Die Gartenlaube (1897)/Heft 12
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Nr. 12. | 1897. | |
Die Gartenlaube.
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Trotzige Herzen.
(11. Fortsetzung.)
Ein Frühlingsabend fünf Jahre später! Die ganze Luft voll Syringen- und Jasminduft, das zitternde junge Laub der Bäume durchleuchtet vom Abendsonnenschein. Vom Turm der Schloßkirche hebt Geläute an, Pfingstgeläute, und unter seinen Klängen öffnen sich die Augen eines ungefähr vierjährigen Knaben, der auf einem Krankenfahrstuhl ruht, ganz weit und erschreckt. Ein blasses abgezehrtes Kindergesicht, aus dem diese schönen glänzenden großen Augen blicken. Man hatte den Fahrstuhl auf die Terrasse des Schlosses geschoben, in den Schutz des kleinen Pavillons, den einst Heinz Kerkow mit Freskogemälden schmücken
[182] gewollt. Das offenbar schwer leidende Kind war sorgsam mit Decken und Kissen gestützt und eingehüllt, ein geöffnetes Bilderbuch lag auf dem Tischchen zur Seite des kleinen Gefährts neben einem Glase Milch, das noch unberührt stand. Weiter zurück saß auf dem eisernen Gartenstuhl ein Herr vor der Staffelei und malte, oder hatte gemalt, denn die Hand, in der er die Palette hielt, lag auf seinem Knie, der rechte Arm hing schlaff herunter der Pinsel war zur Erde gefallen. Wie geblendet starrte der Mann hinein in den Zauber dieses Lenzabends.
Der Schloßhauptmann von Kerkow war noch ein junger Mann, aber die fünf Jahre, die er seines Amtes hier oben gewaltet, mußten schwere harte Jahre gewesen sein. Er war mager und schmal geworden, auf der Stirn hatten sich ein paar tiefe Falten gebildet und die Augen blickten müde, so müde wie die eines Menschen, der nichts mehr hofft, der abgeschlossen hat mit dem Leben und nur noch bemüht ist, es mit möglichst guter Haltung weiter zu tragen.
„Papa!“ rief das Kind ängstlich.
„Gleich, mein Junge!“ rief er aufspringend, und die Palette auf den Stuhl legend, stand er im nächsten Augenblick schon an dem Lager und beugte sich mit besorgtem Ausdruck zu dem kleinen Kranken nieder.
Das Kind beruhigte sich sofort und blickte ihn freundlich an. „Läuten? – warum?“ sagte es mühsam.
„Morgen ist ein Feiertag“, erklärte er, seinen Stuhl herbeiholend und neben dem Kinde Platz nehmend, indem er das magere Händchen streichelte. „Morgen ist Pfingsten, Heini.“
„Da fährt Mama aus?“
Heinz Kerkow nickte seinem Sohne zu, ein finsterer Zug verdrängte einen Augenblick seine Freundlichkeit. „Ja, mein Junge, sie wird wohl ausfahren.“
„Du auch?“
„Soll ich, Heini?“
Um den Kindesmund zuckte es schmerzlich. „Nein, nein!“ flehte er, „ich habe immer Angst, wenn ich so allein bin.“
„Ich bleibe bei dir, Schatz, weine nicht,“ tröstete der Vater. „Wir erzählen uns schöne Geschichten und nachmittags fahre ich dich in den Park hinein – oder willst du zu Tante Hede?“
„Nein, bei dir bleiben – die Kinder sind so unartig.“
„Nicht unartig, Heini, sie sind wild und toben umher, und das sollst du, so Gott will, auch wieder lernen, kleiner Stift.“
Das Kind schüttelte den Kopf. „Ich lern’s nicht, Papa!“
„Oho! Woher weißt du das?“
„Mama hat’s gesagt zu Tante Gruber – Papa.“
„Aber du närrisches Kind, du hast ganz falsch verstanden.“
„Nein – Mama hat gesagt. er ist ein Krüppel und bleibt ein Krüppel, und alle die Quälerei und Quacksalberei nützt nichts – hat sie gesagt.“
Ueber Heinz Kerkows Gesicht ging eine fahle Blässe. „Da hat Mama dich nicht gemeint, mein Herzblatt; du mußt nicht alles auf dich beziehen und nicht so achten auf das, was die Großen sprechen – hörst du?“
„Ich will mich aber nicht mehr quälen lassen mit der Maschine,“ beharrte das Kind.
„Wenn du deinen Papa lieb hast, Heini, dann läßt du dich noch ein bißchen quälen.“
Das Kind schwieg. Es lag etwas in seinem abgemagerten Antlitz, das weit über seine Jahre hinausging, ein Hauch bitterster Erkenntnis seines Zustandes. Heinz saß daneben und kämpfte mit seinem großen Schmerz um dieses armselige Geschöpfchen, das sein Sohn war, mit dem Zorn über die Gefühllosigkeit der Frau, die dieses Kind zur Welt gebracht, ein zartes aber gesundes Kind, das durch die Schuld der Mutter zu dem geworden, was es jetzt war.
Er ist ein Krüppel, er wird ein Krüppel bleiben! klang es in ihm. Ach Gott, so entsagungsreich, so arm sein Leben auch war in diesem verschollenen Winkel, er würde es mit Freuden weiterleben, wäre der Junge gesund neben ihm hergesprungen durch die hallenden öden Gänge des Schlosses, durch die einsamen Wege des Parkes – aber so, ach so! – –
Er war mit keinerlei Illusionen in diese Ehe gegangen, aber daß sie so öde werden würde, wie sie thatsächlich geworden, das hatte er doch nicht gedacht. Er hatte sich redlich Mühe gegeben, seine Frau zu bewegen, an irgend etwas teilzunehmen, das ihn interessierte, wie er sich ehrlich Mühe gab, ihrem Ideenkreise näherzutreten. Er fuhr Visiten mit ihr in der ganzen Umgegend, er empfing ihre Gäste, die ihm unendlich gleichgültig waren und vor denen er sich schämte mit dem „Fünfuhrthee“, welchen Toni in Erwiderung von lukullischen Diners und Soupers zu veranstalten pflegte. Er war der Ansicht, nichts annehmen zu sollen, was man nicht erwidern könne – Toni stand auf einem erhabeneren Standpunkt. „Ich gehe nicht Essens und Trinkens halber in die Gesellschaft“, pflegte sie zu sagen. Seine Gegenvorstellungen, daß es doch immerhin und unbeschadet dieser idealen Ansicht etwas unbescheiden sei, Leute drei Meilen und mehr über Land fahren zu lassen, um sie mit einer winzig kleinen Tasse Thee und einigem leichten Gebäck abzuspeisen, ließ sie nicht gelten; mehr erlaubten eben ihre Mittel nicht! Und ohne Geselligkeit könnte sie nicht leben!
Trotzdem sah sich in Kerkows Haushalt alles ganz stattlich an. Der Diener und Kutscher servierten; sie standen, wie Pferd und Wagen, im herzoglichen Dienst und waren dem Schloßhauptmann zur Benutzung gestattet. Die Einrichtung der Zimmer, das Service erschienen elegant, das Silberzeug, ein Geschenk der verstorbenen Herzogin, ebenfalls, und so behauptete sich Toni wirklich ganz ansehnlich.
Heinz beschwichtigte auch das heulende Mädchen, die Jungfer und Köchin in Eins vorstellte, wenn ihr die Gnädige in zorniger Aufwallung gekündigt harte. Wäre es nach ihr gegangen, sie hätte alle vierzehn Tage gewechselt. Ach, und die Tage dehnten sich, als wären die Stunden mit Blei beschwert! Wenn er früh seine paar Unterschriften vollzogen, mit irgend einem Handwerker geredet, den er wegen irgend einer Verbesserung oder Reparatur bestellt hatte, über die zu berichten ihm oblag. Wenn der Obergärtner pro forma dagewesen war und Rechnung gelegt hatte über seine Wochensendungen an die herzogliche Küche und über den Verkauf aus den Treibhäusern, wenn der Bibliothekar ihn zum hundertstenmal gebeten hatte, bei Hoheit wegen Ankaufs dieses oder jenes Werkes vorstellig zu werden, ein Bemühen, das er längst aufgegeben hatte, weil der Herzog stets einfach ablehnte, dann war sein Tagewerk gethan. Er hatte Muße, die Zeitung in einer Ruhe zu lesen, wie sie wenig Menschen vergönnt ist, im Winter oder an trüben regnerischen Tagen im Erker, im Sommer auf der Terrasse, die für das Publikum neuerdings abgesperrt worden, aber wenn er sich noch so sehr Zeit nahm, es blieb immer noch zu viel dieses kostbaren Orakels übrig. Was hatte er nicht alles gethan, um sie rascher vergehen zu machen! Er hatte gemalt, alte Bilder kopiert aus den Sälen des Schlosses, dann, als ihm das über geworden, da er ja doch nichts anderes war als ein halbwegs anständiger Dilettant, hatte er es mit der Blumen und Obstbaumzucht versucht, hatte den Oberförster eine Zeit lang eifrig auf die Jagd begleitet, aber alles ohne innere Befriedigung dabei zu finden.
Er wäre wohl auf diese Weise im Nichtsthun verkommen, wenn sein Geist nicht durch einen Zufall aufgerüttelt worden wäre. Der Bibliothekar wurde an eine andere herzogliche Bibliothek versetzt und die Bücherei von Breitenfels der Obhut des Schloßhauptmanns anvertraut. Der nicht unbedeutende Schatz an Werken und Kupfersachen, den einst ein ernster, den Wissenschaften ergebener Fürst gesammelt hatte, sollte aber öffentlichen Zwecken nicht dienen, er sollte vorläufig in Breitenfels stehen bleiben, bis man ihn der Bibliothek in der Residenz einverleibte. Heinz von Kerkow hatte nur die Schlüssel von den Zimmern zu bewahren und zuzusehen, daß die Bücher und Folianten nicht vermoderten.
So mußte er öfter durch die stillen Räume wandern, nun reizte ihn dieses und jenes Bild, der Titel dieses und jenes Buches, er blätterte darin er begann zu lesen. Geschichte und Kulturgeschichte, seine alten Lieblingsfächer, fesselten ihn von neuem, und er begann, ohne es zu merken, ernste Studien zu treiben, sich in den Geist vergangener Epochen zu vertiefen.
Ging er jetzt auf die Jagd, schritt er allein durch die tiefen Wälder, rastete er für sich, nur von dem treuen Hunde begleitet, auf stillen einsamen Höhen, das bunte Gewoge der herbstlich gefärbten Wipfel der Waldbäume zu seinen Füßen, dann vergaß er die Gegenwart, seine öde Lage, dann lebte in seinem Geiste eine andere Welt auf. Da zogen geharnischte Ritter in den [183] Streit, da ritten edle Kavaliere und schmucke Hofdamen zur lustigen Falkenjagd. Die lebhafte Phantasie des künstlerisch veranlagten Mannes ließ Gestalten, deren Leib längst vermodert war, wieder aufleben. Am lebendigsten aber traten diejenigen vor seine Seele, die in der Welt nicht das gewinnende Los gezogen hatten, sondern einst in den Thälern des Herzogtums, wie er heute, in unerfüllter Sehnsucht dahingewelkt waren mit wundem Herzen und müden Gliedern, an der Kette des Lebens sich dahingeschleppt hatten. In Breitenfels und den umliegenden Schlössern hatte sich so im Laufe der Zeiten so mancher Roman abgespielt, und nicht bei jedem war der Ausgang ein erfreulicher gewesen. Nicht bloß von gebrochenen Lanzen, auch von gebrochenen Herzen wußten die alten Geschichtschreiber des Herzogtums zu berichten. Freilich, jene kalten Schreiber gingen über das große Liebesleid mit kurzen dürren Worten hinweg, Heinz blieb sinnend an solchen Sätzen hängen. Es war, als ob eine unsichtbare Hand die tiefsten Saiten seiner Seele berührte, er las zwischen den Zeilen, was der Chronist verschwiegen aus der Vergangenheit tönte ihm entgegen das alte Lied von der Liebe, Leid und Klage.
Einmal schritt Heinz von Kerkow, die Büchse über die Schulter gehängt, wieder durch den stillen Wald. Rehe und Hirsche brauchten ihn nicht zu fürchten, denn der Jäger jagte den Bildern nach, die seine Phantasie ihm vorwob. Er setzte sich nieder im Schatten eines Baumes und schrieb in sein Notizbuch ein Gedicht, in dem er sein Innerstes enthüllte.
Es blieb nicht bei dem einen Gedicht. Heinz gefiel sich in diesen poetischen Klagen, bald war ihm der Rahmen eines Gedichts zu eng, er begann, Erzählungen zu schreiben, ergreifende Begebenheiten zu gestalten auf den Schlössern und Burgen, auf den Bergen und Thälern, die er so genau kannte, halb Wahrheit, halb Dichtung war darin enthalten. Rascher als er dachte, wuchsen diese Skizzen zu einem Bändchen an, in dem er gern las und an dem er gern feilte, „Verklungenes Leid“ nannte er das Buch, das ihm lieb und teuer geworden.
Hede erfuhr nichts davon, sie war mit ihren hauswirtschaftlichen Pflichten so beschäftigt, er wollte auch dem fleißigen Mädchen mit solchen Enthüllungen nicht kommen, die praktische Hede arbeitete und er trieb brotlose Künste. Das sagte er sich selbst. Und Toni? Toni hatte keinen Sinn für derartige Sachen. Hin und wieder hatte sie einen leichtgeschürzten französischen Roman aus der Bibliothek verlangt, und als der knappe Vorrat an solchen Büchern bald erschöpft war, kümmerte sie sich nicht mehr um die Bibliothek und nannte ihren Mann spöttisch einen Bücherwurm.
Inzwischen war der kleine Heini zur Welt gekommen. Die Geburt des Kindes machte Heinz glückselig. An der Wiege bei dem schlafenden Kleinen sitzend, schmiedete er Pläne, wie er den Buben erziehen wollte, viel besser als er erzogen worden, ohne Vorurteile – ein Mann sollte er werden, der überall, wo er einst zu stehen berufen sei, den Platz ausfüllte. Sein ganzes Leben und Streben wollte er ausnutzen für das Kind!
Aber vorläufig war das noch nicht soweit, um erzogen zu werden, es schlief gar so viel. Und nun kaufte sich Heinz auf Teilzahlung einen photographischen Apparat. Das war damals, als der kleine Bursche eben anfing, aufrecht zu sitzen und unverständliche Laute von sich zu geben. Heinz richtete sich in irgend einem leeren Winkel eine Dunkelkammer ein und machte oft an einem Tage so und so viel Aufnahmen des Kindes, und immer des Kindes – mit nacktem Hals und bloßen Aermchen im weißen pelzverbrämten Mäntelchen, auf dem vorzeitig angeschafften Schaukelpferdchen, von der Wärterin festgehalten neben dem Leonberger, auf dem Schoß der Mutter und allein in einem Riesenfauteuil. Dann war es so köstlich, wie das Bürschchen wuchs, wie es die ersten Schrittchen that, wie es ,Papa!’ sagte zum erstenmal. – In dieser Zeit war Heinz beinahe glücklich.
Und dann kam das Schreckliche! Der Apparat wurde in die Ecke gestellt, der kleine Krüppel konnte ja nicht photographiert werden. Dieser Tag war der entsetzlichste in Heinz Kerkows Leben gewesen. Der Tag, an dem das Kind verunglückte! Es konnte kein schlimmerer mehr kommen. –
Im vorigen Sommer, an einem furchtbar heißen Augustnachmittage war es gewesen, als Toni, trotz seines Abratens, nach Schloß Arnstein zur Gräfin Arnstein fuhr. Kutscher und Diener hatten mißmutige Gesichter gemacht, ersterer sogar gewagt, von einem schweren Gewitter zu sprechen, das offenbar drohe. Aber Toni hatte gewollt. Diesmal redete sogar Tante Gruber ab – vergeblich. Toni, die sonst so leicht unter Temperaturextremen litt, schien heute, wo alle anderen Menschen unfähig waren, sich zu rühren, völlig normal und kam im hellen Sommerkleid, das trippelnde Kind an der Hand, die Treppe herab, just als Heinz sich vergewissert hatte, daß des heranziehenden Unwetters wegen die Fenster allenthalben durch Läden geschützt seien.
„Du willst doch fahren, Toni?“
„Wie du siehst. Das Gewitter kommt erst heute abend, ich fühle es genau.“
„Aber der Junge bleibt hier,“ hatte er gefordert.
„Nein, er kommt mit, er freut sich schon so – nicht wahr, Heini, Hotto fahren?“
„Du bleibst bei Papa Heini!“ Ein furchtbares Gebrüll antwortete ihm, wie er es von dem Kinde noch nie gehört. Die Jungfer bemerkte: „Das macht die Gewitterluft, er weinte schon immerzu heute, weiß selbst nicht, was er will. Na, sei doch nur gut, sollst ja mit!“ Und sie war, das Kind auf dem Arm, der Mutter gefolgt.
Heinz trat allein in sein Zimmer. Er hätte ja können seine Gewalt geltend machen, aber ihm graute vor den Scenen, bei denen sich Frau Toni wie wahnsinnig zu gebärden pflegte, ihn immer wieder anklagte als den schrecklichsten Pedanten, der allein schuld sei, daß ihre Jugend so verkümmerte. Hätte er sie geliebt, so würde er wohl irgend welche Erziehungsversuche gemacht haben – so war es ihm einfach ekelhaft, er vermied lieber in einer Art Feigheit, die Scenen hervorzurufen. Jeder Todesgefahr, jeder Unannehmlichkeit großen Stils, jeder schweren Sorge hätte er mutig ins Auge gesehen, dem Gekreische der halb unzurechnungsfähigen Frau wich er aus. Jeden Tag fast machte er sich Vorwürfe über diese Feigheit, und würde sie sich machen bis an sein Lebensende, das wußte er.
Ach, so deutlich erinnerte er sich noch an jede Kleinigkeit dieses Tages, der Unruhe, die ihn folterte, daß er von einem Fenster zum andern schritt, um nach dem heraufziehenden Wetter zu spähen. Dann, wie er hinunterging in der bleiernen Hitze, die von keinem Lufthauch belebt war, um die Schwester aufzusuchen! Er traf sie mit heftigem Kopfweh in ihrem eignen Zimmer, das sie sich mit den Sachen aus der Heimat so reizend geschmückt hatte. Sie lag auf dem Sofa, die Aelteste erhielt im Wohnzimmer Klavierunterricht und einzelne schrille Töne drangen bis hier herüber; der Junge machte Schreibversuche auf der Schiefertafel in einer Ecke des Zimmers, die Jüngste spielte mit ihren Puppen.
„Welch ein Wetter, Heinz!“ sagte Hede, „und dabei kommst du herunter?“ Du mußt den steilen Weg wieder hinauf, hast du’s bedacht?“
„Ja, Hede! Laß mich nur ein Weilchen hier; ich habe eine furchtbare Unruhe, Toni ist mit dem Kleinen ausgefahren, und ich fürchte, sie kommt in das Wetter hinein bei der Rückfahrt.“
Hede antwortete nicht, sie kannte ihre Schwägerin, sie kannte ihren Bruder und die ganze Trübsal dieser Ehe.
„Tante,“ rief die Kleine, von ihrem Spielzeug aufblickend, „hörst du, wie’s im Himmel knurrt?“
Es war ein beständiges dumpfes Grollen in den Lüften, manchmal so, daß die Scheiben leise klirrten, und zugleich brach eine wunderliche gelbe Beleuchtung durch die Fenster.
„Aengstige dich nur nicht, Heinz, die alte Gräfin ist viel zu vernünftig, sie läßt Toni nicht fort, bevor das Unwetter vorüber ist.“
„Ja, ja“, war seine zerstreute Antwort gewesen, während er ans Fenster trat und den Platz übersah, der in wunderlich gelber Beleuchtung dagelegen hatte. „Ich will übrigens doch lieber hinaufgehen, man weiß ja nicht, was passiert.“ –
Er hatte ihr die Hand gedrückt und war gegangen. Draußen kam ihm alles verändert vor, die Mauern des Schlosses grell weiß gegen den schwarzen Himmel, wie in phosphorescierendes helles Licht getaucht, die Bäume dunkel und regungslos, nur ein leises Zittern in den Wipfeln als horchten sie angstvoll des kommenden Sturmes.
Heinz war anstatt direkt zum Schloß empor, die große Allee des Parkes entlang gegangen, durch die der Wagen zurückkehren
[184][185] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [186] mußte; hart am Rande des Weihers hin zog sich diese herrliche Lindenallee. Es war fast dunkel darin gewesen und völlig einsam. Er hatte sich ganz mechanisch auf eine der Bänke gesetzt und wartete auf das Unglück, das da kommen müßte, wie er sich sagte. Er hatte es im Gefühl und schalt sich darum aus, aber die erregten Nerven kamen eigensinnig auf die Idee zurück, daß dem Kinde etwas zustoßen werde.
Und ehe er es gedacht, war das Wetter losgebrochen; ein rasender Orkan, der ihn gegen einen der hundertjährigen Stämme schleuderte, als wäre der große kräftige Mann ein Rohr; Wirbel von Staub, die ihm das Sehen unmöglich machten und das Atmen benahmen; ein Tosen, ein Heulen und Krachen in den Lüften, wie sich die Volksphantasie den Jüngsten Tag vorstellen mag, dann ein kurzer blendender Schein, ein gewaltiger Donner und Fluten von Regen.
Mit ausgebreiteten Armen hatte er die Linde umfaßt, wie betäubt, dann meinte er durch das Rauschen ein Stampfen und Trappeln zu hören, einen gellenden Hilferuf. Als er vorwärts getaumelt war, hatte er nicht weit von sich im Scheine eines neuen Blitzes ein gestürztes Pferd gesehen, ein zweites sich hochaufbäumend, einen niedergebrochenen Wagen und etwas Weißes unter den Rädern, etwas Kleines, Weißes. Er war hinübergestürzt – er weiß heute noch nicht, wie er dieses Kleine, Weiße gefunden in dem nachtschwarzen Wettergraus, wie er es an sein Herz gedrückt unter dem durchnäßten Rock, wie er vorwärts getaumelt in dem strömenden Regen, ohne sich zu kümmern um das, was hinter ihm zurückblieb, um die nervösen, schrillen Angstrufe der Frauenstimme!“
Sie lebte ja noch – das, was er hier hielt, war starr, war tot, mutwillig vernichtet.
Der Regen war an seinen Kleidern hinuntergeströmt, als er ohne Hut, mit stieren Augen und bleichem Gesicht in das Haus des alten Medizinalrats geschwankt war, und er hatte ihm hingehalten was er gerettet, den kleinen, weichen Kindeskörper, der schlaff und leblos in seinen Armen lag. – „Aus dem Wagen gestürzt, vermutlich überfahren – helfen Sie, retten Sie!“
Eine fürchterliche Viertelstunde verrann, bis das zarte Geschöpf ein Lebenszeichen von sich gab. Ungeachtet seiner durchnäßten Kleider war Heinz nicht von der Seite des alten Herrn gewichen und hatte jede Bemühung des Arztes mit zitterndem Herzen verfolgt. Dann war der Diener erschienen und habe bestellt, Frau von Kerkow habe vor Schrecken Nervenzustände bekommen und lasse bitten, daß der Herr Schloßhauptmann sofort mit Heini heraufkäme.
Heinz antwortete keine Silbe, der alte Herr aber fuhr den wartenden Diener an, die Gnädige solle sich ins Bette scheren und eine Tasse Thee trinken – ob sie den Heini je wiedersehe, das sei zweifelhaft!
Heinz hatte den Arm des alten Arztes gepackt. „Herr Medizinalrat –“ stöhnte er.
„Fassen Sie sich, Herr von Kerkow! – Ich thue, was ich kann.“
Ein paar Stunden später hatte Heinz, in Begleitung des Arztes, das in wollene Decken gewickelte, leise wimmernde Kind den Schloßberg hinaufgetragen, er selbst legte es in ein Bettchen, er selbst wachte bei ihm. Wie ein Rasender war er aufgefahren, als Toni sich hereinschlich, in einen weiten, eleganten Schlafrock gehüllt, bereit, jeden Augenblick in ein exaltiertes Weinen auszubrechen. Mit eisernem Griff packte er sie am Arm und zerrte sie aus der Thür, die er hinter ihr abschloß. Er fühlte, er war brutal in diesem Augenblick, aber er konnte sie hier nicht sehen, angesichts des Jammers, den sie verschuldet hatte. – –
Durch Wochen und Monate pflegte er das Kind, das ihn fast ausgesöhnt hätte mit dem Leben an der Seite dieser Frau – fast, wäre es jetzt gesund geblieben, es nur wieder geworden! Aber die völlige Genesung kam nicht, würde nie mehr kommen, und damit that sich ein Abgrund auf zwischen den Gatten, über den keine Brücke führte. Toni hatte nach jenem Auftritt am Bette des Kindes keinen Versuch gemacht, sich irgendwie die Schuld beizumessen, hatte kein Wort des Bedauerns, der Anklage für sich gefunden. An Entschuldigungen für sich ließ sie es gegen ihre Bekannten nicht fehlen; Heinz gegenüber wagte sie das nicht.
Wie Schatten glitten die beiden Menschen aneinander vorüber.
Sie konnte das leidende, manchmal ungeduldige Kind kaum sehen. Als sie einmal im Zimmer ihres Mannes war, um über irgend eine Angelegenheit, die es unumgänglich notwendig machte, mit Heinz zu reden, trat sie hinter seinen Stuhl am Schreibtisch – neben ihm war kein Platz, da stand das Wägelchen mit dem Kinde. – Sie fragte kurz und bekam kurze Antwort, sie hatte gehen können aber sie wollte noch etwas, nicht mehr und nicht weniger als das, ob Heinz sie auf einen Maskenball in Brendenburg, der nächsten preußischen Kreisstadt, begleiten werde, den die dortigen Kürassieroffiziere veranstalteten und auf den sie schlechterdings nicht allein gehen könne! Es mußte ihr viel daran liegen, denn sie bat um sein Mitkommen.
Er wandte sich um und sah sie empört an. „Ich bin angesichts dieses“ – er deutete mit der Hand aus das Kind – „nicht im stande, auf Bälle zu gehen!“
„Mein Gott,“ sagte sie eisig, „es ist ja ein großes Unglück, aber man kann doch deshalb nicht sein Leben lang Trübsal blasen.“
„So geh’, wenn du diese Ansicht hast!“
„Ich kann nicht allein gehen, das weißt du; du bist verpflichtet, mich zu begleiten.“
„Ich fühle mich verpflichtet, bei dem armen Geschöpf zu bleiben, das du in deinem Eigensinn zu einem schrecklichen Leben verdammt hast. Eine weitere Pflicht kenne ich vorläufig nicht!“
Der kleine Kranke mochte sich erschrecken vor den strengen Worten, er fing laut zu kreischen an. Tonis heftige Erwiderung ging unter in diesen kreischenden Tönen. Da sprang sie mit funkelnden Augen neben das Kind und schrie ihm ein gellendes „Ruhig!“ zu, indem sie auf das abgemagerte Händchen schlug.
In namenlosem Schreck verstummte das Kind, die großen Augen wurden starr und verschwanden fast unter den Lidern; das ganze Gesichtchen zuckte wie im Krampf. Aber gleich einem gereizten Tiger sprang Heinz auf, erfaßte sie an der Schulter und rüttelte sie wie einen jungen Baum. „Du! Du!“ stieß er hervor, „bist du denn ein Mensch, bist du denn ein Weib?“ Dann ließ er sie los, daß sie schwankend und stumm auf den Teppich sank, warf sich vor dem Bettchen auf die Kniee, ballte die Fäuste vor seiner Stirn und brach in ein leidenschaftliches Schluchzen aus.
Am Abend erst löste sich der Krampfanfall bei dem Kleinen. Heinz Kerkow aber vergrub fortan die Sehnsucht nach dem Leben, nach Freiheit, nach all dem Schönen, Großen, was er einst vermißte, tief in seine Brust.
In dieser Leidenszeit konnte er nicht mehr arbeiten. Mehr und mehr sah er ein, daß sein Junge ein Krüppel zeitlebens bleiben würde. Er war für keinen ordentlichen Beruf mehr tauglich; er brauchte nur einen Wärter und Pfleger. Dieser Gedanke trieb Heinz von seinem Schreibtisch, von der Arbeit an seinem neuen Werke fort an das Bettchen seines Kindes.
Dann, eines Tages, der trüb und regnerisch anhob, kam eine neue Prüfung. Es erschienen Leute mit Wagen und Kisten, um die Bücherei von Breitenfels nach der Residenz überzuführen. Heinz sah, wie die Bücher verpackt wurden, und es war ihm, als ob man vor seinen Augen liebe, gute Freunde einsargte. Er mußte alle Kraft aufwenden, um sich zu beherrschen um nicht zu weinen wie ein Knabe.
Als er einige Tage darauf durch die leeren Bibliotheksräume schritt, fühlte er, daß es auch in seinem Inneren öde und leer geworden war. Halb Wahrheit, halb Dichtung waren seine ersten Schriften, auf geschichtlichen Studien waren sie gegründet. Ohne diese Quellenwerke, die man ihm weggenommen, konnte er nicht weiter schaffen.
Warum auch mußte das Schicksal immer und immer ihn so hart treffen! In der Jugend hatte er auf seine Neigungen verzichten, seine erste wahre Liebe hatte er aus dem Herzen reißen müssen, um sich nutzlos für Mutter und Schwestern zu opfern! Das schien überwunden, in seinem Kinde wollte er aufleben – vergebens! Das Verhängnis verfolgte ihn – was sollte er weiter gegen diese finstere Macht ringen?
Er existierte nur noch für den kleinen krüppelhaften Jungen, der ihm alles war in diesem Dasein. Wenn der sterben sollte, dann – dann wollte er auch nicht weiter leben. Er nahm kaum noch teil an dem, was draußen passierte in der Welt, öfter blieben die Zeitungen unberührt; er ging nicht mehr, wie [187] anfangs, nach dem Gasthof ins Klubzimmer – er saß bei Heini. Unermüdlich schnitzelte er Spielzeug zurecht für ihn, erzählte ihm Geschichten, und neulich hatte er die Idee gefaßt, er wollte den kleinen Kranken malen, inmitten der blühenden Büsche und junggrünen Blätter des Lenzes.
So lebte er dahin. Er wußte, daß seine Frau viel ausfuhr, er bekümmerte sich nicht darum. Er wußte, daß der Herzog im letzten Herbst gesagt hatte. „Der Kerkow ist total versimpelt, die Frau thut mir leid, die hat sich herausgemacht, ist ganz nett geworden. – Ja, der Herzog hatte recht, er war versimpelt, und Toni war aufgeblüht, er sah es ja auch, aber es machte keinen Eindruck auf ihn.
„Er ist verrückt,“ pflegte Frau Toni zur Tante Gruber zu sagen, „er ist ein Pedant! Mir könnt’s wahrhaftig auch lieber sein, ich wäre damals nicht ausgefahren, aber nun’s geschehen ist, kann ich’s doch nicht ändern, und wollte ich mir die Haare einzeln ausreißen! Und so dachte sie auch jetzt wieder, als sie in Begleitung einer der Arnsteinschen Komtessen in der spitzbogigen Pforte des Schloßhofes erschien, die auf die Terrasse führte. Die Komtesse hatte Besorgungen gemacht in der Stadt und war zu ihrer lieben Frau von Kerkow auf einen flüchtigen Besuch gekommen; sie brachte einen kleinen chinesischen Drachen an langem Faden mit für Heini. Toni, in einem Kleide aus zartblauem Leinen mit seidenen Aermeln derselben Farbe und breitem Spitzenkragen, war allerdings nicht zum Wiedererkennen gegen früher, wären nur die blassen kalten Augen nicht gewesen. Als sie Heinz erblickte, wurden sie noch kälter und härter.
Die Komtesse war ein liebenswürdiges Geschöpf, sie hatte ein Verständnis für das, was dieser Mann litt, der ihr einige Schritte entgegentrat. Sie nahm nach ein paar freundlichen Worten einen Stuhl ihm gegenüber und begann irgend eine Plauderei. Sie war mit Papa in Berlin gewesen, hatte eine Parade gesehen, und von dort war man nach Dresden gekommen, wo sie in Musik geschwelgt habe. „Und denken Sie sich, Herr von Kerkow, denke dir, liebe Toni – ihr erinnert euch gewiß noch der kleinen Aenne May, der Tochter von unserem alten Medizinalrat? Na, ja, die habe ich singen hören – großartig! Herrgott, die Dresdner waren ganz Mayverrückt! Natürlich interessierte es mich, das Nähere zu erfahren; ich las am andern Morgen im Hotel das Adreßbuch nach, machte mich auf die Sohlen und besuchte sie. – Ich stieg vier Treppen hoch in ein niedliches Mansardenquartier, ein ganz junges Dienstmädchen öffnete, doch leider war Fräulein May nicht zu Hause. Eine alte weißhaarige Frau aber erschien und lud mich ein, näherzutreten, und wie sie hörte, ich sei eine Landsmännin ihrer Nichte, flossen ihr Lippen und Augen über. So ein Glück – der Theaterintendant hatte sie vom Fleck weg für die Hofbühne haben wollen, aber sie will nur Konzertsängerin sein – denkt euch – solche Anerbietungen nach ihrem ersten öffentlichen Auftreten! Unmassen von Verpflichtungen ist die Aenne eingegangen, bis nach Petersburg hinauf, und doch hat sie zwei große Konzerte abgesagt, weil sie drüben in Brendenburg singen will zum Sängerfest. „Ich glaube,“ schaltete die Komtesse ein „es ist Ende des Monats.“
Die Eltern sollten sie doch auch ’mal hören, meinte die Tante, und die Lehrer vergötterten die Aenne; so eine herrliche volle Stimme, ein solch eiserner Fleiß, solch wahrhaftes Streben aber auch! Na, kurz, ich sage Ihnen, meine Herrschaften, ich schied ganz gerührt aus dem kleinen trauten Mansardenstübchen und dachte so bei mir, da hast du doch ’mal das Glück leibhaftig gesehen, ein Glück wie im Märchen – sie wachte auf und war berühmt!“
Heinz sah starr in die Ferne hinaus, die im leuchtenden Schimmer der untergehenden Sonne lag. „Wie im Märchen!“ sagte er zu sich. „Glück zu, kleine Aenne! Der eine so – die andere so!“
„Ich war vorhin in der Buchhandlung, um mir das Lied abzuholen, das ich neulich schon bestellte,“ fuhr die Komtesse fort. „Aenne May sang es im großen Konzert des Dresdner Gewerbehauses, aber der Mann kannte es nicht, hatte auch nichts erfahren können, im Druck sei es nicht erschienen; Kennen Sie es vielleicht zufällig, Herr von Kerkow? Ein paar Strophen sind mir noch gegenwärtig:
,0 du purpurner Glanz der sinkenden Sonne,
Wie zauberhaft webst du um Flur und Hain –’“
Er lächelte trübe. „Ich kenne es,“ sagte er leise.
„Auch das Gedicht war mir fremd. Von wem mag es sein?“ forschte nun die Komtesse.
„Ich weiß es nicht,“ antwortete er. Er hätte um die Welt nicht eingestanden, daß er der Dichter war.
Doch vor seinen Augen stand wieder das Bild eines in Glut getauchten Sommerabends, er hingelagert ins Heidekraut auf der Lichtung und sie daneben, in das Rot und Violett der Ferne schauend, die Arme um die Knie geschlungen, die reinste Andacht in dem jungen, schönen Antlitz. – „Da!“ hatte er plötzlich gesagt und ihr ein rasch beschriebenes Blatt hingereicht, das er aus dem Notizbuch gerissen. Und sie hatte es gelesen. Er wußte nicht, war’s die Sonne, die ihre Wangen plötzlich so purpurn färbte, oder das rote, warme, verräterische Blut?
Und dann sang sie es nach ihrer Lieblingsmelodie, die sie einst selbst gefunden. Und die Sonne ging unter …
„Kann man in das Konzert gehen?“ fragte Toni mit ihrer klanglosen Stimme.
„Natürlich, Toni – wir werden alle da sein. Soll ich dir einen Platz bestellen neben uns? Oder gehst du mit deinem Manne?“
„Ich? Nein! Ich bedaure, ich nehme nicht teil“, sagte er, unartig kurz und bestimmt.
„Wie immer!“ erklärte Toni mit einem verständnisvollen Blick zur Komtesse, der soviel bedeutete: Da siehst du, welch’ ein Los mir beschieden! „Also, seien Sie so gut, liebste Feodora, und bitten Sie Ihre Mutter, daß sie sich einer schutzlosen Frau annimmt bei dieser Gelegenheit. Ich muß leider Ihre Güte so oft in Anspruch nehmen.“
Die Komtesse schwieg und sah forschend in die blassen Züge des Mannes und von da hernieder auf das Kind, und sie glaubte, ihn zu verstehen. „Adieu, Herr von Kerkow“, sagte sie mit besonders herzlicher Betonung und reichte ihm die Hand. „Mein Wagen wartet drunten vor dem Parkthor, und Sie werden denken, daß Ihr Jungelchen zu kurz kommt, wenn ich Sie noch lange vom Plaudern mit ihm abhalte. – Leb’ wohl, kleiner Heini, vergiß die Tante nicht! Was soll ich dir denn das nächste Mal mitbringen?“
Aber das Kind bewegte leise abwehrend den blonden Kopf. „Ich danke – nichts,“ sagte es.
„Recht höflich!“ lachte Toni auf, „das macht die Erziehung von Heinz. – Warum denn nicht, du kleiner Grobian? Hast du dich nicht gefreut über das schöne Spielzeug dort?“
Der kleine Kranke gab den Blick der ärgerlichen Mama groß und verwundert zurück. „Das bunte Papierding“, sagte er, „das kann fliegen und sieht so fröhlich aus, und ich bin doch ein lebendiger Junge und – kann’s nicht. Ich mag’s nicht sehen.“
Toni drehte sich achselzuckend um, sie verstand nicht die furchtbare Bitterkeit und Schärfe, die aus den Worten sprach.
Um den Mund der Komtesse zuckte es wie verhaltenes Weinen, sie nickte noch einmal hinüber zu Heinz, der mit tiefer Verbeugung Abschied nahm, dann ging sie neben Toni über die Terrasse und verschwand hinter den Jasminbüschen. Heinz aber bog sich hernieder und strich über die bleiche Stirn des Kleinen. „Nicht bitter werden, Liebling, nicht bitter werden,“ murmelte er kaum verständlich. „Und wir haben uns doch lieb, was?“
„Ja, Papa!“ antwortete der kleine Kranke.
Und Heinz schob nun vorsichtig das Wägelchen der Spitzbogenpforte zu, die auf den Schloßhof führte, und bis vor das Portal des jenseitigen Flügels, hob dort das gelähmte Körperchen behutsam aus den Kissen und trug es in die Wohnung hinauf.
An der Schloßwache stand der seit einigen Wochen herkommandierte Lieutenant und sah sich alles mit an. Dann schlenderte er langsam über den Platz, betrat die Terrasse, die Heinz eben verlassen hatte, wandte sich rechts und ging in den Herzogingarten hinunter, setzte sich in eine fast dunkle Aristolochienlaube, lehnte sich zurück und wartete auf irgend etwas. „Hol’s der Teufel, man kommt vor Langerweile auf dergleichen“ murmelte er. Er war ein hübscher Mensch mit einem geistlosen Durchschnittsgesicht und stattlicher Figur, augenblicklich aber entschieden schlechter Laune. Plötzlich verzog sich das Gesicht zu einem süßlichen Lächeln. „Aha!“ sagte er halblaut.
Ein eiliger, kurzer Frauenschritt erklang, das Rauschen eines [188] mit Seide abgefütterten Kleides, und in den Eingang der Laube trat eine blonde Frau im blauen Leinenkleid mit seidenen Aermeln derselben Farbe.
„Sie hier, Lieutenant Grellert?“ fragte sie mit gut gespieltem Erstaunen.
„Pardon, wenn ich störe, gnädige Frau,! antwortete er, „ich – befehlen, gnädige Frau, daß ich mich entferne – oder –“
Er durfte bleiben. Und derweil brachte Heinz mit Hilfe des Dienstmädchens den kleinen Kranken zur Ruhe und saß dann, auf seine Frau wartend, im Eßzimmer am Fenster, der Tisch war gedeckt, unter dem Theekessel zuckte die bläuliche Flamme. Tante Gruber kam herauf in einem der schwarzen Damastkleider, die sie von der Herzogin geerbt hatte und jetzt auftrug für täglich. Sie raschelte leise umher im Zimmer, that zuweilen einen Blick auf die Uhr und unterdrückte ein verstohlenes Gähnen. Heinz merkte nicht, wie spät es war, wußte nichts von der Gegenwart, er sah nur eine liebliche schlanke Mädchengestalt und hörte ihre süße Stimme:
„O Sonne, o Liebe, wie kalt ohne euch!“
Was wußte er damals von der Wahrheit dieser Worte! War es ein Ahnen kommenden Unglücks gewesen, das sie ihm eingab?
Dann flog die Thür auf und Toni trat ein. „Feodora hatte noch soviel zu schwätzen“, entschuldigte sie sich atemlos, bevor noch jemand sie anklagte. Dann saß man schweigsamer als je zu Tisch, denn Tante Gruber, die sonst mit der jungen Frau allein sprach, bekam heute kaum eine Antwort von ihr.
(Fortsetzung folgt.)
Ein Festtag in Inner-Indien.
Hoch stand in alten Zeiten die Kultur der Hindus. Aber von stolzester Höhe sanken die Gedankenkreise dieses uns stammverwandten Volkes tiefer und tiefer. Parteileidenschaft, Zersplitterung in zahllose Kleinstaaten machten Indien zur leichten Beute fremder Eroberer. Unter dem Drucke wissensfeindlicher Priesterherrschaft, eisernen Kastenzwanges, unablässiger Ausbeutung erlahmte die Fähigkeit des Volkes, sich zur Vaterlandsliebe, zur Begeisterung aufzuschwingen – die Talente verzagten, das einst so thatkräftige Wollen versumpfte. Redlich erworbener Besitz erfreute nicht, er brachte nur Gefahr, Gleichgültigkeit, öde Genußsucht traten an die Stelle der Schaffensfreudigkeit.
Nunmehr gipfeln die Wünsche der großen Masse der 500 Millionen Hindus in dem Ruf nach „Brot und Spielen“, der sich im alten Rom zur Zeit seines Niederganges erhob, in dem Verlangen nach möglichst mühelosem Erwerb des täglichen Nahrungsbedarfes, nach Betäubung in brausendem Festlärm.
Wie aber steigert sich diese Sorge um das tägliche Brot, wenn in Indien, wie gegenwärtig, der Monsunregen seine erweckende Schuldigkeit an der lechzenden Mutter Erde verabsäumt hat und verwelkende Reis- und Weizenkeime der Erntesichel spotten! Schleicht dann zugleich, wie eben jetzt, das gräßliche Gespenst der Pest Arm in Arm mit seiner düsteren Schwester, der Cholera, durch die ausgeglühten, verdorrten Felder – wie sinken dann die von Hungersqualen gekrümmten Hindus diesen Furchtbaren zu Füßen, in Hunderten, Tausenden und Abertausenden!
In stumpfer fatalistischer Erschlaffung harrt der Hindu seines Schicksals, es fehlt ihm Kraft und Mut, dem Aberglauben zu trotzen und die von den Behörden empfohlenen Schutzmaßregeln zu befolgen. Etwelche eilen, den herannahenden Landplagen durch Flucht zu entgehen, andere versuchen sich gewaltsam in den Besitz der mangelnden Nahrung zu setzen – weit mehr aber streben, durch außergewöhnliche Inbrunst bei den religiösen Festen die betreffenden Gottheiten zur Abwendung der Heimsuchungen zu bewegen.
Diese geräuschvollen Feste spiegeln die glanzvolle Herrlichkeit des alten Indiens auch heute noch wieder und werden solche sowohl von den Hindus alter brahminischer Religion wie von den indischen Bekennern des Islams abgehalten. Unter dem Einfluß tropischen Lichtes steigert sich dort der äußere Ausdruck religiöser Begeisterung bis zum Phantastischen. Um Zeugen eines solchen Festes zu sein, begeben wir uns in das Innere des Landes, in das „Mosussil“.
Haidarabad, „die Stadt Haidars“ (Löwen), im Herzen der riesigen, vorderindischen Halbinsel, an dem Ufer des Mussi gelegen wollen wir heute besuchen. Von den 400 000 Einwohnern dieser Stadt ist die übergroße Mehrheit mohammedanisch, wie der Fürst selbst, der, „Nisam“, dessen voller Name lautet Asaf Jah Muzassur-ul-Mumulik, Nisam-ul-Mulk, Nisam-ud-daulah Nawab Mir Mahbub Ali Khan Bahadur Feteh Jung. 10 Millionen Bewohner zählt sein Reich, der Vasallenstaat Haidarabad.
Es ist gerade für den Islam die festlichste Zeit des Jahres, der erste Monat des mohammedanischen Mondjahres.
Neun Tage währt das Erinnerungsfest an den Tod Hassans und Husseins, der Söhne Alis, des Schwiegersohnes des Propheten, die im Kampfe gegen mohammedanische Sektierer im Jahre 680 in der Schlacht von Kerbela fielen. Der neunte Festtag ist angebrochen, die prunkvolle große Prozession, in der die Fahne des Propheten durch die Straßen der Stadt geführt wird, soll das fanatische Volk bis zum rasenden Toben entzücken. Bangen Herzens schleichen die brahminischen Hindus umher – wehe ihnen, wenn sie heute ihren aufgeregten muselmännischen [189] Mitbürgern begegnen! – Wir verlassen unsere Herberge, ein Bungalow oder Landhaus, abseits der Stadt in der Nähe einiger Baumwollen- und Papierfabriken gelegen. Das Auskämmen und Bearbeiten der Baumwollenflocken ist eine Aufgabe, der sich die Mohammedaner mit Vorliebe zuwenden, während sie als Händler Parfümerien, Schmuckwaren und Juwelen bevorzugen. Hier in Haidarabad war einst der Haupthandelsplatz für die Diamanten Indiens, die im nahen Golconda gar kunstvoll geschliffen wurden, als diese Naturschätze in Indien noch nicht so „vergriffen“ waren wie heutzutage.
Sabbathstille herrscht auf den Feldern, überall wird das hohe Fest gefeiert.
Wir überschreiten den Mussi auf granitner vielbogiger Brücke, die seit 1830 diesen in der Regenzeit sehr wasserreichen Zufluß des Kistna überspannt. Unten am seichten Ufer kommen und gehen die Elefanten aus dem Marstall des Nisams, sie knieen im trüben lauen Wasser nieder, um mit Sand und Asche, mit Hilfe riesiger Besen und halbierter Kokosnüsse abgescheuert zu werden, ehe ihre „zarte Haut“ zum Feste geschminkt wird. Neugierig blickt auf unserm Bilde (S. 188) der Büffel auf die Untiere, die ihn von seinem Badeplatz verdrängten.
Mit leuchtendem Rot und Gelb werden nach vollbrachtem Bade Stirn, Rüssel und Ohren der Dickhäuter in allerlei Mustern bemalt; diese sollen die \_/ und == Stirnzeichen verspotten, mit denen, wie ich es kürzlich in der „Gartenlaube“, Jahrg. 1896, S.612, schilderte, die brahminischen Hindus sich und ihre Tempelelefanten bemalen, denn geärgert müssen die andersgläubigen Mitbürger werden, wo immer es angeht. Natürlich rächen sich diese dafür in anderen Orten, wo die Moslems in der Minderzahl sind, durch heimliches Anbinden von Schweinen in den Vorhöfen der Moscheen oder ähnliche sinnreiche Aufmerksamkeiten.
Nach der Bemalung werden die Elefanten aufgezäumt. Auf den Kopf kommt eine riesige Kappe, scharlachrot mit goldener Borte, auf den Rücken eine ebensolche Decke mit reicher Goldstickerei, Dutzende von Händen sind behilflich, auf diesen Rücken dann den ungeheuren Handah zu schnallen, der aus Silber und Gold getrieben ist. Ueber dem Handah wölbt sich der scharlachfarbene, goldstrotzende Baldachin, der das Haupt des Nisams und anderer Großen des Reichs vor der sengenden Tropensonne während des Umzugs schützen soll. Schließlich werden goldene Ringe mit glänzenden Steinen um die Stoßzähne der Tiere geschoben, die Zähne selbst nötigenfalls durch Ansätze künstlich verlängert, silberne klirrende Ketten werden um Hals und Füße geschirrt, der „Mahant“ läßt sich durch den Rüssel auf den Nacken des Tieres heben und stellt seine Füße hinter die Ohren des Elefanten, um ihn auf diese Weise zu lenken.
Inzwischen sind wir vor der niedergelassenen Fallbrücke des Stadtthores angelangt; kindlich erscheinen heutzutage diese mittelalterlichen Verteidigungsmittel, diese rosafarbigen Lehmmauern mit Schießscharten, diese veralteten von Kamelen gezogenen Geschütze des Nisams.
Wir weisen unsere Erlaubniskarte zum Besuche der Stadt dem Thorwächter vor – verblüfft starren wir demselben ins Gesicht. Nicht auf die regelmäßigen Züge eines Hindu fällt unser Auge, zwischen aufgeworfenen grinsenden Lippen fletscht uns ein unverkennbarer Afrikaner seine schneeweißen Zähne entgegen, ein Mitglied der arabischen Leibwache des Nisams (vgl. nebenstehende Abbildung).
Nun betreten wir die Stadt, d. h. nicht etwa zu Fuß, das würde sich für einen Vertreter des herrschenden weißen Volkes nicht ziemen. Nur in stolzer Karosse, auf dem Rücken eines edlen Pferdes oder Elefanten oder in einer Sänfte darf sich der Europäer den gaffenden Hindus zeigen. Doch wohlgemerkt, wir besuchen die Stadt auf unsere eigene Gefahr, kein Konsul wohnt innerhalb der Stadtmauern! Werden uns von der festfröhlichen Menge die Knochen im Leibe zerbrochen, so zahlt uns niemand einen Pfennig Schmerzensgeld dafür.
Von fernher dringt das Brausen des Volkslärms aus der innern Stadt. Eine Sänfte, ein Palankin oder Palki, begegnet uns am Stadtthore (vgl. untenstehende Abbildung). An dem großen weißen Namazeichen auf der Stirn des Mannes, der darin kauert, erkennen wir einen brahminischen vornehmen Hindu, der sich aus der Stadt tragen läßt. Er zieht es vor, sich draußen im Freien, etwa an den Ufern des nahen Hussein Sagar-Teiches arglos seinen Curryreis auftischen zu lassen, als im Innern seiner verriegelten Stadtwohnung zu schmausen, vor deren Thür bereits die brüllende Menge unter wütendem Anruf Hassans, Husseins und Mustapha Reimans die Brust in wüstem Takt sich schlägt.
Wie qualvoll ist für den reisenden Europäer die Benutzung eines solchen Palkis! Unsere Gelenke sind eben nicht an das beständige Sitzen mit untergeschlagenen Beinen gewöhnt. Aber zweckmäßig sind diese Kasten doch – will ein vornehmer Hindu mit der Eisenbahn verreisen und seine Gemahlin den Blicken anderer Männer entziehen, so setzt er sich in die erste Wagenklasse, die liebe Frau kommt in einen derartigen Palankin, die Thüren werden zugeschoben; dann wird der Kasten nebst Inhalt als Gepäckstück in den Bagagewagen spediert – glückliche Reise! Wer aber Dienstboten aus der Sekte der Kahars besoldet, die keine Lasten auf Kopf und Rücken tragen dürfen, wie einfach kann er sie zum Lasttragen zwingen! Er läßt die Sachen in den Palki packen, weil dieser mittels Tragstangen auf den Schultern getragen wird und dies nicht in den Kastensatzungen der Kahars verboten ist, die trägen Diener also keine Ausrede haben!
Doch hinein in das Festgewühl des Bazars! Den Mittelpunkt der Stadt bildet der Platz, auf dem sich die vier Hauptstraßen kreuzen; eine große Moschee nach dem Vorbild der Kaaba zu Mekka steht in der Mitte. Wie Ameisenhaufen kribbelt das Volk auf den Straßen durcheinander, dicht gedrängt stehen die Massen auf den [190] flachen Dächern der rosa, gelb oder lachsfarbig getünchten Häuser. Prächtige Teppiche hängen aus den Fenstern und von den Balkonen.
Schon naht der Zug!
Voraus, wie allerorten bei solchen Gelegenheiten, Pöbel, Straßenbuben. Eine Schwadron eingeborener Reiter, einzeln oder zu zweien auf ihren Kamelen hockend, sehnige, martialische Hindus, die wohl fähig wären, ihren Nisam vom englischen Joche zu befreien, wenn ihre Bewaffnung auf der Höhe der Zeit stände. Doch moderne Waffen in Indien einzuführen, ist streng verboten, ist geradezu unmöglich. Und dort oben auf den Hügeln im Rücken der Stadt stehen die Batterien, die endlosen Zeltreihen des englischen Heerlagers bei Sikandarabad! Ist auch die Stadt Haidarabad von englischen Soldaten entblößt, in demselben Augenblick, in dem der Signalwimpel an dem Mast im Burghof des englischen Residenten emporflattern und hinaufmelden würde, daß der Nisam seine Vasallenstellung vergessen und den Versuch gemacht habe, den Herrn in seinem Lande zu spielen – in demselben Augenblicke wäre er selbst mit seinem Palast, seiner Residenz mit ihren 400 000 Einwohnern in Atome zerschmettert. Mit der größten Liebenswürdigkeit wird der Nisam zu Zeiten eingeladen, sich auf dem Schießplatz die Wirkung der Granaten zu betrachten, welche in den Schanzen von Sikandarabad zu Tausenden lagern. Er begnügt sich weislich mit dem Schein von Macht, der sein öffentliches Auftreten zumal an Festtagen wie dem heutigen, umgiebt.
Dort naht er, der Nisam, schneeweiß gekleidet, Diamanten im Turban, in höchsteigner Person, auf dem Rücken eines außergewöhnlich riesigen Elefanten. Vor ihm her läuft sein Stolz, seine ägyptische Leibwache. Wie Söhne der Hölle gebärden sich diese Araber an dem heutigen Tage! Gräßlich, markdurchdringend tönt ihr schrilles Pfeifen, das wüste, wilde, unregelmäßige Stoßen und Trommeln auf ihren kupfernen Kesselpauken, das kreischende, fauchende Anrufen Alis und seiner Söhne aus den rauhen Kehlen dieser opiumtollen Gesellen. Mit dem plumpen Kolben ihrer vorsündflutlichen, zwei Metern langen Gewehre stoßen und hauen sie in die Massen des Volkes, den unaufhaltsam vorwärts schreitenden plumpen Tieren den Weg zu bahnen. Elefant folgt auf Elefant, nicht weniger als 300 stehen ja in den weiten Höfen des Nisams mit angepflockten Füßen, dieses Festtages gewärtig.
Und jetzt schwankt der Mittelpunkt all des Festjubels daher, die grünseidene Fahne des Propheten. Wo sie sich zeigt, steigt das Toben zum Wahnsinn da krachen die Schüsse aus den uralten Steinschloßflinten, welche die Araber unablässig aus ihren schneckenförmigen Pulverhörnern aufs neue laden, da sausen Raketen und Schwärmer in das blendende Tageslicht. Nichts vernimmt man von dem lauten Singsang der öffentlichen Tänzerinnen, die in dichter Schar den Fahnenelefanten umgaukeln, eine Verspottung der brahminischen Tempelbajaderen, der Deva-Dafis.
Unmöglich ist es, einzelne Laute aus dem wild brandenden Meer von Tönen zu verstehen, dessen Grundaccorde die von all diesen Tausenden unaufhörlich hervorgestöhnten, geschrieenen, geblökten oder erschöpft hingezischten Namen der gefeierten Märtyrer sind. Weherufe der Gequetschten, Zertretenen, mit Stentorstimmen gebrüllte Befehle, denen die entfesselten Horden den Gehorsam versagen, blöde Fisteltöne wahnsinniger Fakire – dazu das Geklirr der Waffen, das Rasseln des Elefantenschmuckes, das Geklimper der Ringe um Beine und Arme, in Nasen und Ohren der Tänzerinnen, die mißtönende Musik – fürwahr, es ist ein Getöse, ganz dazu angethan, die durch reichlichen Opiumgenuß genugsam erhitzten Gemüter der Stadtbewohner zum Rasen zu bringen. Blindlings rennen sie durch die Gassen, im Festgewand, mit Flitterkram und Goldpapier geputzt, in der einen Hand einen Säbel, in der andern einen Knüttel, schreiend und gestikulierend. Klüglich hält sich alles daheim, was anderen Glaubens ist als diese fanatischen Scharen.
Bis tief in die Nacht währt das blendende geräuschvolle Treiben, das die Armen ihr Elend, die Kranken ihre Schmerzen vergessen läßt, denn selbst aus den Hospitälern klingt beim Vorbeiziehen der Prozession der heisere Anruf Hassans und Husseins, ja [191] sogar aus dem Luftloch eines vermauerten Turmes erklingt der Ruf, wimmernd und ersterbend, in dem ein kürzlich eingefangener Verschwörer gegen das Leben des Nisams lebendig begraben wurde.
Besonders festlich gestalten sich diese Umzüge, wenn während des Muharremfestes die kleineren Fürsten und Häuptlinge des Reiches mit ihrer bewaffneten Macht nach Haidarabad kommen, um dem Nisam zu huldigen. Dann wird an dem Tage Langar, der sonst den Armen geweiht ist, eine Heerschau abgehalten; dann wogt durch die Straßen der Löwenstadt ein so eigenartiger, farbenprächtiger und wilder Zug, wie er nur im Herzen des Orients zustande kommen kann. Noch einmal flackert dann der alte Glanz indischer Macht auf und die Heerscharen und ihre Abzeichen rufen die Erinnerung an glorreichere Zeiten zurück, da die Vorfahren des Nisams nicht müßig als englische Vasallen in ihren Palästen umherirrten, sondern durch kühne Waffenthaten die Nachbarn erschreckten und den Ruhm ihres Namens mehrten.
Unser Hauptbild (S.184 und 185) giebt uns einen Einblick in jene gewaltige Heerschau, die fünf bis sechs Stunden dauert. Der Zug gelangt gerade vor den auf der linken Seite des Bildes sichtbaren Palast des Kriegsministers. Im Vordergrunde erscheint eine Schar arabischer Krieger mit alten Waffen, dazwischen einige Lanzenreiter. Hinter dieser Truppe reitet ein Vasall des Nisams auf einem prächtigen buntbemalten Elefanten, begleitet von Fußsoldaten und Reitern. Im Hintergrunde zieht sich der Zug durch einen Thorbogen, durch den der nächste Elefant sichtbar ist. An diesem Tage sind die Soldaten wie Tiger bemalt und die meisten mit Lanzen und Schilden bewaffnet; nicht im Marschschritt, sondern springend und schreiend ziehen sie vorbei; die gelbe Farbe, das Abzeichen der Königswürde, ist am häufigsten vertreten. Tausende prächtiger Rosse, zahlreiche Kamele und Hunderte von Elefanten erhöhen den Eindruck dieser eigenartigen Heerschau. Unter schrillen Tönen der Kapellen und gellendem Geschrei der Soldaten wälzt und drängt sich der Zug nach dem königlichen Palast, wo der Nisam auf einem Balkon, von seinen Würdenträgern umgeben, die Huldigung der Getreuen entgegennimmt.
Ist der Jubel des Muharremfestes auf den Straßen der Stadt verstummt, dann haben vielfach die Sängerinnen im Innern der Häuser noch in später Nacht vollauf zu thun.
Den auf dem Ruhebett hingestreckten Favoritinnen, die das Haus nicht verlassen dürfen, tragen sie unter Begleitung von Trommel und Fiedel die Legenden vor, welche sich auf das heutige Fest, auf Ali und seine Söhne, auf die blutige Religionsschlacht in der Ebene von Kerbela beziehen. Dieselben Lippen, welche sonst jauchzend die Freuden der Liebe, des Lebensgenusses preisen, stimmen heute gellend mit ein in die Anrufung der Helden des Festtages, Hassans und Husseins. (Abbildung S. 190.)
Am andern Morgen aber nimmt die Stadt wieder ihr alltägliches Gesicht an; der brahminische Hindu öffnet ruhig wieder seine Geschäftsräume, und die nackten, langhaarigen mit Kuhdüngerasche bestäubten Gestalten der brahminischen Bettelmönche oder Jogis wagen wieder, ebenso dreist wie die moslemitischen Fakire, von einem Bazarhändler zum andern zu pilgern, um stillschweigend die Bettlerschalen auszustrecken in die von mildthätigen Händen bald Früchte, bald Brot oder sonstige Speisen gelegt werden. Ohne ein Wort des Dankes geht der Jogi seines Weges, in seinem religiösen Dünkel glaubt er vielmehr den Spender sich zu Dank verpflichtet zu haben, weil er ihm Gelegenheit gegeben, einem Jogi, einem nur in geistlicher Beschaulichkeit seine Tage verbringenden Frommen, eine Wohlthat zu erweisen. Thatsächlich sind dieselben die ärgsten Müßiggänger.
Ueberwiegt aber in einem Ort, wie in den Brahminenparadiesen in Südindien oder an der Malabarküste, die andere der beiden großen Religionen Indiens, die brahminische, dann thun ihre Anhänger das Aeußerste, um den hier geschilderten Festtrubel der Mohammedaner noch zu überbieten und die zum Vorteil der herrschenden Nation der Engländer bestehende religiöse Eifersucht immer mehr zu verschärfen.
Die Vogelwarte Helgoland.
Die Zeitungen haben vor kurzem den am 1.Januar 1897 erfolgten Tod des Marinemalers und ehemaligen britischen Regierungssekretärs Heinrich Gätke auf Helgoland gemeldet. 1814 in Pritzwalk geboren, kam Gätke als 23jähriger junger Mann nach Helgoland; und der Zauber des einsamen Nordseefelsens gab ihn nicht mehr frei; als 83jähriger Greis hat er hier auch sein Grab gefunden. Viele Besucher der Insel werden sich des prächtigen Kopfes mit langem weißen Barte erinnern und mancher wird gewiß auch hinaufgestiegen sein ins Oberland, um im gemütlichen Atelier mit dem liebenswürdigen alten Herrn eine Stunde zu verplaudern. Besonders Zoologen sah sein gastliches Heim, denn, so ansprechende Marinebilder auch sein Pinsel schuf, weit bekannter ist Gätke als Vogelkenner geworden. Seine Heimat machte ihn zum Gelehrten; ganz einzigartig ist ja in ornithologischer Beziehung der rote Felsen Helgolands.
Nur fünf Vogelarten nisten und brüten auf Helgoland, aber über die kleine Insel geht der Vogelzug, der jährlich die leichtbeschwingten Wanderer der Lüfte vom Norden in das mildere Klima des Südens führt und später wieder zurück in die nördlichere Heimat. Tausende und aber Tausende von Vögeln berühren zu kurzer Rast, die oft nur einige Stunden der Nacht dauert, das kleine Eiland, und zu den Arten, die regelmäßig im Hin- und Rückzug ihren Weg über Helgoland nehmen, gesellt sich manch seltener Fremdling, den ein Zufall, widrige Winde oder Ermattung nach Helgoland verschlugen. Auf dem roten Felsen des deutschen Meeres treffen Vögel zusammen, deren Heimat in verschiedenen Weltteilen liegt, die Hunderte von Seemeilen geflogen sind, bis sie auf ihrer Reise diesen Rast- und Ruhepunkt erreicht haben. Europa und Afrika, Amerika und Asien senden Kinder ihrer Zonen nach dem Felsbrocken der Nordsee. Schon vor Jahrzehnten schrieb Oetker: „Hier sind die Schneeammer aus dem eisigsten Norden und der Jungfernkranich aus dem heißen Numidien, der virginische Regenpfeifer aus Amerika und der Regenpfeifer aus Hinterindien in geringer Nähe bei einander getroffen worden, die kleine schwarzgraue Drossel aus den Urwäldern Amerikas und die große halbmondfleckige Drossel des Himalaya, der prächtige Bienenfresser Afrikas und das reizende Blaukehlchen Sibiriens, die Kappenammer des Orients und die Lapplandsammer des Polarkreises wurden auf einem Raum getroffen, der noch nicht den hundertsten Teil einer Geviertmeile ausmacht; die Seeschwalben des Kaspischen Meeres und der persischen Gewässer hat man auf derselben Stelle gesehen, wo die Eisenten Spitzbergens und die Möwen Grönlands sich tummeln.
Es ist das große Verdienst Gätkes, diese Bedeutung Helgolands als „Vogelwarte“ wissenschaftlich festgelegt zu haben. Tage und Nächte opferte er durch Jahrzehnte hindurch seinen Studien, sein scharfes Auge schweifte beobachtend hinaus über die Klippe zum Meer, und was ihm begehrenswert däuchte unter der Schar der gefiederten Gäste, das erreichte die sichere Büchse, und die kunstgeübte Hand stopfte [192] die erlegte Beute aus und schuf im Lauf der Jahre eine der interessantesten und wissenschaftlich bedeutendsten Vogelsammlungen, die es giebt. Im regen Verkehr Gätkes mit den bedeutendsten Ornithologen der Gegenwart, die oft auch seine Sammlung besichtigten, wurde zugleich die unbedingte Zuverlässigkeit seiner Beobachtungen wissenschaftlich festgestellt. Außer den erwähnten 5 Brutvögeln konnte Gätke nicht weniger als 391 Arten als Gäste seiner Heimat beobachten. Aber nicht nur ihr Vorkommen wies der eifrige Forscher nach, sondern in unermüdlichem systematischen Studium des Vogelzugs machte er die wichtigsten Beobachtungen über die Richtung und Höhe, über die Schnelligkeit und über die meteorologischen Beeinflussungen desselben.
So brachte er vielfach Licht in die Erkenntnis dieser merkwürdigen Wanderungen, die jährlich unzählige Vögel Hunderte und Tausende von Meilen über Land und Meer in sicherem Flug in die Ferne führen.
Es war Gätke vergönnt, seine in einem langen Leben gewonnenen Erfahrungen auch von der wissenschaftlichen Welt nach Gebühr anerkannt zu sehen. In den von Professor R. Blasius unter dem Titel „Die Vogelwarte Helgoland“ im Verlage von Joh. Heinr. Meyer in Braunschweig herausgegebenen Aufzeichnungen Gätkes ist der ornithologischen Litteratur ein ganz hervorragendes Werk beschert worden.
Mit dem Uebergang Helgolands an Deutschland erkannte es das Reich als Ehrenpflicht, auch die Sammlung Gätkes sich zu sichern, für deren Ueberführung nach England demselben bereits die Mittel zur Verfügung gestellt waren. Wohl ließen sich anfangs nicht die richtigen Räume zu einer würdigen Ausstellung der Sammlung finden, und den alten Herrn, der mit der Hergabe seiner Sammlung sich von einem Stück seines Lebensinhalts loslöste, beschlich manchmal ein pessimistisches Gefühl über die Zukunft derselben, allein die letzten Wochen haben die Gewißheit gebracht, daß der vom Deutschen Reich geschaffenen, ständig an Bedeutung wachsenden Biologischen Station auf Helgoland sich nunmehr auch dank einer hochherzigen Stiftung und dem Entgegenkommen der Helgoländer, ein Nordsee-Museum angliedern wird.
In ihm wird dann auch die Vogelsammlung Gätkes Aufstellung finden, ein würdiges Denkmal für den Mann, den ein glücklicher Zufall nach Helgoland führte und den dann Liebe zur Natur und scharfe Beobachtungsgabe zu einem einzigartigen Kenner der Vogelwelt seiner Adoptivheimat machte, aber auch ein Zeichen zugleich, daß die dreifarbige Insel nicht nur ein Bollwerk deutscher Kriegsmacht sein soll, sondern auch eine Pflegestätte deutscher Wissenschaft in deutschem Meere!
Caligula und Tito.
(Schluß.)
Es giebt im Leben oft höchst seltsame Verkettungen der Dinge – drei Jahre lang hatte jetzt der Somaro Gula regelmäßig wie ein Uhrwerk und gesund wie ein Stein seine Arbeit gethan. Acht Tage etwa nach dem Antoniusfest ließ Gula sein Futter unberührt; betrübt, mit nach vorn herabhängenden Ohren und halb geschlossenen Augen stand er vor der Krippe; die Beine schienen ihm schwach, er legte sich. Oreste geriet in gewaltige Angst; sein Caligula war krank, darüber gab es keinen Zweifel. Er schüttete dem Tier ein halbes Liter Oel ein – das half nichts; er rannte zum Tierarzt – der kam und schüttelte den Kopf und verordnete noch mehr Oel. Als zwei Tage später Oreste frühmorgens in den Stall kam, hatte Gula die vier Beine von sich gestreckt und war tot. Orestes Verzweiflung kannte keine Grenzen. Er schloß sich in sein Stübchen ein und aß und trank nicht. Die unterlassene Segnung war an dem Tode seines Mulos schuld – das stand bei ihm außer Zweifel. Sein unsinniges Betragen hatte allerdings das Unglück herbeigeführt, aber ohne Beatricens Hinzuthun hätte er den Zorn des Priesters nicht auf sich gezogen. Freilich hatte sie ihren Spiegel verloren und den seinen gefunden, wie er nachher erfahren hatte. So war sie eigentlich doch nicht schuldig und er hatte sie grundlos beschimpft und an ihrem Tier seinen Zorn ausgelassen. Oreste weinte und schlug sich mit den Fäusten an die Stirn. Das half jedoch alles nichts, davon wurde der Esel nicht wieder lebendig. Oreste hatte seinen Beruf, sein Gewerbe, seinen Ernährer verloren! Was sollte er jetzt anfangen? Seine Tischlerei hatte er fast verlernt – wer würde auch einen so gänzlich ungeübten Gesellen annehmen. Er konnte jetzt als Tagelöhner arbeiten gehen, Steine tragen, Erde karren – Oreste rang die Hände und verließ sein Zimmer nicht. Endlich schritt die Behörde ein; sie schaffte den toten Maulesel fort, erbrach Orestes Zimmerthür, zog den jungen Mann heraus und nötigte ihn gewaltsam, Brot und Wein zu sich zu nehmen. Denn man wollte es schon der Fremden wegen in Nervi nicht haben, daß es heißen könnte, eines der Gemeindemitglieder wäre Hungers gestorben!
Um diese Zeit sandte eine Bewohnerin des Hotels d’Inglese, eine Amerikanerin, nach Bogliasco in Orestes Wohnung, um ihn und sein Maultier zu einem Ausflug zu bestellen. Diese Fremde war die beste Kundin Orestes. Fast jeden zweiten Tag bediente sie sich seines Tieres zum Ausreiten und er selbst mußte sie stets begleiten. Sie zahlte für den Ausflug jedesmal die doppelte Taxe. Die Leute hatten darüber schon zu reden begonnen – daraus machte sich jedoch die Amerikanerin nichts; sie genierte sich gar nicht, zu zeigen, daß ihr der schöne Italiener gefiel. Es schien fast, als ob nicht nur ihr Schönheitssinn durch Orestes specifisch italienische Erscheinung angezogen würde, sondern als ob ihr Herz dabei im Spiele wäre und sie eine wirkliche Leidenschaft für den schönen jungen Mann empfände. Oreste schmeichelten die Beweise von Freundlichkeit seitens der reichen Fremden, sie gab ihm guten Verdienst, persönlich fand er jedoch die nicht mehr junge Dame mit dem fahlbleichen Gesicht, den hellgrünen Augen und den aschblonden krausen Haaren abscheulich. Das hinderte ihn jedoch nicht, die freundlichen Blicke der Signora Grantly mit feurigem Aufschauen seiner schwarzen Augen zu erwidern.
Miß Grantly erhielt hinsichtlich ihres Antrages die Antwort, daß Orestes Maulesel tot sei, der junge Mann zu arm wäre, ein anderes Maultier sich anzuschaffen, und die Dame einen anderen Eselbesitzer bestellen möge. Die Amerikanerin zog es unter diesen Umständen vor, heute auf den Ausflug zu verzichten. Sie ging auf ihr Zimmer zurück und blieb dort wohl eine Stunde lang mit ihren Gedanken allein, dann kam sie wieder die Treppe herunter und hatte mit dem Gärtner des Hotels eine kurze Besprechung.
„Ich habe erfahren,“ begann Miß Grantly, welche gut italienisch sprach, die Unterredung, „daß dem armen Fremdenführer Oreste Lavigni in Bogliasco sein Maultier eingegangen ist und daß der junge Mann zu arm, ein neues zu kaufen. Der Mann thut mir leid, er ist ein intelligenter guter Führer, der dazu beigetragen hat, daß ich die Umgegend hier vortrefflich kennenlernte. Ich wünsche dem Manne ein neues Maultier zu schenken, jedoch auf solche Weise, daß er nicht erfährt, von wem er das Tier erhalten hat. Können Sie schnell ein Maultier beschaffen und es dem Manne womöglich heute nacht noch in seinen Stall führen, ohne daß er und andere es merken?“
Miß Grantly zog nach diesen Worten ein kleines wohlgefülltes Portefeuille aus ihrem rotsammetnen Ridicül.
Der Gärtner sann einen Augenblick nach und kraulte sich hinter dem Ohr.
„Sie erhalten fünfzig Lire Provision,“ fügte aufmunternd die Amerikanerin hinzu.
„Ja, das kann ich, Eccellenza,“ beeilte sich der Gärtner jetzt zu versichern.
„Gut, thun Sie es und machen Sie kein Aufhebens von der Sache,“ entschied Miß Grantly. „Hier sind fünfzig Lire für Sie und zwölfhundert für den Somaro, so viel kostet ja wohl ein gutes Tier – und entledigen Sie sich geschickt des Auftrags.“
Darauf nickte die amerikanische Dame dem Gärtner wohlwollend zu, spannte ihren Sonnenschirm auf und ging hinaus auf die Straße.
Der Gärtner lächelte verständnisvoll und steckte vorsichtig
[193][194] und bedächtig die Scheine ein. Er wußte, wo er für tausend Lire ein Prachtexemplar von Mulo sogleich erhalten konnte, nämlich bei Beatrice Foscetta. Das Mädchen hatte seit gestern bekannt werden lassen, daß sie ihr Anwesen in Nervi verkaufen und nach Genua zur Schwester ihrer Mutter ziehen wolle. Zu diesem plötzlichen Entschluß hatte sie das Gerede der Leute hinsichtlich des Vorfalls mit Oreste veranlaßt. Man hatte ihr direkt gesagt, daß eigentlich sie an der verweigerten Segnung Caligulas und dem darauf erfolgten Unglück Orestes schuld sei, weil sie den jungen Menschen durch ihren Stolz und ihr Benehmen halb verrückt gemacht habe. Und sie begegnete überall unfreundlichen Mienen. Die Leute nahmen ihr nicht die Milch ihrer Kühe, kein Gemüse, keine Citronen mehr ab. Das hatte sie gegen das ganze Städtchen aufgebracht; sie brauchte die Menschen hier nicht – das wollte sie zeigen! Schnell, wie das ihre Art war, hatte sie sich entschlossen, den Staub dieses Ortes, in welchem sie nichts als Unannehmlichkeiten und Trübsal erfuhr, von den Füßen zu schütteln. In Genua konnte sie auch arbeiten, ihre Tante polierte Silberwaren und verdiente damit zwei Lire jeden Tag – das war nicht schwer, das würde sie bald lernen. Sie hatte an die Verwandte geschrieben und die Antwort erhalten, daß diese sie aufnehmen wollte und ihr Arbeit verschaffen könnte. Oreste that ihr leid, aber weshalb hatte er seinen schönen Beruf vernachlässigt? Er war zu bequem dazu gewesen, ihn zu betreiben und jetzt hatte er die Folgen seiner Trägheit zu tragen! Sie fühlte sich völlig ohne Schuld bei diesen Vorfällen. „Oreste und immer Oreste!“ murmelte sie verdrossen. „O, wenn er ein anderer Mensch wäre! Er ist so schön und gescheiter und klüger als alle andern. Aber so – fort von hier, fort muß ich!“
Dem Gärtner war das Gerücht von Beatricens Absicht zu Ohren gekommen. Er ging jetzt zu dem Anwesen des Mädchens, und es gelang ihm nach einer Stunde Handelns, von der in Geschäften sehr kühlen und sehr zähen Beatrice ihren Dito für elfhundert Lire zu erwerben. Er machte mit ihr aus, das Tier am Abend abzuholen.
Während dieser Tage befand sich Oreste in einer sehr traurigen Lage. Essen mußte er wieder, das sah er ein, erspart hatte er in der guten Zeit nichts, da er die Neigung besaß, behaglich zu leben. Um nicht zu verhungern, übernahm der junge Mann Taglöhnerarbeit, jedoch nach einigen Tagen gab er das auf. Er mußte wie ein Pferd schaffen und verdiente kaum so viel, um satt zu werden! Oreste kam jetzt auf eine recht bittere Weise zu der Einsicht, daß es sehr thöricht von ihm gewesen war, seine ganze Existenz auf den Besitz des Maulesels zu gründen, und sehr unklug, seinen Beruf aufzugeben. Er faßte den Entschluß, sein Gewerbe wieder zu ergreifen und vorerst bescheiden in demselben wieder anzufangen, um sich allmählich darin hinaufzuarbeiten. Er wandte sich an einen kleinen Meister in dem Nachbarstädtchen Quinto, bei dem er früher, als er eben ausgelernt, schon einmal gearbeitet hatte, jedoch wollte dieser ihn nicht haben. Dann lief er drei Tage in Genua herum, ohne auch nur unter den bescheidensten Bedingungen Aufnahme bei irgend einem Meister zu finden. So kehrte er denn enttäuscht nach Nervi zurück, um dort, von der Not gedrängt, in den Schluchten von neuem Steine zu karren und Kies auf die Bergwege zu werfen, eine schwere Arbeit, die ihn gerade vor dem Verhungern schützte. Voll Reue und in bitterem Leid verbrachte Oreste diese beiden Wochen nach dem Tode seines Caligula. Eines Morgens jedoch – Oreste hatte sehr lange geschlafen, da er heute ohne Arbeit war – weckte den jungen Mann ein seltsames Scharren und Stampfen, das aus dem leeren Stalle kam, für den er zu seinem Unglück noch die Miete zu bezahlen hatte. Erregt sprang er von seinem dürftigen Lager auf und stürzte aus dem Zimmer zum Stalle. Jetzt vernahm er von dorther auch das Klirren einer Kette. Was konnte das zu bedeuten haben – wer mochte in dem Stalle sein? Geister lärmten doch nicht am hellen Tage! Der junge Mann riß die Stallthür auf und erblickte die wohlgenährte Rückseite eines schwarzgrauen Maulesels. Oreste trat an das Tier heran – sonderbar – es kam ihm bekannt vor. „Tito!“ rief er und der Maulesel wandte auf den Ruf ihm freundlich den Kopf zu.
„Tito, Tito, du bist es ja!“ stieß Oreste schluchzend hervor. „Ja, du bist es,“ und Oreste sank auf die Knie. „Sie hat dich hier hereingeführt, Beatrice, o Beatrice!“ rief der junge Mann unter Thränen der Rührung und der Glückseligkeit. „Sie will mich nicht im Unglück lassen! Sie hat mir den Maulesel geschenkt, sie liebt mich, trotz meiner Faulheit und Dummheit, trotzdem ich sie beleidigt habe und damals so grob war. O, geliebter Tito, sie liebt mich! Ja, sie ist lieb. Das beste Mädchen auf der Welt! Nun wird alles gut werden!“
Oreste sprang auf, kleidete sich in Hast an und eilte auf die Straße nach Nervi, Beatricens kleinem Gütchen zu. Als er, nur noch einige Häuser von dem Anlegeplatz am Municipio entfernt, die Hauptstraße entlang lief, fiel sein Blick in ein hohes halbdunkles Gewölbe, dessen Wände von zwei Reihen großer schwärzlicher Fässer eingesäumt waren; die Mitte des Raumes nahmen Tische ein, an denen Leute saßen und tranken. Es war dies die größte Weinhandlung und der besuchteste Weinschank für die Einwohner Nervis, und hier stand in ruhiger Unterhaltung mit dem Besitzer Beatrice. Oreste war wie in einem Rausche von Glückseligkeit. Er stürzte auf Beatrice zu, schloß sie in die Arme und rief. „O Dank, Geliebte, Dank! Du hast mich gerettet, du richtest mich wieder auf! Du hast ein großes Herz! Mein Zorn gegen dich war ja nur Liebe, nichts als Liebe!“
Beatrice war bei diesem plötzlichen Vorfall sprachlos vor Schreck und Ueberraschung, sie glaubte, der junge Mann sei wahnsinnig geworden. Schon öffnete sie den Mund zum Schreien und wollte Oreste zurückstoßen und sich flüchten, da sah sie seine Augen, die vor Glück und Seligkeit strahlten – das waren nicht die Augen eines Verrückten! Sie bemerkte weiter, daß Orestes Gesicht bleich und mager war und der Kummer in den wenigen Tagen eine tiefe Furche in die vor kurzem noch so blühenden Wangen gegraben hatte, und es ergriff sie ein schmerzliches Mitleid mit dem Manne, den sie nie aufgehört hatte zu lieben, und der sie so sichtlich so aus vollem Herzen wiederliebte. Es mußte etwas Außerordentliches sich ereignet haben! Vor allem kam es jetzt darauf an, diese absonderliche Scene zu beenden und die Sache vor den Leuten ins Heitere zu ziehen. „Geh,“ flüsterte sie dem jungen Manne hastig zu, „geh voraus zu meiner Wohnung, wir wollen dort sprechen!“ Und während Oreste diesem Wunsche folgte und fast taumelnd wie ein Traumwandler das Gewölbe verließ, sprach Beatrice lachend zu dem Besitzer: „Er ist, glaube ich, närrisch geworden, ich muß ihm den Kopf zurecht setzen.“ Sie lachte wieder auf eigene Weise und der Besitzer lachte auch und die anwesenden Gäste gleichfalls. Unter dieser allgemeinen Fröhlichkeit schied Beatrice aus der Cantina.
Eilig legte sie die kurze Strecke bis zu ihrer Behausung zurück. Dort stand schon Oreste an dem kleinen Ziehbrunnen unter dem großen Feigenbaum. Als er sie kommen sah, eilte er ihr mit einem Ausruf des Entzückens entgegen. Sie wehrte seine Umarmung ab, reichte dem jungen Mann die Hand, behielt sie in der ihren und begann schweratmend: „Jetzt sag’ mir aber, Oreste, was das nun wieder zu bedeuten hat und wofür du dich bei mir so unsinnig bedankst!“
„Was das zu bedeuten hat?“ wiederholte Oreste. „Und du fragst noch? Willst du leugnen, daß du mich wiederliebst, Beatrice? Hast du es mir denn nicht eben in großmütigster Weise gezeigt, Beatrice?“
„Daß ich dich gern habe, Oreste, ja, das ist ja kein Geheimnis, aber wodurch soll ich dies dir denn jetzt gezeigt haben?“ erkundigte sich das Mädchen, entschieden sehr wißbegierig.
„Hast du mir denn nicht deinen Tito in den Stall gestellt?“
„Ich?“ staunte Beatrice.
„Du nicht? Du nicht? Ach, leugne nicht! Wer hätte es denn sonst gethan?“
„Wie kann ich das wissen!“ erwiderte Beatrice stirnrunzelnd.
„Er kommt nicht von dir, Beatrice? Aber es ist ja doch dein Tito, und ich fand ihn heut’ morgen in meinem Stalle! Wer außer dir könnte ihn mir gesandt haben?“
„Ich habe ihn verkauft.“
„Du hast ihn verkauft?“ staunte Oreste – „an wen denn?“
„An den Gärtner vom Albergo Inglese.“
„An den Gärtner – vom Albergo Inglese – Ah, maledetto! So hat die alte gelbe Amerikanerin mir das Tier geschenkt!“ Und Oreste ward bleich und sein Gesicht verlängerte sich bedenklich.
„Ja, nun weißt du’s. Es ist die vornehme, häßliche Signora, die du immer so galant geführt hast – du wirst dich jetzt [195] bei ihr bedanken und aufs neue deine Promenaden mit ihr machen,“ rief nun Beatrice mit finsterem Blick und ihr Mund zog sich fest zusammen.
„Nein – ich werde ihr den Esel wiedergeben,“ sprach düster und entschlossen Oreste.
„Nein? Wirklich nein? Du willst ihren Esel nicht? Nun, dann, Oreste – dann wollen wir ihr den Esel zusammen zurückgeben,“ versetzte darauf Beatrice mit seltsamem Lächeln.
„Wir? Zusammen!“ rief Oreste jauchzend.
„Ja,“ erwiderte Beatrice ruhig. „Ich weiß, daß du mich liebst, und ich liebe dich ja auch und wenn du mir zuliebe früher deinem faulen Leben und dem Herausputzen für die Amerikanerinnen hättest entsagen können, wäre es schon längst anders.“
„Ich bin jetzt kuriert, Beatrice – ich bin jetzt kuriert,“ versicherte Oreste. „Ich habe ja einen halben Monat wie in der Hölle leiden müssen!“
„Nun, ich will’s glauben,“ sprach Beatrice. „Du wirst dir eine Werkstatt einrichten – das mußt du mir schwören bei dem heiligen Antonio, der uns so sichtlich in seinen Schutz genommen, und fleißig arbeiten!“
„Das will ich schwören,“ versicherte Oreste eifrig und Beatrice reichte ihm herzlich beide Hände und hatte nun nichts mehr dagegen, daß er sie in seine Arme schloß und küßte.
„Nun wollen wir aber der Amerikanerin ihren Esel bringen, jetzt gleich – ohne Verzug!“ erklärte Beatrice mit einem eigensinnigen Zug um den Mund.
„Ja, laß uns gehen!“ stimmte Oreste willig zu, und die beiden begaben sich wie Verlobte, eines den andern bei der Hand führend, nach der Hauptstraße hinunter und gingen so vereint nach Bogliasco.
Während dies geschah, hatte sich merkwürdigerweise das Gerücht von der sicheren Verlobung Orestes mit Beatrice wie ein Lauffeuer in ganz Nervi verbreitet. Ueberall erzählte man sich die sonderbare Mär, daß Oreste in die Cantina gestürzt sei und das Mädchen vor allen Leuten als seine Verlobte geküßt, Beatrice ihn aber keineswegs von sich gestoßen, sondern dazu fröhlich gelacht habe, ebenso die erstaunliche Nachricht, daß irgend jemand, der nicht bekannt werden wollte, durch den Gärtner vom Albergo Inglese Beatricens Maulesel gekauft und das Tier heimlich bei Nacht in Orestes Stall gebracht hätte.
Das Gerücht kam auch Miß Grantly zu Ohren. Die amerikanische Dame sah darauf einen Augenblick starr hinaus in die Ferne, dann verlangte sie ihre Rechnung, trat an das Plakat der Eisenbahnzüge im Hotelflur und bestellte zur sofortigen Abreise den Hotelwagen. Darauf ging die Miß in ihr Zimmer, packte mit ihrer Zofe schnell die Koffer und saß gerade in dem Schnellzuge nach Rom, als Oreste und Beatrice mit dem Esel vor dem Albergo anlangten. Auf ihre Frage nach der amerikanischen Dame erfuhren sie, daß dieselbe soeben überraschend schnell abgereist sei.
Beatrice sah Oreste an – dann lachte sie und sprach: „Nun denn – so behalten wir den Esel. Es wäre ja eigentlich auch dumm gewesen, der reichen Signora elfhundert Lire zu schenken. Wir können sie besser brauchen. Es sei unsere Mitgift, welche sie uns gegeben!“
Und Oreste beeilte sich, obwohl er noch nicht der Ehemann Beatricens war, auch hierzu „Ja“ zu sagen.
Skizze aus der modernen Technik. Von W. Berdrow.
[196] ( gemeinfrei ab 2025)
[198] Erster Textabschnitt: ( gemeinfrei ab 2025)
Vermißten-Liste der „Gartenlaube“. Indem wir uns anschicken, wiederum eine Fortsetzung unsrer Vermißten-Liste zu veröffentlichen, befinden wir uns in der glücklichen Lage, zuvor auch wieder eine Reihe Solcher namhaft zu machen, welche infolge unserer Vermittelung aufgefunden und, soweit dies möglich, dazu gebracht worden sind, den Verkehr mit ihren Lieben daheim wieder aufzunehmen.
Von dem Vater Max Knopfs erhielten wir eine dankerfüllte Zuschrift, in der er uns mitteilt, daß er seinen Sohn infolge der Veröffentlichung seines Aufrufs in der „Gartenlaube“ wiedergefunden habe.
Der Goldarbeiter Anton Leckel hat selbst seinen Wohnort angegeben und widerlegt die in unserem Aufruf von der Aufgeberin desselben betonte Vermutung, daß er „sich in Philadelphia und im Jahre 1894 in einem Irrenhause zu Chicago befunden habe“. Er weist durch eine Anzahl Zeugen nach, daß er in keiner der beiden Städte gewesen sei, sich also auch niemals in einer Anstalt dort befunden haben könne.
Johann Friedrich August Landau hat aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika seinem Bruder geschrieben.
Herr Schönherr dankt uns herzlich für die Veröffentlichung des Aufrufs in der „Gartenlaube“, infolge dessen sein Sohn Oswald bereits eine ganze Reihe von Briefen aus Cincinnati nach Hause gesandt hat.
Auch der Mutter des unter Nr. 389 unserer Vermißten-Liste gesuchten jungen Mannes konnten wir den Aufenthaltsort des letzteren nennen.
Ueber Franz Linus Lindner liegen aus Omaha nähere Nachrichten vor.
Ferner haben sich die Nachfragen nach den Schwestern Richter erledigt. Elisabeth ist im Jahre 1894 zu Santos in Brasilien gestorben, Babette lebt in Wien.
Frau Therese Schacherl spricht uns ihren tiefgefühlten Dank aus für die durch den Aufruf in der „Gartenlaube“ erzielte Auffindung ihrer Schwester Anna Germer in Amerika.
Bei Veröffentlichung dieser erfreulichen Ergebnisse können wir uns nicht versagen, allen denen nochmals herzlichst zu danken, die uns in unseren Nachforschungen nach den Verlorengeglaubten so bereitwillig unterstützt haben. Die nachstehende Fortsetzung unserer Vermißten-Liste empfehlen wir ebenfalls der freundlichen Beachtung unserer Leser und Leserinnen, damit es uns mit ihrer Hilfe gelingen möge, noch recht viele Verschollene wieder aufzufinden und in die Arme ihrer Angehörigen zurückzuführen.
398) Seit seiner letzten Nachricht vom 5. April 1890 aus Bremerhaven ist der Musiker Ernst Fridolin von Nessen, geb. am 19. Okt. 1869 zu Oberkatz in Sachsen-Meiningen, verschollen. Nessen war kurz vorher mit dem Dampfer „Preußen“ in Australien gewesen.
399) Von seiner Tochter gesucht wird der am 28. Aug. 1821 zu Klein-Latzkow bei Soldin geborene Arbeiter Friedrich Freiwaldt, welcher im Jahre 1885 nach Kanada auswanderte.
400) Der Handlungsgehilfe Franz Josef Eberhardt, geb. am 5. Febr. 1871 zu Görkau in Böhmen, hat seine Stelle in Wilhelmsburg bei Hamburg im Jahre 1891 aufgegeben und sich seitdem nicht mehr sehen lassen.
401) Von Hanau, wo er bis 1. Mai 1893 in Stellung war, soll sich der am 16. Dezember 1877 zu Erkshausen bei Kassel geborene Kellner Adam Nikolaus Knierim nach Frankfurt a. M. gewendet haben, wo er aber trotz aller Nachforschungen nicht aufzufinden war.
402) Der am 14. März 1864 geborene Landwirt Walter Erdmann [199] Koberstein schrieb zuletzt im Aug. 1889 aus Arthur in Dakota. Ein im Oktober desselben Jahres dorthin adressierter Brief kam als unbestellbar zurück.
403) Friedrich Wilhelm Wender, geb. am 26. Jan. 1869 zu Neustadt a. d. W. in Posen, seines Zeichens Schlossergeselle, war zuletzt, im Mai 1893, in Marburg a. d. Lahn thätig und ist dann auf die Wanderschaft gegangen. Wender ist von untersetztem kräftigen Körperbau, hat dunkelblondes Haar, dunkelgraue Augen und volles Gesicht.
404) Der aus der Türkei gebürtige Handelsmann Jakob Chaim Chichekin (auch Zissikin oder Sisikin genannt) wird von seiner Tochter gesucht. Im April 1890 schrieb Chichekin aus Hamburg, wo er im „Hotel Herbst“ wohnte.
405) Adam Schultheis, geb. am 19. Aug. 1866 zu Lauter b. Kissingen, ist, nachdem er sich in Hamburg als Heizer für den Dampfer „Herodot“ hat anmustern lassen, spurlos verschwunden. Seine hochbetagten Eltern bitten den Sohn, der im Groll von ihnen geschieden, herzlich um ein Lebenszeichen.
406) „In folternder Ungewißheit über das Schicksal ihres Sohnes“ ist die Mutter des Handarbeiters Friedrich Bruno Kurth, welcher am 10. März zu Zeunitz in Sachsen geboren wurde. Kurth ging im Dez. 1890 von Leipzig weg und schrieb später einen Brief an seinen Bruder. Dieser war aber inzwischen verstorben und so konnte das Schreiben nicht bestellt werden.
407) Eine andere alte Mutter bangt ebenfalls um ihren einzigen Sohn, den am 20. April 1856 zu Oberleutendorf in Oesterreich geborenen Sattler und Tapezierer Franz Göpfert, der im Jahre 1892 in Zürich weilte. Alle an ihn dorthin gerichteten Briefe blieben unbeantwortet.
408) Eine Schwester sucht ihren einzigen Bruder, den am 30. April 1877 zu Dittersbach bei Frauenstein in Sachsen geborenen Handarbeiter Karl Rudolf Pötzscher, welcher seit Juli 1894, zu welcher Zeit er aus Treptow an der Tollense schrieb, keine Kunde von sich gegeben hat.
409) Ernst Theodor Hermann Maudrich, geb. am 19. Juli 1874 zu Augustenburg auf der Insel Alsen, hat am 28. Febr. 1593 das Schiff „Isabel Browne“, auf dem er als Schiffsjunge diente, in Buenos-Aires verlassen und ist seitdem verschollen.
410) Im August 1893 schrieb der zu Wermsdorf in Sachsen am 4. Okt. 1875 geborene Tapezierer Hermann Emil Müller von Hamburg aus, daß er auf einem englischen Schiffe Dienst nehmen wolle. Seit dieser Zeit ist jede Nachricht von Müller ausgeblieben.
411) Von seiner Mutter wird gesucht der Arbeiter Johann Robert Mette, geb. den 21. April 1874 zu Ermsdorf in Sachsen, welcher im Mai 1894 aus Mecklenburg schrieb, daß er sich nach Hamburg und von da nach Amerika begeben wolle.
412) Am 6. April 1895 verschwand der Buchdrucker Joseph Roman Walter, der einzige Sohn seiner Eltern, der am 19. Juni 1875 zu Hasenpoth in Rußland geboren ist, aus Libau. Es wird vermutet, daß Walter nach New York ausgewandert ist.
413) Der Krämer Johann Peter Adolf Meyer, geb. zu Hamburg am 5. Okt. 1866, welcher im April 1887 zu Linares in Chile als Müller thätig war, wird von seiner Mutter um ein Lebenszeichen gebeten.
414) Die Schwestern Therese Stranski geb. Gärtner, Witwe eines Brünner Zuckerbäckers, und Marie Markl geb. Gärtner, deren Mann Förster war, werden um Nachricht ersucht.
415) Seit 3. Juni 1893 hat der Barbier Albert Barth, geb. zu Zehmitz bei Radegast in Anhalt am 21. Juli 1866, Radegast, wo er ein eigenes Geschäft besaß, verlassen und ist nicht wieder gesehen worden.
416) Am 2. Okt. 1885 hat sich der am 8. Febr. 1861 zu Chemnnitz geborene Stellmacher Friedrich Wilhelm Schwalbe aus dem Hauptmeldeamt zu Glauchau militärisch abgemeldet und ist seitdem verschwunden.
417) Von seinen Schwestern wird gesucht Balerian Schebenkoff (auch Schebenhoff), der am 18. April 1848 zu Arensburg auf der russ. Insel Oesel geboren ist und im Jahre 1865 als Matrose in die Fremde ging.
418) Am 16. Januar 1896 verließ der am 12. Mai 1861 zu Trebitsch, Reg.-Bez. Frankfurt a. d. O., geborene Sägemeister Eduard Oskar Georg Wolff die Stadt Winsen a. d. Luhe und ist seitdem verschollen. Er gab an, eine Geschäftsreise antreten zu wollen, und befand sich im Besitze guter Zeugnisse, eines Gebrauchsmusterschutzpapiers betreffs eines „Mehlganges“ nebst Zeichnung, einer Landkarte von Deutschland sowie eines Krankenkassenbuchs. Seine junge Frau teilt ihm mit, daß alles geordnet sei, und bittet ihn innigst, zu ihr und seinem Kindchen zurückzukommen.
419) Michael Ultsch, geb. am 7. April 1870 zu Bamberg (Bayern), wird seit April 1894, bis zu welcher Zeit er in einer Brauerei zu Brüssel in Stellung war, vermißt.
420) Von seinem alten Vater gesucht wird der Kaufm. Heinrich Jacob Johannes Ernst Krebs, der am 4. Juni 1847 zu Schleswig geboren ist. Zuletzt war er als Telegraphenbauarbeiter in Campinas (Brasil.) beschäftigt.
421) Andreas Jägeler, geb. 16. Jan. 1856 zu Großottersleben, welcher die Tischlerei erlernt bat, wird gebeten, seiner tiefbetrübten Mutter, die seit November 1893 aus Manchester keine Nachricht hat, seine jetzige Adresse mitzuteilen. Jägelers Vater ist verstorben.
422) Der Maurer Joseph Heun, der am 24. Febr. 1857 zu Lahr, Kreis Limburg, geboren ist, war im Dezember 1895 im Dienste des Pretoria-Freiwilligen-Korps, verließ dann aber Johannesburg (Süd-Afrika) und ist seitdem verschollen.
423) Von seiner hochbetagten Mutter wird gesucht der am 8. Mai 1860 zu Spich, Reg.-Bez. Köln, geborene Eisendreher Johann Langholz.
424) Der Kaufmann – vielleicht auch Sprachlehrer – Albin Amandus Müller aus Greiz i. B. geb. 6. Jan. 1861, hat im Mai 1881 von Galveston in Amerika seinen Angehörigen die letzte Nachricht zukommen lassen.
425) Von seinem Schwager um ein Lebenszeichen gebeten wird der Kutscher Joseph Galgalewiez, der am 19. März 1858 zu Groß-Lenka in Posen geboren wurde und sich zuletzt in Amerika aufgehalten haben soll.
426) Von seinen in großer Armut lebenden Eltern wird gesucht der frühere Matrose Franz Zeiler, geb. 29. Jan. 1868 zu Hirtenberg (Oesterr.), welcher seinen letzten Aeußerungen zufolge sich nach Chile begeben wollte.
427) Georg Mohr, Kellner aus Neustadt a. Aisch in Bayern, geb. 8. April 1866, ist Ende des Jahres 1888 von Dover abgereist, um nach Deutschland zurückzukehren, aber bei seiner Mutter nicht angekommen, welche in größter Besorgnis um das Schicksal ihres Sohnes lebt.
428) Der am 27. Januar 1860 zu Oppeln geborene Bootsmannsmaat Herrmann Gebler wurde im September 1887 aus der 1. Abteilung der II. Matrosen-Division in Wilhelmshaven entlassen und ließ sich dann in Hamburg auf dem englischen Schiff „Luitana“ anmustern. Seitdem ist von Gebler jede Nachricht ausgeblieben.
429) Ein fast erblindeter Vater wünscht sehnlichst, seinen Sohn „wiederzusehen“, den am 28. Nov. 1869 zu Leipzig-Eutritzsch geborenen Matrosen Ludwig Max Achilles, der am 30. Sept. 1892 von Bremen nach Bremerhaven abgereist, daselbst aber nicht angekommen zu sein scheint.
430) Ein Mutterherz ängstigt sich um das Schicksal des am 15. Febr. 1860 zu Altona geborenen Kellners Wilhelm Johann Christian Gäthje, der sich in Amerika aufhalten soll.
431) Der am 7. Dez. 1864 zu Leipzig geborene Seemann Carl Friedrich Paul Braun (auch Willy Brown genannt), fuhr im Herbst 1884 mit dem deutschen Dampfer „Saxonia“ nach Amerika. Im Hafen von Colon ist er vom Schiff weggeblieben und seitdem verschollen.
432) Ein Sohn sucht seinen Vater, den im Jahre 1849 zu Oberelsungen, Reg.-Bez. Cassel, geborenen Diener Wilhelm Zens, der im Jahre 1868 mit einer Herrschaft nach London zog.
433) Carl Bernhard Robert Bremer, geb. am 6. Juli 1861 zu Hamburg, seines Zeichens Maurermeister, hat seit seinem letzten Briefe vom Mai aus Melbourne in Australien nichts mehr von sich hören lassen.
434) Im Jahre 1893 oder 1894 fuhr der am 21. Okt. 1873 zu Arneburg, Kr. Stendal geborene Schreiber Karl Emil Ernst Ruzicka als Steward auf dem Schiff des Norddeutschen Lloyd „Pfalz“ nach Brasilien, verließ, dort angelangt, das Fahrzeug und hat sich nicht wieder blicken lassen.
435) Johannes Jacob Swane, geb. 14. Febr. 1842 zu Flensburg, wird von seiner Schwester um ein Lebenszeichen gebeten.
436) Seit 1891 ist der am 8. Sept.1871 zu Sarau, Kr. Schweidnitz, geborene Matrose Ludwig Maria Bernhard Seiffert verschollen.
437) Gustav Albin Hermann geb. am 20.März 1884 zu Auerhammer in Sachsen, seines Zeichens Holzbildhauer, wird von Mutter und Bruder gesucht.
438) Ludwig Heinrich Burkhard, geb. am 31. Dez. 1828 zu Auerbach i. Vogtl., ging in seinem 25. oder 26. Jahre nach Amsterdam, wo er als Soldat in holländische Dienste trat. Er hat seitdem nichts mehr von sich hören lassen.
439) Der Gerber Leopold Schröder, der im Jahre 1812 zu Friedland bei Königsberg geboren wurde, arbeitete 1860 noch in Wehlau. Er soll dann nach Rußland verzogen sein, sein Aufenthaltsort dort konnte aber bisher nicht ermittelt werden.
440) Der am 4. Jan. 1861 zu Leipzig geborene Kunstgärtner Ernst Georg Eschke, welcher sich im Jahre 1891 im Staat Mexiko aufhielt, wird vermißt. Die Erbschaft eines Onkels ist ihm zugefallen.
441) Der Kaufmann Fritz Obenhaus, geb. am 16. Dez.1864 zu Salzuflen, welcher seit einem Jahre von seiner Familie fern ist, wird ersucht, von sich hören zu lassen.
Oelmühle im Borghettothale bei Bordighera. (Zu dem Bilde S. 181.) „In einem kühlen Grunde –“ … auch die italienische Landschaft kennt Stimmungsbilder, welche dem so echt deutschen Lied vom rauschenden Mühlenrad entsprechen. H. Nestel führt uns ein solches in Frühlingsbeleuchtung vor. Dieser kühle Grund findet sich in den Bergen, die das Mittelmeer längs der berühmten Riviera säumen, er führt den Namen Val di Borghetto, nach einem kleinen Flecken benannt, und läuft an dem sehr malerischen Nestchen Vallebuona, der Deutsche würde Gutenthal sagen, vorüber. Daß wir in Italien sind, zeigt uns die Vegetation. Von den Palmen, von den Orangen- und Citronengärten Bordigheras kommen wir her, auf den Hügeln breiten die Blumen ihre Schirme, Oleander säumen die Bäche, der Duft des Ginsters, des Rosmarins, der Rauke und des Leutisens füllt die Luft. Was aber der ganzen Gegend ihren eigentlichen Charakter verleiht, das ist der silberblättrige Oelbaum. Zwei Drittel des gesamten Kulturlandes von Taggia bis Nizza sind mit Olivenbäumen bepflanzt. Ihre Kultur ersetzt in dieser Gegend die Getreidekultur, seit im 11. Jahrhundert der Oelbaum zuerst hier angepflanzt wurde und Oelmühlen errichtet wurden. Auch die Mühle im Borghettothal ist eine Oelmühle, sehr malerisch, aber sehr ursprünglich. Denn wenn man die edle Frucht auch heute nicht mehr in Säcke füllt, die man zwischen zwei Balken preßt, so ist ihre Behandlung, genau wie die der Traube in diesen weltfernen Orten, recht miserabel. Zur Reinigung wird das gewonnene Oel nur zu oft noch in Gruben (trogli) gefüllt, die im Grunde der Mühlen gegraben und mit Schiefer ausgemauert sind. Wer von diesem Oele essen muß, singt keine „Müllerlieder“ mehr, aber auch der Oelmüller ist ein klang- und poesieloser Mann, meist ein armer Teufel, Wie der Olivenbauer selber, der die eine Hälfte des Jahres in überschwenglichen Hoffnungen, die andere zumeist in Trauer über die nicht erfüllten verbringt. Bordighera, das einst Vorort der kleinen selbständigen Republik „Otto Luoghi“ war, zu der auch Borghetto und Vallebuona gehörten, ist dagegen durch seine Gartenkulturen berühmter. Man erzielt hier allein durch den Verkauf von österlichen Palmenzweigen einen Jahresgewinn von 60 000 Lire, aus den Veilchen- und Orangenblüten einen solchen von 20 000. Woldemar Kaden.
Ein Feinschmecker. (Zu dem Bilde S. 193) Der Kohl ist das Lieblingsfutter der Hasensippe. Der Lampe im Felde und das Kaninchen im Hofe fressen ihn über alles gern. Der kleine „Hans“ auf unserem Bilde, der Liebling der schmucken Gärtnerin, zeigt jedoch besondere
[200] Geschmackslaunen. Er läßt das saftige Kohlblatt, das ihm seine Herrin, vorhält, unbeachtet und beginnt an der Rose, die in ihrem Mieder steckt, herumzuknabbern. Der leckere Patron lebt im Ueberfluß und ist aus Uebersättigung zu einem Feinschmecker geworden. Es ergeht ihm just wie so vielen Menschen, die im Ueberfluß leben und, da sie keinen rechten Hunger spüren, sich das Naschen angewöhnen. Sie trinken und essen dann alles mögliche, Perlen in Essig aufgelöst und Veilchen und Rosen in Zucker. Glücklicher sind jedoch diejenigen, denen das Schicksal, freilich ohne sie in Notdurft zu versetzen, einen derben Strich durch die Feinschmeckerei macht; denn eine echte gesunde Lebensfreude blüht dem Menschen bei Brot und dem Hasen bei Kohl. Diese Weisheit scheint der Langohr auf unserm Bilde schon durch seinen Naturinstinkt herauszuwittern, denn während er noch an der Rose knabbert, schielt er schon mit dem einen Auge nach dem saftigen Kohlblatt hinüber. Es liegt also eine Moral auch in dieser dem Leben abgelauschten Tiergeschichte, die auf unserem Bild so ansprechend dargestellt ist. *
Ernst Keils Geburtshaus in Langensalza. (Mit Abbildung.) In dem ansehnlichen thüringer Städtchen Langensalza wurde am 6. Dezember 1816 Ernst Keil, der Begründer der „Gartenlaube“, als Sohn eines Gerichtsbeamten geboren. Wenn er auch seine Heimat frühzeitig verließ, um in Mühlhausen das Gymnasium zu besuchen und in Weimar den Buchhandel zu erlernen, hat er doch seiner Vaterstadt allezeit eine treue Anhänglichkeit bewahrt. Um das Andenken ihres hervorragenden Sohnes zu ehren, hat neuerdings die Stadt Langensalza an dem Hause, in dem Ernst Keils Wiege gestanden hatte, eine Gedächtnistafel anbringen lassen. Ihre Inschrift lautet:
des Redacteurs der Gartenlaube
Ernst Keil
* am 6. December 1816
† am 23. März 1878.
Unsere Abbildung stellt das Geburtshaus dar, wie es sich heute an der Marktstraße Langensalzas dem Auge des Beschauers darbietet. Der Laden im Erdgeschoß war ursprünglich nicht vorhanden, sonst hat das Haus noch genau dasselbe Aussehen wie zur Jugendzeit Ernst Keils.
Tramin. (Zu dem Bilde S. 197.) Den „Rheingau Tirols“ hat man mit Recht das herrliche Berggelände genannt, das im Süden von Bozen den steilen Felswänden des Mendelgebirgs in malerischer Reizesfülle vorgelagert ist und, von Burgen und Schlössern, Dörfern und ländlichen Herrensitzen übersät, seine Rebgelände, Maisfelder und Obstbaumhaine hinunter zur rauschenden Etsch sendet. Denn wie im Rheingau von allen Rheinweinen die köstlichsten gedeihen, so reifen auf den sonnigen Porphyrhängen jenes gesegneten Erdstrichs die edelsten Weine Tirols. Neben dem „Kalterer Seewein“, dessen liebliche Geburtsstätte den Lesern der „Gartenlaube“ ein Bild im vorigen Jahrgang, Seite 693, vorführte, ist es in erster Linie das Rebenblut des „Traminers“, dessen Duft und Feuer mit jedem neuen Herbst den alten Ruf der Gegend wahrt. Tramin liegt von den uralten Ortschaften des „Ueberetsch“ dem Fluß und der ihm entlang nach Trient führenden Eisenbahn am nächsten, zu Füßen des Mittelbergs, den der Monte Roën mächtig überragt, und eine Wegstunde unterhalb des von einem seiner Ausläufer verdeckten Kalterer Sees. Beim Dorfe Neumarkt ist die Haltestelle der Bahn für den noch eine Stunde seitwärts gelegenen Ort. Von alters her war das stattliche Dorf ein Hauptstapelplatz für den Weinhandel der Gegend. Und darauf beruht es wohl auch, daß gerade nach ihm eine Rebe benannt ist, die seit langem in vielen Gegenden Deutschlands und Oesterreichs heimisch ist und ihren Mutterboden gewiß in der Umgebung von Tramin gehabt hat, ohne doch mit dem Weine verwandt zu sein, der heutzutage in den Weinbergen von Tramin geerntet wird. In anderer Höhenlage, unweit davon, ist diese „Traminer Rebe“ zu Hause.
Wie auch die übrigen Ortschaften des Ueberetsch hat das liebliche Tramin, das nahe an 2000 Einwohner zählt, einen fast städtischen Charakter. Die Weinbauern, welche hier wohnen, erfreuen sich wahrer Herrensitze. Selbst den starken hellschimmernden Mauern, die an der Straße vor und hinter dem Dorf die fruchtbaren Rebgärten eingrenzen, merkt man den Reichtum an, welchen seit Jahrhunderten der Ort aus der Ernte seiner Reben zieht. Die Häuser am Marktplatz sind kleine Paläste mit schönen schmiedeeisernen Balkonen und hohen Thorgewölben. Ihre Bauart ist schon ganz italienisch; der schlanke gotische Glockenturm mit seinen romanischen Schallöffnungen, die Fensterkonstruktion der Häuser mit den vorgewölbten Eisengittern, die steinernen Portale vor den Gärten, aus denen sich über Lorbeer- und Olivenbüschen Cypressen und Pinien erheben – all dies versetzt uns nach Italien. Und italienisch ist auch das Klima, dessen Gunst der Traminer sein berühmtes Feuer zu danken hat. Die Bewohner von Tramin jedoch sind Deutsche; deutsch klingt das Geplauder der waschenden Mägde vor den großen steinernen Brunnen und die kräftige Rede der Fuhrknechte und Küfer, die vor dem und jenem Haus an den rinderbespannten Lastwagen um die Verladung mächtiger Weinfässer besorgt sind. Heinrich Noë, der jüngst verstorbene vortreffliche Kenner der Schönheiten Tirols wie seiner Weine, faßt diesen Eindruck in die Worte zusammen: „Aus unserer Staatengeschichte haben wir, uneingedenk unserer Ahnen, die Empfindung in uns aufgenommen, daß wir ein nordisches oder wenigstens transalpines Volk seien. Wir fühlen uns fremd in der Nähe von Oelbäumen. – Hier aber wird die Muttersprache noch immer im Schatten des Feigengeästs, des Lorbeers, des Oelbaums, der Myrte und der Pinie gesprochen.“ Freilich ist die italienische Sprachgrenze nicht weit. Schon die nächste Station der Südtiroler Eisenbahn, Salurn, ist das letzte der deutschredenden Dörfer. Und auch die prächtige Alpenstraße, die sich hoch oben hinter dem Monte Roën vom Ueberetsch zum Mendelpaß emporwindet, führt in Thäler mit bereits welscher Bevölkerung. Im Etschthal selbst ist aber die Sprachgrenze wenigstens keine Weingrenze! Und auch jenseit der ersteren wachsen Reben, die von einem so patriotisch fühlenden Kenner wie Heinrich Noë, selbst neben dem „Traminer“, höchsten Preises wert gefunden wurden. P.
Polizeiliche Begleitung der Eisenbahnzüge. Auf den ersten deutschen Eisenbahnen war die Begleitung durch Eisenbahnpolizisten allgemein üblich. So auf der Leipzig-Dresdner Bahn, der Berlin-Leipziger Bahn u. a. Der § 5 der Dienstinstruktion für die Polizisten der Bahn Berlin-Leipzig lautete wie folgt: „Der polizeiliche Begleitbeamte hat sich eine Stunde vor der Abfahrt des zu begleitenden Wagenzuges auf dem Bahnhofe einzufinden, um die zur Mitreise eintreffenden Personen zu beobachten und diejenigen nach ihrer Reiselegitimation zu fragen, bei denen er solches zu bezweifeln irgend eine genügende Veranlassung zu haben glaubt.“ Das waren die Zeiten des allgemeinen Paßzwanges in Deutschland.
In dem konservativen Spanien ist diese bei uns längst abgeschaffte Einrichtung noch in vollem Schwange. Kein Zug wird dort abgelassen, der nicht von zwei bewaffneten Gendarmen (guardia civil) begleitet wäre. Ihnen ist die Ueberwachung des Zuges und die Aufrechterhaltung der Ordnung in den Stationen aufgetragen, und ihr Dienst ist regelrecht durch Ablösung geordnet. Der Anblick dieser durchweg hochgewachsenen, prächtigen und äußerst sorgfältig uniformierten Männer erweckt in dem Fremden, wie ein neuerer Reisender schreibt, besonderes Vertrauen. – Der eigentliche Zweck dieser Einrichtung mag den Spaniern wohl die Bekämpfung des früher dort eingerissenen Räuberunwesens gewesen sein.
Inhalt: Trotzige Herzen. Roman von W. Heimburg (11. Fortsetzung). S. 181. – Oelmühle im Borghettothale bei Bordighera. Bild. S. 181. – Ein Festtag in Inner-Indien. Von Dr. K. Boeck. S. 183. Mit Abbildungen S. 184 und 185, 188, 189, 190 und 191. – Die Vogelwarte Helgoland. Von Dr. Kurt Lampert. S. 191. Mit dem Bildnis von Heinrich Gätke S. 192. – Caligula und Tito. Novelle von H. Rosenthal-Bonin (Schluß). S. 192. – Ein Feinschmecker, Bild. S. 193. – Die Industrie der Lebenslust. Skizze aus der modernen Technik. Von W. Berdrow. S. 195. – Tramin. Bild. S. 197. – Blätter und Blüten: Vermißten-Liste der „Gartenlaube“. S. 198 – Oelmühle im Borghettothale bei Bordighera. Von Woldemar Kaden. S. 199. (Zu dem Bilde. S. 181.) – Ein Feinschmecker. S. 199. (Zu dem Bilde S. 193.) – Ernst Keils Geburtshaus in Langensalza. Mit Abbildung. S. 200. – Tramin. S. 200. (Zu dem Bilde S. 197.) Polizeiliche Begleitung der Eisenbahnzüge. S. 200.
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