Die Gartenlaube (1897)/Heft 13

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1897
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Nr. 13.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.

Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.
Trotzige Herzen.
Roman von W. Heimburg.

(12. Fortsetzung.)

Der Mai ging vollends vorüber, wunderbar schön mit seinen Blütendüften, seinen warmen, dunklen vom Gesange der Nachtigallen durchtönten Nächten. Sie schlugen so laut und sehnsüchtig, daß der Mann da oben auf seinem Lager, neben dem das Bettchen des Kindes stand, nicht schlafen konnte, und daß, wenn er endlich schlief, allerhand süße liebliche Träume über ihn kamen, die er einst wachend hatte erleben wollen.

Auch im Garten der Oberförsterei sangen sie in langgezogenen schmelzenden Tönen, die Nachtigallen, dicht vor Hedwig Kerkows Stube in den Haselnußsträuchern. Die Kinder nebenan schliefen süß und fest, aber sie wachte und saß halbe Nächte am Fenster und dachte an Heinz da droben und weinte um ihn, und wußte gar nicht, daß sie auch über sich selbst weinte in unruhigem nicht verstandenem Leid. Auch heute wieder erging es ihr so, zwei Tage vor dem Musikfeste, das bereits die ganze Stadt in Aufregung hielt. Eigentlich war es ja thöricht, daß sie weinte, sie konnte damit Heinzens Schicksal nicht ändern, und sie selbst – sie hatte es doch eigentlich recht gut getroffen im Leben, sie hatte ein Heim, eine Stellung, in der sie absolute Freiheit genoß; der Hausherr begegnete ihr mit derselben achtungsvollen Herzlichkeit, mit der er sie am ersten Tage ihres Eintritts empfangen. Ein- bis zweimal hatte er auch ein paar verlegene Dankesworte für sie gehabt, damals, als sie die Kinder Tag und Nacht pflegte während der bösen Scharlachepidemie. Nur ein Gemurmel war’s gewesen, ein


Die Gruppe Markgraf Ottos I. Für die Siegesallee in Berlin.
Nach dem Entwurf von Professor Max Unger.

[202] Händedruck, aber die Augen waren ihm feucht dabei geworden. Im übrigen glich er einem Automaten und saß drüben in seinem Bau, wie er scherzweise seine Stube nannte, nach wie vor allein. Nur so gegen Abend, in der Dämmerung, kam er herüber in das Wohnzimmer, setzte sich still in eine Ecke des Sofas und lauschte dem Klavierspiel Hedwigs. Sie war keine Virtuosin, sie klimperte eigentlich nur, aber ihr Anschlag war weich und zart, und die Stimmen der Kinder jubelten so hell und frisch, und der weiche Alt des Mädchens klang anmutig dazwischen, wenn sie die alten Volkslieder sangen, die er schon von seiner Mutter gehört, den „Jäger aus Kurpfalz“, den „schönen grünen Jungfernkranz“ und „Ueber der Heide schimmert es rot“.

Noch bevor die letzten Töne verhallten, pflegte er wieder zu verschwinden. So lebte er dahin, schien nichts zu vermissen und zufrieden zu sein in diesen wunderlich stillen Gewohnheiten. Und wenn ihm Hede des Morgens heimlich nachblickte, wie er, die Büchse über der Schulter, in den Forst schritt, so aufrecht und kernig wie die Eichen im Walde oder Schlag, auf die er so stolz war, dann mußte sie ihn unwillkürlich mit Heinz vergleichen, den die letzten Jahre gebeugt hatten, als stehe er bereits an der Schwelle des Alters – armer Heinz!

Hede ging selten hinauf; zwischen ihr und der Schwägerin und Tante Gruber hatte sich das Verhältnis in nichts gebessert. Er war ihr eine Qual, dieser Besuch, wenn er einmal sein mußte, zu seinem Geburtstage, oder dem des kleinen Heini. Sie kam immer todunglücklich zurück und brauchte Tage, um sich zu beruhigen. In der Stadt war die unglückliche Ehe das Gespräch aller bösen Zungen, männlichen und weiblichen Geschlechts. Infolgedessen hatte sich Hede, die anfänglich, durch Heinz und den Oberförster veranlaßt, bei einigen Damen – der Superintendentin, der Frau Oberamtmann und Frau Medizinalrat – verkehrte, ganz zurückgezogen. Nur zu der letzteren pflegte sie mitunter einmal hinüberzuhuschen ;die Frau erregte ihr Interesse, sie war so vorsündflutlich und so originell in ihren Urteilen und Ansichten, und sie trug an irgend einem schweren Kummer. Sie wirtschaftete dabei emsig in dem schmucken Häuschen, und wenn sie unten fertig war, fing sie oben wieder an und war nicht zufrieden, wenn sie das heimlich lachende kleine Dienstmädchen nicht ausschelten konnte.

Frau Rat hielt noch immer mit Vorliebe Mädchen, die letzte Ostern konfirmiert worden waren, diese das Wirtschaften zu lehren auf eine so energische Art, daß den armen Dingern vor Angst die Augen übergingen, sie umher zu jagen, daß sie „Schuh und Pantoffel verloren“, das gehörte zur Lebenslust für sie. Wenn sie von ihrer Tochter sprach, dann seufzte sie. „Ach Gott, das ist doch kein Leben für ein richtiges Frauenzimmer,“ hatte sie erst vor kurzem zu Hedwig gesagt, „den ganzen Morgen Singübungen und wieder Singübungen machen, und selbst beim Ausruhn noch Lungengymnastik treiben, wie sie’s nennen, und mittags sich halb satt essen und abends in die Fleischerläden gehen und ein viertel Pfund Aufschnitt kaufen, wie sie schreiben – o lieber Gott, man sah’s ja auch; als sie im letzten Sommer uns besuchte, war sie ganz abgemagert.“

Auch heute früh war Hede drüben gewesen und Frau Rat hatte gerade toller im Hause umhergescholten als je; aber in ihrem Gesicht lag so etwas Eigenes, die vollen Wangen waren ganz blaß, um den Mund zuckte es; sie stand vor dem Wäscheschrank und suchte ihre feinsten Leinenbezüge, ihre schönsten Damastgedecke aus.

„Sie müssen entschuldigen, Fräulein von Kerkow,“ sagte sie zu Hede, „um sieben Uhr können sie schon hier sein, die Aenne und die Emilie, und bis dahin giebt’s noch massenhaft zu thun. Das alberne Ding, die Line, kann ja nicht einmal eine Taube rupfen und so was Dummes von Benehmen beim Spargelstechen hab’ ich noch nicht gesehen! Und glauben Sie wohl, daß sie imstande ist, eine Guirlande zu winden? – Alles muß man selbst machen. Aber gehen Sie nur ein bißchen hinein zu meinem Mann, der liest die Festzeitung, da steht ganz was Großmächtiges drin über die Aenne!“

„Frau Rätin, das kann ich zu Hause lesen, jetzt helfe ich Ihnen Kränze winden,“ sagte Hedwig. „Wo ist das Grün? Wo sind die Blumen?“ Und es dauerte nicht lange, da saß sie draußen vor dem Küchenfenster auf der Bank und wand eine Guirlande aus dunklen Tannenreisern mit zartgrünen Spitzen, und die roten Päonien drin nahmen sich aus wie die herrlichsten Rosen. Vor ihr aber stand der alte Medizinalrat und hinter ihr schaute die Frau Rat aus dem Küchenfenster, und hinter jener wieder lauschte das „Ostermädchen“, denn der Herr las aus der Zeitung vor. Hede wußte noch jedes Wort, obgleich nach den meisten Sätzen ein Räuspern und Schlucken in der Kehle des alten Herrn gewesen war und obgleich die Frau hinter ihr alle Augenblicke die Nase schneuzte und bei allzu begeisterten Ausdrücken sagte. „Nun – nun, May!“ – Worauf er antwortete: „Ich hab’s doch nicht geschrieben, Mutter!“

Ein Stern am Himmel der Kunst wurde sie genannt, eine Sängerin, der eine verheißungsvolle Zukunft winke. Ihre tiefe Auffassung, ihre Innigkeit, die Klangfülle der Stimme seien einzig, und man bedaure nur, daß das junge Mädchen eigensinnig darauf beharre, die Bretter, die die Welt bedeuten, nicht zu betreten. Es sei doch gewiß phänomenal, daß eine unbekannte Konservatoristin mit einem ersten Auftreten solchen Sturm der Begeisterung erregt habe, und man hoffe bestimmt, daß es den Ueberredungen des Intendanten einer unserer ersten Hofbühnen gelingen werde, sie zur Bühnenlaufbahn zu bewegen.

Sie waren dann alle Drei stumm geworden nur der Herr Rat hatte nach einigen Minuten gesagt: „Und das ist unsere Aenne – Alte – unsere Aenne!“ Die Mutter aber fand keine Antwort, sie zog sich still weinend vom Küchenfenster zurück.

Und Hedwig hatte den ganzen Tag an dieses Mädchen gedacht, der das Schicksal so Herrliches in den Schoß geworfen, ein großes Talent, Jugend und Schönheit. Lieber Gott, wenn sie jetzt hier lebte als Günthers Weib – eine Nachtigall im Käfig!

Nun war sie wohl schon angekommen im Vaterhause und schlief in ihrem kleinen Mädchenstübchen den süßen Schlummer ihrer Kindertage. – Ob sie an den Mann dachte, dem sie ihr Wort gebrochen hatte?

Ach, Aenne schlief so wenig wie Hedwig Kerkow und wie Heinz neben dem Bettchen des Kindes. Auch sie stand am Fenster, und ihre Augen hingen am Schlosse droben wie gebannt. Sie war heimgekommen mit einer ganzen Last von Glück, mehr als sie zu hoffen gewagt; noch faßte sie es selber nicht, noch lehnten sich ihr Zartsinn, ihre Bescheidenheit förmlich auf gegen die Lobposaunenklänge, die ihr von überall entgegentönten, und in dieser Stille, in dem Zauber der Abgeschiedenheit meinte sie, es sei alles ein Traum und sie stehe hier wie damals, in der einzigen glücklichen Zeit ihres Lebens, und schaue nach dem Lichtlein empor, das ihres Daseins Stern bedeutet hatte.

Ach ja, sie war nicht imstande gewesen, das zu vergessen, immer und überall hatte die Erinnerung daran sie verfolgt. Der dumpfe Schmerz zwar war milder geworden da draußen in der Fremde, im heißen Ringen nach dem großen Ziel, aber er brannte stetig fort, sie fühlte ihn beständig. Wie mochte es Heinz ergehen? Und ob sie ihn hier wohl einmal sehen würde?

Erst gegen Morgen schlief sie ein und war doch vor Tau und Tag wieder munter, und als vor ihrem Fenster die heimatliche Welt im lachenden Frühsonnenschein lag, so grün, so frisch, so lieb und vertraut – als die herrliche erquickende Bergluft sie so wohlig umfächelte, wie sie den Kopf hervorstreckte, da hielt sie es nicht länger, sie zog ihr graues einfaches Reisekleidchen an, setzte den alten Gartenhut, der noch von damals hier hing, auf das eilig frisierte Haar und schlüpfte aus dem Hause in den Schloßgarten hinüber. Und hier schritt sie in die alten abgeschiedenen dämmerigen Gänge hinein, die sie so geliebt, auf denen sie ihre jungen seligen Liebesgedanken und dann ihren Gram spazieren geführt; die Wege am Wildgatter hin, auf denen sie mit Jeannette Hochleitner gewandert war, um von der Kunst zu reden.

Sie war im Umsehen drüben an den Stallgebäuden vorbeigeschritten und nun stand sie tiefatmend in der dämmerigen, berühmten Lindenallee des herzoglichen Gartens. Ach, das war schön – das war schön daheim! Und so einsam, so köstlich einsam! Wie hatte sie bei ihrem angestrengten Leben in Dresden den Umgang mit der Natur vermißt, wie hatte sie den Waldesodem entbehrt droben im vierten Stockwerk der Christianstraße! Und da war noch die beste Luft, da kam sie vom „Großen Garten“ herüber, und im Frühjahr brachte der Wind wirklich zuweilen einen schwachen Hauch von Syringenduft mit, der sie dann fast krank machte vor [203] Heimweh. Ja, schwere Jahre hatte sie hinter sich, die kleine Aenne May! Oftmals war es knapp, ganz knapp bei ihnen zugegangen da droben in der Mansarde, denn Tantens Kapitalien und ihre geringe Witwenpension wollten sich der Großstadt doch nicht ganz gewachsen zeigen, und Aenne war doch recht sehr an die Fleischtöpfe der guten Mutter gewöhnt, ihr junger, ungeduldiger Magen mußte ebenso entsagen lernen wie ihr Herz. Aber geschadet hatte es ihr nichts! Sie war noch gewachsen, sie trug ihre schöne Figur kraftvoll aufrecht, und wenn auch das Gesicht nicht mehr so kinderhaft gerundet erschien, so war es dafür desto edler und reizvoller geworden. Und der Medizinalrat hatte recht, als er zu seiner Frau sagte: „Ist bildhübsch geworden, die Aenne – schlägt meiner seligen Mutter nach, Alte!“

Die „Alte“ gab das gutmütig lächelnd zu. Von ihr hatte Aenne allerdings die Reize nicht, von der kleinen, kugelrunden, etwas stumpfnäsigen Frau Rat.

Und Aenne schritt dahin und nickte jedem Baume zu, den Linden, den Rotbuchen den Hängeweiden am Teich. Das zahme Reh kam wie sonst auf ihr Rufen heran. „Liese, bist du’s denn wirklich noch?“ fragte sie gerührt, als das Tier sie anblickte aus den braunen, zutraulichen Augen. Alles wie sonst, und so schön, so schön!

„Morgen bringe ich dir etwas mit“, sagte sie laut, „und deinem Hans auch. Lebt denn dein Hans noch? Und wo sind denn deine Kinder?“ Aber Liese sah sie nur stumm und groß an.

Ach ja, sie hätte immer fragen mögen, wie ist’s euch ergangen seither und – habt ihr den Heinz nicht gesehen, den Heinz Kerkow? Aber nach ihm wagte sie niemand auszuforschen. Mitunter hatte sie auf den Rand ihrer Briefe an die Eltern, einem mächtigen Drange nachgebend, gekritzelt, „Wie geht es denn eigentlich den Kerkows? Sind sie noch in Breitenfels?“ Aber sie hatte sich nicht entschließen können, diese Briefe abzusenden, hatte die Stelle entweder so gründlich ausgestrichen, daß keiner auch nur einen Buchstaben hätte entziffern können, oder hatte das Streifchen abgeschnitten. Geschrieben hatte ihr niemand über Heinz, über ihn nicht und über Günther nicht. Als sie vor drei Jahren, das einzige Mal während ihres Studiums, hier war in der Weihnachtszeit, hatte sie wohl von ihm sprechen hören, damals war er also noch dagewesen. Sie hatte auch erfahren, daß Hedwig Kerkow die Hausdame des Oberförsters geworden sei, gesehen hatte sie weder den einen noch den andern, und sich näher nach Heinz zu erkundigen, das litt ihr trotziges Herz nicht.

Es wurde ihr plötzlich heiß, sie nahm den Hut vom Kopfe und ging, ihn lässig in der Hand haltend, gesenkten Hauptes weiter. Auf den weiten Rasenflächen hatte man das erste Gras geschnitten, wunderbar harmonierte der Duft mit der ganzen Frühlingsstimmung. So war sie, ohne acht darauf zu haben, zum Luisenschlößchen emporgestiegen und wollte, wie sonst, daran vorüberschreiten, um in den Weg zu gelangen, der an der äußersten Grenze des Parkes hinlief. Da blieb sie verwundert stehen. Der alte, halbzerfallene Bau war renoviert, frisch gestrichen, schaute er gar schmuck aus den dunklen Tannen heraus, die ihn im Halbkreise umstanden. Das Erdgeschoß schien bewohnt, es leuchteten schneeweiße Gardinen hinter den kleinen Scheiben der hohen Fenster. Ein Frauenkopf erschien dort einen Augenblick, Aenne flüchtig musternd, sonst auch hier alles spukhaft still. Ueber den frisch abgeschütteten Kiesplatz lief eine schmale Räderspur und verlor sich nach dem Garten zu, der, durch ein ganz neues Gitter eingefriedet, erst neuerdings geschaffen sein mußte, als Haus- und Privatgärtchen der Schloßbewohner.

Aenne ging der Räderspur nach und lugte über das Staket. Unter der großen Buche, die eine neugezimmerte Laube in der rechten Ecke des Gartens beschirmte, stand das Wägelchen, dessen Spur sie gefolgt, eigentlich ein fahrbares Krankenbettchen, ein kleiner Sonnenschirm ohne Stiel hing darüber. Aus den weißen Kissen aber sah ein gelbliches Kindergesicht, um das sich goldblonde, weiche, seidige Härchen krausten. Zur Seite kniete eine Person, die dem kranken Geschöpfchen eine Tasse schäumiger Milch an die Lippen hielt. Die Finger des Kinderhändchens, welche die Tasse hielten, waren unheimlich abgezehrt und durchsichtig.

„Nun, wird’s bald, Heini?“ fragte die rotbackige Person barsch, „man bekommt ja blaue Flecke von dem ewigen Knieen.“

Das Kind hörte sofort auf zu trinken, schob die Hände der Wärterin mitsamt der Tasse zurück und drehte das Gesicht auf die andere Seite, ein armes, blasses, geduldiges Kindergesicht. Aenne sah, wie sich die Person erhob, und hörte, wie sie schalt. Dummer Junge, wenn du nicht so ein erbärmliches Häufchen Unglück wärst, kriegtest du ordentliche Fingerklapse, abscheulicher Bengel du!“

Aenne fühlte, wie ihr das Blut zu Kopfe stieg. Sie war im nächsten Augenblick im Garten und stand wie hingezaubert vor dem erschreckten Mädchen. „Wem gehört das Kind?“ stieß sie hervor, entschlossen, es den Eltern mitzuteilen, wie der kranke Liebling behandelt werde in ihrer Abwesenheit. Sie nahm bestimmt an, daß das Kind irgend einer Berliner oder Magdeburger Familie gehöre, die der schönen Luft wegen mit dem kleinen Patienten Breitenfels aufgesucht haben.

Die Person antwortete nicht, halb trotzig, halb verlegen schaute sie die schöne Dame an, die da so strafend vor ihr stand.

„Wie heißt du denn, mein Kleiner?“ fragte Aenne, sich zu dem Kinde niederbeugend. „Wohnst du denn hier?“ Und sie strich über die goldigen Härchen.

„Heini Kerkow,“ sagte das Kind, und als Aennes Hand zuckte, fragte es. „Hast du dir wehgethan!“ „Nein!“ antwortete sie mit versagender Stimme und kniete neben dem Wagen. „Nein, Heini!“

„Und warum weinst du denn?“ forschte das Kind weiter.

„Ich weine ja nicht, mein lieber Junge, ich freue mich, dich zu sehen. Soll ich dir jetzt deine Milch geben?“

„Ja!“ antwortete der Kleine.

Sie befahl, den Becher frisch zu füllen, stützte das matte Köpfchen und ließ ihn trinken. Ganz langsam, in kleinen Schlückchen nippte das Kind und Aenne kämpfte mit ihrer Erschütterung. – Das war Heinz Kerkows Kind!

„Danke!“ sagte der kleine Bursche endlich ganz artig und blickte sie aus den unnatürlich großen Augen an, wie verwundert ob dieser Freundlichkeit.

„Heinichen muß jetzt nach Hause,“ erklärte die Wärterin, rot vor Aerger, und trat hinter den Wagen, „sein Papa kommt uns alle Morgen bis zur steinernen Bank entgegen. Er ängstigt sich, wenn wir nicht pünktlich sind.“

„Adieu, mein lieber Junge!“ sagte Aenne weich, und noch vor dem Gefährt verließ sie den Garten. Ihr war auf einmal, als sei der Himmel nicht mehr so blau, die Sonne nicht mehr so golden angesichts dieses Leids. Ihre innige Heimatsfreude, ihre jubelnde Dankbarkeit war verschwunden, ihr rosiges Gesicht erblaßt. Ihre Augen sahen wie fragend in die grüne Wirrnis – warum läßt Gott es zu, daß in dieser herrlichen, frühlingsseligen Welt ein armes unschuldiges Geschöpf so leidet?“ sprach es aus ihnen.

Und dann stockte ihr Fuß. Sie war so hastig weiter geschritten, daß sie gar nicht gemerkt hatte, wie sie schon in um mittelbarer Nähe des „Theepavillons“ stand. Das kleine, aus Brettern im japanischen Stil geformte Häuschen, das ganz am Ende des Parkes lag, verdankte sein Entstehen und seinen Namen dem verstorbenen Herzog, der im Beginn seiner Krankheit hier in der Einsamkeit stundenlang zu weilen pflegte. Das Innere der Hütte barg damals in einem Wandschränkchen die Gerätschaften und Ingredienzien zur Herstellung einer Tasse Thee, die der Herzog sich selbst zubereitete. Als diese Marotte einer andern wich, veränderte das zierliche Tempelchen mit seinem seltsam geschweiften Dache, und außer einem Gartenarbeiter, der vielleicht seine Mittagsruhe darin hielt, besuchte es sonst höchstens noch Aenne gelegentlich ihres Umherstreifens.

Heute klangen Stimmen heraus. Ein mißmutiges. „Gut, wir werden ja sehen – Adieu!’ und aus der Thür flog wie ein Schmetterling eine zierliche, kleine Frauengestalt in lichtblauem Kleide und lief, den abwärts führenden Pfad hinunter, dem Teiche zu. Die Sonnenstrahlen huschten über das flachsblonde, zu einem Knoten am Hinterkopf aufgesteckte Haar, dies ausdruckslose Haar, das Aenne so genau kannte, das sie zuletzt unter dem bräutlichen Schleier schimmern sah, als Heinz Kerkow Hochzeit hielt.

„Toni Ribbeneck – Toni Kerkow!“ flüsterten ihre Lippen.

Und hinter dieser Frau trat, noch immer lachend und den Schnurrbart streichend, ein blonder Offizier heraus und schritt ihr langsam nach. Er trug den Ueberrock, hatte die Mütze schief

[204]

Schlimme Gäste.
Nach dem Gemälde von Ed. Grützner.

[205] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [206] aufgesetzt wie ein Ulanenoffizier die Czapka und schwenkte eine Reitpeitsche in der Hand.

Aenne starrte ihm nach wie entgeistert, die ausgestreckte Hand gegen den Stamm einer Buche gestemmt. Hatte sie denn recht gesehen? Und plötzlich überflutete eine Purpurröte ihr Gesicht, sie raffte den Hut, der ihr entfallen, von der Erde auf und schritt in entgegengesetzter Richtung davon, hastig, als sei in der Nähe des kleinen Pavillons die Luft verpestet. Erst als sie den Schloßplatz betrat, als sie die Fenster ihres Vaterhauses erblickte, wich das Gefühl von Ekel und Beschämung, das sich ihrer bemächtigt hatte. Aber sie sah noch ganz elend aus, nun sie die Eßstube betrat, in der eben die Mutter den Kaffeetisch deckte, über dessen Geräte die Sonnenstrahlen golden spielten, die durch die jungen Blätter der Kastanien blitzten.

Tante Emilie stand am offenen Fenster und fütterte die Hühner; sie hatte das Vergnügen so lange entbehren müssen.

„Da ist sie schon wieder im Park umhergerannt,“ knurrte Frau Rat und schnitt den Napfkuchen an, der für Aenne gebacken war. „Kriege ich einen Kuß – oder nicht?“

„Zwei, Mütterchen! Siehst du, ich hatte so große Sehnsucht nach dem alten Garten.“

„Der ist der alte geblieben,“ sagte die Rätin, „aber sonst ist vieles anders geworden.

„Wie geht’s denn Kerkow?“ fragte sie leise und sah dabei Tante Emilie an, die eben die letzten Brocken dem Hühnervolk zuwarf.

„Kerkow?“ Frau Rat zuckte die Achseln, ordnete noch ein wenig die Tassen und fügte dann hinzu. „Ist ein hochmütiger Simpel geworden nach außen und – –“ „Und?“ fragte Aenne.

„Und daheim ist er Kindermädchen.“

„Hat er mehrere Kinder?“

„Zum Glück nur eins, das Krüppelchen, das sein Elend der eignen Mutter zu verdanken hat.“

Aenne atmete auf. Gottlob, das arme kleine Geschöpf hatte wenigstens einen Vater, der es liebte! Und sie setzte sich schweigend an den alten Familientisch.“

„Armer Heinz!“ klang es in ihrer Seele, „armer Heinz!“


Frau von Kerkow war in sommerlicher Gesellschaftstoilette, der Wagen stand vor der Thür, sie wartete nur noch auf Frau von Gruber. Das große Konzert des Sängerfestes in der benachbarten preußischen Kreisstadt Brendenburg sollte heute abend stattfinden. Natürlich hatte Heinz ihre Aufforderung, sie zu begleiten, einfach abgelehnt, ohne irgend welchen Grund anzugeben, die Familie Arnstein hatte Trauer bekommen – und so war die junge Frau genötigt gewesen, sich nach einer andern Beschützerin umzusehen, denn es schickte sich natürlich nicht, daß sie allein mit Lieutenant Grellert drei Meilen über Land fuhr und mit ihm bei nachtschlafender Zeit zurückkehrte! Es war ja nun einmal so in dieser albernen, verklatschten Welt! Toni von Kerkow hatte also die Tante Gruber mit allen Ueberredungskünsten bestürmt, die sie für diesen ihren brennendsten Wunsch nur erdenken konnte.

Die alte Dame hegte begründete Bedenken ihrer Gesundheit halber, aber sie wichen endlich dem Schmeicheln der jungen Frau. Toni von Kerkow richtete eigenhändig die Toilette des lieben Tantchens her, drängte ihr einen Spitzensonnenschirm auf, den sie im vorigen Sommer getragen, und sagte zu Ende der Besprechung noch, indem sie die letzten Stiche an dem Faconhütchen der Tante machte. „Nun, und sieh’ ’mal, wenn es dir ja zu anstrengend werden sollte, so fährst du früher wieder heim, Grellert und ich werden schon irgend eine Gelegenheit zur Rückfahrt finden, schlimmstenfalls mit einem Mietswagen. Es ist ja nur, daß diese braven Spießbürgerinnen, diese Klatschtanten – die Frau Oberamtmann, die Medizinalrätin und die Superintendentin – mich nicht solo mit Grellert abfahren sehen, sie machten sicher einen großartigen Skandal daraus zurecht das Nachhausekommen sieht ja keine von ihnen.

Frau von Gruber hatte ob dieser etwas zweifelhaften Auseinandersetzung eine spitze Nase bekommen und sich scharf geräuspert, aber die junge Frau war lächelnd und mit einer Kußhand aus dem Zimmer geeilt, und die pensionierte Hofdame hatte ihre Sittenpredigt nicht mehr zu den Ohren der leichtlebigen Nichte bringen können. –

Es war ein heißer Frühsommernachmittag, gegen fünf Uhr. Toni von Kerkow hatte am Fenster gestanden und alle die herrschaftlichen Wagen gezählt, die bereits die Chaussee hinabfuhren. Oberamtsmann und Superintendent im Break zusammen, und die pensionierten Offiziersfamilien im langen Omnibus des Hotels: Mays in einem Landauer. Natürlich fuhr heute die ganze Familie May, da die Tochter die große Solopartie zu singen hatte. – Wo nur Tante blieb, oder vielmehr Tantens Jungfer, die melden sollte, daß die alte Dame bereit sei? Von dem Jungen und ihrem Manne hatte Toni bereits nach Tische Abschied genommen. Heinz saß nun in seiner Eigenschaft als Bonne wieder irgendwo im Park mit dem Kind. – Nun, wenn es ihm Spaß machte!

Sie seufzte tief und runzelte die Stirn – es war zum Verzweifeln, an diesen Mann gekettet zu sein!

Endlich pochte es, die Jungfer der alten Hofdame trat ein. „Gnädige Frau lassen bitten, Frau von Kerkow möchten nicht böse sein, aber es sei ihr unmöglich, mitzufahren. Gnädige Frau haben eben einen Ohnmachtsanfall gehabt, wahrscheinlich infolge der Hitze.“

Toni sah plötzlich ganz blaß aus. „Friedrich soll den Herrn Schloßhauptmann suchen,“ befahl sie dann, „und sagen Sie meiner Tante, daß ich sehr bedauere, und ich lasse gute Besserung wünschen. Pflegen Sie Ihre Dame gut, ich kann leider nicht mehr persönlich nachsehen. Es hat doch wohl nichts auf sich?“

„Nur der alte Gesichtsschmerz, aber stärker, gnädige Frau,“ antwortete das alte Mädchen, mit dem spitzen, ewig griesgrämigen Gesicht.

„Sagen Sie Friedrich nur, er solle sich beeilen; der Herr wird in der Nähe des kleinen Pavillons sitzen mit Heini.“

Heinz trat nach wenigen Minuten wirklich ein. Toni stand in der Mitte des Zimmers neben einem zierlichen Tischchen, auf dem sich eine Glasschale mit weißen Rosen befand. Das Dämmerlicht, das durch die halb geschlossenen Jalousien fiel, hatte eine grünlich kalte Färbung, und Heinz, der soeben aus dem strahlenden goldigen Sommersonnenschein kam, war wie geblendet, und das erregte Gesicht seiner in blaßlila Foulard gekleideten Frau entging ihm dadurch.

„Wünschst du noch etwas?“ fragte er in seiner müden Art.

„Ja,“ sagte sie. „Du mußt mich begleiten nach Brendenburg, ich bitte dich, beeile deine Toilette, sonst versäumen wir den Anfang des Konzertes.

„Ich muß dich begleiten? Warum denn?“ „Weil ich nicht allein fahren kann mit Lieutenant Grellert.“ „Hattest du denn beabsichtigt, ihn in deinem Wagen mitzunehmen? Davon wußte ich nichts!“

„Das hast du natürlich wieder vergessen!“ „Du warst ja dabei vor ein paar Tagen, als ich ihn aufforderte dazu. Na, kurz und gut, Tante ist krank geworden, und aus diesem Grunde bitte ich dich, daß du mitkommst, das ist doch schrecklich einfach!“ „Ich fahre nicht mit,“ sagte er ruhig. „Wenn es durchaus sein muß, daß du dabei bist, so laß Hedwig bitten, dich zu begleiten; am richtigsten finde ich aber, du bleibst zu Hause. Heini gefällt mir heute nicht, er fiebert entschieden, und da auch Tante krank ist, wie du sagst, so – –“

„So werde ich allein mit Grellert fahren“ unterbrach sie Heinz, nahm ihren Sonnenschirm vom Tische sowie ein paar Marschall Niel-Rosen und trat vor einen in der Ecke angebrachten riesigen Spiegel, als prüfte sie noch einmal ihre Toilette. Heinz sah, wie die seidene Schleife, mit der ihr Capothütchen zur Seite des Kinnes geknüpft war, bebte, wie ihre Finger zitterten als sie die Rosen in den Gürtel zu stecken bemüht war. „Das wirst du nicht!“ sagte er ruhig.

Sie fuhr herum wie von einer Schlange gebissen „Ich würde nicht – nicht thun dürfen, was ich will? Du erlaubst dir, mir zu verbieten – –“

„Ja, ich verbiete dir, in Begleitung des Lieutenants Grellert nach Brendenburg zu fahren.“

Sie lachte kurz auf und ihre Augen funkelten ihn an.

„Solange du noch meine Frau bist, verbiete ich es dir, ich habe nicht Lust, die lächerliche Rolle eines hintergangenen Ehemanns zu spielen.“

[207] „Solange ich noch deine Frau bin“ stieß sie hervor.

Er nickte und drückte den Knopf der elektrischen Klingel neben der Thür.

Sie legte plötzlich den Sonnenschirm wieder auf den Tisch. „Wie interessant! Willst du mir nicht erklären“, sagte sie schrill. „Gleich! Ich möchte nur Friedrich erst abfertigen.“

Der Genannte stand bereits an der Portière.

„Suchen Sie den Lieutenant Grellert auf und bestellen Sie ihm, ich lasse bitten, der Herr Lieutenant möge sich unseres Wagens bedienen, die gnädige Frau sei verhindert, mitzufahren, wegen Unpäßlichkeit der Frau von Gruber und weil der Kleine fiebert.

(Fortsetzung folgt.)


Die Wiederbelebung Händelscher Tonwerke.

Mit den Bildnissen von Friedrich Chrysander und Hermann Kretzschmar.

Im verwichenen Winter haben in Leipzig zu besonders festlichen Gelegenheiten – am Erinnerungstag der Völkerschlacht und zur Feier der Gründung des Deutschen Reichs – zwei glänzend ins Werk gesetzte Konzertaufführungen stattgefunden, denen in doppelter Hinsicht eine historische Bedeutung innewohnte. Es handelte sich in beiden Fällen um Oratorien Georg Friedrich Händels, die trotz ihrer Schönheiten und packenden Eigenschaften schon längst aus dem Bereich der Kirchenemporen und Konzertsäle geschwunden waren, denen aber neuerdings der hochverdiente Händelbiograph und Händelforscher Chrysander eine Bearbeitung zu teil werden ließ, welche durch künstlerische pietätvolle Anpassung an den fortgeschrittenen Geschmack ihre Wiederbelebung bezweckte.

Der außerordentlich günstige Erfolg, welchen am 18. Oktober Händels „Deborah“ und am 17. Januar Händels „Herakles“ bei diesen Aufführungen fanden, hat überzeugend dargethan, daß diese Neugestaltung älterer Händelscher Oratorien durch Chrysander einen hocherfreulichen Gewinn für unser gesamtes Musikleben bedeutet. Schon sind inzwischen andere Städte dem Beispiele gefolgt und für Leipzig selbst ist im Werke, alljährlich aus dem Stadttheater zwei weitere dieser Bearbeitungen, sogar mit scenischer Darstellung, dem Publikum vorzuführen. So dürften jene beiden Konzerte, die durch den Riedelschen Chorverein unter Leitung von Hermann Kretzschmar und in Anwesenheit Chrysanders stattfanden, im Zusammenhang mit den Bemühungen in anderen deutschen Städten, wie Mainz, Hamburg, München, den Beginn einer neuen Aera in der Pflege von Händels Genius darstellen. Denn es ist zweifellos zu erwarten, daß diese sich auch anderwärts nun nicht mehr auf die Aufführung seiner allergrößten und machtvollsten Werke und jener kleineren Stücke beschränken wird, die schon immer einen festen Bestand in den Programmen unserer Kirchenkonzerte gebildet haben.

Friedrich Chrysander.

Friedrich Chrysander aber, der heute im 70. Lebensjahr stehende Bearbeiter dieser Oratorien, sieht mit diesen Erfolgen sein ganzes Lebenswerk aufs schönste gekrönt. War doch all sein Streben und Schaffen von Beginn an dem Einen Händel geweiht, dem gewaltigen Tonschöpfer, der neben seinem Zeitgenossen Johann Sebastian Bach das Höchste in den Formen der Kirchenmusik hervorgebracht und es wie keiner verstanden hat, dem Oratorium einen wahrhaft dramatischen Inhalt zu geben! Vor vierzig Jahren ließ Chrysander den ersten Band seiner grundlegenden und tiefgründigen Biographie des großen Hallenser Komponisten erscheinen und noch immer ist er mit dem Abschluß derselben nachdem jüngst auch die erste Hälfte des dritten Bandes vollendet wurde, beschäftigt. Mit einer Hingebung sondergleichen ist er mit scharfblickenden Forscheraugen den vielverschlungenen Lebenspfaden Händels gefolgt, hat er ihn auf die Bahnen des Triumphes begleitet, die ihn von seiner bescheidenen Geigerstelle in Hamburg bereits als Jüngling auf die Dirigentenpulte der ersten Bühnen Italiens führten und später in London unter aufreibenden Kämpfen zu einer so herrschenden Stellung als Opern- und Oratorienkomponist, wie sie kein anderer Tonkünstler im 18. Jahrhundert eingenommen hat. Neben dieser biographischen Arbeit Chrysanders ist aber seit 1856 eine andere langwierige Unternehmung einhergegangen, die das gleiche Ziel wie jene auf anderem Wege erstrebte. Um eine monumentale Gesamtausgabe der Werke Händels ins Leben zu rufen, brachte er es zur Gründung der „Deutschen Händelgesellschaft“, als deren Willensvollstrecker er dann die Redaktion der sämtlichen 98 Bände jener Ausgabe besorgte, die bis jetzt von ihr vorliegen. Als eine klassische Musterleistung, die der deutschen Wissenschaftlichkeit zur höchsten Ehre gereicht, wird diese Händelausgabe Chrysanders von allen Kennern bewundert. Aber das in seiner Biographie und in dieser Ausgabe für Händel Geleistete genügte seiner Begeisterung noch nicht. Zwei Denkmale, dauernder als Erz, hat er in ihnen geschaffen, aber wie diese nur dem Zweck dienen sollten, Händel und sein Werk zur vollen Geltung zu bringen, so drängte es ihn, noch unmittelbarer das musikalische Leben der Gegenwart in diesem Sinn zu beeinflussen. Ueber seinem Studium Händels gelangte Chrysander zu einer umfassenden Einsicht in die Schönheitswelt der Händelschen Werke, in die Gesetze und Geheimnisse seines Schaffens und gewann die Ueberzeugung, daß gar manches herrliche Werk des Meisters, das bisher für veraltet galt, leicht so eingerichtet werden könnte, um in voller Frische und Lebensfülle auch auf das heutige Geschlecht zu wirken. Aus dieser Ueberzeugung entsprangen die fein abgewogenen Bearbeitungen von Oratorien wie die obengenannten, welche ihre Wirkungskraft in den Leipziger Konzerten so vorzüglich bewährten.

Hermann Kretzschmar.

Wir haben diese Gelegenheit wahrgenommen, den begeisterungsvollen siegreichen „Händelianer“ den Lesern der „Gartenlaube“ im Bilde vorzuführen. Friedrich Chrysander ist ein geborner Mecklenburger. Am 8. Juli 1826 kam er in Lübtheen zur Welt. Er studierte in Rostock Philosophie und widmete sich nach bestandenem Universitätsexamen bald ganz der Musikwissenschaft. Von besonderem Einfluß auf seine Händelstudien wurde sein Verkehr mit Gervinus, dem gelehrten Litteraturforscher in Heidelberg, dessen Werk „Händel und Shakespeare“ auf ihn einen bestimmenden Eindruck machte. Bei Gründung der Händelgesellschaft und Inangriffnahme der Händelausgabe gewann er auch Gervinus dazu, für diese die Uebersetzung eines großen Teils der Werke zu übernehmen. Als seine Händelforschungen Chrysander nach England führten, ward der Kultus, dessen sich dort Händel erfreut, weil die Engländer in dem bei ihnen zu Ruhm und Stellung Gelangten den größten „englischen“ Komponisten feiern, zu einem weiteren Ansporn für ihn das Verständnis Händels in dessen wirklicher Heimat nach Kräften zu beleben. Nachdem er die Redaktion der Händelausgabe übernommen, siedelte er sich in Bergedorf bei Hamburg an und gründete hier, einem anderen Zuge seiner Natur folgend, die großen Handelsgärtnereien, deren Aufblühen ihn in den Stand setzte, im übrigen unabhängig seiner Muße und der Muse Händels zu leben. Um Notenstich und Druck der Ausgabe bis ins kleinste überwachen zu können, errichtete er dort neben seinen Treibhäusern eigens eine Druckerei, aus welcher dann Band für Band in klassischer Vollendung hervorging. So hat er meist in stiller Zurückgezogenheit gelebt, und nur selten ist er einmal an die Oeffentlichkeit getreten, wie jetzt bei dem freudigen Anlaß, den die Aufführungen der „Deborah“ und des „Herakles“ ihm boten.

Daß es aber zu diesen Aufführungen gekommen ist mit so herrlichem Gelingen, ist der Thatkraft des Nachfolgers von Karl Riedel an der Spitze des Riedelvereins, dem Professor Hermann Kretzschmar zu danken. Dieser Verein, dessen Kirchenkonzerte schon seit Jahrzehnten dem Leipziger Publikum die herrlichsten Meisterwerke der kirchlichen Tonkunst mustergültig vorführen, hat freilich schon unter seines Gründers Leitung sein höchstes Streben auch an Werke Händels gesetzt. Hermann Kretzschmar ist tapfer und siegreich in diesen Bahnen weitergeschritten und hat jetzt durch den glänzenden Erfolg von „Deborah“ und „Herakles“ dem Verein darin neuen Rubin erworben. Er ist ein Kind des Sächsischen Erzgebirges. Der Geist seiner Vorfahren, die seit 1620 nachweisbar schlichte Kantoren waren, hat sich auf ihn vererbt. Schon mit 22 Jahren wurde er Lehrer am Leipziger Konservatorium, das er vorher als Schüler besucht hatte. Gleichzeitig übernahm er die Leitung des Bachvereins, der Singakademie, des „Ossian“ und der „Euterpe“. Nachdem er zehn Jahre in Rostock Universitäts- und städtischer Musikdirektor gewesen war, kam er 1887 nach Leipzig zurück, um als Nachfolger Langers Dirigent des „Paulus“ zu werden. Hier rief er dann die „Akademischen Orchesterkonzerte“ ins Leben, die er im gleichen Geist wie den berühmten Chorverein leitete, dessen Direktion ihm 1888 zufiel. Auch in anderen führenden Stellungen weiß er den alten Ruhm Leipzigs als Musikstadt zu wahren. Zu seinem neuesten Unternehmen aber dürfen wir ihn um so mehr beglückwünschen, als die begeisterte Aufnahme der Konzerte durch Tausende von Zuhörern dem Hoffen und Streben Chrysanders so völlig recht gegeben hat. Johannes Kleinpaul.     

[208]

Ertappt.

Skizze aus Tirol von Karl Wolf-Meran.
(Mit dem nebenstehendem Bilde.)

Die zwei Reichenhofer Buben, die hatten die Lustigkeit gepachtet.

So sagten die Leute weitum und sie hatten nicht gerade unrecht. Ein kernfrischer Bub’ und ein lebfrisches Diendl, denen ist’s die höchste Lustigkeit, wenn es tanzerisch hergeht. Und das verstanden die zwei Reichenhofer anzurichten.

Beim „Hirschen“ drunten, die große Stube, das war schon ein förmlicher Tanzsaal. Kamen dann am Sonntagnachmittag die zwei Burschen daher, so setzten sie sich ruhig hinter den großen Tisch in der Ecke und mit freundlichem Gruß stellte ihnen die Kellnerin zwei Maßkrüge Bier vor. Erst schob nun der eine und dann der andere mit freundlichem Nicken den Krug der Kellnerin hin; die that Bescheid und wischte sich mit dem Rücken der Hand den Mund.

Die übrigen Burschen aber und auch die Diendlen begannen alsbald die Stühle und Bänke hinauszutragen, was oft nicht ohne Zank mit jenen Gästen abging, die gerne weiter behaglich und ruhig hinter dem Tische gesessen wären. Die Kellnerin füllte sich einen großen Trichter mit Wasser, verhielt mit dem Zeigefinger die halbe Oeffnung unten am Auslauf und besprengte den staubigen Stubenboden.

Nach all diesen Vorbereitungen langte der ältere Reichenhofer eine kleine siebensaitige Zither hervor und stellte sie handgerecht vor sich auf den Tisch. Der jüngere aber wickelte aus seinem Taschentuche hinter dem Leibgurt einen „Maulhobel“, wie sie bei uns die Mundharmonika nennen, und der Zitherspieler stimmte mit einigen wenigen Griffen sein Instrument.

Dann begannen die beiden zusammen zu spielen, erst leise und zart, wie zwei Vögelein, welche ihre Kameraden und Kameradinnen anlocken wollen. Schöne alte Liederweisen, künstlich verschlungene und verzwickte Ländler, wie Jodler aus weiter Ferne, ließ da die Mundharmonika erklingen, und lustig begleitete die Zither. Hei, wie begannen da die Augen der Burschen zu leuchten, den Diendlen klopfte das Herz bis zum Halse hinauf, man konnte es am Zittern der Sträußchen bemerken, welche sie hinter das Mieder gesteckt hatten.

Die Reichenhofer waren nie zu bewegen, sofort mit der Tanzmusik zu beginnen. „Sell taugt nit,“ sagte immer der ältere der zwei Brüder. „D’ Musi is wie a Feuer. Stell’ a Haferl kräftige Supp’ auf ’n Dreifuß übers Feuer und lang glei eini mit’n Löff’l. Kuan Rachn und kuan Gschmachn! Wenn’s aber aufkocht hat ’s Süpperl, Mandl, zelm ist ’s guat! D’ Musi muß an Menschen erst beim Herz packen, ’s Bluat muß rebellerisch werden, nachher taugt sie erst zum Tanz.“

„Mei Diendl is herzi,
Ihr Aeugerl so blau,
Mi machts fölli narrisch
Dös tiafschichti Gschau.“

So spielten die zwei Bauernmusikanten leise und nun fiel die Zither in das allbekannte Lied ein.

„Diendl kumm’ her zu miar,
Laß di hals’n
Es klingt so heut fast gar schiar
A Musi zum walz’n!“

Da jauchzte der Schilfer Toni hell auf. Seinen Hut drehte er keck herum, daß die Feder vorne stand, als ging’s zum Kampfe. Mit zierlichen Walzerschritten schleifte er durch die Stube, schnalzte und klatschte mit den Händen nach der Melodie der Tanzweise. Schmeichelnd und werbend tänzelte er vor dem Stuhle, auf welchem des Försters Lenerl saß und lächelnd dem Treiben des schmucken Burschen zusah. Endlich stand auch das Diendl auf, die Tanzlust leuchtete ihr schon längst aus den Augen. Schelmisch stützte sie die rechte Hand auf die volle Hüfte und walzte hinein mitten in die Stube. Toni folgte. So oft er seine Tänzerin fassen wollte, wußte sie ihm zu entschlüpfen. Da machte er immer neue Kunststücke. Förmliche Weisen und Melodien schnalzte und klatschte er mit seinen Händen auf Schenkel und Waden. Mit kraftvollem Sprung schoß er in die Höhe, so daß er mit seinen flachen Händen selbst auf die Schuhsohlen schlagen konnte, und ein heller Jauchzer begleitete jedesmal dieses Kunststück.

Endlich wurde auch die Tänzerin nachgiebig. Lächelnd reichte sie ihrem Partner beide Hände und in kunstvollen Verschlingungen tanzten die beiden weiter. Ein guter Schuhplattler weiß es aber so einzurichten, daß die letzte Verschlingung mit seiner Tänzerin eine so innige wird, daß er völlig Aug’ in Aug’ mit ihr zu stehen kommt. Ein herzhafter Kuß ist zumeist der Schluß. So geschah es auch hier. Dem Lenerl war der Ausgang nicht unerwünscht, denn sie war dem Schilfer Toni von Herzen zugethan.

Auch der Förster hatte nichts dagegen einzuwenden, der Toni war einer der reichsten Bauernsöhne im Thal und der alte Schilferbauer hatte sich erst im vergangenen Jahre ein recht nettes Ausgedinghäuserl erbaut am Rande des schönen Buchenwaldes.

Schmunzelnd strich er sich, an der Thüre des Herrenstüberl lehnend, mit der Pfeifenspitze den Schnurrbart links und rechts auseinander, als sich das Paar näherte: „Bist schon ein fixer Plattler, Toni,“ lobte er, „und an Eifer hast gehabt, i hab’ frei gmeint, beiß’n willst sie, die Leni, zum Schluß.“

„Aber geht’s,“ Vater, wehrte tief errötend das Mädchen ab. „Jetzt, Toni, kumm einer,“ lud der Förster den Tänzer seiner Tochter ein, „kumm einer und ruh’ di aus bei einer frischen Maß!“

Das war nun für den Bauernburschen eine besondere Ehre, in das Herrenstüberl gerufen zu werden. Sowie er sich gegen die Thüre wendete, erblickte er, beim Ofen sitzend, den sogenannten „Kragler“, einen übelberüchtigten Menschen. Den Namen hatte er, weil es allgemein bekannt war, daß er dem Wild mit Schlingen nachstellte. Trotz solcher mit aller Bestimmtheit auftauchenden Gerüchte war es aber dem Forstpersonale nie gelungen, den alten Spitzbuben auf frischer That zu erwischen.

Einmal war er ertappt worden, als er eine frische Rehdecke zum Verkauf anbot. Flugs waren die Jäger zur Hand und stolz führten sie den Kragler durch das Dorf in die Stadt, um ihn den Gerichten zu überliefern. Mit schlauem Schmunzeln erklärte er dort, die Decke habe er auf des Försters Dachboden gestohlen. Als sich die Richtigkeit dieser Angabe herausstellte, wurde er zu drei Wochen verurteilt, welche Strafe er mit der Bemerkung annahm: „Schau, schau, wia dös taugt! Der Natzer Luis, a Dokter, wia ös kein habt in der Stadt, hat g’meint, mein gichtig’s Knie a drei Wöchlen rasten sollt’s halt können! Und jetzt hab i sie, die drei Wöchlen.“

Der Kragler, schon ein älterer Mann mit einer Glatze, zumeist in verschlissenen Kleidern herumgehend, zwinkerte dem Toni mit einem Auge zu und deutete mit seiner Pfeifenspitze über seinen Rücken. Der Toni bemerkte es recht gut, verzog aber keine Miene. Auch der Förster hatte seinen alten Feind bemerkt und fluchte in den Bart über den Halunken. –

Gar manches Tänzlein wurde noch gemacht und des Försters Lenerl war überglücklich, denn der Toni hatte nur für sie Aug’ und Ohr und sie wurde darob nicht wenig beneidet. – – – – – – – – – – – – – – –

Der Förster und der Forstwart schritten durch den Wald. „Jetzt laß mi mit Ruh’!“ ruft der Alte. „Kuan Wort will i mehr hören, hast mi verstanden? Ist schon döcht aus der Weis’, was a eifersüchtiger Mensch nit alles für Geister und G’spenster sieht.“

„Mein’twegen“, brummt der Forstwart, „i hab’ do recht. Der Kragler und der Schilfer Toni sein zwei feine. Aber i kumm’ ihnen no auf die Schlich’, sell schwör’ i! Bin nit umsonst Nacht für Nacht draußt g’leg’n im Forst, wie a fauler Baumstrunk hinten am Fels’n. Nit umsonst hab’ i den Schilfer Toni und den Kragler nit lei oanmal ausg’macht. In der Schwarzschlucht, nachher drobnet bei die Salzlecken und oanmal drunt bei die fünf Birk’n, nit unweit von dem Kragler seiner Hütt’n. Forstmeister, i warn di!“

[209]

Ertappt.
Nach einem Gemälde von M. Corregio.

[210] „Kreuzmillion und no a nettliche tausend Teufel, jetzt laß mi mit Ruah,“ fluchte der Förster, ernstlich erzürnt. – – – –

Ein herrlicher Frühmorgen war es. Der Förster zog in bester Laune durch den Wald. Der Hund suchte links und rechts den Weg ab und sein Herr hing gar angenehmen Gedanken nach. Die Geschichte mit dem Schilfer Toni und seinem Lenerl schien sich ganz ernstlich anzulassen. Er war oft zur Försterei gekommen und der alte Schilfer hatte auch einmal beim Wirt die Bemerkung fallen lassen, daß es ihm schon recht wär’, wenn er bald ausrasten könnt’. Und dann, wenn sein Lenerl einmal Großbäurin wär’, dann wollte er jede Woche ein- oder zweimal – – da fiel ein Schuß. Ein Ruck, und das Gewehr war zum Gebrauch in der Hand. Waldele, der Hund, streckte die Rute wagerecht aus und windete. Schritt für Schritt rückte der Förster vor.

Sorgfältig vermied er jedes dürre Holz auf dem Boden, jeden Stein. Endlich sah er zwischen den mächtigen Buchenstämmen hindurch zwei Gestalten. Der eine der Burschen, welcher eben damit beschäftigt war, einen ziemlich starken Hirsch aufzubrechen, konnte niemand anders sein als der Kragler. Ganz deutlich sah er den kahlen Schädel, die schmutzig grauen Haare, den struppigen Bart des Mannes. Aber der andere? Wer konnte der zweite Wilderer sein?

Kurz entschlossen, sprang er hinter dem mächtigen Baumstamm, der ihn bisher gedeckt, hervor.

„Halt! ’s G’wehr nieder, oder i brenn’ euch eins auf’n Leib!“

Mit einem jähen Ruck wandte sich der zweite Wilderer um. Der Schilfer Toni! … Dem alten Förster war es, als risse in seinem Herzen eine Saite entzwei …

„Armes Lenerl!“ Aber Dienst und Pflicht steht über dem menschlichen Glücke.


Pflanzen und Ameisen.

Von Dr. P. Taubert.

In früheren Zeiten war man im allgemeinen zu glauben geneigt, daß Tiere, welche sich in großer Menge auf Pflanzen dauernd ansiedeln oder dieselben von Zeit zu Zeit besuchen, immer nur einen nachteiligen Einfluß auf die Entwicklung derselben auszuüben vermögen. Dies galt namentlich von den Ameisen, die bei den Gelehrten als Einbrecher in die Blüten oder als Honigräuber in schlimmem Verdacht standen. Allmählich gelangte man indes auf Grund unbefangener Beobachtung zu der Ansicht, daß Tiere Pflanzen, auf denen sie wohnen, auch Nutzen bringen können. So wußte der Forstmann längst, daß Ameisen die Waldbäume vor den Angriffen schädlicher Raupen oder Larven schützen, und der chinesische Orangenzüchter besetzte sorgfältig seine Bäume mit jenen emsigen Tierchen, um seine Pfleglinge vor den verderblichen Einwirkungen gefräßiger Kerbtiere zu bewahren.

Schon durch die Reiseberichte älterer Botaniker, welche die Tropen besuchten haben wir erfahren, daß es eine Reihe von Gewächsen giebt, die in Anschwellungen unterer Stammteilen, in hohlen Stämmen oder in eigentümlichen hohlen Verdickungen der Aeste, in schwieligen Austreibungen der Blattfläche oder selbst in außerordentlich vergrößerten Stacheln unzählige, höchst empfindlich beißende Ameisen beherbergen. Lange Zeit war man der Meinung, daß hier Fälle von schädigendem Parasitismus vorlägen, allein neuere Untersuchungen, besonders diejenigen Schimpers und Beccaris, haben ergeben, daß die Ameisen, weit davon entfernt, einen nachteiligen Einfluß auf die Pflanzen auszuüben im Gegenteil ein notwendiger Schutz für dieselben sind. Diese zwischen Gewächsen und Ameisen obwaltenden Beziehungen näher auseinanderzusetzen ist der Zweck der folgenden Betrachtungen.[1]

Der ostasiatische Archipel, besonders Java, birgt eine Reihe von eigentümlichen Pflanzen, die uns schon längere Zeit als „myrmekophile“ oder „Ameisenpflanzen“ bekannt sind. Alle gehören zu den sogenannten epiphytischen Gewächsen, d. h. sie wachsen auf Bäumen, ohne mit ihnen in dem organischen Zusammenhang zu stehen wie die Schmarotzerpflanzen; sie nehmen zwar auf dem Wirte einen Platz ein, entziehen ihm aber keine Nährstoffe. Das äußere Aussehen dieser Gewächse ist höchst merkwürdig. Wir wollen dem Leser eins der sonderbarsten derselben, Hydnophytum formicarum durch Wort und Bild (Fig.4 a und b) vorführen. Der Teil, mit welchem diese Pflanze ihrer Unterlage aufsitzt, ist ein kinderkopfgroßes, knollenförmiges, gelblich grünes Gebilde, das eine Anzahl starker Stengel treibt, die mit fleischigen Blättern besetzt sind und kleine weiße Blüten tragen. Ein Schnitt durch die Knolle zeigt uns, daß dieselbe nicht kompakt, sondern nach allen Richtungen hin mit zahlreichen, galerieartigen Gängen durchsetzt ist, die miteinander in Verbindung stehen und unzählige Ameisen als Wohnung dienen. Welche Beziehungen die Tierchen zu ihrer Herberge haben, erkennt man am klarsten aus einer Schilderung, die der bekannte englische Naturforscher und Reisende Forbes von seinem Zusammentreffen mit solchen Pflanzen giebt. Derselbe war eines Tages im javanischen Urwald beschäftigt, von einem Baume ein Bündel epiphytischer Orchideen herunterzuziehen, wurde aber nach einer kurzen Berührung desselben plötzlich von Myriaden einer kleinen Ameisenart überlaufen, deren Biß wie Feuer brannte. Schleunigst entfernte er sich von dem Platze und entkleidete sich. Nachdem er sich mühsam der Quälgeister entledigt, kehrte er zu den Orchideen zurück und entdeckte nun zwischen ihnen ein Exemplar jener merkwürdigen, oben beschriebene Pflanze, deren Knolle ihm bei einem Einschnitt jenen verwickelten wabenartigen Bau zeigte, der mit Ameisen angefüllt war. Der Versuch, eine Anzahl dieser Gewächse zu sammeln, gelang nur unter den größten Schwierigkeiten und den Verwünschungen der malayischen Diener, denn die Ameisen greifen mit stets erneuter, unwiderstehlicher Gewalt die Störenfriede an und trieben sie wiederholt in die Flucht.

In derselben Weise wie bei Hydnophytum formicarum und einer Anzahl verwandter Arten die Knollen am Stengelgrunde den Ameisen als Wohnung dienen, während die Pflanzen selbst durch ihre kleinen Insassen wirksamen Schutz gegen die Angriffe von Feinden aller Art genießen, sind auch die Wechselbeziehungen zu diesen Kerbtieren bei einigen tropischen Orchideen ausgebildet, die gleich dem Hydnophytum und seinen Verwandten epiphytisch auf Bäumen leben. Fig. 1 stellt einen charakteristischen Vertreter dieser oft mit den herrlichsten und sonderbarsten Blüten ausgestattete Gewächse, das prächtige javanische Grammatophyllum speciosum, dar. Durch Verwachsung der Blätter entstehen an demselben anfangs krautige, dann schwammige und schließlich verholzende Scheinknollen, deren hohles Innere den Ameisen als Aufenthaltsort dient. Die Eingänge zu diesen Ameisenherbergen werden durch zahlreiche lange Haare verdeckt. Bei der geringsten Berührung der Pflanze stürzen Tausende der Tierchen hervor und fallen mit empfindliche Bissen über den nichts ahnenden Friedensstörer her.

Einen andere Typus von Ameisenwohnungen stellen die hohlen Stämme und Zweige einer Reihe brasilianischer Gewächse dar. Gewisse Arten der Gattung Cecropia welche mit den bekannten Brotfruchtbäumen durch den Bau ihrer Blüten nahe verwandt ist, besitzen hohle Stammglieder, die von den Eingeborenen zu Blasinstrumenten benutzt werden. Verschiedene Forschungsreisende haben darum diesen Pflanzen den Namen Trompetenbäume beigelegt. Daß diese Hohlräume fast regelmäßig von einer bestimmten Ameisenart, Azteka instabilis bewohnt werden, wird schon von den ältesten Schriftstellern, welche das tropische Amerika bereisten, erwähnt. So macht Piso, der die Tier- und Pflanzenwelt Brasiliens bildlich und wörtlich für seine Zeit recht gut darstellte, schon im Jahre 1658 eine dahin zielende Angabe, zugleich die erste bekanntgewordene Mitteilung über Ameisenpflanzen.

Wir wollen diesen interessanten Pflanzen eine etwas eingehendere Betrachtung widmen. Auf einem einfachen oder nur oberwärts spärlich verzweigten, knotig-gegliederten Stamme wiegt sich eine wenigblättrige Krone von langgestielten, sehr großen, vielfach tief eingeschnittenen Blättern. Die einzelnen Stengelglieder sind so stark verkürzt, daß selbst die Blattstiele der bereits entfalteten Blätter nahe aneinander gerückt sind. Oberhalb eines jeden der mit stark verdicktem Grunde dem Stamme ansitzenden Blattstiele, also in der Achsel jedes Blattes, bemerkt man eine Rinne [211] und am oberen Teile derselben, unter dem nächsthöheren Blattknoten, eine deutliche Vertiefung in derselben. An etwas älteren, weiter unten gelegenen Stammgliedern findet sich an Stelle dieser Vertiefung eine etwa elliptische Oeffnung, deren größter Durchmesser in der Längsrichtung des Stammes liegt und etwa 1,5 bis 2 mm beträgt. Kommt man dem Baume vorsichtig nahe, so sieht man die Ameisen in nicht besonders großer Anzahl am Stamme und auf den Blättern emsig umherlaufen und durch die Oeffnung geschäftig aus- und einwandern. Wie anders aber wird das Bild, wenn der Stamm erschüttert oder gar umgeschlagen wird. Aus allen Oeffnungen stürzen zahllose Scharen der Tierchen in größter Wut heraus, werfen sich auf den Störenfried und belästigen ihn durch äußerst schmerzhafte Bisse. Wunderbar ist die Art, in welcher die Besiedelung jüngerer Pflanzen und die Neueinrichtung der Wohnstätten vor sich geht. Ein trächtiges Ameisenweibchen dringt in der oben erwähnten Rinne oberhalb des Blattgrundes bis zu der genannten kleinen Vertiefung vor, durchbeißt diese Stelle und begiebt sich in das Innere des hohlen Stammgliedes, wo es seine Eier ablegt. Durch den Reiz, welcher bei der Verletzung und Trennung der Zellen auf das Gewebe ausgeübt wird, entsteht an den Wundrändern eine lebhafte Wucherung. Dieselbe verschließt die Oeffnung, setzt sich auch nach innen energisch fort und bringt hier saftige, blumenkohlähnliche Bildungen hervor, welche der eingesperrten Ameisenmutter und ihrer Nachkommenschaft geeignete Nahrung zur Genüge bieten. Nachdem die jungen Tierchen den Eiern entschlüpft und soweit herangewachsen sind, daß sie sich draußen ihre Nahrung zu suchen vermögen, durchbeißen sie den Hohlraum, der sie bisher gefangen hält, an derselben Stelle, an der das Muttertier eindrang.

Fig. 1. Grammatophyllum speciosum (nach Huth). Fig. 2. Duroia hirsuta. Fig. 3. Duroia saccifera (nach Schumann, Ameisenpflanze).

Welchen Vorteil hat nun die Anwesenheit der kleinen Kerfe für die Cecropia-Bäume? Bevor wir diese Frage beantworten, müssen wir ein paar Worte sagen über die empfindlichsten Feinde der Pflanzenwelt in den wärmeren Himmelsstrichen des neuen Kontinents, die Blattschneiderameisen, welche zur Gattung Oecidoma oder Atta gehören. Diese Insekten besteigen die Pflanzen und beißen mit ihren scherenartig wirkenden Freßwerkzeugen mehr oder minder runde Stücke von der Größe eines Zehnpfennigstückes aus Laub- und Blumenblättern heraus. Alsdann fassen sie die Ausschnitte senkrecht zwischen die Kiefern und tragen sie in ihre großen, unterirdischen Baue, wo sie dieselben zur Anlage von Pilzkulturen verwenden. Gerade die Cecropia-Bäume sind nun den Angriffen dieser das Gedeihen der Gewächse im höchsten Maße bedrohenden Tiere ausgesetzt, und diejenigen unter ihnen, zu denen diese Blatträuber ungehinderten Zugang haben, werden nicht selten derart ihrer Blattflächen beraubt, daß sie wie skelettiert erscheinen.

Werden die Cecropien jedoch von den kleinen Azteka-Ameisen bewohnt, so greifen diese die Blattschneider energisch an und treiben sie in die Flucht, wodurch der Pflanze die Möglichkeit, sich genügend zu ernähren, die ihr bei dem Mangel der Laubblätter genommen sein würde, und damit die Existenz gesichert ist. Ja, es scheint sogar, als ob die Pflanze wüßte, daß sie der kleinen Beschützer bedarf, denn außer der Unterkunft, welche sie den Tierchen in ihren hohlen Stammgliedern bietet, sorgt sie auch für das leibliche Wohl ihrer Gäste. An den kräftigen Polstern, mit denen die Blattstiele dem Stamme ansitzen, finden sich nämlich scharf abgegrenzte, behaarte Felder, die kleine Drüsen tragen. Bei gewisser Vergrößerung erkennt man in ihnen kleine halbkugelige Gebilde, die nach und nach zu ei- oder birnförmigen Körperchen anschwellen, sich vom Grunde ablösen und durch die Haare an die Oberfläche des Feldes gedrängt werden. Schimper, der sich der Untersuchung der Cecropien ganz besonders widmete, fand, daß der Inhalt dieser Körperchen aus stickstoffhaltigen Substanzen und Oel besteht, diese beiden Stoffe aber sind für die Ernährung jedes tierischen Körpers höchst geeignet, und so erkennen wir in ihnen einen Tribut, den die Pflanze ihrer Schutztruppe zum Lebensunterhalt gewährt. Ja, sie erreicht dadurch noch einen weiteren Vorteil, sie erzieht die Ameisen zu einem seßhaften Volke, denn vagierende Schwärmer würden ihr gegen die Angriffe der Blattschneider wohl kaum genügenden Schutz leisten.

Fig. 4. Hydnophytum formicarum. a. Ganze Knolle. b. dieselbe im Längsschnitt (nach der Natur). Fig. 5. Acacia spadicigera (nach der Natur). Fig. 6. Tococa lancifolia. Blattunterseite, a. Eingangsöffnung.

Namentlich das Gebiet des südamerikanischen Riesenstromes, des Amazonas, ist die Heimat der meisten Gewächse, die ihre hohlen Stamm- oder Zweigglieder zu Ameisenheimen umgebildet haben. Ein anderes sehr bemerkenswertes Beispiel derselben ist Duroia hirsuta, von welcher Fig.2 unserer Abbildungen einen Laubzweig darstellt. Bei dieser Pflanze sind an den blühenden Aesten die einzelnen Glieder von ungleicher Länge, das unterste erreicht mehr als 10 cm, während die oberen so verkürzt sind, daß die Blätter auf dem langen unteren Zweiggliede eine Rosette bilden, die von einem Blütenstande gekrönt wird. Unterhalb der Rosette ist der Zweig auf eine Entfernung von 4 bis 5 cm stark [212] aufgetrieben und besitzt dicht unter dem ersten Blattpaare zwei Längsfalten, die sich oft über die halbe Länge der Anschwellung ausdehnen. Die Ränder dieser Schlitze sind wulstig aufgeworfen und verlaufen gleichmäßig, nur an einer oder zwei Stellen bemerkt man in den Wulsten eine Unterbrechung, und an diesen Punkten befindet sich regelmäßig eine kreisförmige Oeffnung von etwa 1 mm Durchmesser, welche zahlreichen Ameisen als Ein- und Ausgangspforte dient. Sehr auffällig und gewiß ein treffender Beweis dafür, daß die Pflanze sich an das Bedürfnis der sie schützenden Tierchen angepaßt hat, ist der Umstand, daß sie die beschriebenen Stengelanschwellungen nur unterhalb der Blütenstände ausbildet; gerade die Blüten sind den Angriffen honigraubender Insekten am meisten ausgesetzt und bedürfen eines ausgiebigen Schutzes, den sich die Pflanze natürlich durch derartige Einrichtungen am besten sichert. Auch andere Duroia-Arten verhalten sich ähnlich wie unsere D. hirsuta. Vollkommen ähnliche Verhältnisse finden wir ferner auch in der Alten Welt, der malayische Archipel birgt eine Art aus dem Geschlechte der Muskatbäume, die Myristica myrmeciphila, deren blühende Aeste Hohlräume aufweisen, die einer Schutztruppe von Ameise als Heimstätten dienen.

Zum Teil noch kompliziertere Bildungen sind die Ameisenwohnstätten, welche sich auf den Blattflächen zahlreicher amerikanischer Arten der in den Tropen beider Hemisphären verbreitete Familie der Melastomaceen fast regelmäßig vorfinden. Tococa lancifolia (Fig. 6), ein Vertreter dieser Pflanzengruppe, der die vom Amazonenstrom durchflossenen Länder nebst zahlreichen Verwandten bewohnt, läßt die Einrichtung dieser eigentümlichen Organe mit am besten erkennen. Das schlanke lanzettförmige Blatt wird von drei stärkeren Nerven durchlaufen, wie es fast bei allen Melastomaceen Regel ist. Auf der Oberseite sieht man vom Blattgrunde aus auf eine 3 bis 4 cm lange Strecke ein gewölbtes Blasenpaar hervortreten, das auf der Unterseite flach ist. Hier liegen die beiden gesonderten Eingangsöffnungen von 4 bis 5 mm Länge, und zwar stets dort, wo die beiden Seitennerven von dem Hauptnerven abgehen, also in den Nervenachseln. Alle diese Blasen oder Schläuche werden von Ameisen bewohnt; es ist aber auch bei diesen Pflanzen sehr bemerkenswert, daß sich diese Ameisenherbergen stets nur in der Nähe der Blütenstände ausbilden. Fanden wir die Zugangspforten zu den Wohnungen der Tierchen bei der soeben besprochenen Art auf der Unterseite der Blätter, so zeigt eine nahe Verwandte der uns schon bekannten Duroia hirsuta, nämlich D. saccifera, welche ebenfalls am Amazonas wächst, dieselben auf der Blattoberseite. Am Grunde der großen quirlig gestellten Blätter sitzen zu beiden Seiten des Stieles und mit ihm eng verwachsen zwei beutelförmige Behälter, welche gesonderte Eingänge haben (Fig. 3). Auch diese werden von Ameisen bewohnt. Bei einer derartigen Lage der Zugänge würden die Gäste der Pflanze jedoch durch den vom Blatte herablaufenden Regen nicht unerheblich belästigt, ja, sie würden durch das Wasser bald aus ihren Wohnungen vertrieben werden, wenn nicht die Natur eine Vorkehrung gegen diesen Uebelstand getroffen hätte. Wir bemerken an Fig. 3 deutlich, daß sich über dem Eingange ein Dach gebildet hat, dasselbe ist dadurch zuwege gebracht, daß das Blatt eine Falte geformt hat, auf deren Grunde die Pforte sich befindet. Die vordere Kante dieses schützenden Schirmes ruht auf dem Blasenkörper, und so wirkt es auf doppelte Weise. einmal hält es die fallenden Tropfen ab, anderseits fließt das Regenwasser über die Blase ab.

Zum Schluß möge noch auf eine sonderbare Bildung hingewiesen werden, die zwei in Mittelamerika und auf den Antillen wachsende Akazien aufweisen. Acacia spadicigera, welche wir dem Leser in Fig. 5 veranschaulichen, besitzt am Grunde der doppeltgefiederten Blätter je ein Paar in Stacheln umgewandelte Rebenblätter, die aber so unverhältnismäßig groß und angeschwollen sind, daß sie an das Hörnerpaar eines Büffels erinnern. Daß das hohle Innere derselben, in welches eine kleine runde, an der Spitze des Stachels gelegene Oeffnung führt, von äußerst bissigen Ameisen bewohnt wird, war bereits im vorigen Jahrhundert bekannt, und Jacquin erzählt uns in seinem Buche über die amerikanische Pflanzenwelt (1763), daß die Tierchen bei der geringsten Beunruhigung aus ihren Wohnsitzen herauseilen, förmlich wie ein Regen auf den Störenfried herabfallen und ihn aufs empfindlichste peinigen.

Die beidseitigen Vorteile, welche sich aus den Wechselbeziehungen zwischen Gewächsen und Ameisen ergeben, lassen sich also dahin zusammenfassen daß die Pflanze ihre Gäste eine gegen alle Unbilden des Wetters vortrefflich geschützte Wohnstätte gewährt, ihnen aber auch in honigartigen Absonderungen gewisser Drüsen oder in sehr nährstoffreichen Ausschwitzungen ausgiebige Nahrung darbietet. Die Ameisen ihrerseits erweisen ihren Wirten als Gegenleistung, wie wir wiederholt gesehen haben, wirksamen Schutz gegen die Angriffe von Feinden aller Art, und ihre Waffen sind so stark, daß selbst nicht einmal der Mensch ihnen standzuhalten vermag.


Der Aktiengarten.

Von Isolde Kurz.

Wir gingen die dunkle Riva degli Schiavoni in Venedig entlang und sahen dem Vollmond zu, der wie eine Riesenmelone über den Kuppeln und Türmen von San Giorgio Maggiore heraufschwebte. Die Flut war im Steigen und klatschte leise gegen das mächtige am Quai verankerte Frachtschiff, auf dessen höchster Mastspitze ein Stern wie ein Schiffslicht funkelte. Schattenhaft huschte die schwarzen Gondeln vorüber, flüssiges Silber von den Rudern spritzend, der Canal grande flammte mit seinen tausend Lichtern wie in Festbeleuchtung vor uns und vom Markusplatz wehten vereinzelte Klänge der Militärmusik herüber.

Ich war fast betroffen, als ich in der feierlichen Stille plötzlich meine eigene Stimme sagen hörte.

„Wunderbar solch eine venetianische Nacht!“

„Venetianische Nacht“, wiederholte mein Begleiter vor sich hin, und es war seinen Worten anzuhören, daß sie aus einer weiten Ferne, aus einer tiefen Versunkenheit heraustönten. – „Venetianische Nacht,“ sagte er noch einmal, jede Silbe betonend, als ob er einen Wohlgeschmack auf der Zunge hätte, und dann, wie durch seine eigene Stimme geweckt, setzte er hinzu:

„Sie glauben nicht, wie wunderbar und heimlich eigen diese Worte für mich klingen, sie rufen mir die seligste Stunde meines Lebens zurück, eine venetianische Nacht in meinem armen deutschen Heimatstädtchen, vor deren unbeschreiblichem Glanz auch diese gegenwärtige Schönheit verbleicht. – Wie das möglich ist? – Ich hatte damals fünfjährige Augen und eine fünfjährige Einbildungskraft.

Ich lebte zwischen meinem vierten und meinem sechsten Jahr bei den Großeltern in einem kleinen Städtchen, das alt ist ohne altertümlich zu sein und einem Erwachsenen keinerlei Reize bietet; für mich aber war es der Paradiesgarten, die nie wieder zu findende selige Insel. Die Gestalten, die ich dort sah, leben noch heut’ in meinem Gedächtnis als die ewigen Urtypen der Menschheit und alle Dinge glänzten damals von innen heraus, wie ich nie wieder ein Ding auf Erden werde glänzen sehen. O die unaussprechliche, die entzückend blanke Neuheit aller Dinge! Die Erinnerung daran begleitet uns als ein stummes Trauern und Bedauern, daß diese Herrlichkeit vergehen mußte, ohne daß man dazu kam, sie recht zu begreifen, denn während die Seele noch denkt, das Wunderbare müsse erst kommen, da ist es auch schon vorüber und der bessere Teil des Lebens liegt hinter uns.

Unser Garten lag an einem Flüßchen, welches die Lauter hieß, aber seinem Namen wenig Ehre machte, denn es floß meist so trübe, daß man trotz der Seichtigkeit den Grund nicht sehen konnte. Dennoch verbildlicht mir der Name Lauter noch heute den Fluß der Flüsse, und das Schiffchen, das mir einst der Großvater aus alten Cigarrenschachteln zusammennagelte, um es an einem Bindfaden auf der Lauter schwimmen zu lassen, steht schöner, vollkommener und bedeutender in meiner Erinnerung als die stolzen Lloyddampfer, mit denen ich später den Ocean befuhr, diese erschienen mir oft nur wie niedliches Kinderspielzeug, aber das wahre Schiff, das Urbild und der Inbegriff aller

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Oesterreichisches Kanonenboot.   Englischer Panzer „Barfleur“.   Oesterreichischer Kreuzer „Maria Theresia“.
Deutscher Kreuzer „Kaiserin Augusta“.   Russischer Panzer „Nikolaus I.“       Italienischer Kreuzer „Etna“.       Englisches Torpedoboot.

Französischer Panzer „Admiral Charmer“ .

Die Flotte der Großmächte vor Kanea.
Nach Photographien und Skizzen gezeichnet von W. Stöwer.

[214] Schiffe bleibt mir auf ewig jenes Schiffchen des guten Großvaters, das ich an unserem Lattenzaun festgebunden hielt, bis es mir einmal bei starkem Regen von der Lauter davongetragen wurde.

Und gar der Garten selbst! Welch ein Stolz für mich, wenn ich dem Großvater mit der Richtschnur helfen durfte, seine Rabatten abzugrenzen, in die er im Frühjahr Salat und Petersilie säte. Zwar unsere höchste Pflanzung waren nur ein paar Königskerzen, dort gemeiniglich „Wollblumen“ genannt, mir aber imponierten sie gewaltig, wenn ich davor stand, denn sie überragten meinen eigenen Wuchs um ein Beträchtliches. Unsere Spargelstauden leben als dichte, von Märchen umsponnene Wälder in meiner Erinnerung.

Noch besser als mit dem Großvater verstand ich mich mit der Großmutter. Sie hatte ein wunderbares Geschick, mit Kindern umzugehen, oder vielmehr, sie fühlte sich mit ihren angegrauten Haaren selbst noch als Kind, deshalb war alles so lebendig, was aus ihrem Munde kam. Wenn sie ihr Lieblingsliedchen sang:

Hier sitz’ ich auf Rasen mit Veilchen bekränzt.
So lasset uns singen, so lasset uns springen,
Bis spät noch am Himmel der Abendstern glänzt. –

dann gingen die Wände des Zimmers auseinander, der Holzschemel, auf dem ich saß, wurde zum grünsten grünsten Rasenplatz, das gute Großmütterchen mit dem veilchenblauen Band auf der Haube verwandelte sich in eine der geputzten Schäferinnen aus Porzellan, die auf dem Rokokoschranke standen, es flatterte um mich her von weißen Kleidern und farbigen Bändern und ich meinte die zauberhafteste Musik zu vernehmen. Noch jetzt wird mir ganz mozartisch zu Mut, wenn ich daran denke. Der Abendstern muß in jenen Zeiten noch ein ganz anderer Abendstern gewesen sein, er steht jetzt so hoch und fremd am Himmel, damals war er ganz nahe, ein wunderbares zackiges goldenes Ding, das mir gehörte.

Ueberhaupt war es eine meiner Eigentümlichkeiten, daß die Worte eine körperliche Existenz für mich hatten, besonders solche, die ich nicht verstand, und zuweilen stiegen aus einem derartigen unverstandenen Wort die wunderbarsten Phantasmagorien herauf. Einer solchen verdankte ich auch meine schönste und doch auch unglücklichste Erinnerung.

Die Großmutter sagte nämlich eines Abends zu mir: „Morgen ist venetianische Nacht im Aktiengarten und wenn unser Edi recht artig ist, so darf er auch mit.“

Die Pracht dieser nie gehörten Worte erregte meine Phantasie aufs mächtigste. Ich konnte die Nacht kaum schlafen vor Erwartung. Dachte ich an die ‚venetianische Nacht’, so schwebte mir ein sammetschwarzer Grund mit wundersamem Goldgeflimmer vor und das noch unverständlichere Wort „Aktiengarten“ versetzte mich geradezu ins Feenreich.

Der nächste Tag wollte kein Ende nehmen und ich verbrachte die Zeit mit Minutenzählen. Endlich wurde es Abend, man zog mir meine besten Kleider an, Großmutter schmückte sich mit ihrer raschelnden seidenen Mantille und mit einem merkwürdigen Ungetüm von Hut, das nur bei den größten Gelegenheiten zum Vorschein kam.

Dann ging es zur Stadt hinaus, über die Lauterbrücke, einen mit Kies bestreuten Fußweg zwischen Wiesen entlang, bis uns hinter Bäumen ein farbiges Lichtmeer entgegenschimmerte – und der Aktiengarten lag vor meinen Augen.

Eine Transparentschrift, die ich noch nicht lesen konnte, stand über der Eingangsthür und innen wimmelte es von geputzter Menschheit. Kleine Mädchen in weißen Kleidern gingen sittsam neben den Großen her, die Jungen meines Alters drängten sich zwischen den Beinen der Erwachsenen durch, ich selbst wurde von Großmama an der Hand geführt, damit ich nicht entwischte. Viele saßen auch schon an den ungedeckten hölzernen Tischen und von außen drängten neue Scharen nach; ich hatte nie so viele Menschen beisammen gesehen.

Es war ein unvergeßlicher Anblick. Man hat mir später versichert, der Aktiengarten sei um jene Zeit wenig mehr als eine dürftig angepflanzte, mit einem hölzernen Zaun umgebene Kieswüste gewesen, für meine Augen aber war das Feenreich aufgethan! Farbige Papierlaternen hingen in den Zweigen, und an bekränzten und bewimpelten Pfählen glühten rote, blaue und grüne Glaskugeln, die von innen erleuchtet waren und aussahen wie Edelsteine.

Die Großeltern ließen sich an einem leeren Tische nieder, nicht weit von uns spielte die Musik auf einer mit grünen Reisern verkleideten Estrade, von der ein köstlicher Tannenduft ausging.

Es war trotz der vielen Lämpchen und Laternen nur mäßig hell, denn die Beleuchtungskunst stak dazumal noch in den Kinderschuhen, und besonders unten in der Tiefe des Gartens breitete sich wirklich jene schwarzsammetne Nacht mit dem wunderbaren Geflitter aus, von der ich geträumt hatte. Zuweilen blitzte ein heller Strahl darüber auf und etwas Weißes schimmerte durch die Dunkelheit. Dort unten ist erst die wahre ‚venetianische Nacht’ und dort müssen auch die Aktien sein, dachte ich bei mir und zappelte auf meinem Stuhl, denn Großmama hatte versprochen, mit mir die Runde durch den Garten zu machen. Nun aber hatte sich ein Bekannter des Großvaters zu uns gesetzt und die beiden alten Herren vertieften sich in ein Gespräch, an dem auch die Großmutter teilnahm. Es war von den Aktien die Rede, die ich noch gar nicht gesehen hatte, und aus der Unterhaltung ging hervor, daß eine davon dem Großvater gehörte, und daß sie in diesem Jahr zum erstenmal Früchte trügen. Dies regte meine Erwartung noch mehr an, das Stück Kuchen, das mir zur Tröstung in den Mund gesteckt wurde, vermochte mich nicht zu beschwichtigen. Unablässig zupfte ich die Großmutter am Rock und mahnte heimlich an ihr Versprechen, bis der Großvater, der gerade schlecht aufgelegt war, zu mir herüberdonnerte:

„Was hat denn der Bub’ heute abend, daß er nicht still sitzen kann? Gieb Ruhe, Bengel, oder –!“

Und als die Großmutter ein Wort für mich einlegen wollte, hieß es.

„Unsinn, er kann die dummen Lichter auch von seinem Stuhl aus sehen.“

Ich wagte mich nicht mehr zu rühren, doch meine Geduld half mir nicht das geringste, die Großen saßen wie festgewurzelt auf ihren Stühlen. Großmama blickte verlegen und wich meinen stehenden Augen aus. Endlich kamen noch zwei Damen mit ihren Arbeitskörbchen von den benachbarten Tischen zur Begrüßung herüber und versprachen eine große Seßhaftigkeit zu entwickeln. Da ertrug ich es nicht länger, ich ließ mich hinter den Falten der großmütterlichen Mantille vom Stuhl hinabgleiten, kroch ein paar Schritte am Boden hin und entwischte leise in die Dämmerung.

Ich durchstreifte den Garten auf eigene Hand, gaffte mit offenem Munde an jeder Papierlaterne empor und schwelgte in Entzücken. Eine Allee hoher Bäume durchschnitt den Garten der Länge nach, sie hatten silberglänzende Stämme und große Blätter wie die Platanen, und ich blickte mit Ahnungsschauern daran hiuauf, ob das wohl die Aktien seien, aber dafür sahen sie doch noch nicht merkwürdig genug aus. Diese Allee war am reichsten dekoriert, bunte Guirlanden schwangen sich von Baum zu Baum und die Papierlaternchen in den Zweigen warfen einen solchen Glanz auf den Weg, daß ich mir nicht getraute, auf dieser via triumphalis hinabzuschreiten, sondern mich vorsichtig im Schatten der Bäume hindrückte, jener sammetschwarzen Nacht mit dem blinkenden Strahl entgegen, die sich beim Näherkommen lichtete und mich ein mit Muscheln eingefaßtes Wasserbecken erkennen ließ. Ein Springquell stieg darin auf und der hintere Rand des Beckens, das mir wie ein großer See erschien, verlor sich in eine Tuffsteingrotte, worin eine nackte steinerne Figur auf einem Sockel von Felsblöcken stand und Wasser auszugießen schien. Die Grotte war dicht von Bäumen umgeben, in deren Zweigen große goldene und silberne Bälle hingen, und ein sanfter Schein verbreitete sich von dorther über das Wasser. Ich weiß nicht mehr, wie die Bäume aussahen, ich weiß nur, daß es augenblicklich mit untrüglicher Gewißheit in mir feststand: dieses sind die Aktien!

Mir wurde kalt vor Bewegung und ich kann noch jetzt in der Erinnerung die unbegreifliche Größe jenes Augenblicks nachfühlen. Ich dachte: ,Jetzt, jetzt muß es kommen’ – und hielt den Atem an. Was kommen sollte, wußte ich selber nicht. Erwartete ich, daß die Wunderbäume sich neigen und ihre märchenhaften Früchte über mich ausschütten würden – dachte ich, das Gestein der Grotte müsse auseinander gehen und ein Aladin mit der Wunderlampe hervortreten um mich in das geheimnisvolle Innere des Tuffsteinberges zu führen? Nein, was ich erwartete, [215] hatte weder Form noch Namen, es war ,Es’, das Wunderbare, worauf ich mein halbes Leben gewartet habe, aber nie so überzeugt, so bebend wie an jenem Abend!

Da regte sich neben mir etwas Weißes, Zierliches an dem Geländer und von einem der benachbarten Tische rief eine wohllautende Frauenstimme herüber. ,Viola’.

Ich war sofort in tiefster Seele überzeugt, daß ein Mädchen, das Viola hieß, kein Kind sein könne wie andere Kinder, sondern etwas unendlich Feineres, Höheres und Schöneres, denn meine kleinen Freundinnen hießen alle entweder Rike, Christiane oder Luise, und der Name Viola schien mir der Feensprache anzugehören.

Plötzlich flammte in der Grotte ein Purpurschein auf, von dem das ganze Wasser glühte, der Springquell loderte darin wie eine Feuersäule und das weiße Kleid des kleinen Mädchens, das noch von dem Schein getroffen wurde, war auf einer Seite von Röte übergossen.

,Ah!’ rief ich außer mir vor Wonne und ,Ah!’ rief ein feines Stimmchen neben mir. Ohne zu wissen wie, hatten wir zwei kleinen Leutchen uns an den Händen gefaßt und standen in schweigendem Entzücken nebeneinander, als ob wir zusammen gehörten. Als der rote Schein erloschen war, fragte meine neue Freundin. ,Wie heißt du?’

Ich nannte ihr meinen Namen nun wollte sie auch wissen, wo ich wohnte, aber ehe ich mit der Antwort fertig werden konnte, setzte sie stolz hinzu ,Ich, ich wohne auf der Burg.’

Das kleine Fräulein sprach mit fremdem Accent, sie hatte kein H und ihr R rasselte wie eine Kinderklapper, was mich mit der tiefsten Bewunderung erfüllte.

Sie streckte mir ein farbiges Röllchen mit Franzen von Goldpapier entgegen und hieß mich das andere Ende fassen. Ich zog, das Röllchen zerplatzte mit einem Knall und ein Stückchen Chokolade blieb in meinen Händen. Ich war im siebenten Himmel, etwas Aehnliches hatte ich nie erlebt.

Unterdessen war an Stelle des roten Lichtes ein noch magischeres grünes aufgegangen, das den ganzen Garten in ein Geisterland verwandelte.

,Viola, mit wem sprichst du?’ rief die Stimme von vorhin wieder, ,bring den Knaben her!’ – und wider Willen, denn ich war ein blödes Kind, ließ ich mich von dem kleinen Fräulein nach dem erleuchteten Tisch hinüberziehen. Dort saß unter mehreren Personen, die ich nicht beachtete, eine schöne Frau mit weißem Gesicht und schwarzen Haaren, in denen eine Rose steckte.

Sie betrachtete mich genau, fragte gleichfalls nach meinem Namen und gab jedem von uns beiden eine mir unbekannte gold-gelbe Frucht, es waren die ersten Orangen, die ich gesehen habe. Dann hieß sie uns wieder gehen und weiterspielen.

,Komm, jetzt will ich Dir die Aktien zeigen,’ flüsterte ich meiner Gefährtin geheimnisvoll zu, ganz durchdrungen von dem Hochgefühl, auch meinerseits etwas bieten zu können und durch dieses Wunder allen bisherigen Wundern die Krone aufzusetzen.

In diesem Augenblick, der mir der höchste meines Lebens schien, wurde ich hinterrücks von einer groben Faust gepackt, daß mir die Goldfrucht aus der Hand fiel, eine rauhe Stimme rief. ,Da ist der Deserteur!’ und trotz meines wütenden Geschreis trugen mich zwei derbe Männerarme von hinnen.

,Wir haben ihn, Herr Stadtrat, wir haben ihn!’ hieß es, und ich wurde am andern Ende des Gartens zu den Füßen der Großeltern niedergesetzt, die mich seit einer halben Stunde voll Unruhe suchten. Ich hatte kaum den Boden unter mir, so wollte ich Hals über Kopf wieder davonstürzen, aber der alte Herr faßte mich mit eisernem Griff.

In meiner Angst, das Wunder zu versäumen, schlug ich um mich wie ein verwundetes Tier und brüllte in einem fort: ,Ich will dorthin, ich will dorthin!’ was nur zur Folge hatte, daß man mich noch fester hielt. Arme lallende Kindheit, deren Seligkeiten von den Erwachsenen nicht mehr begriffen werden! Wären mir die rechten Worte zu Gebote gestanden, so hätten die Großen vielleicht ein Einsehen gehabt und hätten mich selbst in mein Wunderland und zu dem Prinzeßchen zurückgeführt, das mich mit seiner Freundschaft beehrte. So aber sahen sie nur meine unbändige, unbegreifliche Unart, und um dem Lärm ein Ende zu machen, trugen sie mich mit Gewalt zum Garten hinaus. Mir war’s, als würde ich vom Glück auf ewig weggerissen, ich verhakte mich noch mit den Füßen in das Bein eines Stuhles, den ich eine Strecke weit mitschleifte, aber es half nichts! Einen Augenblick sah ich noch den ganzen Garten in einem violetten Licht erstrahlen, dann war ich draußen in der Dunkelheit und wurde an beiden Armen heftig fortgezogen, daß mir selbst das Zurücksehen unmöglich wurde – immer weiter in die finstere trostlose Nacht hinein, bis auch die Musik verstummte und der Aktiengarten mit seinen Wundern unwiederbringlich hinter mir versunken war.

Die Verzweiflung jenes Abends grub mir eine unverlöschliche Spur in mein Kindergemüt. Alles war hin, mein Heil auf ewig versäumt! Ich fühlte zum erstenmal mein Ich mit seinen Wünschen und Rechten in Feindschaft gegen die Umgebung und zwischen diesen zwei getrennten Welten war keine Verständigung möglich. Ich ließ im stummen Trotz die Schläge des Großvaters und die Vorwürfe der guten Großmama über mich ergehen und barg mein Geheimnis in der tiefsten Brust.

Aber im stillen lebte ich von der Hoffnung, auf eigne Hand in den Aktiengarten zurückzugelangen. Auf der Straße sah ich mich nach jedem kleinen Mädchen um, das mir begegnete. Zwar hörte ich einmal zufällig mit an, wie von einer ausländischen Familie die Rede war, die eine Zeit lang in der ,Burg’ – so hieß ein hochgelegener Gasthof vor der Stadt – gewohnt und ein bildschönes Kind mit Namen Viola bei sich gehabt hätte und die nun abgereist sei, man wisse nicht, wohin. Doch dies störte mich nicht in meiner Zuversicht, ich war überzeugt, wenn ich nur den Aktiengarten wiederfinden könnte, so müßte auch die kleine Viola dort sein, denn in meiner Vorstellung war eins vom andern unzertrennlich. Ich entrann auch wirklich einmal von Hause und fand sogar die Lauterbrücke zusamt dem Weg, den wir an jenem Abend gegangen waren, aber den Aktiengarten fand ich nicht, denn an dem einzigen Gartenthor, das mir aufstieß, marschierte ich gleichgültig vorüber, weil es keine Transparentschrift trug und auch sonst nicht aussah wie der Eingang des Paradieses. Ich verirrte mich schließlich unter großen Aengsten und wurde erst in tiefer Nacht den zu Tode erschrockenen Großeltern heimgebracht. Danach muß ihnen ihr Hüteramt bedenklich geworden sein, denn eines Tages packten sie mich auf und führten mich zu meinen Elterm zurück. Ich wurde zur Schule geschickt und damit war das Kinderparadies für immer hinter mir verschlossen. Aber der Aktiengarten und das kleine Mädchen mit dem schönen Namen und der seltsamen Sprache wichen nicht aus meiner Seele.

Viel später, als ich schon ein großer Junge war und seit langem das Gymnasium besuchte, hörte ich einmal mit an, wie meine älteren Geschwister darüber stritten, welcher Baum schöner sei, die Eiche oder die Birke. Und unversehens fuhr ich heraus.

,Die schönsten Bäume sind die Aktien.’

,Die Akazien, willst du sagen,’ berichtigte mein Vater, dem jede Ungenauigkeit ein Greuel war.

,Nein, die Aktien,’ wiederholte ich hartnäckig.

,Dummkopf,’ sagte der Vater und wandte sich ärgerlich ab.

Mein ältester Bruder aber, der schon ins Obergymnasium ging, sagte belehrend:

,Es giebt keine Bäume, die Aktien heißen, du hast wieder einmal läuten gehört und weißt nicht wo.’

Diese Rede kränkte mich empfindlich, besonders weil ich mir bewußt war und es auch oft von den anderen hören mußte, daß ich nicht immer mit den Worten einen deutlichen Sinn verband. Diesmal aber war ich meiner Sache sicher, denn der Großvater, dessen Autorität feststand, hatte mich ja selbst in den Aktiengarten geführt und ich hatte die Aktien, von denen eine ihm selber gehörte, mit eigenen Augen gesehen. Doch der Bruder schenkte mir keinen Glauben, sondern fragte höhnisch, wie denn die Aktien aussähen, worauf ich zu meiner Beschämung die Antwort schuldig bleiben mußte.

Aber unser Onkel Fritz, der damals ein lustiger Student war und zufällig dieses Gespräch mit angehört hatte, zog mich tröstend beiseite und sagte:

Laß dich nicht irre machen, du hast ganz recht, daß die Aktien die schönsten Bäume sind. und ich wollte nur, sie wüchsen drunten im Garten, damit wir wacker schütteln könnten.’

,Nicht wahr, Onkel, die Aktien tragen auch Früchte?’ fragte ich aufatmend.

[216] ,Freilich, goldene,’ war die Antwort, – ,man nennt sie Dividenden!’

Dieses Wort gefiel mir wieder ganz außerordentlich, und es machte mir den Glanz des Aktiengartens aufs neue lebendig. Ich hielt es für verwandt mit Rhododendron einem Wort, das auch seit langem wie ein fremder Vogel in meinem Kopfe herumschwirrte, ohne sich auf einen bestimmten Gegenstand niederzulassen und ich war nun wieder völlig mit mir selbst in Harmonie.

Wie lange ich diese Illusion mit mir herumtrug und wann ich über die wirkliche Bedeutung des Wortes Aktien endlich aufgeklärt wurde, weiß ich jetzt nicht mehr. Vielleicht erst nach dem Tode des guten Großvaters, als ich durch das Erbe jener bewußten Aktie Mitbesitzer des Aktiengartens wurde.

Ich war weise genug, niemals wieder in den Wundergarten meiner Kindheit zurückzuverlangen. Sein Bild jedoch steht unverlöschlich in meiner Erinnerung, es begleitete mich bis an die Schwelle des Jünglingsalters in Gestalt eines schönen Traumes, der häufig wiederkehrte; ich sah alsdann den Aktiengarten mit seinen Lichtern, wie er mir mit fünf Jahren erschienen war, ein Mädchen im weißen Kleide hielt mich an der Hand und sagte:

,Laß Dich nicht irre machen, die Aktien sind dennoch Bäume und ich heiße Viola.’

Das Mädchen wuchs mit mir, denn in jedem Traume war sie genau so groß wie ich, wir wollten zusammen durch den Garten, ohne den Boden zu berühren, und ich empfand eine namenlose Seligkeit. Einstmals aber blieb ich allein im Garten, eine große Traurigkeit befiel mich und beim Erwachen war ich fest überzeugt, daß meine Traumgefährtin gestorben sei. Von da an kehrte die beglückende Erscheinung nicht wieder.

Warum ich Ihnen diese Kinderei erzählt habe? Was ist dabei Merkwürdiges, werden Sie sagen, daß ein Kind sich über ein Fremdwort wundert und daß ein anderes Kind mit ihm im Dunkeln spielt? Aber was ist überhaupt merkwürdig? Kein Ereignis hat an sich eine Bedeutung, es fragt sich nur, was wir innerlich dabei erleben.

Es ist freilich schön, in einer Nacht wie dieser, an der Riva zu stehen oder über die Lagune zu rudern, aber jene venetianische Nacht in meinem kleinen poesieverlassenen Heimatsstädtchen hatte doch noch ein ganz anderes und zauberhafteres Gesicht. – Und glauben Sie mir, wenn ich heute vor die Wahl gestellt würde, welche schöne vergangene Stunde ich am liebsten noch einmal durchleben möchte, so würde ich sagen: Laßt alles andere tot und vergessen sein und gebt mir jenen Abend im Aktiengarten wieder und meine kleine fünfjährige Gefährtin dazu, denn nie habe ich das Angesicht des Glückes so nah’ gesehen wie in jener Stunde!

Ja, die Kinderjahre, sie sind die Zeit unserer menschlichen Vollkommenheit, wieviel verlieren wir und merken es nicht, wenn der große Sturm der Reifezeit über uns hereinbraust und das Kinderparadies zertrümmert! Das Kind übertrifft an Phantasie den größten Dichter, nur daß keine Kunde aus seiner Welt in die unsere dringt.

Nun werden Sie denken, daß ich ein sonderbarer Schwärmer sei. Aber was wollen Sie!? Die Einbildung ist des Glückes bessere Hälfte.




Die Wirren auf Kreta.

Von C. Falkenhorst. Mit Abbildungen nach photographischen Aufnahmen.

Als Gott die Welt geschaffen hatte, nahm er Blumen und Steine und füllte damit die Falten seines Gewandes. Die Blumen bedeuteten Glück und Freuden, die Steine dagegen Trauer und Unheil. Gott schwebte nun im Fluge über die Erde und ließ auf die verschiedenen Länder Blumen und Steine in gleichen Mengen fallen, als er aber über Kreta kam, riß die Falte seines Gewandes, in der sich die Steine befanden, und diese fielen auf das Eiland. Gott vergaß, Blumen zu streuen – und damit war Kretas Verhängnis besiegelt. –

Die Flaggen der Großmächte auf den Festungswällen von Kanea.

Also erzählt eine Legende, die im Christenvolke auf Kreta von Mund zu Mund geht und auch in vieler Beziehung auf die letzten hundert Jahre kretischer Geschichte paßt – aber doch nicht ganz wahr ist wie alle Märchen, Fabeln und Gleichnisse. Kreta ist heute unglücklich, aber von jeher war es nicht zum Unheil verdammt. Die Schöpfung hat das Eiland keineswegs stiefmütterlich behandelt. Felsen giebt es auf ihm freilich in wildester Fülle, aber nicht immer ragten sie so kahl zu dem blauen südlichen Himmel empor. Einst war Kreta vielmehr berühmt durch seine herrlichen Wälder, der Ruf seiner würzigen Kräuter drang nach drei Weltteilen und von dieser Insel holten einst Asien, Afrika und Europa wertvolle Heilmittel. Kreta war die Schatzkammer der „Apotheker“ und Aerzte des Altertums. So herrlich war die Natur, so mild waren die Lüfte, die über den grünen Bergen und blühenden Thälern strichen, daß man Kreta die „glückliche Insel“ nannte. Von ihr sang Homer:

„Kreta heißet ein Land in der Mitte des dunkelen Meeres,
Fruchtbar und anmutvoll, umwogt rings; siehe darin sind
viel’ unzählbare Menschen, die neunzig Städte bewohnen.“

Ja, das alte Kreta erfreute sich eines herrlichen Wohlstandes, feurige Weine gediehen auf seinen Hügeln und feurig waren die Lieder kretischer Dichter. Soll doch Thaletas von Gortyna einst die Spartaner durch seine Weisen von einer schweren epidemischen Krankheit befreit haben! Auf dieser Insel hat die Wiege vieler hervorragender griechischer Künstler und Philosophen gestanden. Gewiß, die herrlichsten Blüten, welche Menschen beglücken, haben sich einst auch auf Kreta üppig entfaltet, und daß sie heute verwelkt und verdorrt sind, daran ist nicht die Schöpfung schuld, sondern der Mensch allein. Nur zu häufig wurde die Insel durch Kriegsstürme heimgesucht, sie wechselte im Laufe der Geschichte oft die Herren, und das Maß des Elends ward voll, als sie vor etwas mehr als zweihundert Jahren von den Türken erobert wurde.

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Eine Straße in Kanea nach dem Brande.

Damals zählte Kreta, das etwa halb mal so groß ist wie das Königreich Württemberg, gegen eine Million Einwohner, heute beträgt die Einwohnerzahl nur etwa eine Viertelmillion. Ehemalige Städte liegen in Trümmern, die fruchtbaren Thäler sind zum Teil verödet. Wahr ist ja das Sprichwort, daß unter der türkischen Herrschaft selbst das Gras nicht wachsen will – wenigstens nicht in den Ländern, wo das Kreuz sich unaufhörlich gegen den Halbmond erhebt. Und Kreta ward von den Türken niemals gänzlich unterjocht. Die Balkanvölker haben ihre „Schwarzen Berge“ in dem kleinen Montenegro, das alle Stürme der Muselmanen tapfer zurückschlug. Kreta ist stolz auf seine „Weißen Berge“, in denen stets eine Schar unbezwungener Kreter ihre Unabhängigkeit zu wahren wußten. In jenen Bergen im Südwesten der Insel, die während der Wintermonate den glänzend weißen Schneemantel tragen, in den wildzerklüfteten Hochthälern der Landschaft Sphakia sann man seit zwei Jahrhunderten auf Rache, träumte den Traum der goldenen Freiheit, nährte den Haß gegen den Türken, der die christliche Bevölkerung in das Joch der Sklaverei gespannt hatte. Mochten noch so viele der kretischen Griechen in den Städten und Dörfern an der Meeresküste sich vor dem Sieger gebeugt und das Kreuz verleugnet haben, die Söhne der Berge blieben dem Glauben ihrer Väter treu und kannten nur eine Losung: den Kampf gegen die fremden Bedrücker. Ein ewiger Krieg mildert nicht die Sitten. Das zeigte sich auch vielfach bei den kretischen Christen, sie wurden hart und grausam, aber ihrer Tapferkeit, ihrer zähen Ausdauer muß man die vollste Anerkennung zollen.

Der Insurgentenführer Pappa Maleko.

Die Aussichten der Kreter auf endliche Abschüttelung des verhaßten Joches erhielten zu Anfang dieses Jahrhunderts neue Nahrung, als der Aufstand in Morea ausbrach und das Volk der Hellenen erfolgreich um seine Freiheit kämpfte. Im Maimonat des Jahres 1821 entfalteten auch die Sphakioten ihr Kriegsbanner und ihrem Beispiel folgte der Rest der christlichen Bevölkerung. Die Mohammedaner wurden in die befestigten Küstenstädte zurückgedrängt, jahrelang tobte der Kampf, aber Europa sah sich nicht bewogen, Kreta mit dem befreiten Mutterlande zu vereinen. Es wurde den Türken überliefert und der Vicekönig von Aegypten übernahm die Beruhigung der Insel. Die Christen wurden besiegt, aber die Bedrückungen, denen sie ausgesetzt waren, ließen den Haß stets von neuem auflodern. Aufstände folgten auf Aufstände, der Vernichtungskampf tobte auf Kreta in den Jahren 1833, 1841, 1858, 1866 bis 1869, 1887 und 1889. Selbstverständlich wurden die Aufständischen stets vom Mutterlande unterstützt.

Die letzte Erhebung der Kreter, die im vorigen Jahre stattfand, steht noch in frischer Erinnerung; sie gab den europäische Großmächten Anlaß zu einem diplomatische Einschreiten; die Türkei wurde genötigt, der vielgeprüften Inselbevölkerung Erleichterung zu gewähren, es sollten Reformen eingeführt werden und man hoffte, daß bei der neuen Gestaltung der Dinge Christen und Mohammedaner friedlich nebeneinander leben würden. Leider wurden diese Reformen nicht rasch genug ins Werk gesetzt und die Unruhen brachen auf Kreta von neuem los, ja, sie gewannen eine Bedeutung wie kaum einer der früheren Aufstände.

Bereits Ende Januar dieses Jahres kam es zu Reibungen zwischen der christlichen und der mohammedanischen Bevölkerung und Anfang Februar wurden die Parteien miteinander handgemein, Kanea, die wichtigste an der Nordküste gelegene Hafenstadt Kretas, die gegen 12 000 Einwohner zählt, wurde zum Schauplatz wütender Straßenkämpfe.

Am 5. Februar stand das christliche Viertel in Flammen, die gefüllten Oelspeicher gaben dem Feuer mächtige Nahrung, während türkische Haufen plündernd und sengend einbrachen und den Schrecken vermehrten. In dieser Not griffen die europäischen Kriegsschiffe, die im Hafen von Kanea ankerten, helfend ein, sie landeten Mannschaften, um das Feuer zu löschen und den Rückzug der Christen aus der bedrohten Stadt zu decken. Zu ähnlichen Zusammenstößen kam es auf anderen Punkten der Insel. Das waren Flugfunken, die einen längst aufgehäuften Zündstoff in Brand steckten.

Prinz Georg von Griechenland.

Alle Erhebungen der Christen auf Kreta haben stets den lebhaftesten Wiederhall in Griechenland gefunden. Auch diesmal arbeitete eine starke Volkspartei dahin, Kreta mit dem Königreiche zu vereinigen, und der Geheimbund „Ethnike Hetairia“ verstand es, die öffentliche Meinung derart aufzuregen, daß die Volksmassen selbst die Vereinigung der Insel mit Griechenland stürmisch verlangten. Diese Patrioten, die auf die Befreiung aller Griechen von der türkischen Herrschaft hinarbeiten, machten dadurch den verzweifelten Versuch, die orientalische Frage aufzurollen, den Krieg mit der Türkei anzuzetteln und somit den Weltfrieden zu bedrohen. Die griechische Regierung konnte ihnen nicht widerstehen. Man hoffte, daß einige Großmächte aus verwandtschaftlichen Rücksichten auf die Familie des Königs von Griechenland der Einverleibung Kretas zustimmen würden.

König Georg ist ein Däne; er wurde am 24. Dezember 1845 als Sohn Christians IX., Königs von Dänemark, geboren und, als er achtzehn Jahre alt war, zum König von Griechenland gewählt. Im Jahre 1863 bestieg er den Thron und im Jahre 1869 heiratete er die russische Großfürstin Olga Konstantinowa, sein ältester Sohn, Kronprinz Konstantin, Herzog [218] von Sparta, ist seit 1889 mit einer Schwester des Deutschen Kaisers, Prinzessin Sophie, vermählt. Besondere freundschaftliche Bande bestehen ferner zwischen dem zweitältesten Sohne König Georgs, dem Prinzen Georg, und dem Zaren. Prinz Georg machte im Jahre 1890, als Kaiser Nikolaus noch Thronfolger war, dessen bekannte Orientreise mit. Er war es, der in Japan, als ein Fanatiker auf den Zarewitsch ein Attentat versuchte, diesem das Leben rettete. Prinz Georg hat die Marine zu seinem Beruf erwählt, er ist ein gewandter Seemann und dabei der populärste Prinz in Griechenland. Er steht jetzt im Alter von 27 Jahren und gewinnt die Herzen schon durch seine äußere Erscheinung.

Kloster Gonia.
Nach einer Originalzeichnung von Jos. Winckler.

Auf die Nachsicht der mächtigen Verwandten und Freunde mag wohl König Georg gerechnet haben, als er dem Drängen seines Volkes nachgab und thätig in die Gestaltung der Geschicke Kretas eingriff. Am 8. Februar hatten die Aufständischen in Chaleppa, einer Vorstadt Kaneas, die griechische Flagge gehißt und die Vereinigung mit Griechenland proklamiert. Dieses Vorgehen wurde in Athen gutgeheißen; in der Nacht vom 11. Februar verließ Prinz Georg mit einer Torpedoflottille den Hafen von Piräeus und dampfte nach Kreta, um dort die Landung türkischer Truppen zu verhindern, ihm folgte Oberst Vassos mit einem Kommando griechischer Truppen um im Namen seines Königs Besitz von der Insel zu ergreifen; zugleich rüstete Griechenland zu Lande und zog an der türkischen Grenze Truppen zusammen. Die Admirale der europäischen Kriegsschiffe, die im Hafen von Kanea lagen, ließen indessen Marinesoldaten landen und hißten auf den Wällen der Stadt neben der türkischen die Flaggen der von ihnen vertretenen fünf Großmächte, zu denen sich später, nach erfolgter Ankunft der „Kaiserin Augusta“ auch die deutsche Flagge gesellte.

Retimo.
Nach einer Originalzeichnung von Jos. Winckler.

Groß war der Jubel der kretischen Freischaren, als Oberst Vassos bei Platania in der Nähe von Kanea landete. Nicht weit davon liegt am Meeresufer das Kloster Gonia, das seit jeher jede aufständische Bewegung eifrig gefördert hat. Die Mönche hießen ihn von Herzen willkommen denn die Klosterbrüder auf Kreta sind stets der nationalen Bewegung ergeben gewesen. Viele von ihnen haben im Freiheitskampfe die Flinte geführt, aus ihren Reihen ist auch der angesehenste Führer der gegenwärtigen Erhebung hervorgegangen: Pappa Maleko, dessen Bildnis wir S. 217 bringen. Er ist oft über das Meer nach Athen gefahren, um den Kriegszug gegen die Türken zu predigen, er besorgte Wassereinkäufe und zog in den Kampf, die Flinte in der einen, das Kreuz in der anderen Hand. In das Lager von Platania strömten die Insurgenten herbei, setzten dort das griechische Käppi auf und rückten mit dem Obersten gegen kleinere türkische Festungen vor. Die Stunde der Vergeltung schien gekommen. Von dem Taumel des Uebermuts erfaßt, achteten die Aufständischen nicht auf die Warnungen der Admirale der fremden Kriegsschiffe, die vor Kanea lagen, und schickten sich selbst zum Sturm gegen die Stadt an, die von europäischen Marinesoldaten besetzt war und von deren Wällen die Flaggen der Großmächte neben der türkischen wehten. Da wurde ihnen durch den Mund der Kanonen der Wille Europas verkündet.

Dort aber, wohin die Geschütze der Kriegsschiffe nicht reichten, sah es auf Kreta traurig aus. Zwischen den Mohammedanern und den Christen entbrannte ein wahrer Vernichtungskampf. Vor den Hafenstädten Kandia und Retimo rötete sich der Himmel von der Lohe brennender Dörfer. Die untere Abbildung auf dieser Seite zeigt das dicht am Strande gelegene Retimo. Die Stadt wird von einer Festung, überragt die auf trotzigem Felsen erbaut ist. Als Vorlage zu dieser Abbildung sowie der des Klosters Gonia sind die stimmungsvollen Landschaften Joseph Wincklers in Elpis Melenas Werke „Erlebnisse auf Kreta“ benutzt worden.

Inzwischen wurde erfreulicherweise eine Einigung der Großmächte erzielt. Dieselben forderten Griechenland auf, seine Truppen aus Kreta und seine Kriegsschiffe aus den kretischen Gewässern zurückzuziehen und versprachen zugleich, der vielgeprüften Insel von der Türkei die Selbstverwaltung auszuwirken. Während wir diese Zeilen niederschreiben, dauern die diplomatischen Verhandlungen noch fort. Die Hoffnung ist nicht ausgeschlossen, daß Griechenland mit den Forderungen der Großmächte Europas einen Kompromiß schließen werde, ohne dieselben zu nötigen, Zwangsmaßregeln zu ergreifen. Alle Freunde des Friedens sind in diesem Wunsche einig.

Ob auch die Kreter sich mit der Entscheidung der Mächte zufrieden geben werden? Ihre Insel wird ja keine Provinz des griechischem Königreichs, aber sie wird trotzdem vom türkischen [219] Joche befreit. Eine weitgehende Autonomie ist dem Lande gesichert und somit sollte man hoffen dürfen, daß der Grund zu weiteren Aufständen beseitigt sei. Im Besitze der freien Selbstverwaltung, unter dem Schutze Europas, soll die Insel die Wohlthaten des Friedens genießen. Wenn aber eine wirkliche Wendung zum Besseren erzielt werden soll, muß der Kreter freilich auch an sich selber arbeiten. An Stelle des unauslöschlichen Hasses muß Nächstenliebe und Achtung des Nachbarn treten. Vom Türkenjoche wird der Kreter wohl befreit werden, aber wird er nicht auch dann noch unter dem Joche der Barbarei seufzen? In den Bergen herrscht noch die Sitte der Blutrache und fordert schreckliche Opfer, das Volk ist von düsterem Aberglauben befangen, nach seinen Vorstellungen treiben sich dort Menschen als Vampire umher und oft werden die vermeintlichen Zauberer und von bösen Geistern Besessenen unter schreckliche Qualen hingemordet. Das sind die inneren Feinde Kretas, die bezwungen werden müssen, wenn jemals wirklicher Friede auf dem Eilande herrschen soll. Gegen diese müssen jetzt die wahren Freunde der Inselbevölkerung helfen. – Gelingt es ihnen, Bildung zu verbreiten, Duldung in die Herzen zu pflanzen, die Sitten zu bessern, dann wird Kreta aufblühen. Heute erzeugt das Land wenig, Sphakia liefert vorzüglichen Käse, der als „die Blume des Käses weit und breit“ in der Levante bekannt ist, hier und dort wird vortreffliche Seide gebaut, der Hauptartikel ist das Olivenöl, aber es ist so schlecht, daß es zumeist zur Seifenfabrikation verwendet wird, auch der Wein wird so urwüchsig bereitet, daß er außerhalb des Landes kaum Abnehmer findet. Kreta, das früher viermal so viel Menschen ernährte, muß heute Getreide einführen.

Hoffen wir, daß nunmehr ein dauernder Friede hergestellt wird. Wenn dann der Kreter die Flinte beiseite legt, die neugewonnene Freiheit weise ausnutzt und fleißig hinter dem Pfluge einhergeht, so wird auch ihm aus dem verödeten Boden reichlich der Segen des Friedens emporsprießen.


Blätter und Blüten.

Feierabendhaus für Lehrerinnen in Wolfenbüttel. Die unserem Zeitalter zur hohen Ehre gereichende Fürsorge für das Alter der redlich Arbeitenden richtet neuerdings auch ihren Blick auf die Zukunft der Lehrerinnen und Erzieherinnen, die ihre ganze Lebenskraft dem Wohle des heranwachsenden Geschlechtes widmen. So lange diese jung und arbeitsfähig sind, erfreuen sie sich oft einer verhältnismäßig günstigen Lebenslage, aber es wird nur den wenigsten möglich sein, durch Sparen wirksam für ihr Alter zu sorgen. Die meisten sehen einer trüben, einsamen oder abhängigen Zukunft entgegen.

Aus diesen Erwägungen heraus hat man an verschiedenen Orten Lehrerinnen-Feierabendhäuser geplant und da und dort auch bereits ins Leben gerufen. Wir können hier kurz auf den Artikel „Vor der Berufswahl: die Lehrerin in Deutschland.“, der im Jahrgang 1895 der „Gartenlaube“, (Seite 58) erschien, verweisen. Eine vorbildliche Gründung dieser Art ist neuerdings in Wolfenbüttel entstanden, wo die Vorsteherin der Schloß-Anstalten zur Erziehung der weiblichen Jugend, Fräulein Anna Vorwerk, in rastloser Thätigkeit für ihre Lehrerinnen, die ihr in dem Erziehungswerk treu zur Seite stehen, ein Heim gegründet hat, in welchem diese in den Tagen des Alters ein freundliches, sorgenfreies Asyl haben.

Mit vereinten Kräften haben Vorsteherin und Lehrerinnen seit Jahren gearbeitet, um diesen Gedanken zu verwirklichen Durch mancherlei Veranstaltungen, z. B. die eines großartigen Bazars, einer Sommermesse und eines Wandelkonzertes, haben sie allmählich ein ausreichendes Kapital zusammengebracht, den Grund erworben und das Gebäude aufgeführt. Am 29. August 1896 endlich kamen in dem freundlichen, altertümlichen Wolfenbüttel alle Teilnehmenden zur Feier der Bauvollendung, der Einfügung des Schlußsteines zusammen, und vor den Blicken einer zahlreiche Versammlung stand das Feierabendhaus für Lehrerinnen fix und fertig da.

In schöner, gesunder Lage erhebt sich in einer Villenstraße ein hübscher Bau im Schweizerstil, mit großen Fenstern, einer verdeckten und einer offenen Veranda, umgeben von hübsch angelegtem Garten, der von dem kleinen Fluß, der Oker, begrenzt wird. Alle Fenster haben freie Aussicht auf Wiesen und Wald oder auf die Türme des freundlichen Städtchens.

Achtzehn hübsch ausgestattete Zimmer mit hellen, lustigen Schlaf-Kabinetten, die durch eine Schiebthür mit jenen verbunden sind, stehen für die künftigen Insassinnen bereit. Ein gediegen eingerichteter Eßsaal und ein behagliches Wohnzimmer sollen alle Bewohnerinnen zu gemeinsamen Mahlzeiten und nach Wunsch zu geselligem Verkehr vereinen. Die Korridore des Hauses sind breit und schön, hell und freundlich, so daß sie bei schlechtem Wetter zu einer Art Wandelbahn dienen können.

Ein praktisch eingerichtetes Badezimmer, die Einrichtung der Wirtschaftsräume im Kellergeschoß und die Ausnutzung des Bodens zu Gelassen für jede Bewohnerin erhöhen die Annehmlichkeit des Aufenthaltes.

Ein Lieblingsgedanke der Gründerin des Stiftes ist es, solche Lehrerinnen und Erzieherinnen, die während der Ferien eine gründliche Erholung und Ausspannung nötig haben, aber vielleicht nicht genügende Mittel zu einer Badereise oder einer Sommerfrische besitzen, einen vorübergehenden, ruhigen und behaglichen Aufenthalt unter sehr mäßigen Bedingungen zu bieten. Zu diesem Zwecke weist das Haus 5 gemütlich eingerichtete Fremdenzimmer auf.

Da wohl noch eine längere Zeit vergehe dürfte, ehe das Stift seiner Bestimmung gemäß, ganz von den Damen bewohnt sein wird, die von den Mühen ihres Berufslebens ausruhen wollen, so ist das untere Stockwerk vorläufig an die Wolfenbütteler Kochschule vermietet, welche einstweilen für das leibliche Wohl der Insassinnen sorgt.

Der jährliche Pensionspreis für Wohnung, Kost, Licht, Feuerung, Bedienung und Arzt ist auf 360 Mark festgesetzt. Beim Eintritt ins Haus wird die einmalige Zahlung von 300 Mark gefordert, einer Summe, die an das Haus fällt und nicht zurückgezahlt werden kann. Bevorzugt werden bei der Besetzung der Stelle immer solche Damen, die am längsten dem Feierabendverbande angehören und diese Zugehörigkeit sich durch einen jährlichen Beitrag von 3 Mark erworben haben. Die Summe ist so niedrig gestellt, damit auch denen, die mit Not und Sorge kämpfen und zu einer größeren jährliche Zahlung sich nicht verpflichten können, die Möglichkeit haben, durch Eintritt in den Verband sich die Anwartschaft auf ein späteres Unterkommen zu sichern.

Da natürlich eine so junge Gründung, die ausschließlich durch Liebesgaben zustande gekommen ist, nicht ganz ohne die Teilnahme und die Beihilfe von mit Glücksgütern gesegneten Freunden bestehen kann, so ist es sehr wünschenswert, daß die Zahl der außerordentlichen Mitglieder, die auch einen jährliche Beitrag von 3 Mark oder einen einmaligen von 50 Mark zahlen, noch möglichst wächst.

Möchten diese Zeilen dazu beitragen, dem Feierabendhause in Wolfenbüttel Freunde zu verschaffen, und möchte ein Haus, das nur aus warmer Menschlichkeit gegründet wurde, ein wahrer Hort des Friedens und des Behagens werden für diejenigen, die ihre volle Lebenskraft dem schweren Werk der Heranbildung der Jugend gewidmet haben! E. M.

Die Gruppe Markgraf Ottos I. für die Siegesallee in Berlin. (Zu dem Bilde S. 201). Im Berliner Tiergarten erwacht der Frühling, und die Spaziergänger, welche das milde Lenzwetter ins Freie lockt, betrachten neugierig die ersten Arbeiten, welche für die Standbilder der brandenburgischen Fürsten in der Siegesallee schon fertig gestellt sind. In Abständen von je 36 Metern sind längs der Straße einige von den halbkreisförmigen Taxushecken angepflanzt worden, welche den Hintergrund bilden sollen für die 32 Denkmäler, die der Kaiser zu seinem sechsunddreißigsten Geburtstag seiner Haupt- und Residenzstadt zum Geschenk gemacht hat. Die Statuen Albrechts des Bären von Schott und seines Sohnes Otto I. von Unger gehen ihrer Vollendung entgegen, so daß man hofft, sie schon in diesem Herbst ausstellen zu können.

Albrecht der Bär und sein ältester Sohn Otto entstammten dem askanischen Grafengeschlechte, das in Ballenstedt residierte. Albrecht der Bär wußte das Gebiet der Ostmark, das er im Jahre 1125 vom Kaiser Lothar II. als Lehn erhielt, durch Eroberungen zu vergrößern. Andrerseits schloß er Freundschaft mit dem Slavenfürsten Pribislaw, der dem Sohne Albrechts die Landschaft Zauche übergab und ihn zu seinem Erben einsetzte. Markgraf Otto I. regierte vom Jahre 1170 bis 1184 und vergrößerte seine Herrschaft durch die Eroberung der Landschaften Glin und Löwenberg; er gründete auch das berühmte Kloster Lehnin das in der „Gartenlaube“ (vgl. Jahrg. 1882, S.129) in Wort und Bild geschildert wurde.

Unsere heutige Abbildung auf S. 201, die unten links mit dem askanischen und rechts mit dem Wappen von Berlin geschmückt ist, stellt die Hauptpersonen aus dem von Professor Max Unger komponierten Markgraf-Otto-Denkmal dar. In der Mitte sehen wir die Gestalt des Markgrafen, die der Künstler nach seiner Phantasie schaffen mußte, da porträtähnliche Bildnisse des Verherrlichten nicht bekannt sind. Unger hat Otto I. als jugendliche Siegfriedsgestalt aufgefaßt. Das bartlose Gesicht ist von dem langen Gelock des germanischen Edlen, der im 12. Jahrhundert noch kein Schermesser an sein Haupt kommen ließ, umwallt. Die Augen blicken mild und hoheitsvoll zugleich ins Weite. Ueber dem Kettenpanzer, der Oberkörper und Beine bedeckt, trägt der Askanier einen wallenden Mantel, den die Linke an der Hüfte zusammenrafft. Die Rechte stützt sich auf das gewaltige, mit dem ledernen Gehenk umwickelte Schwert. Den Schild, der mit einem alten brandenburgischen Wappen geschmückt ist, hat der Herrscher auf den Rücken geworfen, das Hifthorn an der Seite deutet auf die Neigung des Jägers hin. Unten am Standbild ist der Stumpf einer alten Eiche. Es ist eine Wiedergabe eines Baumstumpfes, der noch heutigentags im Kloster Lehnin gezeigt wird und von dem die Sage berichtet, daß er die Stelle bezeichnet, wo dereinst Otto einen lebensgefährlichen Kampf mit einem Elch glücklich bestanden hat. Aus Dankbarkeit für die Errettung aus der Not soll der Markgraf das Kloster gestiftet haben. Die beide Reliefs, welche den Sockel des Denkmals zieren werden, beziehen sich auf diese Ueberlieferung. Das eine zeigt den Fürsten im Kampf mit dem wütenden Tier, das andere eine Ansicht des Klosters. Die Höhe des ganzen Werkes beträgt 2,53 m. Um das Denkmal innerhalb der Taxushecke zieht sich eine Marmorbank, aus der zwei Hermen hervorragen. Sie stellen zwei bedeutende Männer aus der Regierungszeit Ottos dar, den Abt Sibold [220] von Lehnin (auf unserm Bilde rechts dargestellt) und den Herzog Pribislaw. Diesem hat der Künstler den echten Sarmatentypus verliehen, unter der Pelzmütze quellen die zu Flechten gewundenen Haare hervor, die Brust deckt über dem Panzer ein Fellmantel, aus dem die nackten, muskulösen Arme hervorschauen. Im Gegensatz zu dem kriegerischen Wenden blickt der Prälat mit vollem runden Gesicht behäbig in die Welt. Die Architektur des Denkmals zeigt romanische Formen. Die Hauptstatue wird soeben in ganz weißem carrarischen Marmor zweiter Ordnung, sogen. Ravaccione hergestellt, während für die Bank gestreckter Marmor zur Verwendung gelangt. Man hofft, daß die Güte des gewählten Materials die Unbilden des nordischen Winters gut überstehen wird. Den Fußboden wird ein in schwarz und weiß einfach gehaltenes Mosaik bedecken.

Der Schöpfer des ebenso schönen wie charakteristischen Kunstwerkes ist mit seinen 43 Jahren heute ein Mann von bester Schaffenskraft. Er ging als Schüler aus der Berliner Kunstakademie hervor, 1882/84 machte er eine Studienreise nach Rom, der die Gruppe „Der Fischer“ nach Goethes Gedicht ihre Entstehung verdankt. Dann beteiligte er sich an der Konkurrenz für das Lutherdenkmal in Berlin und an dem Preisausschreiben für ein Friedrich-Karl-Denkmal in Frankfurt a. O. Hier erhielt er nicht nur den Preis und die Ausführung des Werkes, sondern seine Arbeit brachte ihm auch auf der großen Berliner Kunst-Ausstellung des Jahres 1888 die kleine goldene Medaille. Eine Studienarbeit „Europa auf dem Stier,“ die er dann vollendete, steht heute noch als Modell, trübselig verhängt, im Atelier. „Sie teilt das Schicksal fast aller Studienarbeiten“, sagt der Meister nicht ohne Bitterkeit, „sie wurde nie ausgeführt. Eine gewisse Genugthuung für den Künstler war es jedoch, daß ihm in der Konkurrenz die Statue des Markgrafen Waldemar von Brandenburg übertragen wurde, die heute auf der Fischerbrücke in Berlin ihren Platz gefunden hat. Auch das Bismarckdenkmal zu Forst ist von seiner Hand und bei der Ausschmückung des Weißen Saales im königl. Schloß zu Berlin ist er durch eine Statue Friedrich Wilhelms IV. von Preußen beteiligt.

Das Palmstocksuchen im Westfälischen.
Nach einer Originalzeichnung von Fritz Bergen.

Westfälischer Volksbrauch am Palmsonntage. (Mit Abbildung.) In jener äußersten Ecke des westfälischen Münsterlandes, deren Mittelpunkt die industriereiche Stadt Bocholt (Buchholz) ist, hat sich noch eine uralte Sitte in die Gegenwart herübergerettet, welche an die vorchristliche Zeit erinnert: das Palmstocksuchen. Der „Palmstock“ ist die von der Rinde befreite weiß geschälte Krone eines jungen Kieferbaumes. Die Enden der einzelnen Zweige werden mit „Palmvögelchen“, d. h. kleinen, aus Kuchenteig geformten, Vogelgestalten, verziert, während die Spitze von einer großen Brezel, dem „Krekeling“, oder von einem Apfel, einer Orange gekrönt wird. Ketten von gebackenem Obst oder Zuckerzeug vervollständigen die Aufstauung des Palmstockes.

Am Palmsonntagmorgen gilt es nun für die Kinder, den in irgend einem Winkel des Hauses versteckten Palmstock zu suchen. Ist er gefunden, so wird er im Triumphe hinausgetragen auf die Straßen. „Palmsonntag!“ rufen die Kleinen, mit ihrem Schatz prunkend und frohlockend, aus, nicht ohne den Neid anderer mit weniger schönen Palmstöcken versehenen Spielkameraden zu erwecken. Zu Haus wird dann der Schmuck des Palmstockes fröhlich verschmaust.

Man hat es hier offenbar mit einem Stück altgermanischer Frühlingsfeier zu thun. Die Vögel als symbolische Bringer des Lenzes lassen darüber fast keinen Zweifel. R. B.     

Das billigste Licht. Bei der Schnelligkeit, mit der in den letzten zehn Jahren auf dem Felde der Beleuchtung eine Erfindung die andere gejagt hat, ist es wohl wert, einmal zu untersuchen, welche unter den vielen heute gebrauchten Lichtarten die vorteilhafteste ist. Das Gegenteil, die kostspieligste Beleuchtungsmethode, ist schnell gefunden, es ist natürlich die Kerzenbeleuchtung. Sie kostet, in einer Lichtstärke von 100 Kerzen eine Stunde lang unterhalten, mindestens 1 Mark 30 Pf, bei den meisten Kerzensorten noch mehr. Ihr ist als das unbedingt billigste Licht die elektrische Bogenlampe entgegenzuhalten, die für die Stunde und 100 Kerzen Leuchtkraft nur 3 Pfennig kostet. Zwischen diesen Extremen aber stuft sich die Reihe der Beleuchtungsmittel ebenso allmählich wie interessant ab. Sehen wir von der fast ungebräuchlichen Kerzenbeleuchtung ganz ab, so wird sich am teuersten das elektrische Glühlicht stellen, da es durchschnittlich 22 Pfennige für die Stunde und 100 Kerzen kostet. Das in der letzten Zeit soviel umstrittene Acetylenlicht ist bis jetzt beinahe ebenso kostspielig, mit 20 Pfennig für dieselbe Lichtmenge. Das Gaslicht hängt in seiner Helligkeit ganz von den Brennern ob, in denen es verbrannt wird, und kostet bei dem in Berlin üblichen Gaspreise 15 bis 20 Pfennig für die Stunde mit 100 Kerzen, in Auerbrennern ist es, wie wir später sehen werden, unverhältnismäßig billiger. Bedeutend wohlfeiler stellt sich, wie jeder weiß, der beides ausprobiert hat, die Petroleumbeleuchtung, die bei der Anwendung guter Lampen nur 8 bis 9 Pfennig für die vorbezeichnete Lichtmenge kostet. Das neuerdings erfundene Spiritusglühlicht ist noch billiger, es dürfte sich auf 1 Pfennig stellen, und ungefähr ebenso hoch kommt die Anwendung der neuen Benzinlampe mit Glühstrumpf zu stehen. Das Dürrlicht, eine Art der Petroleumbeleuchtung, bei der das Erdöl durch Auftropfen auf eine glühende Platte vergast und alsdann ohne Brenner in einer hohen weißen Stichflamme verbrannt wird, stellt sich nur auf 5 Pfennig in dem gleichen Verhältnis. Es wird bei nächtlichen Arbeiten im Freien oft in Anwendung gebracht. Uebertroffen wird es sowohl an Billigkeit wie sonstigen Vorzügen durch das Gasglühlicht, welches die Kosten der Gasbeleuchtung auf den vierten bis fünften Teil ihrer früheren Höhe reduziert hat. Es kostet nur 4 Pfennig für eine Stunde und 100 Kerzen und ist unbestritten seit der elektrischen Bogenlampe die größte Erfindung der Beleuchtungsbranche. Das billigste aller Leuchtmittel ist endlich, wie schon erwähnt, das elektrische Bogenlicht – wer’s noch wohlfeiler haben will, muß sich schon an die liebe Sonne wenden, die ihr Licht seit Jahrmillionen umsonst scheinen läßt, über Gerechte und Ungerechte. Bw.     

Schlimme Gäste. (Zu dem Bilde S. 204 und 205). Heiliger Franziskus, er trinkt ihn wahrhaftig aus! Auf einen Schluck den ganzen Krug, den der Pater Kellermeister bestimmte, als Schluß des Gelages die saubere Gesellschaft zufrieden zu stellen, damit sie dann um ein Haus weiter zögen und die guten Patres nicht länger molestierten! Und nun solch’ eine Völlerei! Der Junge – es ist leider der Sohn des gräflichen Klosterpatrons – gießt alles allein hinunter, der alte Schnapphahn, sein Meister in allen bösen Streichen, klopft höhnisch das leere Krüglein aus und der dicke Nimmersatt daneben will sich ausschütten vor Lachen über die Entrüstung der armen Mönche. Daß diese einen sehr gerechten Grund hat, zeigt die fragwürdige Haltung des vierten Gesellen, welche in ihrer zitterigen Anlehnung an feste Stützpunkte von einer stark verlängerten Sitzung Zeugnis ablegt. Armer Pater Kellermeister! Er, sowie der empört über die Treppe herablugende Prior wären sehr froh, wenn diese Rotte Korah nur erst von dannen führe, das Kloster und sein Getränke denjenigen überlassen, welche einen guten Tropfen mit der gehörigen Mäßigung zu genießen wissen.

So erzählt uns Meister Grützner, der schalkhafte Maler klösterlicher Kellerfreuden und –leiden, welcher in diesem Bild das bekannte Thema von einer neuen Seite faßt und ergötzlich genug darstellt. Bn.     


☛      Hierzu Kunstbeilage VII: „Die kleine Dame.“ Von E. Scannal.

Inhalt: Trotzige Herzen. Roman von W. Heimburg (12. Fortsetzung). S. 201. – Die Gruppe Markgraf Ottos I. für die Siegesallee in Berlin. Bild. S. 201. – Schlimme Gäste. Bild. S. 204 und 205. – Die Wiederbelebung Händelscher Tonwerke. Von Johannes Kleinpaul. Mit den Bildnissen von Friedrich Chrysander und Hermann Kretzschmar. S. 207. – Ertappt. Skizze aus Tirol von Karl Wolf-Meran. S. 208. (Mit dem Bilde S. 209.) – Pflanzen und Ameisen. Von Dr. P. Taubert. S. 210. (Mit ABbildungen S. 211.) – Der Aktiengarten. Von Isolde Kurz. S. 212. – Die Wirren auf Kreta. Von C. Falkenhorst. S. 216. (Mit Abbildungen S. 213, 216, 217 und 218.) – Blätter und Blüten: Das Feierabendhaus für Lehrerinnen in Wolfenbüttel. S. 219. – Die Gruppe Markgraf Ottos I. für die Siegesallee in Berlin. S. 219. (Zu dem Bilde S. 201.) – Westfälischer Volksbrauch am Palmsonntage. Mit Abbildung. S. 220. – Das billigste Licht. S. 220. – Schlimme Gäste. S. 220. (Zu dem Bilde S. 204 und 205.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.