Die Gartenlaube (1895)/Heft 26

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1895
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Nr. 26.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Haus Beetzen.

Roman von W. Heimburg.

     (12. Fortsetzung.)

Für Kurt Rothe ist es Nacht geworden seit jenem Augenblick, da er Ditschas Brief gelesen. Eine trostlosere Verzweiflung hätte ihn nicht erfassen können, wenn er die Nachricht von ihrem Tode empfangen hätte an Stelle dieses Bekenntnisses.

Seine Dienerschaft schüttelt den Kopf über ihn, er ißt kaum, er trinkt höchstens. Tagsüber, wenn er die notwendigsten Geschäfte erledigt hat, sitzt er vor seinem Schreibtisch, auf dem Ditschas Bild steht, und brütet vor sich hin. Er hat bis jetzt noch nicht einmal an seine Mutter geschrieben, der einzige Brief galt dem alten Baron.

Jeden Abend, zu der Zeit, wo er sonst zu Ditscha eilte, packt ihn eine fürchterliche Unruhe, er nimmt dann die Mütze vom Haken und verläßt das Haus. Ohne Wahl und Ziel läuft er in dem Schnee und der Kälte umher, immer nur das eine denkend: Ist es denn wahr? Ist es möglich? Mit einem wahren Grauen vergegenwärtigt er sich das geliebte Gesicht, die schönen traurigen Augen, den feinen herben Mund – und das alles hat schon einem andern gehört! Er erinnert sich an Ditschas ängstliches Staunen, wenn er davon sprach, daß er es nicht ertragen würde, auch nur die Erinnerungen ihres Herzens mit einem andern teilen zu müssen, ach – und wie mußte sie diesen andern geliebt haben, daß sie ihm alles opfern wollte, Heimat, Vaterhaus, Ehre, Ruf – alles!

Wenn er an diesen Punkt gelangt, und seine Gedanken nehmen ungefähr zwanzigmal des Tages diesen nämlichen Weg, so schlägt er sich mit der Faust vor die Stirn und möchte den Menschen, der es gewagt hat, sie zu lieben, erdrosseln.

Wiedersehen kann er sie nicht, will er nicht – nur das nicht! Nach einem Weilchen ertappt er sich dann jedesmal auf der Chaussee nach Beetzen und wendet um mit dem Gedanken: Was nun? Noch ist sie seine Braut – es muß doch etwas geschehen! Er muß doch dem Baron mitteilen, daß er auf die Ehre, der Gatte Sophies von Kronen zu werden, leider zu verzichten genötigt sei. Und dann fort aus dieser Gegend, Dombeck verpachten zunächst, und verkaufen, sobald sich eine günstige Gelegenheit findet!

Sie hat ihn wenigstens vor dem Schlimmsten bewahrt, vor dem Makel der Lächerlichkeit, davor, daß man in allen Kneipen, in allen Kaffees gesagt hätte: Frau Rothe? Ach, die famose Ditscha, die damals mit dem So und So durchbrannte? Er kennt ja das – großer Gott, es wäre, um sich eine Kugel vor den Kopf zu schießen! Dabei packt ihn ein wahnsinniges Verlangen: er möchte sie noch einmal sehen mit seinen entsetzlich ernüchterten Augen, möchte ihr sagen: „Das bist also Du, die ich verehrt habe wie eine Heilige? Ich vergebe Dir, ja ich vergebe Dir! Lebe glücklich, und wenn Dir’s möglich ist, mache nicht noch öfter einen so ehrlichen Kerl so elend wie mich. Es giebt ja welche, die es nicht so genau nehmen, solche mußt Du Dir heraussuchen, nur nicht so einen, so einen, wie ich es bin, der daran zu Grunde gehen wird, daß er sein Herz an ein Mädchen hing, für das er nicht der einzige Mann war und geblieben ist.“ – –

Er kann’s nicht, nein, er kann’s nicht: er will keine Frau, die Erinnerungen hat, er will nicht eine, die so zu lügen weiß – ihr ganzes Brautsein mit ihm war Lüge! – Ach ja, er erinnert sich an so manches, an den Widerstand, als er ihr sein Herz bot, an ihr flehentliches Bitten: „Sprich erst mit Onkel!“ Ach ja – aber, was nun? Was soll werden?

So ist er auch heute, am Heiligen Abend, wieder davon gelaufen aus seinem Zimmer, in das ihm Pakete hineingetragen wurden, die der Postbote. gebracht – von daheim. Was mögen sie denken, die Seinigen, daß er noch nicht schrieb? In dieser


[Gustav Nieritz.]

[430] Kiste sind auch Geschenke für Ditscha, und aus dem großen Karton dort quillt der Duft heimatlichen Weihnachtsgebäcks.

Er hat’s nicht ertragen, er ist wieder hinaus gegangen in das Schneetreiben, in Nacht und Sturm. Auf der Chaussee wandert er dahin, immer mit dem nämlichen wirbelnden Gedanken; den eisigen Wind empfindet er als Wohlthat, der Schnee stäubt gegen ihn von der Seite und bleibt in Haar und Bart, er merkt es gar nicht. Die Chaussee ist wie gefegt, nur zur Rechten hebt es sich wie weiße Dünen, die Obstbäume ragen kaum zur halben Stammhöhe darüber hinweg. Hinter ihm, die Rute eingezogen, läuft frierend die kleine braune Teckelhündin, wie immer jetzt. Dann und wann bleibt das Tierchen stehen und schaut verwundert hinter ihm drein, als wolle es fragen: Herrchen, kehrst du noch nicht bald um? Dann läuft sie wieder, um ihn einzuholen, sie weiß nicht mehr, was sie von ihrem Gebieter denken soll, und fühlt doch, daß jemand bei ihm bleiben müsse. Ihr Mann, der bequeme Waldmann liegt daheim und schläft in der Sofaecke, aber sie hat keine Ruhe, sie geht mit. Er ist so sonderbar jetzt, zuweilen darf sie stundenlang auf seinem Schoß liegen, und er kraut ihr, wie in Gedanken verloren, den Kopf, dann plötzlich springt er auf, so heftig, daß sie mit jähem Sturz in das Zimmer geschleudert wird, und stürmt davon. Wie kann Waldine da zu Hause bleiben?

Und plötzlich steht das kluge Tierchen still und hebt den feinen Kopf, dann ist es mit zwei Sprüngen drüben an dem Schneewall und beginnt, ein heiseres hohes Geheul ausstoßend, zu scharren. Im nächsten Augenblick steht ihr Herr neben ihr. Am Rande des Schneewalles liegt etwas – ein Mensch – ein Kind – der Schnee hat schon eine leichte Decke darüber gebreitet. Kurt Rothe reißt das dem Tode verfallene Geschöpf empor, ein leises Wimmern dringt ihm entgegen „Onkel Rothe! Mama – Mama!“

„Du bist das, Junge?“ fragt der erstaunte Mann.

„Onkel Rothe,“ wimmert er – „müde!“ und der arme halberfrorene Knabe drückt den Kopf gegen die Brust seines Retters.

„Wie kommst Du hierher? Schlaf nicht ein, Achim.“

Er rüttelt und schüttelt besorgt den kleinen Wicht auf seinen Armen, knöpft seinen Mantel auf, drückt ihn an sich und schlingt das Kleidungsstück um ihn zusammen, während er weiter schreitet. Nur einen Augenblick hat er überlegt: Zu mir – oder nach Beetzen? Aber Beetzen ist schon näher und so hat er den Wind im Rücken.

„Achim,“ keucht er, während er mit der Last dahineilt, die mit dem Gewicht eines Toten in seinen Armen liegt, „Achim, warum bist Du fortgelaufen?“

„Ich war so allein, ach, so allein!“ lallt schlaftrunken das Kind.

„Ganz allein, Achim?“

„Ja, Onkel Jochen ist traurig, Mademoiselle ist fortgegangen und Ditscha ist krank, und Mama – –“ und plötzlich wird dem halbtoten Kinde klar, weshalb es fortgelaufen. „Lieber Onkel Rothe, Mama hat mich nicht mehr lieb, hilf mir doch – sie soll sich nicht mehr küssen lassen von Onkel Bredow.“

„Friert Dich sehr, Achim?“

„Nein, ich bin so müde.“

Kurt Rothe eilt noch immer im Geschwindschritt dahin. Wäre er eine Viertelstunde später gekommen! Die Vorstellung macht ihn grausen.

Dort unten ist schon der Kirchturm von Beetzen, wenn er quer über das Feld geht, schneidet er ein tüchtiges Stück ab; er ist dann zehn Minuten früher am Herrenhause.

Und derweil ist Mademoiselle heimgekommen und hat Achim nicht in der Kinderstube gefunden. Zunächst lächelt sie sorglos, sie weilt noch in der Erinnerung in der Stube des hübschen Volontärs im Pächterhause drüben, der momentan ihr Freund ist und sie küßt die goldene Uhr, die er ihr geschenkt hat, und dreht sich wie toll auf dem Absatz herum, irgend ein französisches Liedchen singend. Dann ruft sie noch einmal: „Achim, arrivez tout de suite!“

Es ist alles still um sie.

Er wird bei Mama sein? Aber Mama hat ihn ja nicht haben wollen!

Die Kammerjungfer bringt jetzt das Souper für Mademoiselle und den Junker.

„Aben Sie gesehen der Achim!“ fragt Mademoiselle. „Ist er bei seiner Maman?“

„Nein, gnä' Frau ist ganz allein mit ihrem Besuch; die mag keinen Dritten nich heute,“ giebt die Zofe mit vielsagendem Lächeln zur Antwort.

„Aber – wo soll er sein? Ik werden selbst fragen.“ Und Mademoiselle trippelt bis zur Thür des Salons und ruft „Achim! Achim!“

„Er ist nicht hier,“ antwortet Madames Silberstimme aus dem Boudoir, „er soll auch nicht kommen – comprenez – er soll für sich spielen heute!“

Mademoiselle läuft nach der Kinderstube zurück, von dort in die Küche und dann zu dem Zimmer des Herrn.

„Was beliebt?“ fragt Friedrich, der eben heraustritt.

„Ist Achim bei seine Onkel?“

„Nein, soll auch heute nicht zu ihm kommen.“

Mademoiselle steigt zu Ditscha hinauf. Sie pocht so energisch, daß das in seinen Gram versunkene Mädchen emporfährt und hinüberschwankt, um zu öffnen. „Wer ist da?“ stammelt sie.

„O, gnädig’ Fräulein, Achim! Achim soll essen kommen und ist nicht zu finden.“

„Achim? – Achim ist nicht hier!“

Mon dieu!“ schreit Mademoiselle, „ô quel malheur! Achim ist fort, ik hatten ihn allein gelassen ein paar Minuten.“

„Fort?“ wiederholt Ditscha mechanisch und ebenso geht sie der Treppe zu, und dort setzt sie sich auf die oberste Stufe und und sieht ganz verstört vor sich hin.

„Er ist nicht bei Madame und nicht bei Herr Baron, nicht in der Küche und nicht in der Kinderstube,“ jammert Mademoiselle.

Ditscha ist leichenblaß geworden. Ach, sie kennt ja die Weihnachtsabende in diesem Hause, die ein Kinderherz so bedrücken! Plötzlich eilt sie die Treppe hinunter und reißt die Hausthür auf, da sieht sie Spuren, kleine leicht verschneite Spuren, die die Treppe hinunterführen, und im nächsten Augenblicke läuft sie in der schneehellen Nacht dahin, den Spuren nach.

Auch das Kind! O, es ist schlimm für junge Herzen, das Beetzener Herrenhaus. Sie hungern und dürsten nach Liebe, sie sehnen sich fort und sie verirren sich.

„Achim! Achim!“ ruft sie halberstickt durch den Wind im Dahinfliegen. Das Parkthor ist noch offen, die Leute sind noch nicht zurück aus der Kirche. Auch hier noch kleine Spuren und jetzt hinüber auf die Landstraße. „Achim! Achim!“ Sie fühlt ihre Schwäche nicht mehr, nur noch eins – das Kind ist verirrt, erfroren – tot.

Aber allein kann sie da draußen ja nicht suchen, man muß Laternen mitnehmen, sie wendet sich und läuft ein paar Schritte zurück. Dann kommt ihr der Gedanke: Hanne hat den Junker mit in die Kirche genommem und sie wendet sich wieder dem Ausgang zu, sie will in die Kirche. Da erfaßt sie ein Schwindel und sie sinkt ermattet auf einen der Prellsteine und hält sich die Stirn mit der Hand, halb bewußtlos. Und dann strebt plötzlich etwas an ihr hinauf, ein kleiner schwarzer Hund, in rasender Freude wendet und dreht er sich und macht ihr das Herz stocken, denn dort kommt – kommt – –

Sie ist nicht fähig, sich zu rühren, ihre Augen starren ihm entgegen. Langsam nähert er sich dem Thor; er sieht sie nicht, seine Blicke sind auf das gerichtet, was er im Arme trägt. In diesem Augenblick eilt der Kutscher an ihr vorüber, zwei Schritte vor Ditscha treffen sie zusammen – sie sieht, wie Rothe ihm das übergiebt, was er im Arm getragen, hört, wie der Mann „Gottlob! Gottlob!“ schreit, hört wie Rothe ihn ermahnt, so rasch als möglich ins Haus zu eilen, die Glieder des Kindes mit Schnee zu reiben, es nicht gleich ins warme Zimmer zu bringen. – – Eine Menge Menschen umringt plötzlich den Kutscher, Laternenschein streift bis zu ihr herüber, und im nächsten Augenblick entfernt sich alles dem Hause zu, nur sie ist nicht fähig, sich zu rühren. Ihre Augen hängen starr an dem geliebten Manne.

Er hat sie noch immer nicht gesehen. Er nimmt jetzt den Hut ab, wischt sich die feuchte Stirn, atmet auf und wirft einen langen Blick zu dem Hause hinüber, dann wendet er sich langsam um und geht.

Er hat nicht zu ihr gewollt, er sucht keine Versöhnung – er geht. – – –

„Kurt!“ schreit sie auf.

Er wendet sich um und schreitet ihr näher, die hochaufgerichtet dasteht. „Du?“ fragt er.

„Ich suchte Achim.“

Er steht mit abgezogenem Hut vor ihr, als erwarte er einen Befehl. Der Wind zerrt an seinem Mantel und an ihrem Kleide, der Schnee fällt zwischen ihnen, keine Seele, nur sie in dieser Einsamkeit der Heiligen Nacht, und kein Engel mit der Friedensbotschaft.

„Leb’ wohl!“ sagt sie endlich, als sie merkt, daß er stumm bleiben wird, „verzeihe, daß ich als junges herzenseinsames Kind [431] einmal irrte. Hätte ich Dich immer gekannt, es wäre nicht gewesen. – Gieb mir die Hand, Kurt – so –.“ Sie legt mit einem festen Druck den Verlobungsring in seine Rechte. „Sei glücklich! Ich verstehe Dich, Deine Zweifel, alles – ich darf Dich nicht tadeln, aber glaube mir, ich hätte Dir nichts gegeben, was Deiner unwürdig gewesen, Kurt. – Lebe wohl!“

„Ditscha!“ ruft er und greift nach ihren Händen und zieht sie an sich. „Ditscha, vergieb mir – laß es beim Alten. – Habe Geduld – mit mir, ich werde es überwinden lernen.“

Sie entwindet ihre Hände den seinen. „Nein!“ sagt sie laut und fest, „das ist nichts für mich und nichts für Dich. Dein Vertrauen ist geschwunden, Deine Liebe ist nicht mehr da, und guter Wille, Nachsicht und Pflichtgefühl genügen nicht, für uns beide nicht. Leb’ wohl, Kurt!“

Er kann deutlich ihr schönes stolzes Gesicht erkennen, als sie so spricht. Sie nickt ihm noch einmal zu, wehmütig ernst, dann geht sie.

Er schreitet plötzlich an ihrer Seite.

„Was willst Du, Kurt?“ fragt sie und bleibt stehen.

„Du kannst doch nicht allein gehen, so im Dunkeln,“ stottert er, dessen Zweifel vor dem Zauber, den ihre reine stolze Nähe auf ihn ausübt, wie hinweggeweht sind.

„O,“ sagt sie und ein bitteres Lächeln zuckt um ihren Mund, „laß mich nur, ich werde noch finstere Wege allein gehen müssen. Leb’ wohl!“

„Ditscha!“ ruft er hinter ihr her, heiser, mit gebrochener Stimme. Aber sie sieht sich nicht um, und festen Schrittes geht sie ihren Weg und betritt das Haus. – 000000000000000000000

Dort herrscht eine unbeschreibliche Aufregung. Mademoiselle ist der Abschied für morgen angekündigt; Jochen von Kronen, dem soeben der Rittmeister von Bredow notgedrungen als Bräutigam vorgestellt wurde – denn der wütende alte Herr ist wie eine Bombe in das zärtliche tête-à-tête mit der Frage geplatzt: „Wo ist Dein Kind?“ – hat nur eine sehr ironische Verbeugung für den stattlichen Herrn gehabt und immerfort geschrieen: „Wo ist Achim?“, obgleich der Junge bereits gebracht ist und sich unter der Pflege Hannes befindet, bis der Arzt eintrifft.

Als eine halbe Stande später Frau Cilly in die Kinderstube tritt, ist sie zwar offiziell die Braut ihres so lange schon geliebten Arthurs geworden, aber ihre Mutterrechte hat sie Joachim von Kronen abgetreten in aller Form. Sie erschrickt vor der Gestalt, die da am Bette des Kleinen sitzt, als ob sie hingehörte – Ditscha, Ditscha wie ein Geist anzusehen, ohne einen Blutstropfen in den Wangen, versteinert in Leid und Weh. Wenn jemand die Entsagung hätte malen wollen, ein besseres Vorbild wäre nicht zu finden gewesen.

„Du?“ stammelt Cilly. „Wie siehst Du aus? Geh’ zu Bette!“

„Nein,“ sagt Ditscha, „ich bleibe bei Achim – immer! Nicht wahr, Achim, immer! Zwei sollen nicht unglücklich werden!“

Doch das fieberglühende Kind streckt die Arme nach ihr aus, an der Mutter vorüber, die es nicht sehen will.

„Ditscha soll bei mir bleiben!“ wimmert es.




Joachim von Kronen sitzt in seinem Arbeitszimmer. Die Dämmerung des ersten Feiertags sinkt hernieder und die beiden Briefe, die geöffnet auf dem Schreibtisch liegen, leuchten blendend weiß in dem fahlen Lichte.

Der alte Herr hat sich in seinem Schreibstuhl zurückgelehnt, die Hände über dem Leib gefaltet, und starrt auf einen Fleck. Noch vor einem Jahr wär’ Berthachen gekommen, hätte ihm die Haare aus der Stirn gestrichen und hätte gesprochen: „Mein Alter, das hilft ja nun nichts, die Welt steht nicht still um unser Leid!“ – Heute sitzt er allein, die Frau liegt dort drüben in der Gruft, und sein Liebling ringt mit dem Tode, der herzige frische Junge.

Die Nacht ist’s noch schlimmer geworden; der Doktor hat Lungenentzündung festgestellt, und der kleine Kranke ist ohne Besinnung und leidet furchtbar. Im Saale steht der Tannenbaum ungeschmückt, die Spielsachen sind nicht ausgepackt, und die Dienerschaft schleicht auf den Zehen umher. Und er, Joachim, ist schuld daran! Ja, er ist’s, da kann alles Beschönigen nichts helfen! sagt er sich. Er kennt ja doch die Weiber, diese schwachen Kreaturen, denen ein bißchen Liebesglück oder Liebesgram den Kopf gleich so verwirrt, daß sie alles andere darüber vergessen. Und solcher drei hat er im Hause, und diesen drei überläßt er die Sorge für das Kind und schließt sich ein in seinem Erinnerungsdusel – da passiert denn natürlich gleich das Gräßlichste!

Die eine, die Mademoiselle, ist zum Tempel hinausgeflogen heute früh, und die zwei anderen, die Frau Mutter und das Fräulein Schwester, die sind nun plötzlich ernüchtert, sie beten und weinen und klagen sich an, jetzt, wo es vielleicht zu spät ist! Joachim von Kronen ist in rasender Stimmung vor Schmerz und Angst, und wehe dem, der ihm heute in die Quere kommt. Die beiden Briefe da vor ihm, die haben just auch noch gefehlt.

Dem „angenehmen Schwerenöter“, dem Rittmeister von Bredow, der den „verehrten Schwager seiner Braut“ um eine Unterredung ersucht, da gestern abend in der erregten Stimmung leider einige höchst wichtige Punkte nicht erörtert werden konnten, den hat er sarkastisch genug heimgeleuchtet: Vorläufig, so lange der einzige Sohn seiner Frau Braut und seines, Joachims, verstorbenen Bruders zwischen Tod und Leben ringe, wolle man doch in Gottesnamen diese ungeklärte Situation ertragen; ihn, Joachim von Kronen, störe sie nicht, und später sei noch reichlich Zeit zu Erörterungen.

Auf den zweiten Brief weiß der alte Herr nichts zu antworten, nichts zu sagen. Die Sache ist aus, rein aus – Ditscha entlobt! Rothe zurückgewiesen! Sie habe ihm sein Wort zurückgegeben, schreibt er und fügt noch ein paar Redensarten hinzu, wie: „Unlösbarer Konflikt – untröstlich fürs Leben etc. etc.“. Es klingt so tragisch, so romantisch – – zu nett!

Na, dann man los! Ein dritter wird schwerlich kommen um Ditscha. – Was geschehen? Joachim hat keinen Schimmer. Möglicherweise hat das thörichte Ding keine Ruhe gefunden, ehe sie nicht mit ihrer überspannten Gewissenhaftigkeit die kleinen Thorheiten von damals gebeichtet, hat vielleicht in ihrer Unschuld eine Bedeutung hineingelegt, die ihnen gar nicht zukommt, die sie selbst nie beabsichtigte, und der Konflikt, der unlösbare – schön gesagt – war da.

„Angenehmer Posten, Familienoberhaupt zu sein – der Teufel hol’ das ganze Leben – wenn nur der Junge, der Junge nicht draufgeht!“ Die Sorge um das Kind läßt den alten Herrn wieder aufspringen. Er will hinüber, er will dem Kleinen in das fieberglühende Gesicht sehen, er hält’s hier nicht aus, so allein unter dem Druck kommenden Unheils. Er schleicht durch den Korridor und tritt in die Halle, um nach dem von Cilly bewohnten Flügel zu gehen. Es ist so still in dem alten Hause, als sei der Todesengel schon eingezogen. Auf der Treppenstufe kauert eine Gestalt, wie der Baron sie näher ins Auge faßt, richtet sie sich empor, eine modisch gekleidete Frau in großem federgeschmückten Rembrandthut. Sie kommt dem sie Anstarrenden bekannt vor, aber er weiß nicht, wer sie ist, und bleibt stehen, in der Meinung, sie warte auf einen Diener, der sie melden soll. Endlich erkennt er in dem damenhaft zugestutzten Wesen die Teufelsdeern, die Grete Busch.

Sie knixt und bittet den gnädigen Herrn um Verzeihung, sie wolle nur zum gnä’ Fräulein Sophie.

In diesem Augenblick kommt Hanne und sagt, mit Verachtung in jedem Zuge ihres Gesichtes: „Gnä’ Fröln is nich zu sprechen vor Sie!“

Die Augen der kleinen runden Person sprühen plötzlich Feuer und Flamme. „Dann bestellen Sie man gefälligst, daß ich stantepeh von hier zu Herrn Rothe gehe, um ihm ’mal ’was zu erzählen,“ schreit sie erbost. Ich brauch’ mich doch am Ende nich behandeln zu lassen wie eine Betteldeern, wo ich doch früher gut genug war, die Kastanien vor ihr aus’m Feuer zu holen, damals, als sie – wie sie – –“

„Was meinst?“ fragt der Baron zurückkommend, der bereits im Korridor des linken Flügels verschwunden schien.

„O gnä’ Herr, ich mein’ – ich mein’, daß es ’ne Sünd’ und Schand’ is, wenn gnä’ Fräulein mich so slecht behandelt, indem ich doch immer bereitwillig geholfen habe damals –“

„Komm doch ’mal mit, mein’ Tochter,“ sagt der Baron sehr ruhig, sie kurzer Hand duzend wie früher, „hier ist der Platz nicht, um derartiges zu verhandeln, und mich interessiert das doch auch sehr, was Du da ‚meinst‘.“

Er hat die Erschreckte am Aermel ihres pelzbesetzten Jäckchens gefaßt und zieht sie ohne weiteres durch den Gang in sein Zimmer, dort schließt er die Thür hinter sich und ihr, setzt sich auf den Lehnstuhl, dreht die Lampe auf und fragt: „Was wolltest Du eben doch gleich sagen, mein’ Tochter?“

Grete, die vor Haß und Bosheit die Besinnung halb verloren hat, beschließt, einen Coup zu wagen – vielleicht bezahlt der Alte. „O es ist man, Herr Baron, nehmen Sie’s man nicht übel, weil

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Die Verwaisten.
Nach dem Leben gezeichnet von Werner Zehme.

[433] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [434] das Fräulein Ditscha uns Geld versprochen hat, wenn wir still sind, mein Mann und ich, und nichts nich von die Geschichte verraten –“

„Von welcher Geschichte?“

„Nu, damals, als sie hat mit Herrn von Perthien – gnädiger Herr wissen ja –“

„Ist mir ganz neu! Was war denn das eigentlich?“ fragt er mit derselben belegten Stimme, und seine zitternden Finger tasten auf der Platte des Schreibtisches umher.

„O, mein Mann hat ihr und mich auf die Station gefahren damals, als sie mit Herrn von Perthien davon wollte, und was ich bin, so bin ich durch dick und dünn mit ihr gegangen und habe ihr immer die Briefchens getragen und ihr geholfen, Herrn von Perthien zu sehen und zu sprechen; und jetzt, jetzt läßt sie mich davonweisen, das gnä’ Fräulein Ditscha, als wär’ ich ein altes Pracherweib.“

„Also Du hast immer die Briefe getragen?“

„Jawoll, Herr Baron.“

Die zitternden Finger des alten Mannes haben jetzt, wie spielend, eine Reitpeitsche vom Tisch genommen, mit der er die Hunde in Raison zu halten pflegt, nun biegt er sie wie einen Kranz zusammen und fragt:

„Und dafür willst Du Deinen Lohn, meine Tochter?“

„O Gott, Herr Baron, ich verlange ja keinen Lohn – ich meine nur, und mein Mann meint es auch, ein büschen Erkenntlichkeit könnt’ doch wohl am Platz sein, und wenn wir ’mal hilfreich gewesen sind, könnte Fräulein Ditscha uns doch auch ’mal helfen? Ihr kommt’s ja nicht an auf so’n paar hundert Thalers, und was kann ich dafür, daß mein Mann das Geld, was sie uns damals gab, verjuxt hat?“

„Also, sie gab Euch schon?“

„Ja, vor acht Wochen ohngefähr. Und viel wollen wir ja auch diesmal gar nicht, man bloß so viel, um nach Amerika zu kommen, Herr Baron, und wenn man so slecht behandelt wird, da wird man obstinatsch, und was mein Mann is, der is gar nich zu halten, der geht zu Herrn Rothe, der wird dann woll wissen, was er zu thun hat.“

„Daran zweifle ich nicht,“ sagt der Baron plötzlich laut und tritt einen Schritt näher zu der Person, „daran zweifle ich nicht! Aber, wozu ihn erst bemühen? Ich weiß es ja auch.“

Sein altes Gesicht ist leichenblaß, wie er jetzt mit Blitzgeschwindigkeit zuschlägt, quer über Grete Buschens Wange ist der Streich gegangen. „So, mein Deern,“ sagt er keuchend, „da hast Deine Bezahlung und nun verschwinde – verschwinde – sag’ ich Dir, und wage nicht zu schreien, oder ich laß Dich und Deinen Schuft von Kerl verhaften wegen Erpressung und Verleumdung.“

Der grelle Aufschrei Gretes ist verstummt. Mit hochrotem Gesicht, über dessen linke Seite sich jetzt ein dicker roter Streifen zieht, sieht sie den alten Herrn an, die Hände zu Fäusten geballt, keines Wortes mächtig.

„Hast verstanden?“ donnert er, „marsch! Seid Ihr nicht mit dem nächsten Dampfer, der Hamburg verläßt, unterwegs, so lasse ich Euch verhaften. Die Polizei in Hamburg und den Gensdarm benachrichtige ich sofort. – Auf der Stelle hinaus!“

„Das will ich Ihnen gedenken,“ zischt Grete Busch und verläßt das Zimmer.

Der Baron fällt schwer in seinen Sessel, wirft die Peitsche in einen Winkel und sitzt da wie gebrochen. „Also das, das war es, arme Deern, arme Ditscha? Und kein Wort gesagt, alles für sich allein ausgekämpft, den tollsten Gemeinheiten ausgesetzt! Da ist’s kein Wunder, daß sie dem Rothe absagt. Und warum? Weil wir uns nicht um sie gekümmert haben – ach! – –“

Er hat ein Weib geschlagen, aber er wäre erstickt, hätte er es nicht gethan. Wie teuer der Schlag noch bezahlt werden könnte, daran dachte er nicht.

„Onkel,“ flüsterte eine Stunde darauf Ditscha hinter seinem Stuhl, „Onkel!“

Er fährt herum. „Du, mein’ arme Deern?“

„Onkel,“ schluchzt sie, „wenn uns Achim nur bleibt, dann bin ich nicht arm, dann will ich nie wieder murren, dann soll ein neues Leben aufgehen für mich. Ich will nur noch an ihn denken, für ihn sorgen, so lange ich lebe; für mich verlange ich nichts mehr, nichts.“

„Gott wird’s nicht wollen, Ditscha,“ murmelt er, „er kann mir den Jungen nicht nehmen – wir müssen ihn behalten.“

Und er streichelt ihre Hand; sie sieht so elend, so verwacht, so abgehärmt aus, um zehn Jahre älter, als sie ist.

„Wir bleiben bei Dir, Onkel,“ sie schmiegt ihr blasses Gesicht an seine Wange, „ganz friedlich, ganz still bleiben wir bei einander, Du, Achim und ich.“

„Ja, mein liebes Kind!“ Und er zieht das rotseidene Taschentuch und schnaubt die Thränen zurück. „Gott wird’s nicht wollen!“ wiederholt er.




Nein, Gott hat’s nicht gewollt; sie haben ihn behalten, und er ist groß geworden unter Ditschas unermüdlicher, liebevoller Pflege.

Ditscha hat nun längst ihren kindlichen Namen abgelegt, niemand darf sie mehr so nennen, ausgenommen der Junge, für alle andern ist sie „Sophie“, „gnä’ Fräulein“ – je nachdem. Ihre Gestalt hat sich womöglich noch gestreckt, sie ist eine stattliche schöne Dame geworden, der ein ernstes verantwortungsvolles Leben etwas Sprödes, Herbes gegeben hat. Nur bei einem Namen zuckt noch ein Weh um ihre Lippen und verdunkelt sich ihr ruhiges Auge – von Kurt Rothe kann sie auch heute noch nicht sprechen hören. Bei einem andern Namen aber vermag sie zu lächeln, der ist: Joachim, Achim, ihr Bruder. Dann verklärt sich ihr Gesicht, dann werden ihre Augen feucht wie eben jetzt, wo sie dem alten hinfälligen Onkel Jochen, den die Gicht nun schon seit Jahren an den Rollstuhl gefesselt hält, einen Brief ihres Lieblings vorliest, der seit einigen Tagen in Dresden bei seiner Mutter zu Besuch weilt, zum ersten Male seit er großjährig geworden.

„Dresden, d. 3. Mai 1889. 
 Meine Ditscha!
Zwei Tage länger als sonst habe ich Dich warten lassen, verzeihe nur! Tausendmal habe ich angesetzt zum Schreiben, aber Du kannst Dir nicht vorstellen, wie unruhig Mamas Haushalt und wie unruhig überhaupt eine solche Dresdener Mietswohnung im englischen Viertel ist; gegen die heilige Stille in den Gemächern unseres lieben Beetzens der reine Jahrmarkt. Ueber mir übt eine Engländerin Geige, unter mir spielt eine Amerikanerin Klavier, dazu Mama, die mich überall hinschleppen möchte und mich allen ihren Bekannten, die sie besuchen, zeigen will.

Ditscha, lange halte ich das nicht aus! Der erste Maiensonntag gestern, wie grundverschieden war er von denen, die wir zusammen verlebten, der Onkel, Du und ich, oder wir beide allein, in unserem stillen Beetzen, das so köstlich ist im Frühjahr, oder dort unten an der Riviera oder gar in Aegypten und ein paarmal im Schwarzwald, wohin Du mich angehenden Schwindsuchtskandidaten überall so treu begleitet hast. Ditscha, wie soll ich Dir eigentlich danken für alle Deine Liebe? Ich bin hier bei meiner Mutter – ja, sie kann den Namen beanspruchen – gewiß, aber wo meine rechte, meine treu sorgende, wahrhafte Mutter ist, weißt Du das?

Ich küsse Dir die Hände, meine Mutter, und danke Dir für alles, was Du gethan an mir. Und das ist viel, Ditscha, viel mehr, als alle Leute ahnen. Ich sehe Dich den Kopf schütteln, es ist aber doch so, Ditscha! Oder meinst Du, ich wisse nicht, was Du entbehrt hast an dem eigenen Leben durch den kränklichen Jungen? Wieviel Nächte Du gewacht, wieviel Thränen Du geweint, wieviel Geduld Du gehabt hast? So ist’s, Ditscha, und ich kann es Dir nie vergelten, und gäbe ich auch mein Leben für Dich hin.

Und nun willst Du hören von Mama und dem sogenannten Papa? Papa hat ein bissel Gicht und ist genau so langweilig wie früher, auch heute noch ist die Rangliste seine Lieblingslektüre. Mama ist niedlich, rundlich, rosig und zieht sich gern bunt und hübsch an, allerhand luftige Schleifen flattern um sie her; der kleine Pinscher klingelt lebhaft hinter ihr drein mit dem silbernen Glöckchen am Halsbande, wenn sie durch die Zimmer läuft. Sie hat noch immer alle Schlüssel verlegt, lacht noch ebenso herzlich darüber wie früher und hat eine ganze Schar junger und alter Verehrer um sich, die sich köstlich über ihr drolliges Wesen amüsieren. Aber, Ditscha – ich könnte so ein Leben nicht führen, in dem alles sich nur darum dreht, sich zu vergnügen.

Was haben wir heute vor? ist die Parole am Frühstückstisch. Papa denkt dabei an Whist oder Skat, Mama an ihre Theaterabende, Diners, Soupers, Konzerte etc. – Was haben diese Herrschaften für dauerhafte Nerven, Ditscha! –

Das Klavier der Amerikanerin macht mich rasend. Ich habe soeben mein Schreiben unterbrochen, bin zu Mama gelaufen und habe gefragt: ‚Wie kannst Du das ertragen?‘ Sie lachte. Sie sagte, wenn ich Miß Perth erst gesehen hätte, würde ich mich nicht mehr beklagen.

‚Bist Du mit ihr bekannt, Mama?‘

[435] ‚Nein. Ich weiß nur, daß sie eine Schönheit ersten Ranges ist.‘

Es mag ja sein, daß sie angenehm zu ‚sehen‘ ist, diese Miß Perth – zu ‚hören‘ ist sie schrecklich!

Zur Feier meiner völligen Genesung will Mama ein Fest veranstalten, sie läßt es sich nicht nehmen – ein musikalischer Abend mit nachfolgendem Souper und Tanz! Ich muß mich fügen, gewiß, Ditscha, ich höre auch Dein ‚Man kann ja nicht nur immer das thun, was einem Freude macht, mein Jung’‘ – das ist richtig, und ich habe Mama sogar mit einigen neuen Kotillontouren in Entzücken versetzt, denn für gewöhnlich geht es leidlich einfach her, dafür sorgt der Stiefpapa, der einzuteilen versteht.

Im großen ganzen, Ditscha, wie dankbar will ich sein, wenn mein Wagen erst vor der Freitreppe in Beetzen hält und ich Dich und mein altes geliebtes Haus wieder habe, um mich weder von der einen noch dem andern je wieder zu trennen. Sage dem guten Onkel, noch immer hätte ich mich nicht verliebt, er muß noch lange leben, bevor er meine künftige Gattin einziehen sehen kann. Ich gebe mir vorläufig auch keine Mühe, mein Haus ist so gut versorgt, gelt Ditscha? Und die Freiheit ist so süß mit dreiundzwanzig Jahren! Ich lebe ja jetzt erst auf, wo ich so gesund bin wie andere Menschen und die Lungen sich von der Krankheit gänzlich befreit haben – die ich mir infolge des Jungenstreichs, damals, Weihnachten – wir verstehen uns, geholt hatte. Und wer ist schuld daran, daß ich leben kann wie andere junge Männer – tanzen, reiten, turnen? Meine Mutter Ditscha ist’s!

Lebe wohl für heute, tröste Onkel über meine Dickköpfigkeit im Punkte der Heiratsfrage; lebe wohl und sei geküßt von Deinem
Joachim.“ 

Ditscha sieht ganz gerührt aus, als sie geendet, und ganz rot über das Lob. Der alte Mann lächelt auch. „Na, seine Mutter soll ihm auch gerad’ keine verschaffen,“ nickt er; „soll keine moderne Zierpuppe sein, soll ein ganzer Kerl sein, die er heiratet, so wie Du, Sophie, so wie Du! Uebrigens könnte er, mir zu Gefallen wirklich Ernst machen, hab’ nicht mehr lange Zeit, Sophie – – alles tot, alles,“ fährt er fort, „bin ja der einzige noch, Kind, außer der Anna, hab’ sie alle überdauert. Und nun hier in Beetzen sind wir nur noch drei, Ditscha – Du, der Jung’ und ich. Er soll nicht so lang’ warten.“

„Aber er soll sich auch nicht überstürzen; er ist ja noch ein Kind, Onkel,“ wendet Ditscha ein.

„Kind? – Unsere Prinzen sind auch nicht älter, wenn sie heiraten.“

„Aber die Liebe läßt sich nicht kommandieren, Onkel Jochen.“

„Ach was!“ sagt er, „zu meiner Zeit war das anders. Kann nicht behaupten, daß ich für Berthachen eine welterschütternde Leidenschaft gefühlt hätte. Hübsch war sie nicht, aber gut, freundlich und tüchtig, und was für ein Weib ist sie geworden, Ditscha, was für ein braves Weib! So eine gleichmäßig stille, dauerhafte Neigung, das ist das Wahre! Eure Liebe von heute – nee! Ein kleines Mißgeschick, eine kleine Unebenheit auf dem Wege und aus ist’s! – ja – hm –“

Sophie fühlt, daß er auf sie und Rothe hindeutet, sie steht auf und tritt ans Fenster. Sie zerknittert den Brief in ihrer Hand, starrt ein Weilchen hinaus in den Lenzabend und geht endlich langsam aus dem Zimmer. Eigentlich will sie ihre Stube aufsuchen, aber in der Halle wendet sie sich und wandert in den Park hinaus. Hier war es, hier hat sie ihm einst Lebewohl gesagt! Damals war es Winter, es schneite und stürmte, aber in ihrem Herzen brannte heiße Glut – heute – du lieber Gott, heute blüht es um sie her und der Winter ist in ihrem Herzen! Was sie leidet im Leben, das leidet sie um diese Erinnerung, und doch, sie möchte sie nicht missen.

(Fortsetzung folgt.)




Künstliches Eis.

Von A. Hollenberg.0 Mit Abbildungen von A. Eckardt.

Vor Zeiten, als nach der allgemeinen Anschauung die Welt aus vier Elementen gebildet wurde, pflegte man Wasser und Feuer als Mächte zu betrachten, die sich feindlich gegenüberstehen und einander aufzuheben und zu vernichten bestrebt sind. Noch jetzt bezeichnet der Sprachgebrauch Wärme und Kälte als einander entgegenstehende Erscheinungen und glaubt in dem Feuer einerseits und dem Wasser – oder gar dem Eise – anderseits himmelweit voneinander getrennte Naturerscheinungen oder Naturzustände vor sich zu haben.

Dennoch sind Wärme und Kälte Kinder einer und derselben Mutter, es sind lediglich von einander entfernt stehende Grade ein und derselben Naturerscheinung, die wir Wärmeschwingung nennen. Von diesem Gesichtspunkte aus hat der jetzt übliche Nullpunkt der Thermometer weiter keine Bedeutung, als daß bei diesem Wärmegrade das Wasser in den festen Zustand übergeht. Nur dadurch, daß dieser Uebergang wegen der großen Nützlichkeit des Wassers von Bedeutung für das Leben und Weben der organischen Wesen ist, hat dieser Nullpunkt seine besondere Wichtigkeit erhalten, so daß wir die über ihm liegenden Grade Wärmegrade, die unter ihm liegenden Kältegrade nennen.

Die neuere Technik versteht es in der That, die entfernt liegenden Stufen der Wärmeskala beliebig miteinander zu vertauschen und sowohl Wärme in Kälte überzuführen, als auch Kälte in Wärme.

Diese Technik bereitet in großem Umfange zu gewerblichen Zwecken die Kälte mittels des Feuers, wobei sie sich als Vermittlerin der mechanischen Kraft zu bedienen pflegt.

Manche Gewerbe, insbesondere die Brauereien, Hefefabriken, die Schlächtereien, die Gewerbe zur Konservierung von Nahrungsmitteln haben schon seit langer Zeit die Kälte in Dienst genommen. Sie waren dabei auf das Natureis, wie es uns der winterliche Frost alljährlich zu bringen pflegt, angewiesen. Die Ernte des natürlichen Eises ist aber von der wechselnden, mehr oder weniger kalten Witterung unserer Winter abhängig und fällt mitunter sehr dürftig aus, so daß der jährliche Bedarf nicht gedeckt werden kann. Die Versuche, in solchen Fällen aus weiter Ferne Polareis zu holen, scheiterten an der Höhe der Transportkosten. Somit war die Technik vor eine neue Aufgabe gestellt, nämlich die von den Physikern durch den Versuch bereits als möglich nachgewiesene künstliche Darstellung des Eises zum gewerblichen Großbetriebe auszubilden, mit einem Worte, Eismaschinen zu erfinden.

In welchem Maße die Lösung dieser Aufgabe gelungen ist, sehen wir daran, daß inzwischen eine ganze Reihe von Gewerbtreibenden, die auf die Verwendung von Eis angewiesen sind, sich von der Witterung unabhängig gemacht hat und in der Lage ist, ihren Betrieb mit Sicherheit und Stetigkeit durchzuführen. Der überstürzenden Hast der früheren Natureisgewinnung sind sie überhoben, ebenso der oft schwierigen Lagerung und des Schutzes der großen Jahresvorräte.

Es lag aber noch ein anderer nicht minder wichtiger Grund zur Einführung der künstlichen Bereitung des Eises vor. Alles Eis der Teiche, Flüsse und Seen ist verunreinigt, der Staub der Straße, der Ruß unserer Feuerungen, organische Stoffe aus allen möglichen Betrieben, oft der widerlichsten Art, und unter diesen insbesondere die kleinen Lebewesen (Mikroorganismen), die als tückische Feinde so manches Opfer an Leben und Gesundheit fordern, sie alle werden vom Eise unserer Flüsse und Teiche aufgenommen. Nur scheinbar sind diese schlimmen Gesellen im Eise in Ruhe und erstorben; in vielen Fällen nehmen sie beim Auftauen des Eises ihre allerdings oft reinigende, oft aber auch verderbenbringende Thätigkeit wieder auf.

Ueber die geradezu erstaunliche Menge dieser kleinen, im Wasser des natürlichen Eises enthaltenen Organismen giebt ein Blick ins Mikroskop Auskunft.

Bei der künstlichen Eisfabrikation ist man diesen Zufällen nicht ausgesetzt, da reines, nötigenfalls durch Filtration und durch Abkochen von allen Verunreinigungen und Keimen befreites Wasser jederzeit leicht zu erlangen ist. Deshalb können wir auch das künstlich dargestellte Eis, ohne Widerwillen zu empfinden oder uns schädlichen Einflüssen auszusetzen, unmittelbar mit den Speisen und Gewtränken in Berührung bringen, während wir das Natureis von den Genußmitteln fern halten müssen und die Kühlung verständigerweise nur durch Umgeben der die Genußmittel enthaltenden Behälter mit Eisstücken bewirken dürfen.

[436]

Das Füllen der Gefrierzellen.


Seit Einführung der Kältemaschinen sind diese für manche Gewerbe, wie für die Bierbrauereien, die Hefefabrikation, die Paraffinbereitung, die Fleischkonservierung, den Fleischtransport geradezu unentbehrlich geworden. Wenngleich unter Umständen das Natureis billiger ist als das Kunsteis, so haben sich doch wegen der zuverlässigen und sicheren Gewinnung des Eises die Eismaschinen in ungeahnter Weise verbreitet. In den Jahren von 1875 bis 1891 versorgte allein die Lindesche Gesellschaft für Eismaschinen in Wiesbaden 724 verschiedene industrielle Anlagen mit Kältemaschinen. Bis zur Zeit sind ausgeführt oder in Ausführung begriffen 2050 Lindesche Kältemaschinen, welche in 1208 verschiedenen gewerblichen Betrieben Verwendung finden. Die Maschinenbauanstalt Germania in Chemnitz baute bisher gegen 330 Eiskühlungsanlagen. Außerdem beteiligen sich noch viele und zum Teil sehr bedeutende Firmen an der Herstellung von Eismaschinen.

Die oben erwähnten Lindeschen Eismaschinen würden, wenn man die von ihnen erzeugte Kältemenge in Eis umrechnen wollte, etwa 300 Millionen Centner Eis im Jahre liefern. Das entspricht 16 300 000 Kubikmetern oder einem Eiswürfel von etwa 235 Metern Kantenlänge. Dies ist aber nur die Leistung einer einzigen Eismaschinenfabrik unter den vielen.

Zur Zeit durchfurcht wohl kein größerer Passagierdampfer den Ocean, der nicht eine Eismaschine besäße, die unter den glühenden Strahlen der Tropensonne zur Kühlung der Schiffsräume und zur Konservierung der für den Seefahrer so wichtigen Vorräte an Fleisch und anderweitigen frischen Nahrungsmitteln benutzt wird.

Wir wollen nun an einigen Beispielen zeigen, welche Wege zur Erzielung niedriger Temperaturen der Technik offen stehen und wie sie ihr Verfahren ausübt.

Unsern Lesern sind wohl die sogenannten Kältemischungen bekannt, die jetzt mitunter noch verwendet werden, die aber früher als ausschließliches Mittel dienten, den Hausbedarf an Eis zu decken und insbesondere Gefrorenes zu bereiten. Eine zu diesem Zweck geeignete und gebräuchliche Mischung besteht aus 5 Teilen Salmiak, 5 Teilen Salpeter und 16 Teilen Wasser, mit der man


Das Entleeren der Gefrierzellen.

[437] eine Temperaturerniedrigung von -10 Grad bis zu -12 Grad (Celsius) erreichen kann. Mit einer Mischung von 2 Teilen Schnee und 3 Teilen krystallisiertem Chlorcalcium kann man sogar -45 Grad erreichen.

Stellt man eine Schale mit den zu kühlenden Speisen in diese Kältemischungen, so erfolgt das Gefrieren in kurzer Zeit Der Grund zu diesem Vorgange liegt darin, daß die einzelnen Bestandteile der Kältemischung das Bestreben haben, in den flüssigen Zustand überzugehen. Dazu ist aber erforderlich, daß der Mischung eine gewisse Wärmemenge zur Verfügung stehe, die sie sich in unserem Beispiel aus der zum Zwecke des Kühlens eingesetzten Schale entnimmt, deren Inhalt infolge dieser Wärmeentziehung gefriert.

Eine zweite Art der Kältegewinnung können unsere Leser leicht anstellen oder haben sie wohl schon beobachtet Man schütte einige Tropfen Schwefeläther (Hoffmannstropfen) in die Hand und blase darüber, doch nicht bei Lampenlicht, der Feuergefährlichkeit des Aethers wegen.


Im Lagerraum.


Der leicht verdunstende Aether verschwindet bald und erzeugt an der Hand ein empfindliches Kältegefühl – Woher kommt das? – Der Aether geht aus dem flüssigen Zustand in den gasförmigen Zustand über; dazu gebraucht er Wärme, die er der Hand entnimmt.

Wie uralt die Kenntnis und Benutzung dieses Kühlverfahrens ist, sehen wir an der schon zur Zeit der alten Aegypter gebräuchlichen und noch heute von den Bewohnern des Nillandes ausgeübten Gepflogenheit, das an sich warme Nilwasser mittels der sogenannten Gulle zu kühlem Letztere ist ein Gefäß aus gebranntem, nicht glasiertem Thon, durch welchen das Wasser langsam hindurchschwitzt. Von der Oberfläche aber wird es durch den gelindesten Luftzug verdunstet und kühlt dadurch den Inhalt, der ohne diesen Vorgang ganz ungenießbar sein würde.

Aber wozu in die Ferne – bis ins Land der Pyramiden – schweifen, um das zu sehen, was jeder an sich selber beobachten kann?! Unser eigener Körper ist eine Art Kältemaschine, an Stelle der porösen Thonwände der Gulle hat unser Körper eine mit unzähligen Schweißporen versehene Haut, die fortwährend Verdunstungswasser an die Oberfläche treten läßt.

Die Dame, die sich mit ihrem zierlichen Fächer Kühlung verschafft, denkt wohl im Augenblicke nicht daran, daß sie ihren Rosenwangen die Rolle der Eismaschine auferlegt. In der That ist es so; der vom Fächer erzeugte Luftzug erregt an den Poren der Haut eine starke Verdunstung, zu der die Wärme dem Gesichte entnommen wird.

Diese Ausdünstungsfähigkeit unserer Haut ist es in erster Reihe, die uns die heißesten Sommertage, das heißeste Klima erträglich macht; sie regelt mit aller Energie die innere Wärme des Körpers, die bei normaler Lebensthätigkeit trotz aller Verschiedenheit der uns umgebenden Temperaturen nur um wenige Grade schwankt. In den zuletzt erwähnten Fällen wurde stets die Kälte durch Verdunstung einer Flüssigkeit hervorgebracht. Wir werden im Verlauf sehen, daß diese Erscheinung fast allen neueren Kältemaschinen zu Grunde gelegt ist, und werden dabei erörtern, welche Flüssigkeiten sich zu diesem Vorgange benutzen lassen.

In der neueren Zeit hat man noch ein drittes Verfahren zur Kühlung angewendet. An den in den letzten zwanzig Jahren vielfach in Gebrauch genommenen Maschinen, die mit stark gespannter Luft betrieben wurden, wie z. V. an den Bohrmaschinen des Mont Cenis-Tunnels, hatte man vielfach Gelegenheit, zu beobachten, daß die Preßluft beim Entweichen aus dem Cylinder der Bohrmaschine eine bedeutende Kälte erzeugte. Es kam diese Erscheinung den Vorarbeitern sehr zu statten, da diese von der sich mit dem Fortschreiten der Tunnelarbeiten stets steigernden Erdwärme viel zu leiden hatten. Man ging der Erscheinung zum Zwecke der technischen Verwendung auf den Grund und fand, daß allemal beim Uebergang stark gepreßter Luft in Luft mit geringerer Spannung eine Menge Wärme erforderlich ist und daß man auch in dieser Erscheinung ein Mittel zur Erzeugung von Kälte in der Hand hat. Doch wurde diese Erkenntnis erst in großem Maßstabe ausgenutzt nachdem Popp seine Preßluftanlage (siehe unseren Artikel in Nr. 7 des Jahrgangs 1891) in Paris eingerichtet und eingeführt hatte. Jetzt wird dort von dieser Art der Kühlung der ausgedehnteste Gebrauch gemacht zu allen schon erwähnten Zwecken. Insbesondere werden die zahlreichen Verwendungen der Kälte in den Pariser Hotels von der Poppschen Preßluft aus bewirkt

Blicken wir zurück auf die bisher erwähnten Beispiele, so finden wir, daß die Kälteentwicklung hervorgerufen wird entweder durch Kältemischungen also beim Uebergang fester Körper in Flüssigkeit, oder aber bei dem Uebergang flüssiger Körper in luftförmige oder drittens beim Uebergang stark gespannter Gase in Gase von schwacher Spannung. Die beiden letzten Erscheinungen, vorzüglich aber die Verwandlung flüssiger Körper in ihre Gasform, liegen den heutigen Eismaschineneinrichtungen zu Grunde. Die letztere Erscheinung dient hauptsächlich zur Eisgewinnung im Großbetriebe.

Treten wir ein in eine Eisfabrik, so wird unser Blick zunächst auf die Dampfmaschine gelenkt, die wie spielend das große Schwungrad umtreibt. An dem der Maschine gegenüberliegenden Ende der Hauptaxe sind die Triebstangen für die Kompressionspumpen [438] angebracht, von denen die eine ganz, die andere zum Teil auf unserer Hauptansicht, Seite 441 zu sehen ist.

Die Kompressionspumpen machen sich dem Zuschauer dadurch bemerkbar, daß ihre Zuleitung sich mit Reif bedeckt, der sich allmählich zu einer weißen Eisrinde verdichtet, wie sie auch auf unserem Bilde hervortritt.

Die Aufgabe der Kompressionspumpe ist, die Ammoniakdämpfe aus dem sogenannten Generator abzufangen und sie so zusammenzupressen, daß sie wieder in den flüssigen Zustand zurückgeführt werden. Zur Beförderung dieses Vorganges benutzt man Kühlwasser, welches die bei der Zusammenpressung entstehende Wärme aufnimmt. Je stärker der Druck der Pumpe und je geringer die Temperatur der Ammoniakgase gehalten werden, desto eher erfolgt der Uebergang in den flüssigen Zustand. Auch hier „muß eins dem andern helfen“.

Der vorhin erwähnte Generator dient dazu, das gewünschte Endprodukt, die Eisblöcke, hervorzubringen. Er besteht aus einem schmiedeeisernen, mit Holz umkleideten Kasten, auf dessen Boden eine Rohrleitung von erheblicher Länge in vielen Schlangenwindungen verlegt ist. In dieser Rohrleitung befindet sich das flüssige Ammoniak, welches unter hohem Druck vom Kompressor aus eingetreten ist. Da in der Rohrleitung aber niederer Druck herrscht, so verdunstet in ihr alsbald das Ammoniak und entnimmt die zum Verdunsten erforderliche Wärme der im Generator befindlichen, das Rohrsystem umgebenden Salzlösung. Die Salzlösung nimmt infolgedessen eine niedrige, unter dem Gefrierpunkte des Wassers liegende Temperatur an, ohne jedoch selbst zu erstarren. Die abgekühlte Salzlösung des Generators – auf dem sich in dem Hauptbilde der Wärter mit dem Handrade eines Ventiles zu schaffen macht – dient nun als bequemes Uebertragungsmittel für die Kälte. In die Flüssigkeit taucht man eiserne Gefrierzellen die mit dem zu gefrierenden Wasser gefüllt sind. Auf unserer ersten kleineren Abbildung, S. 436, ist dargestellt, wie die über den Generator gehobenen Gefrierzellen mit Wasser gefüllt werden, um demnächst mittels des von der Dampfmaschine aus getriebenen Hebewerkes in den Generator gesenkt zu werden.

Sind nach kurzer Zeit die Zellen zu den Eisblöcken in der bekannten prismatischen Form ausgefroren, so werden die Zellen aus dem Generator gehoben und einen Augenblick in warmes Wasser, in das sogenannte Taubassin getaucht, damit sich die Blöcke von den Zellwänden loslösen. Diesen Vorgang, insbesondere das Ausschütten der Eisblöcke auf die „Eisrutsche“, führt die nächste Abbildung, Seite 436, vor Augen. Die Blocke werden alsdann nach Bedarf entweder sofort aufgeladen und dem Bestimmungsorte zugeführt oder aber auf Lager gebracht, wo sie zum Schutz gegen Abschmelzen mit einer Decke, als welche gewöhnlich Holzwolle dient, eingehüllt werden.


Auf dem Wege zum Kunden.


Dann werden die Zellen wieder gefüllt und der Vorgang wiederholt sich aufs neue. Zu der Ausstattung der Eisfabrik gehört noch ein Kondensator, der aus einer oder mehreren Kühlschlangen besteht, um welche kühles Brunnenwasser geleitet wird. In diesem Kondensator sollen sich, unter Mitwirkung der Kompressionsmaschine, die hochgespannten Ammoniakdämpfe verdichten, um demnächst, wie schon erwähnt, im Generator von neuem zu verdunsten. Ferner findet man in der Eisfabrik einen Destillationsapparat, der dazu dient, aus der käuflichen Salmiakgeistlösung, in der das Ammoniakgas vom Wasser aufgenommen (absorbiert) ist, das reine Ammoniak zu gewinnen. Dies geschieht durch Abdestillieren des Gases aus der Lösung und ist aus dem Grunde erforderlich, weil beim Betriebe Verluste von Ammoniakgas nicht zu vermeiden sind, wofür Ersatz geschafft werden muß.

Man erzielt Eissorten von verschiedener Güte, welche als Trübeis und Klareis (Krystalleis) bezeichnet werden. Der Unterschied wird dadurch hervorgerufen, daß bei dem Trübeis die im gewöhnlichen Wasser enthaltenen Luftteilchen einfrieren und in der Form von kleinen Blasen eine weiße Trübung verursachen. Etwas gemildert wird diese Erscheinung, wenn man in den Zellen während des Einfrierens eine Rührvorrichtung wirken läßt. Um untadelhaftes Klareis zu gewinnen, muß man das Füllwasser unmittelbar vor dem Gefrieren auskochen und auch die Gefrierzellen mit ausgekochtem Wasser nachfüllen. Das Krystalleis hat neben dem bessern Aussehen noch den Vorteil, beim Versand widerstandsfähiger zu sein.

Wir haben im Vorstehenden eine Eismaschine, die mit Ammoniakflüssigkeit betrieben wird, geschildert. Die außerdem üblichen Flüssigkeiten wie Kohlensäure, schweflige Säure (Pietetsche Flüssigkeit), Aether etc. haben, mit Ammoniak verglichen ihre Vorteile und Nachteile, die noch nicht endgültig gegeneinander abgewogen sind.

Es wäre übrigens Irrtum, anzunehmen, daß die Eismaschinen lediglich zur Eisfabrikation dienen. In vielen Fällen verzichtet man vorteilhafter auf die Eisbildung und begnügt sich damit, die zur Kühlung des Generators dienende Salzlösung unmittelbar zu benutzen. Dies geschieht z. B. bei der Kühlung von Kellern dadurch, daß man die kalte Salzlösung durch Röhren streichen läßt, die an der Decke des Kellers angebracht sind. Von der Rohrleitung aus verbreitet sich die Kälte durch den ganzen Kellerraum die Salzlösung wird mittels einer Pumpe mit stetigem Umlaufe durch das ganze Röhrensystem getrieben und kehrt bei diesem Umlaufe auch zur Kühlstelle zurück, wo sie von neuem abgekühlt wird. Wir müssen uns an dieser Stelle mit der bloßen Andeutung dieser wichtigen Verwendungsweise begnügen.

Die gebräuchlichen Eismaschinen werden für eine stündliche Eislieferung von 75 bis 2000 Kilogramm eingerichtet, es sind jedoch größere Leistungen durchaus nicht ausgeschlossen. In einer vor kurzem in St. Louis eingerichteten Brauerei dient zum Betriebe der Kompressoren eine Dampfmaschine von 600 Pferdekraft.

Mit einem Kilogramm Kohle erzielt man je nach Größe und Einrichtung des Dampfkessels und der Dampfmaschine 10 bis 14 Kilogramm Eis. Bei großen Verbunddampfmaschinen hofft man die Eismengen auf 24 Kilogramm steigern zu können. Daß die Angaben der beteiligten Kreise mitunter recht schwanken, ist aus geschäftlichen Verhältnissen wohl zu erklären – ist ja doch, wie schon erwähnt, die Frage, welches das beste System der Eismaschine sei, heute noch unentschieden.

Die Achtung gebietende Entwicklung der Eismaschinenindustrie liefert einen neuen Beweis, mit welcher beharrlichen Zähigkeit unsere Technik sich jeder zeitgemäßen Aufgabe zuwendet. Ebenso zeigt die Erfahrung, wie sehr die Entwicklung der Eismaschinenindustrie eine fördernde Rückwirkung auf alte gewerbliche Betriebe, welche Kälte verwenden, ausgeübt hat.




[439]

Die Zwillinge.

Novelle von E. von Wald-Zedtwitz.


1.

In der sogenannten Hundetürkei, jenem Fleckchen Erde, das ungefähr durch die Städte Torgau, Herzberg und Jüterbog begrenzt wird, liegt ein einsames Heidedorf – nennen wir es Büttelstedt. Anmutig ist dessen Umgebung gerade nicht: feuchte Wiesen, auf denen Wasserlachen stehen, Schilf und Binsen ihr üppiges Dasein führen und der Storch die reichlichste Nahrung findet; einige dürftige Felder, deren Hafer- und Roggenähren man ohne Mühe zählen könnte, einzelne Aecker, mit Wolfsbohnen bepflanzt. Das Ganze umschlossen von endlosen Kiefernwaldungen.

Und nicht weniger arm an Reizen ist das Dorf selbst. Altersmüde Hütten drängen sich aneinander, als ob sie sich in ihrer Baufälligkeit gegenseitig stützen wollten, und die schweren bemoosten Strohdächer lassen sie noch kleiner erscheinen, als sie in Wirklichkeit sind. Nur Pfarr- und Schulhaus zeichnen sich durch ein modernes Gesicht und bessere Bauart aus, während zu einer Erneuerung der Kirche die Mittel offenbar nicht gereicht haben. Schwer und plump aus Feldsteinen errichtet, an denen es hier nicht mangelte, war der Turm im ersten Ansatze stecken geblieben.

Ein elendes Nest, dieses Büttelstedt, und doch hängen die, welche hier geboren und erzogen werden oder eigentlich mehr wild aufwachsen, mit zärtlicher Liebe an der kargen Heimat. Von niemand aber mochte das mehr gelten als von dem Siebmacher Karl Schmallstein, der mit seinem Weibe Friederike dort wohnte. Der geistige Gesichtskreis der beiden war so eng wie ihr körperlicher; Büttelstedt, Büttelstedt und noch einmal Büttelstedt und allenfalls noch jene drei Städte, welche die „Hundetürkei“ begrenzen – das war alles.

Auch diese Städte hätten sie nie gesehen, wären sie nicht alljährlich zweimal zu den großen Märkten dorthin gefahren, um ihre Siebe an den Mann zu bringen. Selbstedend war das jedesmal ein Ereignis. Bei dieser Gelegenheit kaufte auch Schmallstein alles, was zu seinem Geschäft gehörte – die biegsame Umrandung der Siebe, den Draht, das Blech und die Pferdehaare.

Heute saß der Meister so recht in seinem Gott vergnügt in seiner niedrigen engen Werkstatt an der Arbeit, neben ihm seine Frau, deren Sache es war, die Pferdehaare zu einem feinen Gewebe zusammenzufügen. Aber dieses Geschäft ging ihr nicht so flott von der Hand wie sonst, eine beklemmende Bangigkeit beschlich ihr Herz, denn sie fühlte, daß die Stunde sich nahte, in welcher sie ihrem häuslichen Glücke durch die Geburt des ersten Schmallsteinschen Kindchens die Krone aufsetzen sollte.

Ihr lieber Karl schmiedete Pläne auf Pläne: wurde es ein Sohn, so mußte er natürlich einmal Siebmacher werden, schenkte ihnen aber der Himmel eine Tochter, so dünkte dem guten Meister der reichste Bauerssohn noch lange nicht gut genug für sie.

„Laß’ es werden, wie es will, Mann – was der liebe Gott schickt, nehmen wir dankbar auf; wenn das liebe Kind nur gesund, brav und tüchtig wird, dann soll’s uns recht sein.“

„Ja, bei Gott, das soll es,“ rief der Meister gerührt und streichelte seiner Frau zärtlich die Wangen.

„Und halten wollen wir’s wie Gottes Ebenbild. Hegen und pflegen und besser erziehen wie die anderen Kinder im Dorfe,“ setzte die Meisterin, einen bittenden Blick nach oben werfend, hinzu.

Frau Schmallstein stellte die Arbeit ein, begab sich in die Kammer und legte die kleinen Sachen zurecht, welche sie liebevoll gestickt und genäht hatte. Am nächsten Morgen herrschte Jubel in der Hütte, so daß sie wie vom Sonnenschein durchleuchtet erschien; denn der Storch hatte sich sanften Flügelschlages auf das alte wackelige Strohdach niedergelassen und einen kleinen männlichen Sprossen in die rohgezimmerte Wiege gelegt.

„Ein Erbe,“ sagte Karl gerührt, denn bei ihm stand es fest, daß der Neugeborene auch für den Fall, daß sich noch mehr Kinderchen einstellen sollten, so wie es seit undenklichen Zeiten in Büttelstedt Sitte war, einmal das Haus, das Geschäft mit der Kundschaft, sowie den Grasgarten, die anderthalb Morgen Ackerland, den kleinen Waldteil und das Gemeindehütungsrecht von sechs Gänsen auf der Pfarrwiese erben sollte.

„Der soll in der Wolle sitzen; die anderen mögen sehen, wie weit sie durch ihrer Hände Arbeit kommen.“

Schmallstein schmunzelte dabei das kleine schreiende Zappelding voll väterlicher Zärtlichkeit an, während die bleichen Lippen der Wöchnerin ein freundliches zustimmendes Lächeln umspielte.

„Ja, so soll es sein, dazu gebe Gott seinen Segen,“ flüsterte sie, ohne den Blick von dem Knaben zu wenden.

Aber plötzlich wurde sie unruhig, und ehe sie es selbst dachte, begrüßte ein zweiter kleiner Weltbürger mit lautem Geschrei das Licht des Tages.

„Gottes Segen über uns!“ rief der Vater, während die Mutter halb bewußtlos in den Kissen lag. Zu guter Zeit erschien, atemlos vom nächsten Dorfe kommend, die Wehmutter wieder, begrüßte mit lautem Eifer das zweite Söhnchen, bereitete auch ihm ein Bad und bettete es dann fein säuberlich neben das andere in die Wiege. Da fing der Erstgeborene an zu schreien, gleich darauf der zweite, der Vater nahm den einen, dann den andern, während sich die Wehmutter bereits wieder entfernt hatte. So ging es eine Weile fort, bis der gute Schmallstein, der wohl mit Sieben, aber nicht mit kleinen Kindern umzugehen verstand, nicht wußte, wo ihm der Kopf stand.

Friederike, welche nun wieder vollständig bei Sinnen war, richtete sich ein wenig empor.

„Gieb mir nur einmal unseren Aeltesten her, ich will den kleinen Schreihals schon ruhig bekommen.“

„Hier!“ Karl reichte ihr den einen doch nahm er ihn sofort wieder zurück. „Nein dieser ist es wohl? Nun weiß ich’s wahrhaftig selber nicht mehr.“

„Aber lieber Mann, dieser ist es,“ dabei deutete Friederike auf den, welchen Schmallstein im rechten Arme hielt.

„Der andere ist es, verlaß Dich darauf.“

„Ich glaube, Du gehst falsch.“

Karl sagte das mit einer solchen Bestimmtheit, daß seine Frau auch daran glaubte; aber bald kamen ihr doch wieder Zweifel. Einer sah aus wie der andere: beide rot wie gekochte Krebse, beide mit blauen Augen, und dazu brachten sie jeder einen ganzen Kopf voll schwarzer Haare mit auf die Welt. Es war ja rein zum Verzagen. Dem Vater wurde jetzt ganz wirr im Kopf, denn die Sache war gar nicht unwichtig; man bedenke doch das Haus, den Acker und was alles noch damit zusammenhing, was der Aelteste einmal nach altem Recht und gutem Brauch erben sollte.

War die Erstgeburt nicht festzustellen, so konnte ja das größte Unrecht begangen werden.

Das schoß dem Meister jetzt alles durch den Kopf, aber er verschwieg es seiner Ehehälfte noch, damit diese sich darüber nicht beunruhige. Dafür nahm er sich vor, morgen die Wehmutter zu fragen, die mußte es ja wissen.

Der guten Frau war in ihrer langjährigen Praxis schon mancher verschmitzte Fall vorgekommen, aber so einer doch noch nicht.

„Hm – hm – ist es nun der oder ist es der?“

„Das frage ich Sie ja eben,“ antwortete der Meister.

„Wir hatten alle Hoffnung auf Sie gesetzt,“ klang es ängstlich vom Bette her, wo sich Frau Schmallstein Sorge machte, daß nicht etwa der Aeltere für den Jüngeren gehalten und dadurch in seinen Ansprüchen, welche er an das Leben zu machen hatte, geschmälert würde.

„In solchen Fällen empfiehlt es sich, die Kinder durch rote und blaue Bändchen zu kennzeichnen,“ sagte die Frau mit salbungsvoller Weisheit.

Das schlug bei dem Siebmacher dem Fasse den Boden aus. „Das hätten Sie nur vorher sagen sollen; wenn die Herren vom Rathause kommen, so ist es gewöhnlich zu spät.“ Damit schob er die erstaunt Dreinschauende unsanft zur Thür hinaus.

Die Wehmutter aber hatte nichts Eiligeres zu thun, als die wunderbare Geschichte, welche das stille Glück des Ehepaares [440] Schmallstein recht empfindlich störte, mit geschwätziger Zunge im Dorfe herumzuklatschen. Nun kamen die lieben Muhmen und Basen, die ganze Freund- und Verwandtschaft, betrachteten mit klugen Gesichtern, mit neugierigen Augen und langen Nasen die Neugeborenen, doch nur um festzustellen, daß man ihnen nicht ansehen konnte, welcher der Aeltere, und welcher der Jüngere war, fanden aber im übrigen, daß es gesunde und wohlgeformte Kinder seien.

„Sie haben zu zweien keinen Platz in der Wiege; sehen Sie nur, Frau Gevatterin, ein Würmchen will das andere hinausdrängen,“ bemerkte mit ahnungsvollem Kopfschütteln die Muhme Finken.

„Einer strampelt mit den Beinchen gegen den andern,“ setzte Frau Schneidermeister Heller hinzu. Die Weiber gingen, steckten draußen die Köpfe zusammen und meinten, daß es ein verzwickter Fall sei, wie er sich in der Geschichte Büttelstedts noch niemals zugetragen habe und der außerdem mit ungünstigen Zeichen für die Zukunft begleitet sei.

„Ja, ja! Den Leuten ist’s immer zu gut gegangen, nun haben sie die Bescherung.“ – „Und ein bißchen hochmütig waren sie immer.“ – „Der liebe Gott sorgt schon, daß die Bäume nicht bis in den Himmel wachsen, aber leid thun können einem die armen Eltern doch.“ So schwatzten die lieben Freundinnen durcheinander, schickten regelmäßig ihr Wochensüpplein und dankten Gott, daß sie nicht in derselben peinlichen Lage waren wie das Ehepaar Schmallstein.

Diese sorgten sich wirklich, und ihr Kummer wuchs, je näher die Taufe heranrückte, wo die Angelegenheit entschieden werden mußte. Endlich war es soweit und der Prediger schlug vor, der höheren Fügung die Lösung zu überlassen.

„Dieser soll der Aeltere sein,“ sagte er mit feierlicher Stimme, ergriff ein rotes Bändchen und band es dem einen um den rechten Arm; „und dieser sei der Jüngere und durch ein blaues Bändchen gekennzeichnet.“

Die Eltern waren es zufrieden, wenn auch mit sorgendem Herzen, und legten dem Aelteren den Namen Fritz, dem Jüngeren den Namen Otto bei; der Volksmund aber kehrte sich nicht daran und nannte die Buben fürder nur den roten und den blauen Schmallstein.


2.

Die Knaben waren munter herangewachsen, der Ehebund der Eltern aber durch keinen weiteren Sprößling gesegnet worden. Man sprach nur noch wenig von der Angelegenheit aber vergessen war sie deshalb doch nicht. Wie hätte das auch in einem Dorfe, wie Büttelstedt eins war, geschehen können. Als Fritz und Otto, welche im besten Einvernehmen miteinander lebten und sich den Teufel drum scherten, wer älter oder jünger war, zum erstenmal die Dorfschule besuchten, lebte die Erinnerung an jene Begebenheit wieder einmal auf.

„Wie soll ich Euch denn nun setzen?“ sagte der Lehrer, „Du bist Fritz, nicht wahr, also der Aelteste, und kommst demnach über Otto zu sitzen.“

„Das wissen sie selber nicht genau,“ rief in diesem Augenblick ein vorwitziges Bürschchen, dem andere lachend beistimmten, denn gerade gestern war in den verschiedenen Häusern die Sache wieder lebhaft besprochen worden.

„Ich bin Fritz und bin älter als Otto,“ stritt der angeblich Erstgeborene dagegen, indem er keck den bevorzugten Platz einnahm, doch da stiegen plötzlich bei Otto Zweifel auf und er machte seinem Bruder denselben streitig. Ehe sich’s der Lehrer versah, lagen sich die Buben in den Haaren, so daß er sie mit Gewalt trennen mußte. Selbstredend fügten sie sich, grollten aber miteinander und setzten auf dem Heimwege sowohl als zu Hause die Streitigkeit fort.

„Aber Jungens, was habt Ihr denn nur?“ rief der Meister von seinem Schemel aus.

„Ihr habt Euch doch sonst so gut zusammen vertragen!“ mahnte Frau Schmallstein.

„Ich bin älter wie der,“ schrie Otto.

„Nein ich!“ behauptete Fritz.

„Ich!“ – „Ich!“ – „Ich!“ – „Ich!“ – „Ich!“ brüllten die Jungen durcheinander, wobei sie wie die Kampfhähne aufeinander einschlugen und sich an den Haareu zausten, bis der Vater mit der Haselgerte dazwischeu fuhr, den einen in die Kammer, den andern in den Holzstall steckte. Friederike aber hatte das Siebnetz, an welchem sie arbeitete, aus den Händen sinken lassen und schwamm in Thränen.

„Ach, diese unglückselige Verwechslung,“ rief sie klagend. „Meine Ahnungen haben mich nicht betrogen; nun ist der Streit da.“

„Die vertragen sich auch wieder,“ versuchte der Meister, sie zu trösten.

„Nein, nein, Mann, wenn so etwas erst anfängt, giebt’s kein Ende. Ich habe ’mal eine Geschichte gelesen von den feindlichen Brüdern, die war schrecklich, mit Blut und Totschlag hat sie geendet. Ach, du lieber Himmel, nun habe ich sie im eigenen Hause, da möchte man wohl fast sagen: lieber gar keine Kinder als solche, unter denen kein Vertragen ist.“ Frau Schmallstein führte die blauleinene Schürze gegen die Augen und weinte bitterlich; denn ihr schönes friedliches Dasein erschien ihr auf einmal vernichtet.

„Aber Frau, wer wird gleich so schwarz sehen,“ wandte Karl ein, aber es kam nur zögerud heraus und verfehlte deshalb auch seine Wirkung.

Schmallstein sah selbst düsteren Blickes in die Zukunft, und wenn er daran dachte, daß später einmal noch die tief einschneidende Frage über Mein und Dein da mit hineinspielen würde – o je! o je – o je! Er fuhr sich verzweifelt mit den Händen in die Haare.

Bei Tische saßen sich die beiden Knaben trotzig gegenüber; jeder versuchte zuerst mit dem Blechlöffel in die Schüssel zu langen, um für sich, in dem vermeintlichen Gefühl als Aeltester, den besten Bissen herauszufischen. Sonst war das nie der Fall gewesen und Friederike warf ihrem Manne einen verzweifelten Blick zu.

Bis dahin hatten die Knaben friedlich gemeinsam in einem Bett geschlafen, aber jetzt stießen und schlugen sie sich und einer wollte den Platz des andern haben. Vater Schmallstein fuhr zwar nicht nur mit einem Donnerwetter, sondern auch mit dem Stock dazwischen, aber das half gerade nur für die eine Nacht, so daß schließlich nichts anderes übrig blieb, als die feindlichen Brüder zu trennen.

Die Eltern bekümmerte dies tief. Sie hatten sich vorgenommen, ihre Kinder so recht gut und gottesfürchtig zu erziehen und nun prügelten sie sich auf der offenen Straße viel schlimmer als die anderen, warfen sich mit Steinen und kamen mit zerrissenen Kleidern und mit zerzausten Haaren nach Hause.

Weder Strafen noch gute Worte wollten helfen. Endlich erlahmte die Kraft der Eltern, sie ließen die Sache gehen, wie sie eben gehen wollte, härmten sich und kamen in ihrem grenzenlosen Kummer überein, daß es wirklich weit besser sei, gar keine Kinder zu besitzen als solche.

Je älter die Knaben wurden, desto mehr stieg ihre Feindschaft. Die Kinder in der Schule, mit denen sie spielten, nahmen Partei für den einen oder den andern, so daß sich die jugendliche Bevölkerung des Dorfes in zwei Heerlager teilte, von denen Otto das eine, Fritz das andere anführte. Auf den Gassen von Büttelstedt wurden jetzt förmliche Schlachten geschlagen und als der lahme Polizeidiener ein machtiges Halt geboten hatte, wurde ihr Schauplatz in den nahen Wald verlegt.

Die Eltern Schmallstein vergingen fast vor Kummer und sahen doch keinen Ausweg.

Fast ebenso schwer wie diese hatte die kleine Lina Vogelsang darunter zu leiden, ein niedliches flachsköpfiges Mädchen, deren Vater sich damit ernährte, daß er den Leuten von Büttelstedt die Stiefeln und die Schuhe ausbesserte, während er zur Anfertigung neuer sich nicht verstieg oder vielmehr seitens seiner Landsleute, welche sich das fertige Schuhwerk auf den Jahrmärkten kauften, nicht veranlaßt wurde.

Lina war sowohl mit Fritz wie mit Otto Schmallstein befreundet und beide Knaben überwachten eifersüchtigen Auges die Beweise von Zuneigung, welche das kleine Ding dem einen oder dem andern gab. Das arme Linchen – wie ein Federball wurde sie herumgeschleudert!

„Du spielst mit mir Verstecken,“ sagte Otto eben.

„Ja, ja!“ Und freudig lief sie mit ihm davon.

„Du sollst mit mir Kämmerchen vermieten,“ rief Fritz dagegen und riß sie mit sich fort.

„Ich wollte gern, aber –“

„Ach was, hierher gehörst Du!“ Fritz ergriff sie am einen, Otto beim andern Arm, Linchen brach in Thränen aus; die Knaben rauften sich und dabei erhielt sie Knüffe und Püffe sowohl von diesem als von jenem.

[441]

In einer Eisfabrik.
Nach der Natur gezeichnet von A. Eckardt.

[442] Um sie zu versöhnen, kaufte ihr der rote Schmallstein bei dem Allerhandskrämer, welcher so leichtsinnig gewesen war, sein Glück in Büttelstedt zu versuchen, einen Gummiball, wahrend der blaue sich bis zu einer Fünfzigpfennigspuppe verstieg. Linchen war glücklich, nahm beide Geschenke, mußte jedoch zu ihrem Kummer erleben, daß Fritz ihren Ball in das Wasser warf, während Otto die Puppe bei den Beinen ergriff und sie mitten auseinander riß, so daß die Sägespäne, welche den ledernen Balg füllten, in alle Winde stoben.

„Etsch-etsch, ich habe von Linchen einen Apfel bekommen,“ höhnte ein andermal Fritz.

„Und ich eine Birne, ha – ha – ha –“ spottete Otto. Der Streit war wieder im Gange und endete damit, daß die beiden Knaben die Früchte dem beklagenswerten Mädchen an den Kopf warfen.

So gingen die Jahre hin, und wenn sich auch der Haß der Brüder nach und nach nicht mehr so offen bekundete, so glomm er dennoch wie der Funke unter der Asche fort. Ein Windzug – und er konnte sich zur offenen Flamme entfachen. Und dieser Anlaß kam.

Die Knaben waren zu Jünglingen gereift, Linchen zur Jungfrau, und die Freundschaft der Brüder zu dem Mädchen hatte sich in Liebe verwandelt. Heute abend war Pfingstbier, da durfte kein tanzfähiges Büttelstedter Menschenkind im Kruge fehlen.

Lina begab sich dahin nur mit Zittern und Zagen; denn das war wieder eine Gelegenheit, um den eifersüchtigen Zorn der Schmallsteinschen Brüder auflodern zu lassen. So recht lieb hatte sie keinen von beiden, aber das wagte sie aus Angst nicht zu gestehen und so tanzte sie abwechselnd mit dem einen und mit dem andern. Nun handelte es sich aber darum, neben welchem sie in der Kaffeepause sitzen sollte.

„Du kommst an meinen Tisch,“ sagte Otto.

„Das fehlte noch,“ rief Fritz, „hier gehörst Du her.“

Lina wagte den Streit nicht zu entscheiden, da mußte wieder die Faust der Brüder helfen, welche wutentbrannt hinaus auf den Dorfplatz stürzten, um ihre Sache dort auszufechten; sie aber, Schlimmes ahnend, eilte ihnen nach und trennte sie.

„Gut!“ sagte Otto, „entscheide, mit wem von uns beiden Du gehen willst!“

„Ja, sag’ ’mal aufrichtig, wen Du lieber hast, den oder mich?“ brauste Fritz auf.

Lina wurde es himmelangst, eine Entscheidung wollte sie nicht treffen und so lief sie denn nach Hause. Viel sollte ihr das nicht helfen, denn beide jagten ihr nach und langten fast gleichzeitig vor dem Schuhmacher Vogelsang an, welcher noch spät am Abend hinter der mit Wasser gefüllten Lichtglaskugel auf seinem dreibeinigen Schemel saß und die Stiefeln des Ortsschulzen ausbesserte.

Vogelsang sah über die große Hornbrille hinweg, die aufgeregt hereinstürmenden Drei voller Erstaunen betrachtend.

„Die Sache muß klär werden,“ rief der eine.

„Der Kram muß in Ordnung,“ der andere, während sich Linchen still weinend in die dunkelste Ecke des kleinen Zimmers drückte.

Nun trugen die Brüder, sich gegenseitig unterbrechend, dem Meister Vogelsang ihre Wünsche vor.

Der Alte zog den Fuß aus dem Knieriemen, mit dem er den Stiefel des Schultheißen festgehalten hatte, so daß er polternd auf den Boden fiel, und kratzte sich hinter dem Ohre.

„Hm – hm – das ist eine kitzlige Frage, die muß denn doch eigentlich die Line entscheiden; aber wenn es auf mich ankäme, so würde ich den zu meinem Schwiegersohn nehmen, der einmal das Anwesen kriegt und das Geschäft; aber wer es kriegt, das mag der Teufel wissen, denn Euere Eltern wissen ja selbst nicht, wer von Euch der Aelteste und der Jüngste ist.“

Das Anwesen? Das Geschäft? – Daran hatten sie beide noch gar nicht gedacht.

Die Liebesangelegenheit trat mit einem Schlage in den Hintergrund und der Eigennutz nahm deren Stelle in der Brust der jungen Leute ein.

„Vater, wie ist das? Wer bekommt Haus und Hof?“ fragten sie am nächsten Morgen alle beide.

Meister Schmallstein saß da wie versteinert und Friederike zitterte wie Espenlaub. Beide aber blieben die Antwort schuldig.

„Ich natürlich, ich bin der Aelteste,“ warf Fritz ein.

„Nein, ich! Denn kein Mensch kann beweisen, daß ich der Jüngste bin,“ donnerte Otto dagegen.

Der Siebmacher, welcher unter dem gegenseitigen Haß seiner Kinder vorzeitig zum alten Mann geworden war und einen guten Teil seiner früheren Willenskraft eingebüßt hatte, zog sich förmlich in sich zusammen und starrte trübe auf seinen Handwerckstisch.

„Leider muß ich bekennen,“ sagte er nach einer Weile mit gebrochener Stimme, „daß ich selbst nicht weiß, wer von Euch zuerst auf die Welt gekommen ist, und so hab’ ich denn beschlossen, wenn mich der liebe Gott abberuft, mein Anwesen unter Euch zu teilen; dann hat jeder sein Recht.“

Das entfesselte einen gewaltigen Sturm. Otto und Fritz wollten davon nichts wissen und beide beanspruchten das Erbe für sich ganz allein. Friederike rang in stummer Verzweiflung die Hände. Der Meister aber ermannte sich und sprang von seinem Sitze auf.

„Es bleibt so, wie ich es bestimmte, und wenn Ihr’s nicht zufrieden seid, gebe ich jedem seinen Pflichtteil und vermache das Ganze der Gemeinde.“

Die Brüder lachten höhnisch.

„Nun dann, adjes Vater, mich hast Du gehabt!“ Damit ging Otto, schnürte sein Bündel und wanderte zum Dorf hinaus.

„Und ich bleibe auch nicht hier,“ war Fritzens Antwort, und eine Stunde später verließ dieser seine Heimat in entgegengesetzter Richtung.

„Nun haben wir gar keine Kinder mehr,“ jammerte Frau Friederike.

„Lieber gar keine als solche,“ sagte der Meister mit thränenerstickter Stimme, dabei umarmte er sein unglückliches Weib, zärtlich wie in besseren Tagen; dann setzten sie sich nieder und arbeiteten schweigend an ihren Sieben.


3.

Jahr auf Jahr war vergangen, Otto und Fritz hatten nur einmal geschrieben, und zwar an die Ortsbehörde, um sich ihre Militärpapiere schicken zu lassen. Ein halbes Jahr später war die Nachricht gekommen, daß Otto bei einem Infanterieregiment in Breslau, der andere beim Füselierregiment in Saarlouis als Gemeine eingestellt worden seien. Sofort schrieb der Meister an beide, erhielt aber keine Antwort, und so grämten sich die alten Leute weiter, dabei fleißig ihr Geschäft besorgend.

Die Söhne lebten noch, das wußten sie wohl, denn sonst würden die Totenscheine eingegangen sein.

Da brach im Jahr 1870 die Zeit des großen Kriegs an. Ganz Deutschland starrte in Waffen und auch aus dem Dorfe Büttelstedt rückten die Reservisten und Landwehrmänner ab, um sich unter die Fahne zu stellen. Weithin gab man ihnen das Geleit, und auch Lina, welche einen ehrbaren Klempner geheiratet hatte, begleitete ihren Mann thränenden Auges ein gutes Stück.

Die Trennung wurde ihr herzlich schwer, denn sie hatte bisher sehr glücklich mit ihrem Johann gelebt, weit glücklicher, als sie es wohl mit Otto oder Fritz Schmallstein geworden wäre.

Doch hatte sie die Brüder keineswegs vergessen und den verlassenen Eltern derselben war sie getreulich zur Seite gestanden, um sie in ihrem Kummer zu trösten. Auch that sie gelegeutlich der alten Mutter, welche recht wackelig geworden war, allerhand Hilfeleistung. So war sie den gnten Leuten allmählich wie eine Tochter ans Herz gewachsen.

Der alte Schmallstein hatte ihren ersten Sohn und Friederike ihr kleines Mädchen aus der Taufe gehoben und beide nahmen sich jetzt in dieser schweren Kriegszeit der armen jungen Frau an, als wenn sie ihre Eltern wären.

Von allen Seiten strömte die bewaffnete Macht der französischen Grenze zu. Blitzende Bajonette, wohin das Auge sah, die Welt dröhnte vom Rasseln der Kanonen, und säbelklirrend, in Staub gehüllt, zog die deutsche Kavallerie dem Erbfeinde entgegen. Mitten unter ihnen König Wilhelm, umgeben von seinen bewährten Führern.

Sonnengoldig war der 16. August angebrochen, jenseit der Mosel, unweit Metz, tobte die Schlacht. Da brüllten die Geschütze, da knatterten die Salven, da dröhnte die Erde unter dem Hufschlage der anstürmenden Rosse.

Der Kanonendonner ist der Magnet, welcher den deutschen Kriegsmann unwiderstehlich anzieht, unaufhaltsam folgte ihm [443] Regiment auf Regiment und auch das ruhmreiche Breslauer, in dem Otto stand, veränderte die ursprüngliche Richtung seines Marsches und schlug den Weg ein, welcher ihm zu den alten neue unsterbliche Lorbeeren einbringen sollte.

Auf der Höhe jenseit des Städtchens Gorze machten sie Halt, um weitere Befehle abzuwarten.

„Hurra – hurra!“ Von der andern Seite rückten Füseliere heran und ein Kommando vereinte schnell die beiden Regimenter zu einer Brigade.

Die Kriegsfurie raste, dröhnendes Beben brauste von Metz her durch die Luft, Dörfer brannten und dicker Qualm zog über das Schlachtfeld. Granate auf Granate sauste über die Köpfe der beiden vereinigten Truppen, eine schlug hier, die andere dort ein, und der Tod hielt furchtbare Ernte in den Reihen der Lebenden.

„Avancieren!“ ertönte das Kommando. Gemeinsam betraten sie den Weg des Todes. Der Wald war durchschritten, in aufgelösten Schützenschwärmen erklommen die beiden Regimenter, das blaue und das gelbe, die dahinterliegenden Höhen, in der Aufregung des Kampfes bunt durcheinander gemischt.

Mannschaften und Führer fochten wie die Löwen. Zwei Sergeanteu aber – ein gelber und ein blauer –, welche dicht nebeneinander kämpften, thaten sich vor allen anderen hervor. Pulvergeschwärzt hatte einer kaum auf den anderen geachtet, jetzt aber, als es galt, den Graben dort gemeinsam zu besetzen, schritten sie aufeinander zu.

„Fritz!“

„Otto!“

Einen Augenblick starrten sie sich an, dann breiteten sie weit die Arme auseinander und lagen sich weinend an der tapferen Männerbrust. Angesichts des Todes, im Augenblicke, da die deutsche Waffenbrüderschaft mit Blut und Eisen für alle Zeit besiegelt ward dem großen mächtigen Erbfeind gegenüber, da hatte auch die unnatürliche Feindschaft der Brüder ein Ende und die reine schöne Liebe, welche die so lang entzweiten deutschen Volksstämme einte, einte auch ihre Herzen.

„Vorwärts!“ erscholl das Kommando des Offiziers.

Die Brüder lösten sich aus der Umarmung.

„Jetzt schütze uns Gott!“ rief Fritz.

„Damit wir nun endlich unseren Eltern Freude machen können,“ entgegnete der andere, ebenso weich gestimmt wie dieser, denn beide wußten jetzt, da sie selbst Kinder hatten, was es für ein schönes Ding um die Elternfreude ist.

Und der Herrgott, der Lenker der Schlachten, hielt seine schirmenden Flügel über sie.

Als nun die Friedenstrompete durch das Land erschallte, als Deutschland geeint erstanden war, da marschierten zwei schmucke bärtige Sergeanten, der eine mit gelben, der andere mit blauen Achselklappen, beide geehrt durch das Eiserne Kreuz, in das stille weltvergessene Büttelstedt ein.

Vor dem Häuschen des Siebmachers hielten sie an und sahen durch das blankgeputzte Fenster. Da saßen die beiden grauen Alten, fleißig an der Arbeit wie immer.

Gemeinsam klopften die beiden Soldaten an die Scheibe, der Meister rückte die Brille, die Meisterin erhob das Auge, dann standen sie langsam auf und gingen zu der Thür.

„Mutter, wir bekommen Einquartierung.“

„Mir soll’s recht sein, Vater.“

„Ja, Einquartierung, und was für welche!“ tönte es ihnen da entgegen, und ehe sie es dachten, wurden sie unter Lachen und Weinen von ihren wiedergekommenen und versöhnten Zwillingen umhalst.

Der schönste Friede, für sie noch schöner als der, welchen die streitenden Völker geschlossen, hatte sich auf das Häuschen des Siebmachers in der sandigen Heide niedergesenkt. Froher als die vier glücklichen Menschen stimmte am nächsten Sonntage in der kleinen ruinenhaften Kirche wohl niemand mit ein in das alte Lied „Nun danket alle Gott!“

Doch, eine! – Lina, die, umgeben von Mann und Kindern, neben den glücklichen Schmallsteins saß.

Und doch wäre es beinahe zwischen ihnen wieder zu Streitigkeiten gekommen. Otto wollte, daß Fritz das Anwesen erbe, während dieser es dem Bruder zu überlassen wünschte.

„Ihr teilt!“ entschied der Meister. „Gott gebe nur, daß ich jetzt noch recht, recht lange mein Häuschen und mein Geschäft mit meiner Alten allein verwalten kann.“

„Ja, das gebe er,“ sagten die Zwillingsbrüder, dann verließen sie das Dorf mit dem Versprechen, im nächsten Jahre wiederzukommen und Weib und Kind mitzubringen, was sie des öftern gehalten haben.



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Das Urbild der Schleppe.


Alljährlich, wenn die schöne Jahreszeit der Ausflüge und Spaziergänge gekommen ist, erhebt sich in den Zeitungen ein Entrüstungsruf gegen die Schleppe, die auf Promenaden und in Parkanlagen Staubwolken aufwirbelt und den Genuß frischer Luft unmöglich macht. Trotzdem verschwindet die Schleppe nicht. Kein Wunder, denn sie ist zu alt, um durch Angriffe oder Schmähschriften aus ihrer Ruhe aufgerüttelt zu werden; sie hat schon manchen schlimmeren Sturm ausgehalten!

In der Kleidung der europäische Frauen kam die Schleppe gegen Ende des 13. Jahrhunderts zum Vorschein und erreichte in wenigen Jahrzehnten eine solche Länge, daß die Damen ihre Schleppen sich nachtragen ließen. Die Mode kam aus Frankreich und breitete sich über alle Länder aus. Die Entrüstung der damaligen Sittenrichter über die „geschwänzten Röcke“ war ungemein groß und es wurde alles mögliche in Bewegung gesetzt, um die Schleppkleider abzuschaffen. Schmähschriften erschienen, die Frauen lasen sie und lachten. Da beschränkten die Behörden wenigstens das Uebermaß der Schleppen. So war in Modena nur eine Schleppe von einer Elle Länge erlaubt und auf dem Markte befand sich ein in Stein gehauenes öffentlich aufgestelltes Schleppenmaß, daran man die verdächtigen Schleppen messen konnte. Fürsten erließen Verordnungen, was für Standesfrauen Schleppen von bestimmter Länge tragen durften. Auf das Ueberschreiten der Verbote wurden Strafen gesetzt – die Frauen zahlten die Strafen und trugen Schleppen, die ihnen gerade gefielen. Selbst die Kirche eiferte gegen diese Tracht. In Predigten wurde die Schleppe eine Erfindung des Teufels genannt und im Jahre 1435 erwirkten die Franziskaner vom Papste Eugen IV. die Erlaubnis, allen Weibern, die Schleppen trugen, und denen, die sie anfertigten, die Absolution zu verweigern. Doch auch diesen Gegnern hielt die Schleppe stand. Sie wurde zwar bald länger, bald kürzer, aber sie folgte in diesen ihren Wandlungen lediglich den Gesetzen der Mode. Selbst als die Krinoline auftauchte, verzichtete man nicht auf den schleppenden Schmuck. Man befestigte Streifen Zeug an der Taille oder an den Schultern und ließ sie als Schleppen herabwallen.

Schleppende Gewänder dienen auch in anderen Kulturwelten zum Frauenschmuck ... und dieser Staat ist auch den afrikanischen Völkern nicht unbekannt.

Gustav Nachtigal schildert in seinem Werke „Sahara und Sudan“ ausführlich die Frauentracht in dem schwer zugängigen Reiche Wadai. Zu dem Anzuge der Wadaischönen gehören außer dem Frauengürtel, welcher, mit Korallen, Glas- oder Thonperlen geschmückt, häufig aus 40 bis 50 Perlschnüren bestehend, als dicker Wulst um die Hüften getragen wird, der große Hüftenshawl und der Schulter- und Kopfshawl. Der Hüftenshawl ist der kleinere von beiden, umhüllt Hüften und Beine und reicht bis auf den Boden hinab. Auch hier hat der Luxus die ursprüngliche Länge desselben von etwa 3 Ellen mit der Zeit auf 12 Ellen gegebracht, und diese lang auf dem Boden schleppenden Shawls heißen „Firde Endurki“, werden begreiflicherweise nur von Vornehmen getragen und dementsprechend von feinem Baumwollstoff, Kattun, Halbseide und Seide gefertigt. In Dar-Zijud und Dar-Said sieht man nicht selten die Frauen von kleinen Sklaven begleitet, welche ihnen die luxuriöse Schleppe der „Firde Endurki“ tragen. Auch das Kopf- und Schultertuch ist durch den gesteigerten Luxus von seiner ursprünglichen Länge von 4 bis 8 Ellen zu einer Länge von 16 Ellen angewachsen und bildet eine große Schleppe.

In Kuka, der afrikanischen Großstadt am Ufer des Tsadsees, ist der Kleiderluxus noch größer. Dort leben die Sudanneger noch im Zeitalter der alten Landsknechthosen. Man sieht dort auf der Straße keineswegs den sogenannten nackten Neger. Zwei, drei oder vier Gewänder aus schwerem Stoff sind den Bewohnern der Hauptstadt Bornus keine Last, sondern ein Stolz, ein Vergnügen. Der Reiche hat, wenn er zu Fuß durch die Stadt wandelt, einen würdevollen Gang, die Last der Kleider bewirkt es. Weite Beinkleider, in denen sich drei europäische Extremitätenpaare verlieren würden, fallen bis auf die Füße herab und nötigen ihm die breitspurige Gangart auf. Die Frauen und Mädchen der „besseren Stände“ stehen den Männern nicht nach. Da stolzieren die braunen Schönen hüftenwiegend und schulterndrehend einher. Auf dem Hinterkopfe ziert ein halbmondförmiger Silberschmuck das sorgfältig in kurzen Flechtchen geordnete Haar und ein Stückchen Edelkoralle prangt im rechten Nasenflügel. Den Oberkörper deckt ein kurzes Hemdchen, weiß oder blau, mit bunter Seide von oben bis unten in eigentümlichen Mustern gestickt. Und auch die Schleppe fehlt nicht. Der übliche Shawl wird um die Hüften so geschlungen, daß er zwischen den Füßen durch in Form einer langen Schleppe herabwallt. Die Damen lassen sich die Schleppen nachtragen, wenn der Boden naß und schmutzig ist, bei trockenem Wetter muß die Schleppe fegen, Staub aufwirbeln und Aufsehen erregen.

Es ließe sich die Zahl solcher Beispiele bedeutend vermehren. Wir [444] wollen jedoch nur noch einer afrikanischen Ballschleppe gedenken, wie sie z. B. bei den Balivölkern im Hinterlande von Kamerun üblich ist. Dort schlingen die sehr spärlich bekleideten Schönen gewöhnliches Baumwollzeug von der Breite eines Taschentuchs um die Hüften und lassen das eine Ende 4 bis 5 Meter lang auf dem Erdboden schleifen. Auch Männer versehen sich bisweilen mit einem solchen Ballschmuck. Auf dem Tanzboden wird nun die Schleppe nicht aufgehoben, sie flattert während des Tanzes in allerschönsten Schlangenwindungen hin und her, und es gehört zum dortigen guten Tone, daß keiner der Tänzer auf die Schleppen der Tänzerinnen tritt.

Aber selbst in Gegenden, in welchen Baumwollzeuge rar, Seide und ähnliche kostbare Stoffe unbekannt sind, verzichten die Afrikaner nicht immer auf den Staat der Schleppe. Die Natur hat dem Menschen im Gegensatz zu den Tieren den Schmuck des Schwanzes versagt, aber Naturvölker gefallen sich oft in ihm und binden sich von hinten allerlei Anhängsel an. Bald. besteht der Schmuck nur aus Erbsenstroh und Bananenblättern, muß aber bei festlichen Gelegenheiten doch bis auf die Erde herabwallen. Oft werden wirkliche Tierschwänze angehängt, und als besonders vornehm gelten die langen, die auf dem Boden schleppen. Dieser Schmuck, über dessen Verbreitung bei den Naturvölkern man früher nicht genauer unterrichtet war, gab ja den Anlaß zur Entstehung des Märchens von geschwänzten Menschenaffen, die in Urwäldern Afrikas und Asiens leben sollten. Dieser Putz zählt zweifellos zu den ältesten des Menschengeschlechtes, da wir ihm bei Völkern auf der niedrigsten Kulturstufe begegnen, und in ihm haben wir auch zweifellos das Urbild der Schleppe vor uns.

Doch die Menschheit schreitet fort und hoffentlich wird einmal die Zeit kommen, in welcher die civilisierten Frauen das Vergnügen, sich in Nachahmung des Tierschwanzes zu gefallen, großmütig ihren wilden und halbwilden Schwestern überlassen und eine Kleidung wählen, die mehr der Natur des Menschen entspricht. Dann wird auch unseren europäischen geschwänzten Röcken das letzte Stündlein schlagen. C. Horst.     



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Ein tiroler Bauerntheater.

Von Max Haushofer.

Seit die Oberammergauer mit ihrem Passionsspiel sich einen Weltruf erworben haben, sind an verschiedenen Punkten der Alpen und ihres Vorlands die dramatischen Neigungen, die dem Volke im Blute liegen, zu hellem Leben erwacht. Passionsspiele oder Volksschauspiele weltlichen Inhalts werden da und dort aufgeführt, in Brixlegg, in Meran, in Dornbirn und Schliersee, und diese tiroler, vorarlberger und oberbayerischen Bauern stellen ihr Licht nicht unter den Scheffel, sie sorgen dafür oder man sorgt ihnen dafür, daß alle Welt von ihnen erfahre und komme, ihre urwüchsige Kunst zu bewundern. Ja die Schlierseeer haben sich von ihrem Meister und Impresario Konrad Dreher sogar auf Gastspielreisen in die Städte der Ebene mitnehmen lassen.

Neben diesen Bauernbühnen aber, die gleichsam unter den Augen der Welt emporgekommen sind und die, dank einer gewissen geschäftlichen Betriebsamkeit, ihre Rolle als Zugmittel für den Fremdenverkehr spielen, giebt es eine Reihe von anderen, auf denen auch Bauern Theater spielen, aber ganz für sich und unter sich, ohne Festausschuß und Vertreter der Presse. Einem solchen Bauerntheater gilt diesmal unser Besuch. Des Reiches Grenze liegt hinter uns. Zwischen dem bewaldeten Berghang und dem ruhig herabwogenden Innstrome rollt unser Bahnzug entlang, der alten Feste Kufstein entgegen, die mit ihren runden Türmen schon nahe herüberschaut. Hoch über Burg und Städtchen aber trotzen die gewaltigen Zinnen des Kaisergebirgs, mit blauen Schatten und grauweißen Lichtern, von Sommerwolken umtanzt.

Am Bahnhof zu Kufstein erwartet uns schon die kaiserlich österreichische Finanzwache, scharfäugig ausschauend nach jedem Gepäckstück, das etwa zollpflichtige Ware bergen könnte. Unser ganzes Gepäck aber ist eine vergnügte Sonntagsstimmung. Die ist Gott sei Dank noch nicht zollpflichtig. Unbehelligt durchwandern wir den Zollrevisionsraum und eilen über die Brücke ins Städtchen. Es ist zwölf Uhr; um zwei Uhr soll das Bauerntheater in Thiersee beginnen, also gilt’s Eile; denn man fährt dahin in etwa anderthalb Stunden; und eine halbe Stunde dürfen wir uns vergönnen, unseren Hunger zu stillen.

Man fährt dahin. Wie leicht ist das gedacht und gesagt! Während uns der Wirt zur „Post“ einen vortrefflichen Rehbraten vorsetzt, schickt er einen dienstbeflissenen Hausknecht zu den städtischen Rosselenkern, um ein Fuhrwerk aufzutreiben. Wir freuen uns riesig auf die Fahrt, schaut doch die Sonne so festtäglich auf den mächtigen Felsenturm des Peutling herab und spielt auf den glitzernden Wellen des Stroms, der unmittelbar zu unseren Füßen rauscht!

Da naht sich der Wirt. Eine verdächtige Bewegung seiner Achseln läßt nichts Gutes ahnen. Wahrhaftig – in der ganzen Stadt Kufstein mit ihrer ragenden Feste ist kein Roß mehr aufzutreiben! Der Wirt tröstet uns freilich mit der Bemerkung, die Straße sei so schlecht, daß ein Fuhrwerk gerade so lange Zeit brauche wie ein Fußgänger; aber der Trost erinnert doch sehr an den Fuchs mit den Trauben, denn die Sonne brennt heiß auf unseren Scheitel und es ist Mittag. Also denn zu Fuß! Aber den ersten Akt wird uns dieses ausgebliebene Roß wohl kosten.

Wir wandern über die Brücke zurück, nachdem uns der Wirt den Weg als einen nicht zu verfehlenden beschrieben hat. Wir finden auch richtig die Straße, die zum bewaldeten Thierberg hinanführt. Aber ein Dämon war’s, der diese Straße gebaut hat. Denn nachdem wir eine gute halbe Stunde auf ihr rüstig bergan geschritten sind, zeigt sie jene unheimliche Eigentümlichkeit, die wir schon an mancher Gebirgsstraße beobachtet haben, bei dieser aber am wenigsten erwartet hätten. Sie wird nämlich zusehends schmaler und unscheinbarer, sendet bald nach rechts, bald nach links einen kaum mehr sichtbaren Fußsteig ab und verflüchtigt sich selber schließlich zu einem sumpfigen Pfade, der sich zwar noch den Anschein giebt, als sei er einst befahren worden, in kürzester Zeit aber auch diese Maske fallen läßt und am Ufer eines kleinen Waldsees völlig zu Ende geht.

Wir sind in tiefster Wildnis. Verwunschen und verzaubert liegt der See vor uns, in welchem ein elegantes Badehäuschen wie ein kleiner weltvergessener Bau von Geisterhänden steht. Es ist ein entzückendes Waldgeheimnis, dieses rings von dunklen Fichten umrauschte wunderbar grüne Gewässer und der verschlossene zierliche Holzbau am Ufer. Sollte nicht im nächsten Augenblicke die Nixe dieses Waldsees aus diesem Hüttchen schweben und uns völlig verwünschen, daß wir den Weg in die Menschenwelt nicht zurückfänden?

Die Sache wäre sehr romantisch; aber wir wollen keine indianischen Pfadfindereien, sondern vorwärts nach dem Theater zu Thiersee. Mit verzweifelter Hast stürzen wir uns in den Bergwald, immer in der Richtung nach Thiersee zu vordringend. Ein steiler Felsabsturz scheint uns zu einem weiten Umweg nötigen zu wollen; da wird der harmlose Theatergang zum schneidigen Alpensport, und nach einer halbstündigen Kletterpartie finden wir uns endlich wieder auf einer Straße, wo wir tiefaufatmend den Wunsch nicht unterdrücken können, die Thierseeer Theaterdirektion möge doch in einem künftigen Jahre für einen oder zwei schlichte hölzerne Wegzeiger Sorge tragen.

Wenige Minuten später wandern wir in den anmutigen weiten Thalkessel von Thiersee ein. Der See, an dessen Ufer die Höfe der Gemeinde liegen, glitzert in der Nachmittagssonne; hoch über ihn schwingt sich die Felspyramide des Peutling in die klare Sommerluft am Hange grüner Hügel; von bewaldeten Bergzügen überragt, schimmern wohlanständige, gutgebaute Bauernhäuser. Viele tiroler Thäler übertreffen das Thierseeer Thal an Großartigkeit; die wenigsten aber gleichen ihm in Bezug auf sanfte Anmut der Landschaft und auf behäbige Heiterkeit der Wohnstätten. Ein flüchtiger Blick in das Haus eines Thierseeer Bauern, eine kurze Zwiesprach mit einem Inwohner genügt, um den Fremden darüber aufzuklären, daß er sich hier bei einem Völkchen befindet, welches auf seinem Boden und in seinem Brauche festgewurzelt steht, der Außenwelt nicht bedarf, aber gastfreundlich den Durchzug durch sein grünes Waldparadies gestattet. Im Gegensatze zu so vielen anderen Bergthälern sieht man hier nichts Armes, nichts Verkümmertes. Es mögen etwa hundertvierzig Häuser sein, die zu den Ortschaften Vorder- und Hinterthiersee und Landl gehören; aber fast jedes dieser Häuser ist ein stattlicher Bauernhof mit reichlichem Zubehör an fruchttragenden Feldern, üppigen Wiesen, Wald und Almweide. Und auf den Thierseeer Almen hausen nicht, wie das sonst in Tirol üblich ist, wüste „Schafler“ und „Melker“ männlichen Geschlechts, sondern hier ziehen wie in den bayerischen und oberösterreichischen Voralpen die Mädchen des Dorfes allsommerlich nach den Almen hinauf, deren ergiebige Weidegründe sich weit über selten begangene, kaum gekannte Berglandschaften hin erstrecken. Und daß die Thierseeer Mädchen schön sind, glauben wir nach den wenigen Proben, die wir davon gesehen haben, ohne weiteres. Aber auch die Männer sind von stattlicher Art, hochgewachsen und schlank, mit offenen verständigen Gesichtern und entschiedenem,

[445]

Am Brunnen.
Gemälde von J. Hamza.
Original im Besitz der Kunsthandlung von F. Schwarz in Wien.

[446] dabei aber doch gutmütigem Wesen. Man merkt es ihnen an, daß ihr Thalgrund nicht karg in der Ernährung seines Völkchens ist und daß sie weder in völliger Bergeinsamkeit verwildert noch auch durch allzuhäufige Berührung mit der großen Welt überfeinert sind.

Die wehrhafte Bevölkerung des Thierseeer Thales hatte schon zum öfteren Gelegenheit, ihre Heimat gegen eingedrungene Feinde zu verteidigen. Im Jahre 1703 warfen die Thierseeer bayerische und französische Heerhaufen zurück, und als die Franzosen hundert Jahre später, im Jahre 1805, durch den Hörhager Paß eindringen wollten, wurden sie ebenfalls von den Thierseeer Scharfschützen mit blutigen Köpfen zurückgewiesen. Nicht besser erging es den Bayern im Jahre 1809 am Paß Hörhag und am „Kiechlsteg“. Und wenn die besten Namen der tiroler Volkskämpfer genannt werden, dann steht immer auch Jakob Sieberer aus dem „Landl“ bei Thiersee mit in erster Reihe, ein Kampfgenoß Speckbachers, der als österreichischer Major auf dem Rückmarsch aus Italien verstarb.

Dieser kriegerischen Erinnerungen aber wollen wir hier bloß flüchtig gedenken, weil sie mit zum Gesamtbilde von Thiersee gehören. Was uns heute zunächst angeht, ist ja das Thierseeer Theater. Es ist unenträtselt, weshalb sich gerade in gewissen Ortschaften die eigenartige Freude an der dramatischen Kunst erhalten hat, deren Bethätigung bis in das ferne Mittelalter zurückreicht. Soweit die deutsche Zunge klingt, findet sich nirgeuds so viel volkstümliches Theaterspielen als im tiroler Unterinnthale und den angrenzenden bayerischen Landschaften. Die Unternehmer sind in der Regel ortsansässige Gesellschaften, die nicht um des Erwerbs willen, sondern aus reiner Freude an der dramatischen Muse ihr „Gspiel“ veranstalten. Die Stücke, welche aufgeführt werden, sind zur großen Mehrzahl aus den Federm ganz namenloser Dichter geflossen; einzelne entnehmen ihren Stoff der Bibel, die meisten sind Ritter- und Räuberstücke; immer aber haben sie einen moralischen Zug. Das Bauerngemüt will nämlich, daß auf dem Theater die Tugend belohnt und das Laster ordentlich bestraft werde, und da mit solchen Stücken nicht allein die Zuhörerschaft, sondern auch die Polizeibehörde und die Geistlichkeit am ehesten einverstanden ist, beherrschen dieselben die Bauernbühnen.

Ein anderes bezeichnendes Merkmal dieser Bauernstücke ist das Zurücktreten des weiblichen Elements. Darin bildet die tiroler Bauernkomödie den entschiedensten Gegensatz zum modernen französischen Drama, durch welches ja bekanntlich als roter Faden das „cherchez la femme“ hindurchläuft. Im tiroler Bauerndrama spielen meist nur wenige Personen weiblichen Geschlechts, sei es, weil die bäuerlichen Künstlerinnen in der That viel weniger dramatische Begabung zeigen als ihre männlichen Kollegen, sei es, weil das Volksbewußtsein einem vordringlichen Auftreten des schöneren Geschlechtes widerstrebt. Demgemäß sind auch Stücke, in welchen die Liebe zwischen unverheirateten Leuten zweierlei Geschlechts den Kern der dramatischen Verwicklung ausmacht, höchst seltene Ausnahmen. Eltern- und Kindesliebe, Gattenliebe, Erfüllung beschworener Gelübde, Reue über begangene Missethat, Habsucht und wilde Rachelust, Ehrgeiz und Herrschsucht, das sind die Seelenregungen und Lebensziele, aus welchen sich die tiroler Bauernkomödie aufbaut. Wer übriges einmal eine wirkliche Liebesscene auf einer solchen Bühne angesehen hat, wird den Bühnenleitern gerne zugestehen, daß sie recht haben, wenn sie dem Publikum möglichst selten Wiederholungen solcher Genüsse bieten.

Eine beliebte Zuthat zum Dramatischen bildet auch bei der tiroler Bauernkomödie die Musik, und es findet sich in jedem Orte, wo gespielt wird, auch ein oder das andere musikalische Dorfgenie, welches für diesen Teil sorgt. Abwechslung im Repertoire aber darf man nicht verlangen. Die Bühnen spielen gewöhnlich in jedem Jahre bloß ein Stück, und zwar während der Sommermonate jeden Sonntag nachmittag, bis die Herbstwaffenübungen die männlichen Bühnenmitglieder zu anderer Thätigkeit rufen.

Wie lange gerade das Theater zu Thiersee besteht, konnten wir nicht in Erfahrung bringen. Eine steinalte Frau erzählte uns, es sei schon gespielt worden, als sie noch ein Kind gewesen. Im Jahre meines Besuchs ist das einzige Stück des Thierseeer Repertoires „Ludwig der Heilige, religiöses Volksdrama in 5 Aufzügen von Karl Franz. Musik von Johann Obersteiner.“ Wir hätten uns gern den gedruckten Text des Stückes verschafft, erhielten aber die betrübende Auskunft, daß der Autor eben erst daran denke, das Werk drucken zu lassen.

Das Theater selber ist ein äußerst einfacher, hoher Bretterbau. Nur das Erdgeschoß enthält ein paar Fenster, neben denselben einige hölzerne Klappen. Wir nähern uns einem der Fenster, in der Hoffnung, daselbst ein Billet erhalten zu können. Aber da giebt es bloß Bierkrüge und hinter denselben ein Faß. Jenseit dieses Fasses aber sieht man in einem dunklen Garderoberaum einen gepanzerten Ritter und eine königliche reichgeschmückte Frauengestalt vergnügte Zwiesprache halten. Er bietet ihr den Krug, sie, ihrer königlichen Würde eingedenk, zögert eine Weile, hernach nimmt sie den Krug aber doch mit gnädigem Blick. Mittlerweile hat sich eine jener Holzklappen neben dem Fenster aufgethan, ein hemdärmeliger Kassierer erscheint und reicht uns aus einem Korbe, in welchem mit rührender Einfachheit Guldenzettel, Kupferkreuzer und Billetvorräte aufgestapelt sind, einen „ersten Platz“, worauf uns ein ebenfalls hemdärmeliger Logendiener unsern Platz anweist.

Purpurne Finsternis umschleiert zunächst unser Auge, denn man hat noch vor Richard Wagner das Prinzip durchgeführt, den Zuschauerraum zu verdunkeln. Ein sanfter Händedruck des Logendieners schiebt uns nach einer Stelle hin, wo wir, mit den Händen umhertappend, zuerst den Strohhut einer einheimischen Zuschauerin erwischen, hernach aber richtig die Lehne einer Bank finden, an welcher wir nach weiterem Umhertappen auch einen Sitz zum Herabklappen fühlen; zwar nur von Holz, aber doch leidlich bequem. Nun erst wenden wir den Blick der erleuchteten Bühne zu. Wir sehen das ganz neu gemalte Innere eines mittelalterlichen Festungsraumes, an einer Seite liegen, offenbar mausetot, wie Sardinen übereinandergeschichtet, einige menschliche Gestalten, die sich bei schärferer Betrachtung als getötete Sarazenen erweisen. Der ritterliche Kreuzfahrer aber, der sie erschlug, hält eben einen Monolog über sein Heldentum. Gleich der nächste Auftritt ist hochdramatisch, denn er zeigt uns den tapferen, aber verräterischen Ritter Simon von Coucy, den Bösewicht des Stückes, wie derselbe einen wohlgefärbten afrikanischen Feind zu Boden wirft, dessen schwarzes Leben mit seinem blanken Schwerte bedroht und ihn nötigt, seinen teuflischen Intriguen gegen die Kreuzfahrer, welchen er doch selbst angehört, zu dienen. Der Zweikampf dieser beiden ist mit einer gewissen technischen Virtuosität ausgeführt und zeigt uns, welche dramatischen Vorgänge die Lust und Stärke der Darsteller sind.

Den Verlauf des Dramas wollen wir indes nicht weiter verfolgen. Dasselbe beschäftigt sich mit dem unglücklichen Kreuzzug König Ludwigs des Heiligen nach Tunis, welcher nach der Geschichte mit dem Tode des Königs, der einer im Lager herrschenden Seuche zum Opfer fiel, und mit dem Rückzug der französischen Kreuzfahrer endete. Der Stoff ist für ein Bauerntheater gut gewählt, giebt er doch reichlich Gelegenheit zu allerhand ritterlichem Dreinschlagen, zur Entfaltung theatralischen Pompes, zur Anregung religiöser Empfindungen, ohne daß hierbei konfessionelle Gegensätze in Frage kämen.

Weit mehr als das Drama interessieren uns die Schauspieler und die Art, wie sie ihre Aufgabe durchführen. Es sind durchweg bäuerliche Dilettanten. Sie sprechen hochdeutsch, wie das Stück geschrieben ist, allerdings so, daß man bei jedem Satze den Tiroler ziemlich deutlich heraushört. „Main Könnik! Wüllstu den Hümel erstiermen? O Taiffell! Ich wül gern Battenstehle bei ühm ibarnemmen!“ In solchen dialektischen Scherzen geht der Dialog fröhlich fort, doch versteht man jeden Satz deutlich. Und man muß es den Mimen lassen: gelernt haben sie ihre Sache ganz tüchtig. Lampenfieber haben sie keines – wie sollten sie auch vor vier Lampen fiebern? Im Gegenteile, man nimmt den Eindruck mit, als ob jeder dieser strammen Burschen hinter der Coulisse mit Ungeduld auf sein Stichwort gelauert hätte, um dann mit vollem Behagen herauszutreten und sein Pathos loszulegen. Am besten spielen sie getragene Stellen; wo es gilt, auflodernde Leidenschaft bewegt zu geben, erscheint wohl etliches als ungelenk, namentlich sind die Arme und Beine ein etwas sprödes Material, von welchem nicht immer der richtige Gebrauch gemacht wird. Und wenn die ritterlichen Helden, ihre Schwerter schwingend, durch die Coulissen enteilen, um nach den Wällen von Tunis zu stürmen, fährt einem wohl eine Erinnerung an den Kriegstanz von Kongonegern durch den Kopf.

Was die Kostüme betrifft, so wurden unsere Erwartungen entschieden übertroffen. Historische Echtheit ist ja hier am wenigsten zu verlangen. Dafür zeigen sich die Kostüme farbig, recht farbig. Rot, gelb, grün und blau springt’s einem vor den Augen umher, daß es eine wahre Freude ist und man wird auch gar nicht gestört, wenn irgendwo unter einem Sarezenenkaftan ein Paar [447] Unterinnthaler schwarze Festbeinkleider zum Vorschein kommen. Von zweifelhafterem Werte sind die Waffen; diese Kreuzfahrerschwerter machen einen ausgesucht hölzernen Eindruck, während die Helme mitunter als geradezu mystische Kopfbedeckungen erscheinen.

Das sind indessen Kleinigkeiten, die nicht imstande sind, den tüchtigen Eindruck des Ganzen zu schwächen – um so weniger, wenn man sich erinnert, wie man schon manchmal in einem Hoftheater während einer Tragödie humoristisch angeregt ward.

Im Zwischenakte machten wir die Bekanntschaft jenes Tirolermädchens, deren Strohhut gleich beim Eintritt in unsere Hände geraten war. Es war ein wohlunterrichtetes Kind aus der Gegend von Kiefersfelden, ein bißchen kritisch angelegt. Sie hatte schon zu Brixlegg und Erl, auch in früheren Jahren zu Thiersee das „Gspiel“ mit angesehen und war daher einigermaßen erfahren. Das vorjährige Stück, welches sich mit den Wundern unserer lieben Frau zu Lourdes beschäftigte, hatte ihr viel besser gefallen, weil so „gar viel schöne Musik darin gewest“. Und weil sie zu Kiefersfelden selbst schon mitgespielt hatte, lobte sie natürlich ihr Kiefersfeldener Theater auf Kosten des Thierseeschen, welchen Lokalpatriotismus man ihr wegen ihrer glänzenden Augen und ihres schalkhaften Lächelns gern verzieh. Hernach zog sie gar aus einem schneeweißen Tüchelchen ein paar Schmalznudeln hervor und bot uns gastfreundlich eine derselben an. Leider wußte sie vom weiteren Verlaufe des Stückes nichts zu berichten. Uns hätte vor allem das Geschick des intriganten Ritters von Coucy interessiert. „Söllen boshaften Spitzbuabn“, meinte sie, hätte man in vier Stücke zerhacken sollen, und es sei noch viel zu gut für ihn, daß er sich selbst umbringen müsse. Auf unsere Frage, wie sich der Schurke ums Leben bringe, meinte sie: „Er wird sich wöll derstechen mit seim Sabel, der Kalfakter!“

So erfuhren wir wenigstens das Ende des Verräters Simon von Coucy. Damit waren aber auch unsere dramaturgischen Gespräche zu Ende; denn den letzten Akt durften wir nicht mehr mit ansehen, wenn wir den letzten Zug in Kufstein erreichen wollten. Unter den Klängen eines Trauermarsches, welcher fünf in verräterischer Weise geköpften französischen Rittern galt, verließen wir das Haus und traten hinaus in den Sonnenglanz der Berglandschaft. In der Nähe stand schon unser Wägelchen bereit, das uns nach Kufstein bringen sollte. Ein reizendes Fuhrwerk! Es war einer jener kleinen Wagen, wie sie die Bauern haben, um auf die Almen zu fahren: äußerst fest im Bau, aber arm an Bequemlichkeit; dafür mit einem mächtigen Gaule bespannt, der haarig ist wie ein Roß aus der Eiszeit und der das Wägelchen nach links und rechts herumschwenkt, als wär’s nur sein Frack!

So fuhren wir thalauswärts durch den Sommerabend, der mit rosigem Feuer die Zackenwände des Kaisergebirgs umfloß. Wir kamen ins Innthal hinaus, und bald trug uns der dröhnende Bahnzug wieder über die Grenze ins Reich.

„Kiefersfelden!“ ruft ein mächtiger Baß vor dem Fenster unseres Wagens. Dieser Name gemahnt uns wieder daran, daß auch in Kiefersfelden eine Volksbühne besteht, deren Mitglieder sich zumeist aus den Hammerschmiedgesellen des dortigen Eisenwerkes rekrutieren. Jetzt wird hier wieder gespielt, eine Zeit lang hatte die bayerische Polizei das Theater verboten, wohl in der Anschauung, daß es besser sei, wenn die Hammerschmiede an Sonntagnachmittagen in den Wirtshäusern umhertränken und sich die Köpfe blutig schlügen, statt im Dienste der Musen ihre Gemüter zu veredeln. Aber die Welt wird besser und die Polizei weiser; sie hat das Spiel wieder erlaubt. Und dies ist in der Ordnung. Denn man sage über diese Bauernbühnen, was man wolle, eines bleibt sicher bestehen: ein Volk, das im Kriege so für seine Heimat zu streiten weiß und im Frieden seine Sonntagsfreude in so idealem Streben sucht wie diese Unterinnthaler, das ist tüchtig und liebenswert in seines Wesens tiefstem Kern!



Blätter und Blüten.


Gustav Nieritz. (Mit dem Bildnis S. 429.) Neben den Schriftstellern, welche sich an die Allgemeinheit wenden, verdienen auch diejenigen Anerkennung, welche für bestimmte Kreise des Volkes wie für die Jugend mit Erfolg schreiben, und so ist auch die Büste, welche dem Jugendschriftsteller Gustav Nieritz in Dresden 1878 gesetzt wurde, eine Auszeichnung, die seinem weitreichenden Wirken zukommt. Am 2. Juli d. J. sind hundert Jahre seit der Geburt des Schriftstellers vergangen und jedes Volksblatt hat die Pflicht, des wackeren Mannes bei dieser Gelegenheit zu gedenken. Gustav Nieritz wurde in Dresden geboren als Sohn eines Lehrers an der Stiftsschule. Er wurde selbst schon früh für das Lehrerfach bestimmt, obschon er, wie er in seiner „Selbstbiographie“ (Leipzig, Georg Wigand) sagt, die entschiedenste Abneigung dagegen empfand; gleichwohl sollte er dieser Laufbahn zeitlebens treu bleiben; er besuchte die Kreuzschule und das Friedrichstädter Seminar und war von 1814 an Hilfslehrer seines Vaters. In welchen bescheidenen Verhältnissen er lange Zeit lebte, darüber giebt seine Selbstbiographie ebenfalls nähere Auskunft, wie sie über das Kriegsjahr von 1814 und manche innere sächsische Verhältnisse der Folgejahre interessante Mitteilungen bringt. Auch aus dem Dresdener Revolutionsjahr 1849 finden sich darin lebendige Schilderungen. Trotz seiner wenig günstigen Lebenslage bewahrte sich Nieritz stets eine wohlthuende Heiterkeit des Gemütes und allmählich fand er auch in sich selbst die Hilfsquellen, seine Verhältnisse zu verbessern; er war 1831 Oberlehrer und 1841 Direktor der Bezirksschule in der Antonstadt Dresdens geworden. Seit 1834 aber machte er sich als Jugendschriftsteller einen Namen; seine erste Erzählung „Der goldne Knopf“ erschien im „Gesellschafter“ von Gubitz; ihr folgten einige andere. Gubitz erkannte in ihm den Mann, welcher Erzählungen nach der Weise Christophs von Schmid schreiben könne. Nieritz folgte diesem Rat und schrieb versuchsweise die „Schwanenjungfrau“. Der Erfolg ermutigte ihn, in dieser Richtung weiter zu arbeiten. Nach seiner eigenen Angabe hat Nieritz 117 Bändchen Jugendschriften veröffentlicht, außerdem eine Anzahl in einzelnen Blättern und in den Kalendern von Trewendt, Steffens und ihm selbst zerstreuter Erzählungen. Er verteidigt sich gegen den Vorwurf der Vielschreiberei; sein Schaffen war nicht die Frucht des berechnenden Verstandes, sondern der Phantasie, deren rasches Vorgehen ihn oft bedauern ließ, daß die Feder nicht schnell genug die Wörter aufs Papier zauberte. Anstöße und Motive erhielt er durch das Lesen anderer Schriften, durch Zeitungsnachrichten, durch den Besuch der Schauspiele, Opern und Konzerte, der öffentlichen Tabagien, ja selbst der Kirche, wo der mächtige Klang der Orgel oder ein Redeteil des Predigers seine Phantasie entflammte. Bescheiden aber sagt er, er sei darauf gefaßt, daß sein Name und seine Schriften der Vergessenheit anheimfallen würden. „Wer liest oder spricht jetzt von meinem lieben trefflichen Gotthilf Salzmann? von Christoph von Schmid? von dem Kinderfreund Weiße, von anderen beliebten Autoren? Es werden andere kommen, die es besser machen als ich, und so muß es sein, denn auch hier giebt es keinen Stillstand oder gar eine Rückkehr.“ Nun, der wackere Schulmann Gustav Nieritz, der seit 1864 seine Lehrerstelle niedergelegt hatte und am 16. Februar 1876 in Dresden gestorben ist, hat durch seine Jugendschriften nicht nur in weiten Kreisen gewirkt, sondern sich auch ein ehrenvolles Angedenken über den Tod hinaus gesichert. †     

Die Verwaisten. (Zu dem Bilde S. 432 und 433.) Das reizende Bild von Werner Zehme, auf welchem die Kinder des Försters verwaiste oder eingefangene Rotwildkälber tränken, verdankt sein Entstehen einer Reise in Oberbayern, wo der Künstler bei einem Forsthause zwei Hirschkälber, die schon so stark waren, daß sie munter ums Haus und im Hause herumtollten, gerade so füttern sah, wie es uns sein Stift erzählt. Ich möchte daran aus meiner eigenen Erfahrung einige weitere Beispiele knüpfen, wie leicht das in freier Wildbahn so scheue Rotwild, jung eingefangen, zahm und geradezu zum Haustier werden kann.

Als ich vor einigen Jahren einmal den Harz durchstreifte, sah ich auf der Försterei Oderbruck ein Wildkalb, das im und beim Hause frei umherging, der Frau Förster wie ein Hund folgte und ebenso gefüttert wurde wie die beiden auf der Zeichnung. Ein Jahr alt, zog es mit den Kühen auf die Weide und kam mit denselben zur Försterei zurück. Es lebt auch heute noch und durchstreift nach wie vor den Forst, und wenn es auch einmal einige Tage ausbleibt, um seiner Verwandtschaft einen Besuch abzustatten oder auf die Liebesschwüre eines Hirschjünglings zu lauschen, so ist doch sein Standort die Försterei geblieben.

Auf der Oberförsterei Torfhaus, von welcher aus einstmals Goethe mitten im Winter bei tiefem, aber überhaltendem Schnee den Brocken bestieg, wurde ebenfalls längere Jahre hindurch ein zahmer Hirsch gehalten, der im Sommer, so lange es warm und die Aesung nicht knapp war, im Harz umherzog und nur selten gesehen wurde. Sobald aber im Herbste die ersten Schneeflocken durch die Luft wirbelten, schloß er sich der Kuhherde an und kam mit ihr aufs Gehöft so vertraut zurück, als hätte er niemals auf eigene Faust einen Ausflug in den weiten Forst gemacht.

Auch auf dem Wolkenhause über Harzburg sind einige zahme Stücke Wild, die in den Anlagen zwischen den Gästen umherspazieren, ohne alle Scheu ihnen von diesen gereichten Zucker und Milchbrot naschen, sich von jedem streicheln lassen und mit ihrem Herrn weite Gänge machen, ja sogar mit ihm nach andern Gasthäusern wandern und sich dort so lange heimisch fühlen wie ihr Gebieter.

Aber nicht nur mit der Flasche aufgebuddeltes Rotwild wird vollkommen zahm, auch älteres, aus freier Wildbahn stammendes lernt bei richtiger Behandlung sehr bald seinen Wärter kennen und wird ihm und bald auch Fremden gegenüber vertraut. Der letzte sehr strenge und schneereiche Winter hat trotz aller Pflege und Fütterung wie überall so auch auf dem Harze manches Opfer an Hirschen und Wild gefordert. Immerhin sind aber auch einige fast schon dem Tode verfallene Stücke gerettet. [448] So wurde ein verklamtes Schmaltier, das nicht mehr stehen konnte und zweifellos bei der grimmigen Kälte in kurzer Zeit eingegangen wäre, von zwei Forstaufsehern gefunden und zur nahen Försterei Rehhagen gebracht. Der Förster flößte ihm sofort warme Kuhmilch ein, gab ihm dann aufgelöstes Glaubersalz zu trinken, weil erfahrungsmäßig solche im Winter aufgefundene Stücke an Verstopfung leiden – und heute ist dasselbe so gesund und munter und auch so zahm, daß es nicht nur der Förster, sondern auch seine Familienmitglieder streicheln können, und es ihnen willig das Futter aus der Hand nimmt. Ob es aber aus Dankbarkeit gegen seine Wohlthäter, wenn es freigelassen wird, in der Nähe der Försterei seinen Stand nimmt oder hin und wieder zurückkehrt oder sich im Freien streicheln lassen wird, dürfte doch wohl zweifelhaft sein. Karl Brandt.     

Zum fünfzigjährigen Bestehen des Bades Oeynhausen. Am 25. Juni d. J. ist ein halbes Jahrhundert vergangen, seitdem eine der segensreichsten Schöpfungen Friedrich Wilhelms IV. zum Wohle der kranken Menschheit erstanden ist, das Bad Oeynhausen. Wenn man auf der Fahrt von Berlin nach Köln die ehrwürdige Porta Westfalica passiert hat, wird der Reisende, dessen Auge bis dahin nur an eintönigen Getreidefeldern oder ermüdenden Wiesenflächen vorübergeglitten ist, angenehm überrascht durch die Menge freundlicher Weiler und üppiger Parkanlagen, welche nunmehr dem Blick sich darbieten. In dieser Gegend, die in der Saline Neusalzwerk schon vor 100 Jahren einen industriellen Mittelpunkt besaß, hat sich während der letzten fünfzig Jahre aus einem kleinen Dorf der stattliche Kurort entwickelt, dessen schöne Badeanlagen wir nebenstehend abbilden. Das Bad verdankt einem immerhin merkwürdigen Zufall seine Entstehung; in dem Gedanken, die Salinen zu erweitern und neue Steinsalzquellen aufzufinden, wurde im Jahre 1830 eine Bohrung unternommen, welche (nach 15 Jahren bis zu einer Tiefe von 696 Metern gebracht) zwar nicht das gewünschte Steinsalz, wohl aber eine warme Salzquelle mit reichem Kohlensäuregehalt erschloß. Der Besitzer des Grund und Bodens, der zunächst selber einige Badewannen aufgestellt hatte, weigerte sich, der königlichen Bergverwaltung, die mit der wachsenden Benutzung selbst die Abgabe der Bäder in die Hand genommen hatte, trotz hohen Angebots, das Areal abzutreten, und erst nach einem langwierigen Prozesse wurde 1844 die Anlage eines Badehauses und Kurgartens in Angriff genommen. Vier Jahre später erhielt dann der Badeort, der bis dahin nach dem benachbarten Dorfe Rehme benannt worden war, nach seinem wohlverdienten Begründer, dem Berghauptmann von Oeynhausen, seinen heutigen Namen.

Das Soolbadehaus zu Oeynhausen.
Nach einer Aufnahme von Hofphotograph C. Colberg in Oeynhausen.

Unter den jetzigen Gebäuden des Kurortes zeichnen sich vor allem aus das von Friedrich Wilhelm IV. aus seiner Privatschatulle erbaute und von dem Monarchen persönlich eingeweihte (neue) Thermalbadehaus – mit einem griechischen Tempel als Mittelpunkt – und das große von uns nach einer Photographie im Bilde wiedergegebene Soolbadehaus inmitten des Kurgartens, das im Jahre 1885 mit Hilfe einer vom preußischen Abgeordnetenhause bewilligten Summe von 300 000 Mark in vornehmer italienischer Renaissance erbaut worden ist. Daneben verdienen Erwähnung der in „reizend harmonischen Formen ersonnene“, inmitten von Bosketten gelegene Lese- und Musiksaal, sowie die vielfachen mit allem Komfort der Neuzeit ausgestatteten Hotels und Privathäuser, welche während der Saison (vom 1. Mai bis 30. September) den Heilung suchenden Fremden ihre gastlichen Pforten öffnen. Der herrliche Kurpark, nach den Intentionen des großen Gartenkünstlers Lenné angelegt, hat eine Ausdehnung von 180 preußischen Morgen und gehört zu den schönsten öffentlichen Gartenanlagen in Deutschland. In gleicher Weise den Interessen der Stadt und der Fremden dient das in privaten Händen befindliche Gas- und Wasserwerk (der Kurpark ist mit elektrischem Glühlicht erleuchtet); ein „Sanatorium“ bietet Gelegenheit, auch im Winter Heilung und Kräftigung zu finden, und ein neugegründetes „Schulsanatorium“ ermöglicht schulpflichtigen Kindern, die neben der Kur zugleich Unterricht genießen sollen, auch außerhalb der Ferienzeit den Besuch des Bades.

Seit seiner Entstehung ist Oeynhausen immer ein Bad für Rheumatismus und Lähmungen gewesen; die balneotherapeutischen Indikationen, wie sie im Laufe der Zeit und der fachmännischen Forschung genauer festgestellt worden sind, gewährleisten daneben auch bei allen Krankheiten, welche aus Blutarmut und unvollkommener Ernährung entsprungen sind, bei Skrofeln, Gehirn-, Rückenmarks- und Herzkrankheiten, wie endlich auch verschiedenen Frauenleiden (gewisse Formen von Bleichsucht, Hysterie, Entzündungsprozessen etc.) Heilung oder wenigstens Linderung. An Gelegenheit zu Ausflügen in die schöne Natur fehlt es nicht, es sei nur an die Nähe des Hermannsdenkmals und der Externsteine im Teutoburgerwalde erinnert. F. T ... z.     

Warnung vor Raupenhaaren. In den letzten Jahren wurde in medizinischen Blättern eine besondere Art heftiger Augenentzündungen beschrieben, die, wie die Untersuchung ergab, durch das Eindringen von Raupenhaaren ins Auge verursacht worden waren. Die Entzündung war nicht nur langwierig und mit großen Schmerzen verbunden, sondern ließ häufig als Folge eine beträchtliche Schädigung des Sehvermögens zurück. Wenn man bedenkt, daß in der Bonner Augenklinik allein an den letzten Jahren sechs solche Fälle behandelt werden mußten, und dabei erfährt, daß durchaus nicht immer ein unglücklicher Zufall die Entzündung verschuldete, sondern häufig Unvorsichtigkeit und Leichtsinn, indem die Raupe „ins Auge geworfen“ wurde, so muß man zu der Ueberzeugung kommen, daß die Gefährlichkeit der Raupenhaare in weiten Volkskreisen nicht genügend bekannt ist. Dr. Hillemans, der über eine derartige Augenentzündung kürzlich in der „Deutschen medizinischen Wochenschrift“ berichtete, meint, man sollte die am meisten in Betracht kommenden ländlichen Volkskreise doch eindringlich auf die Gefährlichkeit der Raupen aufmerksam machen. „Eine populäre Gesundheitslehre,“ heißt es am Schluß des Artikels, „würde sich in diesem Sinne auch an die Eltern zu wenden haben. Wirksamer aber dürfte es sein, wenn bei Gelegenheit des naturgeschichtlichen Unterrichts in den Volksschulen auf die Gefahr aufmerksam gemacht würde, denn die Erinnerung an eine Warnung in Kinderjahren wirkt oft nachhaltiger als alle Verhaltungsvorschriften im späteren Leben.“ *     

Am Brunnen. (Zu dem Bilde S. 445.) Sie ist die Schmuckste im Städtchen, des Bürgermeisters Töchterlein; dabei sitzt ihr der Schelm im Nacken. Weil der Vater an dem heißen Tage einmal ausnahmsweise einen Trunk frischen Wassers begehrt, hat sie selbst den Krug genommen und ist über den sonnigen Platz zum Löwenbrunnen gekommen; denn solch klares kaltes Wasser giebt es im ganzen Ort nicht mehr. Zierlich steht sie nun da und rafft das Röckchen zurück, damit es nicht naß werde. Sie scheint ganz versunken in das Brunnennrauschen und nicht zu merken, daß der Herr des Hauses, zu welchem der Brunnen gehört, ihr Persönchen durch seine Augengläser einer wohlgefälligen Musterung unterzieht. Oder thut sie nur so? Der alte Junggeselle aber oben im Fenster schmunzelt behaglich auf das saubere Kind herab. Er ist zwar unverheiratet geblieben und lebt vereinsamt in seinem Haus, aber auf Frauenschönheit und Mädchenanmut hat er sich stets verstanden – er ist ein Kenner und freut sich des seltenen Gastes an seinem Brunnen, wenn auch der Schelm unterläßt, seinen Gruß zu erwidern.


Inhalt: Haus Beetzen. Roman von W. Heimburg (12. Fortsetzung). S. 429. – Gustav Nieritz. Bildnis. S. 429. – Die Verwaisten. Bild. S. 432 und 433. – Künstliches Eis. Von A. Hollenberg. S. 435. Mit Abbildungen S. 436, 437, 438 und 441. – Die Zwillinge. Eine Skizze von E. von Wald-Zedtwitz. S. 439. – Das Urbild der Schleppe. Von C. Horst. S. 443. – Ein tiroler Bauerntheater. Von Max Haushofer. S. 444. – Am Brunnen. Bild. S. 445. – Blätter und Blüten: Gustav Nieritz. S. 447. (Mit dem Bildnis S. 429.) – Die Verwaisten. Von karl Brandt. S. 447. (Zu dem Bilde S. 432 und 433.) – Zum fünzigjährigen Bestehen des Bades Oeynhausen. Mit Abbildung. S. 448. – Warnung vor Raupenhaaren. S. 448. – Am Brunnen. S. 448. (Zu dem Bilde S. 445.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.