen werde, durch friedlichen Einfluß derartige Völkerstämme, welche seit Jahrhunderten Raub und Krieg als ihr vornehmstes Handwerk betrachten, für Kulturzwecke zu gewinnen. Im Gegentheil, je mehr wir Afrika kennenlernen, desto mehr drängt sich uns die Ueberzeugung auf, daß wir auch im dunklen Welttheil auf eine Art von Indianerkriegen gefaßt sein müssen.
Von ihren Hochebenen stürzen sich die Massai ebenso wie die Wahehe in die Tiefebenen herab, und wir werden schwerlich mit ihnen in absehbarer Zeit dauernden Frieden schließen können. Sie werden wohl in erster Zeit durch die Gewehre eingeschüchtert werden, aber später werden sie selbst auch zur Flinte greifen. Was wir von ihnen zu erwarten haben, das läßt sich aus der nachfolgenden Charakteristik dieses Volkes ersehen, welche Peters entwirft: „Gleich den Hunnen Attilas und anderen Nomadenvölkern haben sich auch bei ihnen die Eigenschaften der Raubsucht und Blutgier aufs äußerste entwickelt. Die stete Fleischkost, von welcher sie sich nähren, hat die natürliche Wildheit physiologisch gesteigert, und die Gefühlsverrohung, welche bei den Leuten entstehen muß, die seit Jahrhunderten darauf angewiesen sind, das Hausthier, welches sie selbst emporgezogen und gepflegt haben, dann kaltblütig abzuschlachten und zu verzehren, tritt hier mit besonderer Schärfe auf. Eine Hirtenbevölkerung, wo der Hirte nicht zugleich der Schlächter des Viehs ist, wird die sanften Empfindungen des Herzens zur Entwicklung bringen können, wie wir sie in den arkadischen Gesängen so oft ausgeführt finden. Wo aber der Hirte seit Hunderten von Generationen zugleich der Schlächter seines Viehs ist, wie dies bei den Mongolen auf den Hochplateaus von Centralasien und bei den Massai auf den centralafrikanischen Plateaus der Fall ist, da muß durch Vererbung ein fast absoluter Grad von Herzensverrohung eintreten. Dieses Gesetz hat zu allen Zeiten die Hirten der Nomadenstämme zu den wildesten Erscheinungen der menschlichen Geschichte gemacht, wie wir sie in Europa durch Gestalten wie Attila und Dschingis Chan verkörpert gesehen haben.“ *
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FASTNACHT.
Es war Fastnachtsdienstag, und ich saß in behaglich verhüllendem Domino unter der Galerie des licht- und farbendurchflutheten Festsaals, in welchem die große Redoute der Stadt ein wogendes Meer abenteuerlicher Gestalten in Kostümen aller Zeiten und Länder versammelt hatte; es schien, als hätten sich im träumenden Gehirn eines Geschichtsprofessors die leibhaftigen Vertreter sämmtlicher darin aufgespeicherter Daten ein Stelldichein gegeben und das einengende Gehäuse gesprengt, um nun hier als durchgegangene Wirklichkeit aufzutauchen. Ich hatte mich aus dem Durcheinander von Lachen und Tanz in diese ruhige Ecke gerettet und sah mit höchst philosophischer Befriedigung in das Gewühl der Menschenwellen.
Das Verlangen, die Welt des gemessenen Verkehrs und verkehrter Gemessenheit von Zeit zu Zeit tüchtig auf den Kopf zu stellen und zu versuchen, ob man sie nicht auch so eine Weile ganz unterhaltend im Gleichgewicht balancieren könne – dieses Verlangen muß doch tief in der menschlichen Natur gegründet sein, und es ist nur schade, daß uns nicht der Name des Redlichen aufbehalten ist, welcher es zuerst fertig brachte, das Kaleidoskop des Lebens umzudrehen und in edler Narrethei das oberste zu unterst zu kehren, Freiheit und Gleichheit wenigstens für die maskierte Menschheit zu schaffen; ein Denkmal würde ihm gebühren, diesem königlichen Vater des Prinzen Karneval – das war der letzte Schluß der Weisheit, die sich mir in meinem stillen Beobachtungswinkel aufdrängte. Eine klassische Erinnerung aus der Schulzeit stieg dabei in mir auf, die Worte des römischen Dichters:
„Süß ist’s, wenn weithin im Meere aufrauschen die Fluthen im Sturme,
Anzuschauen vom Land der andern gewaltige Mühsal.“
Und um meine Phantasie vollends in klassisches Fahrwasser zu lenken, tauchte jetzt eine baumlange Gestalt vor mir auf, dünn und antik, offenbar eine Verkörperung des grausamsten der Cäsaren, denn in der Hand trug sie ein Scepter mit der goldenen Umschrift „Nero“. Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, es gab in der ganzen Stadt keinen zweiten von solcher Körperlänge außer dem Steuerdirektor; der Gute, welcher dem blutdürstigen Römer soviel biederes, langbeiniges Sichgehenlassen beimischte, hätte sich also die Maske sparen können – von allen Seiten schallte ihm zur Begrüßung sein wahrer Name entgegen.
Aber war er auch nicht dazu angethan, dämonisches Cäsarenthum zu verkörpern, mich führte er doch zurück in die Zeit altrömischer Fastnacht, das Fest der Saturnalien spielte sich ab vor meinen Blicken.
Einst als noch Saturn mit göttlicher friedlicher Hand über die Erde herrschte, so erzählte sich das alte Rom, da war kein Krieg, kein Streit, keine Arbeit und kein Unterschied von Freien und Sklaven; und nun, da man es anders hatte, da sollte die sonnige Zeit des ersten Menschheitsglückes am frohen Dezemberfeste des Gottes wiedererstehen. Die Gerichte feierten, die Männer legten die Waffen ab und die ernste Toga, in leichtem bequemen Gewand gab man sich der Fröhlichkeit hin. Auf den Straßen schritten die Festzüge, die Häuser hallten wieder von Gesang und Gasterei. In allerhand Vermummungen gefiel sich die entfesselte Freude, die Standesunterschiede schwiegen, der Sklave war frei für die Dauer des Festes – er saß obenan beim Mahle und sein Herr bediente ihn. Ueberall eine umgekehrte Welt!
Und aus dem alten Rom wuchs in meinen Gedanken das neue empor, aus dem Feste der Saturnalien der Karneval: Umwälzungen von Jahrhunderten, eine neue Religion, moderne Bauten und moderne Menschen – und doch die gleiche Fröhlichkeit, dieselbe Freude, jede engende Schranke vergessen, Mensch unter Menschen sein zu können, der Bande und Unterschiede des Lebens, der Thorheiten der Zeit mit lachendem Munde spotten zu dürfen! Bunte Teppiche schmücken die Balkone am Korso, wo helle Lust und lichte Schönheit sich zusammengefunden haben, in der langgestreckten Straße wogen die närrischen Scharen, die einander mit soviel Weisheit zu überschütten suchen, es tobt der Kampf, in dem Confetti und kecke Scherze die friedlichen Geschosse sind, ja dort auf dem Korso drängt sich wohl in dieser Stunde, da ich hier sitze, die nächtliche Menge, mit Moccoli, mit Kerzchen bewaffnet – jede große Sorge des Daseins ist vergessen und nur die kleine Sorge lebt in jedem, das eigene Flämmchen vor dem Verlöschen zu schützen, die der anderen auszublasen mit dem Kriegsgeschrei, das die höchste Wonne einzuschließen scheint „Löscht die Kerzen aus – moccoli, smorzate moccoli!“
Ja, südliches Naturell, ein leichteres Herz, als unter nordischem Himmel schlägt, gehört dazu, um solchen Festes Unverstand ohne die Wehmuth zu genießen, daß vor dem fahlen Lichte des Aschermittwochs die ganze Herrlichkeit versinken müsse – mit diesem Stoßseufzer kehrte ich zu meiner Umgebung zurück, hatte aber sofort Anlaß, mich selbst Lügen zu strafen. Denn wie ich nun aufs neue die Scene vor mir betrachtete, da zeigte sie eine so unverfälschte Fröhlichkeit, das Gepräge so rückhaltlosen Vergessens, daß alle Einwände gegen nordische Schwerfälligkeit sammt dem drohenden Aschermittwoch mir wie Nebel verschwanden, und meinen Domino fester zusammenraffend, stürzte ich selbst mit übermüthigem Narrenspruch ins Gewühl, bereit, jeden Verunglimpfer deutschen Faschings, vom mittelalterlichen Mummenschanz und Fastnachtsspiel an bis zum modernen Maskenball, die Schärfe meiner Zunge spüren zu lassen.
Wie wohlthuend, einmal so recht von Herzen die Wahrheit zu sagen, diese Tugend lachend zu üben, die im Ernste gepflogen nur zu oft wie eine derbe Operation wirkt, hier dagegen, unter Scherz und Narrenfreiheit verhüllt, wie ein Nadelstich, bei dem sich der Betroffene erst besinnen muß, ob er sich ärgern soll oder lachen darf; wie gut das schmeckt, unter der Maske sich selbst zu geben und lästige Formen abzuwerfen! und wie frühlingsduftig muthet es an, im Vorbeigehen dem frischen Geplauder jenes Paares hinter der Säule dort zu lauschen – da fliegt das heute gesetzliche „Du" mit einer Fertigkeit hinüber und herüber, die sehr auf sonstige ungesetzliche Uebung schließen läßt. Harmlose Munterkeit, beflissene Narrenwürde, edler Eifer in der Kunst des Unsinns überall und im Nu – der Aschermittwoch vor der Thür!
Es ist spät geworden; der Morgen zieht mit bleichem Dämmer herauf, wie ich den Saal verlasse. Ein häßlicher Nebel kriecht die Straßen entlang und malt die Welt grau in grau – Aschermittwoch! Vor mir steht an einem Hause eine groteske Gestalt, beim Näherkommen erkenne ich den Kaiser Nero. Der grimme Cäsar schließt seine Hausthür auf; das Scepter hat er demüthig in die Tasche des Ueberziehers gesteckt, er mag ahnen, daß oben eine zarte Frauenhand nach dem glänzenden Symbol der Herrschaft greifen werde, um es nun wieder ein Jahr lang unbestritten zu führen, er mag still überlegen, daß Fastenpredigten noch immer nicht ausgestorben seien: „Aschermittwoch!“ steht auf seinem Gesicht, „Aschermittwoch!“ klingt es aus den Worten, die er bedenklich vor sich hinsummt:
„So kommt der Tag heran –
O ging’ er wieder!“
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Blätter und Blüthen.
Für unsere Landsleute in Rußland. Der herbe Nothstand, unter dem seit der Mißernte des letzten Jahres der Osten des europäischen Rußlands schmachtet, hat auch unsere deutschen Landsleute in den Wolgakolonien im Gouvernement Saratow schwer betroffen. Denn seit sieben Jahren haben die Ernten dort theils ein kümmerliches, theils gar kein Erträgniß geliefert. Schon im vorigen Winter zogen ganze Scharen von Bettlern, zerrissen und zerlumpt, mit erdfahlen Gesichtern von Dorf zu Dorf, von Haus zu Haus, um ein Stück Brot gegen ihren nagenden Hunger zu finden. Viele Familien hatten wochenlang kein Brot und nährten sich von Milch und Steppenthee.
Diese Verhältnisse sind nun unter der Wirkung des fortdauernden Mißwachses allenthalben noch viel schlimmer geworden, und die deutschen Gemeinden sind sammt ihren russischen Nachbarn an der äußersten Grenze der Noth angelangt. Daß der Viehstand fast vollständig zusammen geschmolzen ist, versteht sich von selbst, schlimmer ist, daß es am Allernöthigsten, an Brot und Kleidung fehlt, und mit Entsetzen vernimmt man, daß sogar Fälle von förmlichem Hungertode vorgekommen sind. Die „kombinierte Synode der Berg- und Wiesenseite der Wolga“ hat darum einen warmen Aufruf zur Unterstützung ihrer Gemeindeglieder erlassen, und gerne geben wir ihrer Bitte um milde Gaben auch in der „Gartenlaube“ Verbreitung. Unsere Leser werden für das furchtbare Elend, das über Hunderttausende ihrer deutschen Brüder im fernen Osten hereingebrochen ist, gewiß ein offenes Herz und eine offene Hand haben. Beiträge bitten wir an die Adresse des Pastors G. A. Thomson in Saratow, Rußland, zu richten.
Einjährig-Freiwillige mit Elementar- und Fachschulbildung. Goldene Schätze liegen oft unbeachtet im Schreine, weil der Besitzer ihren Werth nicht kennt oder davon nicht zu rechter Zeit Gebrauch zu machen versteht. Aehnlich ist es mit der Berechtigung zum Einjährig-Freiwilligendienst. Als Vorbedingung hierzu gilt nicht allein der Nachweis über das erfolgreiche Insichaufnehmen einer mehr oder weniger begrenzten Wissensmenge, sondern auch, was vielfach nicht genügend bekannt ist, die Bethätigung hervorragenden Könnens auf künstlerischem, technischem oder sonst einem gemeinnützigen Gebiete; Kenntniß fremder Sprachen ist dabei nicht verlangt, jedoch eine gute Elementarschulbildung – ein Erforderniß, welches nicht nur dem Künstler von Beruf, sondern auch dem begabten Techniker, dem Gewerbetreibenden, der eine Fachschule mit Erfolg besucht hat, in vielen Fällen zur Seite steht.
Nach den Ermittlungen des Oberlehrers Perthes in Bielefeld wurden auf Grund des hier in Betracht kommenden sogenannten „Künstlerparagraphen“ (§ 89,6 der deutschen Wehrordnung) in fünf Jahren zum Einjährig-Freiwilligendienst zugelassen aus der Provinz Hessen-Nasau 48 Personen, aus den Provinzen Hannover und Brandenburg 22 und 20, aus dem Regierungsbezirk Köln 12 Personen.
Für den tüchtigen Fachmann, der mit Recht heutzutage mehr und mehr dem mit der Fülle des Wissens ausgerüsteten „Studierten“ an die Seite gestellt wird, liegt hier ein erstrebenswerthes Ziel vor – werth wenigstens eines ernstlichen Versuches.
Im Kreuzfeuer. (Zu dem Bilde S. 104 und 105.) In lustigem
Trabe fährt der wohlhabende Bauernsohn mit seinem Schlitten von seinem
Gehöft ab dem Dorfe zu. Er ist ein schmucker Kerl, wie man sie unter
den Slovaken in den nördlichen Komitaten Ungarns nicht selten findet.
Mit allen Mädchen treibt er seinen Schabernak und mit allen lebt er auf
fröhlichem Kriegsfuß.
In lustigen Gedanken pfeift er vor sich hin. Da biegt der Weg in die Dorfstraße ein – und im selben Augenblick sausen ihm drei, vier Schneeballen gleichzeitig um die Ohren. Oho – aufgepaßt! Die Mädchen am Brunnen haben von ferne das Klingeln gehört und im Nu ist der Kriegsplan fertig. Rechts und links von der Straße fassen sie Posto und lauern auf den Augenblick, wo sie ihren Mann sicher haben. Was hilft’s, daß dieser mit Geistesgegenwart die kräftigen Gäule zu rasender Eile treibt, ganz ungerupft kommt er doch nicht durch dieses Kreuzfeuer. Schlitten und Gewand zeigen manchen Treffer und kaum schützt die Linke das Gesicht vor den wohlgezielten Geschossen. Aber eigentlich ist’s ihm so ganz recht! Kaum haben ihn seine Rosse dem Bereiche des feindlichen Feuers entzogen, so spintisiert er schon über einem Racheplan – die Reihe ist jetzt wieder an ihm!
Die neue Pelzgarnitur. (Zu dem Bilde S. 109.)
Warm zu halten ist ja nicht der erste Zweck des neugeschenkten
Pelzschmuckes, sondern die Freundinnen neidisch zu machen! Lieschen
im ersten Federhut, welchen gleichfalls das Christkind bescherte,
kann den Weihnachtsmorgen kaum erwarten, um draußeu am Eisplatz den
übrigen Backfischchen gründlich zu imponieren – jetzt
fehlt ihr ja nur noch das lange Kleid zur erwachsenen
Dame! So sammelt sie denn bewunderungsbedürftig ihre
Freundinnen um sich – aber die sind auch nicht von heute.
Die kleine Intriguantin, die Elsbeth in ihrem alten Radmantel,
welcher gegen Lieschens neue Pelzjacke so unvortheilhaft
absticht, sie weiß ganz gut, daß solche Schaustellungen
der Eitelkeit für den Schausteller selbst recht
ärgerlich werden, wenn man sie nicht bemerkt, und so
sieht sie mit eisernem Gleichmuth
über den auffordernd vorgestreckten Muff der Freundin hinweg
ins Weite, während ihr Gegenüber in gutmüthigem Spott herüberlacht.
Und ach! wie macht sich der Spott erst hinter Lieschens Rücken
breit – da bleibt nur Klein-Ella übrig, das unverdorbene Gemüth:
sie staunt den theuren Pelz mit derjenigen Verblüfftheit an, welche
dessen Trägerin trotz des scheinbar gleichgültig abgewandten Blicks
mit verlangendem Herzklopfen erwartet. Eine sprechende Scene! Der
Künstler hat sie mit scharfem Auge gesehen und mit lebhafter Deutlichkeit uns vorgeführt.
Ein Lustschloß des Prinzen Eugen von Savoyen. Bei dem Umzuge
der k. k. Gemäldesammlung aus dem Belvedere in das neue Kunstmuseum am Ring sind manche Schätze, die bisher nur einzelnen
Kunstfreunden bekannt waren, erst an das Licht der Oeffentlichkeit
gerückt worden. So wurde auch eine Anzahl Canalettos ersten Ranges
aus dem dunklen Verließe der Aufbewahrungsräume erlöst und an
Ehrenplätzen des Museums aufgehängt, zur Augenweide solcher, welche
die Kunst und Wien lieben. Denn jene Gemälde gehören nicht nur zu
den vorzüglichsten dieses Meisters, sondern sie haben noch dadurch einen besondern ortsgeschichtlichen Werth, daß sie uns alte Plätze und Straßen der Kaiserstadt und Lustschlösser in der Umgebung derselben mit der
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merkwürdigen gesellschaftlichen Staffage des vorigen Jahrhunderts getreulich und anmuthig schildern. Mehrere dieser Prachtbilder stellen „Schloßhof“, jenes Schloß im Markte Hof auf dem Marchfelde, dar, das Prinz Eugen, der edle Ritter, im Jahre 1725 kaufte und bald derart erweiterte und verschönerte, daß seine Geschichtschreiber es als einen der reizendsten Herrschaftssitze, als eines der großartigsten Gebäude Oesterreichs preisen durften.
Der Mehrzahl der Wiener wurde jetzt erst bekannt, daß da draußen im Marchfelde, das von Ausflüglern wenig besucht wird, ein Lustschloß zu schauen sei, vielleicht schöner, jedenfalls großartiger als Prinz Eugens männiglich bekannte Prachtschöpfung, das Belvedere in Wien. Das alte kleine viereckige Schloß mit einem Dutzend Fenstern auf den vier Seiten schuf Prinz Eugen in ein zweistöckiges hohes Gebäude mit 192 Gemächern und so vielen Fenstern um, als Tage im Jahre sind; zwischen dem Schloß und den zahlreichen Wirthschaftsgebäuden brachte er Wandelgänge, Springbrunnen, Gärten und Gärtchen, Standbilder und Riesenvasen an. Der in französischer Art terrassenförmig von ihm angelegte Garten ist durch schöne Bastionen und Steingeländer abgetheilt, und wenn der Belvederegarten eine herrliche Aussicht über Wien zum Kahlengebirge hinüber bietet, so sieht man von Schloßhof aus über die weiten Felder und Wiesen des Marchfeldes, nach Ungarn hinüber zu den kleinen Karpathen, die Höhe von Theben an der Einmündung der March in die Donau, die Berge bei Hainburg, das Leithagebirge, die Auen der Donau, den Wiener Wald und in weiter Ferne den Schneeberg.
Nicht minder als der Freund der Natur findet hier der Kunstfreund sein vollstes Genügen. Da ist die prächtige Schloßkapelle mit schimmernden Marmorwänden, schönen Fresken, mit dem riesigen Altarbilde, welches die Kreuzabnahme Christi nach dem im Belvedere, beziehungsweise im Kunstmuseum befindlichen Rubens darstellt, mit Kirchenstühlen und anderen Einrichtungsgegenständen, wahren Mustern des Barockstils, insbesondere auch mit werthvollen Meßgewändern, die zum Theil die Anfangsbuchstaben Maria Theresias tragen. Da sind im Park schmiedeeiserne Gitterthore, von Kennern auf je 20 000-Gulden geschätzt; in den Zimmern hohe Venezianer Spiegel, deren jeder 1000 Dukaten, ein Kamin von purpurrothem, weißgesprengtem Marmor, der 20 000 Gulden kostete; da sind auf 10 000 Gulden geschätzte Prachtbetten mit schweren, gelben Atlasdecken, in die Blumen aus Seide gestickt sind, daß der Pinsel des Malers es nicht feiner machen könnte, und das zusammenlegbare Feldbett Eugens mit Vorhängen aus Seide, nach orientalischem Muster mit Blumen und Thieren bestickt; riesige, mythologische Deckengemälde, Wände mit den kostbarsten Atlastapeten oder den vom Prinzen bei Mehadia erbeuteten türkischen Stoffen; Darstellungen der Siege Prinz Eugens und große Thiergemälde.
Kein Wunder, daß der edle Prinz diesen durch Natur und Kunst so schönen Ort, so oft er nur konnte, zu Wasser und zu Land aufsuchte! Unter seiner Erbin aber, Prinzessin Maria Anna Victoria, die Schloßhos ihrem Gemahl, dem Feldzeugmeister Prinzen Wilhelm von Sachsen-Hildburghausen schenkte, wurden hier Festlichkeiten mit einer unglaublichen Pracht begangen, so z. B. im September 1754, als Maria Theresia mit Kaiser Franz, Erzherzog Karl und den Erzherzoginnen Maria Anna und Maria Christina zum Besuch in Schloßhof eintrafen.
Die Herrschaften speisten den ersten Tag an 20 kostbaren Tafeln, wo beim Nachtische die 12 Monate in schönen Gebilden aus Zucker dargestellt waren. Dann spazierte man durch den Park, bewunderte ein nur von Rasen und zugestutzten Spalieren gebildetes Theater, wo alsbald eine Serenade mit einem eigens von Metastasio gedichteten Texte begann. Die Sängerinnen Tesi und Hennisch forderten die Bewohner der Wälder auf, den Majestäten zu huldigen, die Gebüsche füllten sich mit Bauern, Bäuerinnen und Kindern, die nicht nur tüchtig sangen, sondern auch den Text „in wälscher Sprache so klar und deutlich als wie geborene Italiener aussprachen, wobei denn sonderlich der Eifer, mit welchem auch die kleinsten Kinder von sieben oder acht Jahren sothane Expressionen mit vollem Halse herausschrieen, über alle Maßen zärtlich anzuhören“ Des Abends wurde im Schloßtheater eine italienische Oper
aufgeführt und bei der Abendmahlzeit durch kunstreiches Zuckerwerk „die Glorie des Erzhauses Oesterreich“ dargestellt. Tags darauf sollte eine noch nie gesehene Jagd stattfinden. Der Prinz hatte 800 Hirsche zusammentreiben lassen, welche einige hundert Bauern in die March scheuchen sollten, an deren jenseitigem Ufer die Schießstände der Herrschaften errichtet waren, während die Majestäten und ihr Gefolge auf einem venetianischen Bucentauro und sechs kleineren Schiffen an der Jagd theilnehmen sollten. Allein die Kaiserin, „dero mitleidiges Herz nicht einmal daß einem Thiere wehe geschehe, zusehen kann“, schenkte dem gehetzten Wilde die Freiheit. Damit war aber die rohe Jagd noch nicht zu Ende. Man hatte noch im obersten Stockwerk eines Gartenpalastes 1000 Hasen, 130 Füchse und 60 Wildschweine eingesperrt, die nun über Stiegen herunterspringen sollten, um den Jägern in den Schuß zu laufen. Viele derselben verfehlten jedoch den vorgezeichneten Weg, sprangen geradeswegs herunter „und haben sich immediate tot gestürzet“. Vernünftiger war wieder die Abendunterhaltnng, italienische Oper und Tanz.
Tags darauf wurde durch das Zuckerwerk des Nachtisches diese raffinierte Jagd nachgebildet und dann ein noch merkwürdigeres Vergnügen veranstaltet, ein Wassergefecht auf einem Teiche; zwei Quadrillen, von je vier Schiffen aufgeführt. Auf sechs Felsen im Teiche schlugen die Vorüberfahrenden, worauf aus denselben Füchse, Hasen, Wölfe, Frischlinge, Gänse und Enten herauskamen; dann führten die Schiffe ein Wasserkarussell auf und bekämpften sich mit Spritzen. Eine Insel – mit exotischem Garten, mit Standbildern der Donau und March, die aus ihren Armen Wasser auf einen Wasserfall gossen, und der Clementia und Justitia, die anzeigten, „daß Ihro Majestäten alle Bedienung in Schloßhof mit nichten nach Justiz abwägen, sondern nach der Clemenz mit indulgenter Großmuth ansehen möchten“ – schwamm gegen die Majestäten heran; in Atlas und Silber gekleidete Gärtner luden dieselben ein, von ihren Früchten aus Zucker zu kosten, Fischer gaben ihnen Netze, womit sie aus einem Becken allerlei Fische fingen. Diese Wasserkünste wurden denn auch von den Majestäten als eine „noch nie gesehene, partikulär erdachte Invention“ gelobt, ebenso wie die Feuerwerkskünste und das große Bacchusfest, mit dem der kaiserliche Besuch schloß.
Da Kaiser Franz an Schloßhof so großes Gefallen gefunden, so kaufte es Maria Theresia 1755 für denselben um 400 000 Gulden. Schloßhof war später noch einmal, im April 1766, bei der Vermählung der Erzherzogin Christine Schauplatz großartiger Festlichkeiten. Sonst kam der kaiserliche Hof meistens nur zu den Jagden im Herbste dorthin, oder zur Zeit der Reichstage in Preßburg, wo die Magnaten eingeladen wurden. Auch Kaiser Franz Josef hat Schloßhof öfters bei Gelegenheit von Hofjagden besucht. Am 22. Juli 1866, dem Tage der Schlacht bei Blumenau, erhielt Schloßhof Einquartierung von 300 Preußen; auch Fürst Bismarck hielt sich dort auf. In den letzten Jahren ist vieles für die Instandhaltung des Schlosses geschehen, das, wie uns die Feder des Geschichtschreibers Jos. Maurer und der Pinsel des Malers schildert, im vorigen Jahrhuudert so herrliche Glanztage gesehen hat. L.
Ein Wohlthätigkeitsfest in Berlin. (Zu dem Bilde S. 120.) Wir bringen unseren Lesern hier eine kleine Kopie des reizend erdachten und künstlerisch ausgeführten Bildes, mit dem H. Fechner, einer unserer beliebtesten jüngeren Künstler, das Programm geschmückt hat für ein Wohlthätigkeitsfest des Berliner „Vereins für häusliche Gesundheitspflege“, der bedürftigen Kranken die nöthige Pflege, Schwachen Stärkungsmittel, Kindern gute Milch verschaffen will, gewiß einer der schönsten Zwecke, welche sich die hilfsbereite Menschenliebe stellen kann. Auf dem Bildchen ist das freundliche Geben dargestellt wie das beglückte Empfangen; all die kleinen, halb scheu halb begehrlich blickenden Gestalten sind schon an uns vorbeigegangen, wir kennen sie, wie sie der Künstler kennt, der sie so lebenswahr festgehalten hat. Und mit welcher Freude sie dann zurückkommen zu „Muttern“, begierig, die Gaben zu zeigen; wie der kleine Blondkopf die Flasche so festhält: „Ach, Muttchen, sieh nur man, ’ne große Pulle für Vatern hab’ ich doch gekriegt“ – das ist herzerfreuender Realismus! E. V.
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Prinz Karneval.
(Zu dem Bilde S. 101.)
Die Fahne hoch in freiem Flug,
Und hinterdrein ein langer Zug
Von lustigen Gesellen!
Prinz Karneval ist eingekehrt,
Die Pritsche ist sein Heldenschwert,
Es klingeln seine Schellen.
Fort alles, was das Herz bedrängt,
Was uns in enge Fesseln zwängt,
Die Heuchelei und Lüge!
Das kühne Wort schlägt zündend ein
Und fegt die dumpfen Lüfte rein
Für freie Athemzüge.
Und des Champagners Gluth erhellt
Mit rosigem Schimmer Herz und Welt,
Und Gram und Sorge schwinden,
Und schöne Tage, längst verträumt,
Erstehn zum Leben lichtumsäumt,
Uns neuen Kranz zu winden.
Die Maske vor in Spiel und Scherz,
Die Maske fort von Geist und Herz,
Die wir im Leben tragen!
Heut hat die Narrheit Feiertag
Und ohne jeden Schleier mag
Sie selig sich behagen.
Du Prinz und Herr im Narrenreich,
Du bist beschwingten Faltern gleich,
Die farbenprächtig funkeln –
Doch naht mit seinem Mottenflug
Der Aschermittwoch früh genug,
Dein Leuchten zu verdunkeln.
Bald löscht er aus der Lichter Glanz,
Hat wie gespenstigen Totentanz
Den Maskenscherz vertrieben;
Doch blieb ein Leuchten noch zurück,
Und Funken sind’s von Lust und Glück,
Die aus der Asche stieben.
Rudolf von Gottschall.
Künstler und Dilettant. „Kulturgeschichtliche Charakterköpfe“ hat
Altmeister W. H. Riehl ein Buch überschrieben, das kürzlich bei Cotta erschienen ist. Er hat darin eine Reihe von Persönlichkeiten gezeichnet, die für ihre Zeit eine gewisse typische Bedeutung hatten, gezeichnet mit jener plastischen Klarheit, wie man sie von einem Manne erwarten darf, der wie Riehl zugleich Meister der Beobachtung und des Stils ist. Unsere Leser erinnern sich gewiß der prächtigen Skizze „Eine Rheinfahrt mit Josef Viktor Scheffel“, welche die „Gartenlaube“ in Halbheft 15 des vorigen Jahrgangs veröffentlichte. Diese und manche andere in engerem oder weiterem Sinne verwandte sind in diesem „Buch der Erinnerung“ gesammelt zu einer außerordentlich anziehenden literarischen Porträtgallerie.
Unter den Charakterköpfen, welche Riehl so mit gewandtem Stift theils leicht hinwirft, theils genauer ausführt, erscheint auch Moritz von Schwind, der phantasie- und gemüthvolle Schöpfer jenes Bildercyklus zu dem Märchen von den „Sieben Raben“. Riehl erzählt von ihm u. a. eine prächtige Geschichte, welche die unter Umständen etwas „unverblümte“ Art des Künstlers trefflich kennzeichnet. Zu Schwind kam einmal ein vornehmer Dilettant und bat ihn, er möge ihn doch auf einige Tage oder Wochen in seine Schule nehmen und ihn namentlich in seiner meisterhaften Kunst der Bleistiftskizze unterweisen, er möge ihm zeigen, wie er das eigentlich anfange. Darauf erwiderte Schwind. „Hierzu bedarf es keiner Tage und Wochen, lieber Herr Baron, ich kann Ihnen in drei Minuten sagen, wie ich’s anfange. Hier liegt mein Papier – wollen Sie sich gefälligst notieren – ich kaufe es bei Bullinger, Residenzstraße 6; dies sind meine Bleistifte – A. W. Faber – ich beziehe sie von Andreas Kant, Kaufingergasse 10; von derselben Firma habe ich auch dieses Gummi, gebrauche es aber wenig, desto öfter benutze ich dieses Federmesser, um die Bleistifte zu spitzen, es ist von Tresch, Dienersgasse 10, und sehr empfehlenswerth. Habe ich nun alle diese Dinge beisammen auf dem Tische liegen und dazu einige Gedanken im Kopf, dann setze ich mich und fange an zu zeichnen. Und jetzt wissen Sie alles, was ich Ihnen sagen kann.“
Als aber der Maler August von Wörndle aus Wien ihn über seine Art der Freskomalerei befragte, da ließ er gleich einen Bewurf im Atelier machen und malte ihm frischweg ein Studium an die Wand!
Die Eröffnung der Kemptnerhütte. (Zu dem Bilde S. 121.) Seit einer Reihe von Jahren sind die verschiedenen alpinen Vereinigungen bestrebt, durch Errichtung von Schutzhütten mitten in der Bergeseinsamkeit das Eindringen in die Herrlichkeiten der großartigen Alpenwelt zu erleichtern. Ausgerüstet mit bequemen Nachtlagern, Eß- und Trinkvorräthen, wohl auch in der guten Jahreszeit förmlich bewirthschaftet, bieten sie gleichsam die weit vorgeschobenen Posten der Kultur, von denen aus der Natur- und Gebirgsfreund seinen Vormarsch antritt in die wundersame Welt der Spitzen und Schrofen, des ewigen Eises und ewigen Schnees. Sie ermöglichen es dem Bergwanderer, die Tagesarbeit, welche ihm die Besteigung eines Gipfels, der Uebergang über ein Hochjoch bringt, von einem Theil des Anstiegs zu entlasten, der ihm sonst kostbare Stunden des Tages rauben und nur zu häufig erhebliche Schwierigkeiten bereiten würde. Denn über ein bereits von der Sonne erweichtes Schneefeld zu pilgern ist keine Kleinigkeit, knietief sinkt der Wanderer ein und auch der Kräftige ermüdet aufs äußerste. Es hängt darum viel davon ab, daß solche Strecken zu einer möglichst frühen Tagesstunde überschritten werden, wo die hartgefrorene Kruste der Oberfläche die Last eines Menschen noch zu tragen vermag.
Der Deutsche und Oesterreichische Alpenverein ist gegenwärtig im Besitze von nicht weniger als 129 solcher Hütten, welche von seinen Sektionen im Laufe der letzten dreißig Jahre erstellt wurden. Eine der jüngsten ist die von der Sektion Algäu-Kempten errichtete Kemptnerhütte am Obermädelejoch, jenem Uebergang vom Trettachthal oberhalb des vielbesuchten Oberstdorf im bayerischen Algäu hinüber nach dem oberen Lechthal. Sie wurde im August vorigen Jahres feierlich eröffnet. Unsere Abbildung giebt uns eine Darstellung der festlich geschmückten Hütte, um die sich die Festtheilnehmer gesammelt haben, Führer und „Herren“ Alte und Junge. Auch einen alten Bekannten, Leo Dorn von Hindelang, entdecken wir unter den Vordersten, und natürlich fehlt auch der Liebhaberphotograph nicht. Die Kemptner Hütte ist von mittlerer Größe. Sie bietet auf sechzehn Matratzen und zwei Heulagern Raum für fünfundzwanzig bis dreißig Personen. Möge ihr fester, wetterstarker Bau viel fröhliche Wanderer beherbergen!
Das Einsalzen der Kinder. Das Einsalzen war sicher die erste Art der Konservierung von Nahrungsmitteln, welche den Völkern bekannt wurde. Das Meer, in welchem die Fäulniß nicht so leicht vor sich geht, war ihr Lehrmeister, und so kam es auch, daß dem Salze schon frühzeitig eine erhaltende und stärkende Kraft zugeschrieben wurde. Diese Kraft sollte auch dem jungen Erdenbürger, welcher gerade das Licht der Welt erblickt hatte, zu statten kommen, und es entwickelte sich die namentlich im Orient weit verbreitete Sitte, neugeborene Kinder in Salzwasser zu baden oder regelrecht einzusalzen.
„So hat man dich auch mit Wasser nicht gebadet, daß du sauber würdest, noch mit Salz gerieben,“ singt der Prophet Hesekiel, und der Orientale versteht wohl, was diese Worte zu bedeuten haben – eine arge Vernachlässigung der Kindespflege! Die Juden und andere orientalische Völker haben sich allerdings später damit begnügt, die Neugeborenen nur in Salzwasser zu baden, aber die alte Sitte des Einsalzens hat sich dennoch hier und dort erhalten. In dem russischen Gouvernement Eriwan wird sie von den Armeniern geübt. Die ganze Oberfläche des Neugeborenen wird mit feingestoßenem Kochsalz bestreut, wobei vor allem die Falten und Vertiefungen der Achselgruben, der Kniekehle, Daumengegend etc. bedacht werden. Nachdem das Kind drei Stunden und länger in Salz gelegen hat, wird es in reinem erwärmten Wasser gebadet. In einigen Bezirken haben die Armenier diese Sitte aufgegeben und werden darum von ihren Nachbarn „ungesalzene“ Armenier genannt.
Auch die Nachkommen der klassischen Griechen bestreuen ihre Kinder mit Salz. Weigern sich die aufgeklärteren Mütter, diese Behandlung zuzugeben, so bedeuten ihnen die Hebammen: „Wenn ich dein Kind nicht mit Salz bestreue, so wird es elend und wird zu nichts taugen.“
Wie vertragen nun die Kleinen dieses Einsalzen? Wird des Guten zu viel gethan, dann bekommt ihnen die stärkende Kur schlecht; die Haut erhält ein feuerrothes Ansehen, das Kind kann den starken Hautreiz nicht vertragen und geht an Krämpfen zu Grunde. Trotzdem giebt es Völker, wie z. B. die Bergbewohner Isauriens in Kleinasien, welche das neugeborene Kind unbarmherziger Weise 24 Stunden lang in Salz legen, um seine Haut zu stärken: wahrhaftig, der Mensch hat eine unverwüstliche Natur!
Auch bei uns in Deutschland wird das Einsalzen an manchen Orten noch ausgeübt, aber nur symbolisch. In der Rheinpfalz streut man z. B. dem Kinde Salz hinter die Ohren, anderwärts steckt man in Papier eingewickeltes Salz in die Windel oder legt dem Neugeborenen eine Prise Salz auf die Zunge. Das bringt Verstand, wie die Leute meinen, und schützt vor Unholden.*
Zerstörte Hoffnungen. (Zu dem Bilde S. 117.) Es ist ein Stück herzergreifender Tragik, welches das Bild Otto Kirbergs uns vorführt. Wir schauen in die Häuslichkeit eines bejahrten holländischen Seemanns, der es durch eigene Kraft und Tüchtigkeit zu einem behäbigen Wohlstand gebracht und der sich nach vielen stürmischen Fahrten zur Ruhe gesetzt hat, um seinen Lebensabend im Kreise seiner Familie zu genießen. Die „Fortuna“, das schöne Schiff, welches unter seiner Führung mit so mancher gewinnbringenden Fracht in den heimischen Hafen einlief, hat er dem einzigen Sohne übergeben, der unter der väterlichen Zucht auf den Wellen des Weltmeeres zu einem der strammsten Kapitäne herangewachsen war. Während Willem, der Sohn, mit der „Fortuna“ fremde Länder aufsucht, führt der rüstige Alte das Regiment im Hause, und seine „Frauensleut’“ machen ihm dasselbe wirklich nicht schwer. Noch gestern abend saß Peter Adrian mit den Seinen gemüthlich an dem runden Tisch und las nach vollbrachter Tagesarbeit ein Kapitel aus der Familienbibel vor. Mutter Zwantje, sein treues Weib, hörte andächtig mit gefalteten Händen zu, während ihre Seele draußen auf den grollenden Nordseewogen den Sohn suchte, der sich mit der „Fortuna“ auf der Heimreise befand und der bald, vielleicht morgen schon, mit fröhlichem Gesicht bei ihnen eintreten konnte. Auch Karlien die Tochter, blickte zufrieden und sinnend drein; sie hatte den Jüngsten der Familie, den kleinen Pietter, zu Bett gebracht und überdachte nun noch einmal all die Lieblingsgerichte, die sie dem heimkehrenden Bruder kochen wollte, um ihm das Vaterhaus, das eigene Heim angenehm zu machen. Nur Antje, die junge Schwiegertochter, [132] Willems Frau, rückte unruhig auf dem Stuhle hin und her, richtete angstvolle Blicke nach dem Fenster, wo der Nachtwind heulend gegen die Scheiben fauchte, und horchte bang auf das Brausen des Meeres.
„Vater, ich bitt’ Euch, haltet ein! Ich ertrag’ das Stillsitzen nicht,“ flehte endlich die junge Frau, „hört Ihr nicht, wie der Wind kreischt und die See brüllt?“
Der alte Peter Adrian lächelte. „Willst ’ne richtige Schiffersfrau sein, Antje, und ein bißchen Blasen bringt Dich aus ’m ruhigen Kurs? Denk’ doch daran, daß ich selber fast zwanzig Jahre lang die ‚Fortuna‘ geführt und manches schlimmere Wetter mit dem guten Schiffe bestanden habe!“
„Aber Nachbar Geerd, der mit seinem Sohne die Küstenwache hat, sagte doch im Vorübergehen, wenn der Wind nicht abflaute, würden wir eine Sturmfluth besehen, wie noch nie eine an unsere Küsten schlug?“ fragte Antje zwischen Hoffen und ängstlichem Zweifel.
„Was der nicht schwatzt, der Geerd,“ spottete der Großvater, dem aber selber bei dem sich steigernden Unwetter nicht mehr ganz behaglich war. Ein neuer Sturmstoß ließ das Haus erbeben, und in das Windestoben mischte sich das dumpfe Donnern des Meeres, das seine aufgewühlten Fluthwellen mit furchtbarer Gewalt gegen die Deiche warf. Nichtsdestoweniger bestand der Alte darauf, daß zu rechter Zeit zu Bett gegangen wurde. Aber kein Schlaf kam in ihre Augen; die Vier lauschten allesammt auf das wilde Sturmkonzert in den Lüften und beteten stumm und reglos unter den schweren Federkissen für das Wohl des Einzigen, für den Sohn, den Bruder, den heißgeliebten Gatten. Nur das jüngste Menschenkind der Familie, das kleine Pietterchen, schlummerte sorglos in dieser Nacht wie in jeder anderen.
Als der regengraue Morgen anbrach, da hatte der Wind nachgelassen und die Hochfluth begann langsam zu sinken. Mutter Zwantje war schon früh an ihre wirthschaftlichen Arbeiten gegangen und hatte auch Karlien und Antje mit sanfter Gewalt zur gewohnten Thätigkeit angetrieben. Der Alte hielt am Giebelfenster Ausguck; Geerd mit seinem Sohne mußte hier vorbeikommen, und die beiden sollten ihm sagen, ob „draußen etwas passiert sei.“
Er brauchte nicht lange zu warten. Geerd und sein Hinnerk nahmen ihren Weg gerade auf das Haus zu, und mit ihnen kam ein Knabe, einer von den jugendlichen Strandbummlern, die an allen Hafenplätzen zu finden sind. Der Junge trug – ein Stück von einer Schiffsplanke.
Peter Adrian fühlt plötzlich seine Kniee zittern, er muß sich setzen, hat aber doch noch so viel Besinnung, daß er seiner Hausfrau zuruft: „Mutter, willst Du nicht für eine kleine Herzstärkung sorgen?“ Mutter Zwantje eilt in die Küche, und derweil hört der Alte, wie die Unglücksboten draußen ihre schweren nassen Seestiefel säubern, wie der Junge sogar seine Holzpantinen auszieht, um die frisch gewaschenen Fliesen des Hausflurs nicht zu beschmutzen. Das alte tapfere Seemannsherz schlägt ihm zum Zerspringen.
Die nun folgende Scene hat unser Künstler mit ergreifender Innigkeit und Wahrheit dargestellt. Es ist kein Zweifel mehr, die Hoffnung der Familie ist zerstört, ihr Glück vernichtet: die Buchstaben auf der angeschwemmten Planke zeigen ja den Namen „Fortuna“. Willem ist also tot, und mit ihm seine ganze Mannschaft; denn bei solch furchtbar tobendem Wetter konnte kein einziger aus dem Schiffbruch gerettet werden.
Stramm und ungebeugt hört der alte Seemann den Bericht von der grausigen Strandung und dem Untergang seiner Brigg; Antje, Willems junge Frau, ist in besinnungslosem Schmerz zusammengebrochen, während Karlien, die Schwester, helfen und trösten möchte, wo ihr doch selber fast das Herz bricht. Nur das Pietterchen begreift nichts von dem unersetzlichen Verlust, den es erlitten hat, es schmiegt sich an Großvaters Knie und hört verwundert den beiden Männern zu, die so ernsthaft und eindringlich erzählen. In dem Kinde muß der schwergeprüften Familie ein Trost erblühen, denn, was die Gegenwart an Hoffnungen barg, das ist unerbittlich und grausam zerstört. H. P.
Das Edelweiß und sein Filzkleid. Warum ist wohl die berühmteste Alpenpflanze, das schmucke Edelweiß, über und über in einen weißen glanzlosen Filz eingehüllt? Dieser Filz besteht aus kleinen, mit Luft gefüllten Gebilden, welche der Botaniker „Deckhaare“ nennt und welche die Pflanze vor übermäßiger Abgabe der Feuchtigkeit, vor deren allzu rascher Verdunstung schützen. Die Deckhaare sind eine Art trockener Leinwandmarkise, hinter welcher die zarten Theile der Pflanzen vor der übermäßigen Wirkung der Sonnenstrahlen sicher sind.
Ist denn aber das Edelweiß in den kühlen Alpenregionen solchen
Gefahren des Verdorrens ausgesetzt? – Ja, denn es wächst auf abschüssigen Stellen, auf denen nur eine schwache Kruste Erde sich befindet, die in regenlosen Zeiten, wenn die Sonne niederstrahlt oder der trockene Föhn weht, in kürzester Zeit völlig ausgedörrt wird. Darum trägt es jenes Haarkleid, welches z. B. auch der Flora der Länder um das Mittelmeer so eigenthümlich ist, daß man die dortige Pflanzenwelt nicht „immer grün“, sondern eher „immergrau“ nennen könnte. – Die alpine Flora ist vielfach mit derjenigen der Polarländer verwandt, aber im hohen Norden würden wir vergebens nach dicht behaarten Pflanzen wie das Edelweiß oder die Edelraute suchen; im Gegentheil, dort haben die charakteristischen Pflanzen der Landschaft kahle grüne Blätter, denn sie bedürfen keines Schutzes gegen Verdorren. So ist der Schmuck des Edelweißes eine praktische Einrichtung der Natur, ein Schutzmittel für die Pflanze. * *
Auflösung des Königsmarsches auf S. 100:
Ich liebe, die mich lieben,
Und hasse, die mich hassen.
So hab’ ich’s stets getrieben
Und will davon nicht lassen.
Dem Mann von Kraft und Muthe
Gilt dieses als das Rechte;
Das Gute für das Gute,
Das Schlechte für das Schlechte.
Man liebt, was gut und wacker,
Man kost der Schönheit Wange,
Man pflegt die Saat im Acker:
Doch man zertritt die Schlange. Friedrich Bodenstedt.
Auflösung der Dominoaufgabe auf S. 100:
C behielt D behielt |
Der Gang der Partie war: A 2/2, B –, C –, D 2/3; A 3/4, B –, C 4/4, D 4/6; A 6/2, B –, C –, D 2/1; A 1/6, B 6/6, C 6/5, D 5/5; A 5/2, B –, C –, D –; A 2/4, B –, C 4/1, D 1/0; A 0/2.
Auflösung der Damespielaufgabe auf S. 100:
1. D h 6 – e 3 2. D a 5 – c 3 3. D c 3 – d 2 4. D d 2 – c 1 5. D e 5 – h 2 6. D c 3 – g 5 7. D h 2 – g 3
D f 8 – a 3! am besten. D a 3 – e 7 a) b) D e 7 – d 8 a) b) c) D d 8 – h 4 a1) b1) D h 4 – d 8 (f 6) D – h 4 † gewinnt.
3. n o 3 – e 1 4. II e ü – c 3 K. 1> e 3 – c b anf 4……………………….
5. U >! I – >l 2 V. I> e 3 – d 2 7. I> e 3 – I> S 3………………………….
4. I> n 3 ^ 5 ü. I) e ü – 8 3 l) L 3 – f 8 II k 8 – L 3 llr) i-i) I) L 3 – k 8 gewinnt.
I> n 3 – ei 1> e 1 – n3 I) -r 3 – e 1 s gewimit.
II s 8 – e 7 II e 7 – I> 4 f gewinnt.
L) 3. .
4.-I1 N !> – b 2 3 – In 0 tl 8 – 6 I) e 7 – I> I> <7 – I> II I> 4 – e 3……………………..
4. II e I – 6 2 b. v e 5 – 8 7 11 s 8 – I> >, v (>I 8) t>) 2…
3. 1) > 4. II ( II ……… v n 3 – e 3 – <12 11 ei –-lr !> – u 2 D-r3 – e 3 – I> 6 gewinnt.
c) 3.
D 6 5 – § 7 I) 2 – ei 11 o 7 – a 3 N e 7 – k 8 11 I 8 – I> L
Auf 1. ........ D f 8 – e 7
und 1. ........ D f 8 – h 6
folgt 2. D a 5 – d 2 u. s. w. nach dem Hauptspiel.
Auflösung des Bilderräthsels auf S. 100: Massenaufgebot.
Auflösung des Räthsels auf S. 100: Schild, Schuld.
Auflösung des Logogriphs auf S. 100: Dorf, Torf.
Auflösung des Buchstabenräthsels auf S. 100:
1. a. Ares, b. Arles, 2. a. Sele, b. Seele, 3. a. Hase, b. Haase. 4. a. Rate, b. Raute, 5. a. Kain, b. Kanin,
6. a. Leer, b. Leder, 7. a. Gade, b. Garde, 8. a. Argo, b. Arago, 9. a. Dole, b. Dohle, 10. a. Mine, b. Miene, 11. a. Hebe, b. Helbe. Die Mittelbuchstaben der b-Reihe ergeben: Lea und Rahel (Roman von Ida Boy-Ed).
[ Verlagswerbung für alte Jahrgänge der Gartenlaube, hier nicht dargestellt ]