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Die Gartenlaube (1897)/Heft 14

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1897
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[221]

Nr. 14.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.


Frühling.




Daß von uns der Winter scheide,
Wohl noch weiß ich, wer’s verriet
Amsel, du im schwarzen Kleide
Sangst das erste Frühlingslied
Aus dem Schnee, dem kalten, schwangest
Du dich auf zum kahlen Baum
Wen’ge glaubten, was du sangest
Und es schien ein schöner Traum.

Aber hier und da vernommen
Ward die Botschaft dir geglaubt
Ward es, daß der Lenz gekommen
Eh sich noch der Wald belaubt
Bald aus kühler Luft hernieder
Scholl der Lerchen Jubel auch
Und dann klangen tausend Lieder
Überall von Baum und Strauch.

Sagt, wer hat zuückgerufen
Aus der Fern’ die Sänger all
Die uns einstmals Freude schufen
Durch der Kehlen süßen Schall?
Wem, zur Heimkehr sie zu mahnen,
War das rechte Wort bewußt
Ach, ein Sehnen wohl und Ahnen
Regte sich in ihrer Brust.

Und sie kamen, aufzuwecken
Aus dem Schlaf, was zart und hold
Blüh’nder Schnee glänzt in den Hecken
Auf den Wiesen blüh’ndes Gold
Junges Grün sproßt an den Zweigen
Ersten Rösleins Knospe springt
Denn vorüber ist das Schweigen
Feld und Wald und Heide klingt.

Herz, dem Lenz dich zu verschließen
Ganz umsonst wär all dein Müh’n
Oeffne dich, es zu genießen,
Dieses Klingen, dieses Blüh’n
In dem Blühen, in dem Klingen,
Löst sich leise Freud’ und Schmerz
Frühling kommt, so viel zu bringen
Sollt’ er dir nichts bringen, Herz?

J. Trojan.
[222]

Trotzige Herzen.

Roman von W. Heimburg.

(13. Fortsetzung)

Toni lehnte mit verschränkten Armen an einem Zierschränkchen und starrte ihren Mann an; ihr fahles, unbedeutendes Gesicht war jetzt geradezu häßlich. „Nun?“ fragte sie, als die Thür sich hinter dem Diener geschlossen hatte.

„Ich habe seit längerer Zeit schon mit dir über den Umgang mit Lieutenant Grellert reden wollen, es ist mir nur immer peinlich gewesen, davon anzufangen. Da es sich heute aber gerade so günstig trifft, möchte ich dich bitten, mir zu erklären, was du dir bei diesem Verkehr mit Grellert eigentlich denkst, worauf du hinauswillst – sozusagen?

„Ich bedaure,“ antwortete sie, „du sprichst in Rätseln, du mußt dich deutlicher ausdrücken.“

Er schwieg ein Weilchen. „Du bist nahezu unzertrennlich von diesem Herrn“, sprach er dann. „Des Morgens trittst du Waldspaziergänge mit ihm an, zur Visitenstunde trifft man ihn in deinem Salon, den Fünfuhrthee geruht er unter meinem Dache einzunehmen, falls ihr euch nicht in irgend einem Salon deiner Bekannten oder zum Lawn Tennis trefft, und seit einiger Zeit scheint genannter Herr auch an meinem Tisch auf das Abendessen abonniert zu haben. Es mag ja dieser Familienanschluß ganz nett für ihn sein in Anbetracht der Langweiligkeit seines hiesigen Kommandos, aber es stört mich, ich bin nicht immer in der Stimmung, mit einem fremden Menschen zu konversieren und den höflichen Hausherrn zu spielen. Deshalb möchte ich wissen, aus welchen Gründen du besagten Herrn so außergewöhnlich ehrst und beschützest. Sind mir dieselben einleuchtend, so sei versichert, daß ich deinen Wünschen gewiß nicht hinderlich sein werde.“

Ihre Augen hatten sich zusammengezogen, sie blinzelte zu ihm hinüber, als wollte sie sich vergewissern ob das, was er da sagte, ironisch gemeint sei, aber sie sah nur in ein sehr ernstes und trotzdem gleichgültiges Gesicht. „Was meinst du damit? Was soll ich wünschen? Gründe? Ich habe keine Gründe – welch ein alberner Scherz! Zu deinem ganzen Benehmen paßt es wahrlich schlecht, den Eifersüchtigen zu spielen.“

„Den Eifersüchtigen? Nein, das würde nicht das richtige sein! Nur mit der Ehre meines Namens lasse ich nicht spielen, und deshalb möchte ich bitten, ganz ehrlich gegen mich zu sein! Glaube mir, die Misere unseres Zusammenlebens empfinde ich wahrscheinlich ebenso bitter wie du, aber so lange wir dieses Joch tragen wünsche ich, daß auch nicht der leiseste Tadel dich trifft. – Daß du dich hinaussehnst, nehme ich dir nicht übel, und wenn du mir jetzt sagst. Gieb mich frei, ich will den andern heiratem, so – –“

Sie stand plötzlich vor ihm, blaß, bebend, und trotzdem lachte sie mit den farblosen, zuckenden Lippen „So einfach ist das nicht – nein, so einfach ist das nicht, mein Lieber, den Gefallen kann ich dir mit dem besten Willen nicht thun! Lieutenant Grellert würde derjenige, der dich von mir befreit, nicht sein können, weil er eben eine Null ist in jeder Beziehung, weil er mir gar nicht ’mal gefällt! Ich plaudere mit ihm, um nicht zu sterben in der tödlichen Monotonie meines Lebens, er ist gerade der nächste dazu, und das werden ich mir nicht verbieten lassen! Ich verbiete dir ja auch nicht, in deinen Erinnerungen zu schwelgen, dich in neue Hoffnungen zu versenken, oder – glaubst du vielleicht, ich sei so mit Blindheit geschlagen gewesen von jeher, daß ich deine Herzensaffairen nicht kenne?“

Er sah an der eifernden Frau vorüber, als wäre sie gar nicht vorhanden, dann strich er sich über die Stirn als erwachte er aus einem tiefen Schlaf. „Was sollte ich wohl mit meiner Freiheit?“ sagte er leise. „Aber dafür will ich sorgen, daß diejenige, die meine Frau ist, die meinen Namen trägt, in Ehren besteht. Und deshalb – und erst allmählich erstarkte seine Stimme – „deshalb untersage ich dir das unwürdige Getändel mit dem Herrn Lieutenant.“

„Und wenn ich diesen Befehl nicht respektiere? Wenn ich dir sage, daß ich überhaupt gar nichts weiß von einem ,Getändel’? Wenn ich mir verbitte, wie ein Pensionsmädel von dir behandelt zu werden?“

Er schwieg.

„Nun, dann werde ich wohl eingesperrt? Dann darf ich wohl nicht mit am Tische essen? Dann muß ich vielleicht gar hungern? spottete sie und riß und zerrte an den Schleifen des Hütchens, und als sich endlich die Bänder lösten, schleuderte sie das zierliche Ding aus Fliederblüten und Spitzen auf den Tisch und warf sich in einen Sessel, ihren Mann wie ein gereiztes Tier anschauend.

„Dann“, sagte er, „bleiben mir noch andere Mittel und Wege.“

„Gott, wie romantisch! Wohl gar ein Duell?“ rief sie. „Armer Grellert!“ – Aber plötzlich hielt sie inne und ein kaltes, prickelndes Gefühl schlich ihr durch den Körper und sie fühlte, wie die Zunge ihr im Munde schwer ward. Sie dachte daran, wie vor ein paar Wochen die beiden Herren sich im Park im Pistolenschießen übten und wie ihr Mann nach einer Spielkarte schoß, nachdem er gesagt hatte. „Jetzt das Coeur-Aß heraus, und wie thatsächlich das winzige rote Herz aus seiner weißen Umrahmung gerissen wurde. Doch wenn auch – würde er je diese Kunst zu einer männlichen That gebrauchen – Ach, wie sie ihn haßte, wie er ihr zuwider war, der blasse Mensch mit dem stillen Gesicht und den müden, in Leid förmlich versunkenen Augen. Er stand noch immer am Kamin, strich langsam mit der Hand durch den Vollbart, den er jetzt trug und der ihn viel älter erscheinen ließ, und starrte auf dem Teppich umher. – Ein Greis im Anfange der Dreißiger, das Zerrbild eines Mannes ohne Energie, ohne Kraft, sagte sie sich, ihn verächtlich musternd. Früher brauste er wohl noch einmal auf in einem Wutanfall – jetzt? Blasse Renommage, wenn er von anderen Mitteln und Wegen sprach!

Eine lange Pause entstand man hörte das leise Ticken der Uhr auf dem Kamin und das Knistern der seidenen Röcke der jungen Frau. Endlich hielt sie sich nicht länger.

„Nun kannst du auf deinen Lorbeeren ausruhen“ begann sie schneidend, „freue dich, du hast deinen Willen durchgesetzt und mir einmal wieder eine Freude verdorben. An deiner Stelle würde ich jetzt gehen, du schläfst hier sonst ein – du vergißt wohl ganz, daß Heini allein ist –“

„Ich gehe schon,“ erwiderte er gelassen, „Heini ist zwar nicht allein, denn Hedwig sitzt bei ihm, sie kam vorhin und wird auf meine Rückkehr warten. Ich bedauere ferner, daß du um das Konzert gekommen bist, glaube aber, bei näherer Ueberlegung wirst du einsehen, daß ich recht habe. Du bist nun gewarnt.“

„Natürlich,“ bemerkte sie beißend, „recht – wie immer! Und gewarnt bin ich auch –“

Er hörte es nicht mehr, er war schon hinausgegangen. Hedwig Kerkow saß geduldig am Fahrstuhl des Kindes unter den Kastanien, durch deren Laub die Goldstrahlen der Sonne spielten.

„Du siehst so schrecklich blaß aus“, sagte sie, als er ihr wieder gegenüber saß und, die Hand auf den Blondkopf des Kindes gelegt, zerstreut in die Ferne hinausblickte.

„I, das ist deine Einbildung, Hede, übrigens ist’s ja möglich – Tante Gruber ist krank, und das irritiert mich ein wenig; ich bin so leicht jetzt erschreckt, wie eine nervöse alte Jungfer.“ Er lächelte trübe dabei.

Hede sah ihn traurig an „Du hättest mitfahren sollen. Heinz,“ meinte sie, „ich hätte dir den Heini schon gehütet indessen.“

Er wechselte plötzlich die Farbe. „Unsinn!“ sagte er kurz und scharf.

„Du hast recht, Heinz, du bist nervös,“ erklärte die Schwester aufstehend, „und wenn das so weiter geht –“

„Laß es deine Sorge nicht sein!“ lautete die ebenso kurze eigensinnige Antwort.

„Ist denn Toni hinübergefahren?“ fragte Hede, die unartige Antwort überhörend.

„Nein!“

„Ist sie bei Tante Gruber?“

„Ich weiß es nicht,“ antwortete er ungeduldig.

[223] „Nun, dann leb’ wohl, Heinz – es ist besser, du bleibst allein,“ sagte sie.

Er hielt ihr die Hand hin. „Sei nicht böse, Hede, mich quält vieles so sehr!“

„Wo werd’ ich dir böse sein, Heinz! Ich bin auch gar nicht gewöhnt, daß sich meinetwegen jemand geniert in seinen Launen“, lächelte sie.

Er sprang empor und sah erschreckt in ihr Gesicht, und sie blickte ihn an mit den ruhigen grauen Augen, in denen es nun feucht emporquoll.

„Meine arme Hede,“ sagte er und zog sie an sich.

„Mir fehlt gar nichts, Heinz,“ wehrte sie eifrig, „es geht mir so gut, viel zu gut, Heinz!“

Er nickte. „Ja, ja, nichts als ein bissel Sonne – man hat sich’s so anders vorgestellt, aber, es ist nichts, darüber zu reden, hast recht! Komm, Heini, wir begleiten die Tante durch den Park nach Hause!“

Er erfaßte den Handgriff des Wägelchens und die Geschwister wanderten langsam nebeneinander her durch den einsamen verlassenen Garten. Am Marstallthor trennten sie sich; Hede ging der Oberförsterei zu, Heinz fuhr seinen kleinen Kranken auf kürzestem Wege zum Schlosse empor.

„Bist du böse, Papa?“ fragte das Kind, als er dann stumm am Bettchen saß, nachdem das Mädchen. den Kleinen umgezogen, ihm seine Milch gebracht und ihn sein Gebet hatte sprechen lassen.

„Nein, mein Junge – wie kommst du darauf?“

„Du erzählst heute gar nichts.“

„Ich werde gleich anfangen, Heini, ich dachte mir, du wärest sehr müde.“

„Ja, Papa! Und du auch?“ „Ich auch, Heini“.

„Dann sollst du nicht erzählen, heute nicht, dann morgen abend. Vergiß, bitte, nicht, wo du aufhörtest, Papa – der junge Knappe machte sich gerade auf die Reise, um die schöne Prinzessin zu suchen, und sein Wams war aus blauem Atlas, und seine Rüstung von Silber mit einer goldnen Sonne auf der Brust.“

„Ich vergesse es nicht, Heini.“

„Findet er sie, Papa?“

„Ich hoffe doch, Heini.“

„Ich weiß, wie sie aussieht, Papa!“

„Wirklich?“

„Ja, wie die Dame, die mir gestern früh das Glas hielt mit der Milch – sie war so lieb, und die Augen glänzten so schön, und weinen kann sie auch, wie die Prinzessin.“

Heinz faßte nach der Hand des Kindes, er dachte, es phantasierte, aber die Augen des Kleinen sahen ruhig und klar zu ihm empor in dem Dämmerlicht der rotverschleierten Lampe.

Das Mädchen trat noch einmal herein mit einem Glas Citronenlimonade, die das Kind während der Nacht in kleinen Schlückchen zu trinken liebte.

„Wer war die Dame, die sich gestern im Park mit Heini beschäftigte?“ fragte Heinz.

„Ich habe sie zuerst nicht erkannt“, stotterte verlegen die Person, „aber die Förstersfrau, die ich nachher frug, meinte, es sei Medizinalrats Fräulein gewesen.“

Er nickte kurz und wandte sich zu dem Kinde. „Schlafe, mein liebes Herz,“ sagte er mühsam.

„Sie war so lieb“, versicherte der Kleine nochmals, als das Mädchen sich entfernt hatte, „und sie hat um mich geweint, Papa.“ Dann lag er ganz still, schloß nach einem Weilchen die Augen, und endlich schlief er. –

Es hatte neun Uhr geschlagen, als Heinz aus dem Zimmer schlich, um ihn nicht zu wecken. Er beorderte das Mädchen in die Nebenstube und ging hinüber nach dem Salon seiner Frau. Es war dunkel drinnen, die Fenster standen offen und draußen im Fliedergebüsch schlugen die Nachtigallen. „Bist du hier, Toni?“ fragte er.

Keine Antwort.

Er klopfte an die Thür ihres Schlafzimmers – keine Antwort. Sie wird bei Tante Gruber sein, sagte er sich und pochte eine Treppe tiefer an. Die ältliche Jungfer öffnete mit an die Lippen gelegtem Finger. „Gnä’ Frau haben Chloral genommen“, flüsterte sie, „und sind eben eingeschlafen.“

„Pardon“, sagte Heinz, „ich glaubte, meine Frau sei hier.“ „Frau von Kerkow ist wohl im Park, ich sah sie über den Schloßhof gehen,“ wisperte das Mädchen.

Heinz stutzte, sie war sonst so ängstlich abends. Er dankte, schritt die Treppen hinunter und betrat ebenfalls den Schloßgarten durch die Seitenpforte. Vielleicht fand er sie. Es lag ihm daran, sie noch zu sprechen, er hatte das drückende Gefühl, seit Jahren zu hart gegen sie gewesen zu sein; er durfte sie nicht weiter reizen durch Strenge und Gleichgültigkeit – er gedachte einzulenken, er mußte – es durfte so nicht weiter gehen! Er wollte dies alles, weil er sich selbst schuldig fühlte, weil er mit seiner Gewissenhaftigkeit, seiner peinlichen Pflichttreue nicht Schuld gegen Schuld setzen wollte, weil er einen Halt, eine Rettung in seiner Pflicht zu finden hoffte, Rettung gegen die alte heiße Liebe, die ihn jählings überfallen, seitdem er Aennes Namen wieder gehört, erfahren hatte, daß sie seiner noch gedachte. Sie hatte geweint über sein krankes Kind – warum mußte er das heute auch noch erfahren!

Und er wollte nicht wieder hinaus in die Stürme, aus denen er sich für immer gerettet glaubte, er wollte in der Wüste zu Grunde gehen, die er sich selbst geschaffen, die Toni ihm schuf. Er wollte ihr sagen. Wir gehören ja doch nun einmal zusammen um des Kindes willen laß uns in Gottes Namen Frieden halten nebeneinander! Ich will mich aufraffen aus dem Starrkrampf der letzten Jahre – es geht nicht länger so!

Er stürmte durch die Wege mit großen Schritten dunkel und schwül war die Nacht und die Nachtigallen schlugen lauter als je. In der Lindenallee setzte er sich auf eine Bank, vor ihm im Teich hielten die Frösche Konzert, als wollten sie die Nachtigallen überschreien. Ueber der dunklen Wasserfläche und der schwarzen Masse der Baumgipfel zuckte von Zeit zu Zeit ein fernes Wetterleuchten, die Lindenblüten dufteten stark und süß und der Märchenzauber legte sich wie betäubend um seine Sinne.

Er sagte sich noch ein paarmal, Toni müsse längst wieder droben sein, er wolle hinaufgehen, wolle mit ihr reden und blieb doch regungslos sitzen. Hinter ihm, durch die Allee fuhr im Schritt ein Wagen vorüber, und sich umwendend erkannte er den Hofwagen, mit dem Lieutenant Grellert nach der Kreisstadt gefahren war. Kutscher und Diener schwatzten miteinander, offenbar saß niemand darin, der Offizier hatte sie heimgeschickt, weil er drüben noch Gesellschaft gefunden – richtig, es fand ja ein Ball statt nach dem Konzert. Das hatte Toni nun alles versäumt! Natürlich, es war ja verrückt von ihm, diese Frau mit dem lebenslustigen Sinne zwingen zu wollen an das Siechbett ihres Kindes. Sie hatte die richtige Lebensauffassung! Zum Teufel, man macht es doch nicht besser mit dem ewigen Trübsalblasen, ändert nicht das Geringste und – was schadet’s denn, wenn der kleine Bursche dann und wann mit dem Mädchen allein bleibt? Nichts, gar nichts! – Dumme Sentimentalität ist’s, wenn man die Sachen nicht nehmen will, wie sie einmal liegen, ja ja! – –

Und er blieb sitzen und schalt auf sich und rüttelte sein Herz in der Brust zurecht und mühte sich, ihm etwas einzureden das er selbst nicht glauben wollte, und in diesem Widerstreit war es ihm, als ob plötzlich die Stimme des Kindes laut und deutlich sagte: „Und sie hat um mich geweint, Papa!“

Er sprang empor und schritt plan- und ziellos in den Park hinein, zuerst rasch dahinstürmend, dann langsam, immer langsamer, und plötzlich hielt er inne. Es herrschte tiefe Stille um ihm, die Nachtigallen waren verstummt und die Frösche auch. Er stand im Dunkel eines Baumganges, dicht vor ihm auf einer kleinen Lichtung erblickte er, kaum erkennbar, das geschweifte Dach des Theepavillons, und daraus scholl halblaut und doch deutlich, furchtbar deutlich, die Stimme Tonis!“

„Kurz und gut, ich sage es noch einmal, er hat Verdacht – sei vorsichtig!“

Und ebenso deutlich klang die Antwort „Zum Teufel auch, das ist peinlich!“

Eine Eiseskälte überfiel Heinz, und dabei ein Reiz zum Lachen über sich selbst – den dummen guten anständigen Kerl, der er war.

[224] Und was nun? Was nun? Hineinstürzen in dieses unselige Versteck? Den Buben ins Gesicht schlagen, das Weib am Arm packen und jenem vor die Füße schleudern? –

Er hielt sich an dem Stamme der Weißbuche, neben der er stand – ihm schwindelte, er keuchte und ein Stöhnen rang sich von seinen Lippen. Mit Aufbietung aller Kräfte setzte er einen Fuß vor den andern, und am Pavillon angekommen, lehnte er sich, wieder schwankend, an den roh behauenen Eingangspfosten.

Eine Gestalt trat ihm entgegen. „Grellert!“ stieß er hervor.

„Sie hier, Kerkow?“ fragte die wohlbekannte näselnde Stimme zurück. „Famoser Abend – wollen Sie nicht Platz nehmen?“ Und gleichzeitig strich er ein Zündhölzchen an, das für ein paar Sekunden den kleinen Raum völlig erhellte.

Er war leer, die in der Rückseite befindliche Thür offen.

„Grellert“, sagte Heinz fast heiser, „Sie sind ein Schurke!“

„Herr!“

„Ein Schurke – sage ich!“ – wiederholte Heinz fast schreiend.

„Sie werden von mir hören, Herr Schloßhauptmann!“

Heinz lachte laut und höhnisch und wandte ihm den Rücken.

Er wußte später nie mehr, wie er sich nach Hause gefunden, er erinnerte sich nur, daß er gegen Morgengrauen noch immer in seinen Kleidern neben dem Bettchen des Kindes gesessen und immerfort den Gedanken in seinem Kopfe umhergewälzt hatte, was wird aus ihm, wenn es für mich schlecht ausgeht? Hede ist ja da – natürlich! Aber das arme, in abhängiger Stellung befindliche Mädchen noch mit der Sorge für das Krüppelchen belasten zu wollen das hieße grausam handeln. – Die Mutter würde es einfach vernachlässigen, und als Frau dieses gewissenlosen Bengels? – – Es schüttelte ihn – – nur das nicht! Das an Liebe so gewöhnte Kind durfte nicht verkümmern. Hinterlassen konnte er ihm natürlich nichts, gar nichts, und unter solchen Umständen einen Zweikampf ausfechten, einen mit geschärften Bedingungen? Die Ehre will’s freilich so, ja, ja – ach diese alberne unverständliche Welt! Das beste wäre, er nähme den Revolver und schösse zuerst das jammervolle kleine Geschöpf da und hinterher sich selbst tot. Aber nein, das wäre feige, und außerdem, es geht nicht, denn er hat kein Recht dazu!

Er erhob sich schwerfällig und ging ins Nebenzimmer an seinen Schreibtisch. Dort warf er ein paar Worte auf eine Karte, steckte sie in ein Couvert und adressierte es. Er wollte klingeln und sah auf die Uhr – es war noch viel zu früh, die erste graue Morgendämmerung drang eben durch die Fenster. Ihn fröstelte, er trat an den Liqueurschrank und nahm eine Flasche Cognak und ein Glas heraus, trank und streckte sich dann auf das Ruhebett neben dem Schreibtisch.

Ein paarmal glaubte er, im Nebenzimmer leise Tritte zu hören, aber es mußte Täuschung sein; Toni stand nicht vor zehn Uhr auf, auch konnte sie ja noch keine Ahnung haben. Dann kam eine bleierne Müdigkeit über ihn und er schlief ein.

Mit heftig schmerzendem Kopf erwachte er, taumelte empor und blickte ins Nebenzimmer nach dem Bettchen des Kindes, die großen Augen lugten wach aus dem geduldigen blassen Antlitz verwundert zu ihm herüber. „Papa“ sagte der Kleine, „es ist schon so spät und ich bin hungrig, aber wenn du müde bist, warte ich noch.“

„Nein, mein Herz, nur das Gesicht mit kaltem Wasser waschen, dann öffne ich die Fenster und klingele um dein Frühstück. „Kommst du dann mit mir in den Garten?“

„Ja, das heißt, heute nicht, mein Junge, ich habe nämlich – ich erwarte einen Besuch, aber dann, dann werde ich dich sogar in den Wald fahren, und dort wollen wir den ganzen Tag zusammenbleiben.

Das Kind nickte befriedigt. Als Heinz die Schelle zog, die das Mädchen herbeirufen sollte, fiel sein Blick auf die Uhr, er erschrak – halb elf Uhr vorüber! Grellerts Kartellträger hätte längst da sein müssen.

„Ist niemand hier gewesen, der nach mir fragte?“ forschte er das Mädchen aus.

„Niemand, Herr Schloßhauptmann. Soll ich das Frühstück für Herrn Schloßhauptmann auch hierher bringen?“

„Nein“, ich gehe hinüber. Bedienen Sie Heini heute!“

„Gnä’ Frau sind aber nicht zu Hause.

„Meine Frau? Wo –“

„Wir haben gnä’ Frau schon überall gesucht, und Frau von Gruber schickte schon um acht Uhr nach oben; sie ist kränker geworden, aber gnä’ Frau war nirgends zu finden.

Er war mit ein paar Schritten durch das Nebenzimmer geeilt und hatte die Thüre nach dem Salon aufgerissen. Die ganze Schwüle des gestrigen Tages, gemischt mit dem Geruch, der aus Blumenvasen quillt, die nicht täglich mit frischem Wasser gefüllt wurden, schlug ihm entgegen. Er durchmaß auch dieses Zimmer, gelangte von dort in die Eßstube und musterte den unberührten Frühstückstisch, und dann trat er in Tonis Schlafzimmer. Das Bett war unberührt; in der roten Ampel unter dem Plafond brannte trübe ein Oellämpchen, dem Verlöschen nahe. Vor dem Toilettentisch lagen einzelne zusammengeknüllte Papierballen, die Schübe waren aufgezogen und in demjenigen, welchem die junge Frau ihren Schmuck anzuvertrauen pflegte, steckte der Sicherheitsschlüssel. Er trat näher und öffnete: die roten Juchtenetuis mit dem Namenszug der Besitzerin und der siebenzackigen Krone darüber waren verschwunden, statt dessen lag ein Brief da, an ihn adressiert. Mit der flüchtigen charakterlosen Schrift Tonis war geschrieben:

„Du wirst zugeben, daß es ein Blödsinn wäre, wenn Ihr Euch duelliertet. Ich habe daher Grellert gebeten, mit mir heute bereits abzureisen; in einigen Wochen wäre es ohnehin geschehen, denn so konnte ich nicht weiterleben! Grellerts Onkel ist ein sehr reicher Mann, wir gehen zu ihm nach New York. Er hat keine Kinder und seinen Neffen schon seit längerer Zeit inständig gebeten, herüberzukommen. – Für uns ist gesorgt, und Dir ist auch geholfen. Du bist frei. Ich scheide mit dem beruhigenden Bewußtsein, daß weder Du noch Heini mich vermissen werden. Nach gewisser Zeit werden wir geschieden sein, und dann wirst Du vielleicht auch noch glücklich – ich gönne es Dir.

So leb’ wohl, der Vorhang ist gefallen, das Trauerspiel unserer Ehe zu Ende. Daß es ein wenig plötzlich schloß, ist Schuld des Zufalls, der Dich gestern in den Park führte. Mache keine Thorheiten und versuche nicht, den Vorhang wieder aufzuziehen, dies meine letzte Bitte. Toni.“

Mit dem Briefe in der Hand trat er eine Stunde später an das Bett der alten pensionierten Hofdame. Sie lag mit starren Augen und hochroten Wangen und wand das spitzenbesetzte Tüchlein in den mageren Händen.

„Ach Heinz, Heinz,“ stotterte sie, „ich hätte dich früher warnen sollen! Ich hab’s ja schon längere Zeit gemerkt, aber man will doch so ungern zwischen Eheleute reden.“

„Beruhige dich nur, Tante,“ sagte er beschwichtigend.

„Ich bitte dich, Heinz – was hast du unternommen? Hast du telegraphiert? Sie muß doch wiederkommen, und du mußt dich mit ihm schlagen!“

„Ein fahnenflüchtiger Offizier ist nicht mehr satisfaktionsfähig,“ sagte er hart, „und ein davongelaufenes Weib nehme ich nicht wieder.“

„Du bist verrückt, Heinz – so urteilt der Spießbürger, aber kein Edelmann! Du mußt ihn fordern!“

„Nein – er mich!“ Ich nannte ihn einen Schurken, als solcher geht er nun hinüber. – Es fällt mir nicht ein, einen trojanischen Krieg anzufangen um diese Frau, ich wünsche glückliche Fahrt!“

„Man wird alle Schuld auf dich wälzen!“ schrie sie, „man wird ’sagen –“

„Mögen sie! Was geht übrigens die Menschen an, ob dem Kerkow die Frau davonläuft?“ fuhr er bitter fort. „Es wird schließlich ein jeder begreiflich finden – der Kerl ist ja halb verdreht, nächstens reif für das Irrenhaus! Ein Teil menschenscheuer noch, ein Teil empfindlicher und mutloser wird er wohl noch werden, und wenn das Kind die Augen zuthut – dann –“ er hatte sehr leise gesprochen – „Na, aber bis dahin hält man es aus, muß es aushalten. Guten Morgen, Tante!“

Sie sah ihm nach mit großen angstvollen Augen, wie er in der Thür verschwand, ein Mann, ohne einen Funken Energie, zu nichts mehr fähig!

„Meine Frau ist auf mehrere Woche verreist,“ sagte Heinz Kerkow zu den Dienstleuten.

Um Mittag kam eine Depesche vom Regiment an Lieutenant

[225]

Am Ostermorgen.
Nach einer Originalzeichnung von A. Schmidhammer.

[226] Grellert, mit dreitägiger Urlaubsbewilligung nach Bremen. Der Unteroffizier meldete es dem Herrn Schloßhauptmann, und auch, daß er vorläufig das Kommando übernommen habe. Heinz nickte stumm – was ging ihn die Reise des Lieutenant Grellert an, was das düpierte Regiment!

Als Heini nach Tische schlief, verschloß er selbst die Läden und die Thüren der Zimmer, die Toni bewohnt hatte, und legte die Schlüssel in seinen Schreibtisch, dann saß er am Fenster und schaute über die kleine Stadt hinweg, die noch nichts ahnte von dem neuen prächtigen Klatschstoff. Welche Lust! Er sah sie bereits zusammensitzen, die Bierphilister am Stammtisch, sah das Stubenmädchen der Frau Oberamtmann in wehender, weißgestärkter Schürze mit Kaffee-Einladungen von Haus zu Haus eilen – so was mußte ja ausführlich besprochen, mußte gefeiert werden! Etwas Interessanteres hatte es seit Menschengedenken nicht gegeben in Breitenfels: dem Schloßhauptmann von Kerkow war die Frau durchgebrannt mit dem Lieutenant der Schloßwache! – Geschieht ihm recht! Geschieht ihm recht!

Er lächelte vor sich hin. Was war aus ihm geworden? Und plötzlich, ohne daß er es selbst wollte, flogen seine Blicke zu dem kleinen Hause hinunter, in dem Aenne May jetzt weilte, und das Lächeln verschwand. Würde auch sie lachen? Er schüttelte den Kopf. Ach, und wenn auch – er brauchte es ja nicht zu sehen, nur den Frieden sollten sie ihm lassen!

Mochten sie alle lachen, mochte die Eine weinen über ihn, ihm war es recht, nur den müden Frieden sollten sie ihm lassen, der ihn in seiner einsamen Stube, in dem leeren Schlosse so wohlig überkam angesichts des schlummernden Kindes – den müden Frieden, der sich wie ein linder Balsam über seine wunde Seele senkte.

(Fortsetzung folgt.)




Emil Rittershaus.
Ein Nachruf.

Es ist nur wenig über ein Jahr vergangen, da widmete Emil Rittershaus dem Gedächtnis seiner über alles geliebten Frau, die ihm der Tod jäh von der Seite gerissen hatte, ein tiefergreifendes Gedicht an dieser Stelle. Er pries darin die sonnige Gemütsart der Verblichenen, die seines Dichtens Muse, seines Lebens und Strebens treuester Kamerad gewesen war, und schloß mit dem Gelöbnis, in ihrem Sinn und Geist weiterleben zu wollen – trotz Trauer und Trennungsweh:

„So lang’ des Lebens Flamme in mir kreist,
Will leben ich, mein Weib, in deinem Geist,
Will wirken ich, mein Weib, in deinem Sinn,
Du meine Sonne, Sonnenschwärmerin!
Wo sich die Kummerwolke drohend ballt,
Will bringen ich der Liebe Lenzgewalt –
Wo Trübsinn häuft die schweren Nebel dicht,
Will bringen ich des Frohsinns Sonnenlicht …“

Er hat das Gelöbnis treu gehalten – noch die letzte Weihnachtsnummer der „Gartenlaube“ brachte davon einen rührenden Beweis, aber er hat es nicht lange halten dürfen, bald, viel zu bald für die Vielen, die seine Dichtung sich zu Freunden gewonnen, ist er der Betrauerten ins Grab gefolgt. Die zehrende Macht des Schmerzes war stärker als sein guter Wille. Ein schweres Herzleiden untergrub seine einst so kräftige Gesundheit – die „Sonne seines Lebens“ war untergegangen, die Sehnsucht nach ihr trieb seine Seele von hinnen. Aber auch er war von sonniger Art, und Sonnenglanz umleuchtet die Spur seines Scheidens. Wie hat aus den Augen, die sich nun für immer geschlossen, diese sonnige Gemütsart geleuchtet, bald hellaufblitzend im Funkensprühn des Humors, bald heiß aufwallend, wenn dichterische Begeisterung sein Herz bewegte! Und was er am Grabe der Gattin sich für den Rest seines Lebens damals gelobt, ist die Mission seiner ganzen Dichterlaufbahn gewesen: der „Liebe“ Lenzgewalt zu offenbaren, wenn „Kummerwolken sich türmten“, die „Nebel des Trübsinns“ mit „des Frohsinns Sonnenlicht“ zu verjagen!

Das warmblütige genußfrohe Naturell des Rheinländers hat in Emil Rittershaus eine ganz besonders anziehende dichterische Verkörperung gefunden. „Am Rhein und beim Wein“ – wie er einen Band seiner Gedichte genannt hat – ist sein poetisches Wesen heran gediehen zu schnellem Wachstum und blütenreicher Entfaltung. Wohl ist seine Vaterstadt, in der er am 11. März nun auch sein Grab gefunden, das industriereiche Barmen im Wupperthal, etwas abseits von dem herrlichen Strom gelegen, in dem sich Deutschlands schönste Rebenberge spiegeln. Doch das hinderte ihn nicht, in frischer Jugend an den Ufern rheinab, rheinauf heimisch zu werden und die ganze rheinische Schönheitswelt als seine Heimat zu empfinden. Dem daseinsfrohen Naturell war aber auch ein ernster Zug beigemischt, den er selbst auf seine westfälische Abstammung zurückführte. Ernste Jugendeindrücke, der Zwang, der ihn zum Handelsstand bestimmte, wo er lieber Naturwissenschaften studiert hätte, der frühe Verlust der innig geliebten Mutter vertieften diesen Zug, und anderes kam hinzu, das ihn bald gewöhnte, dem Ernst der Zeit teilnehmend ins Antlitz zu schauen.

Es war das Jahr 1849, als er die Schule verließ. Hoch gingen die Wogen des politischen Lebens auch in den an sozialen Gegensätzen so reichen Industriestädten des Wupperthals. Als hochgefeiert umklangen das Ohr des Jünglings die Namen von Kinkel und Freiligrath, den rheinischen Dichtern auf deren Lippen das Lied zur Waffe geworden war im Kampf für die Sache des Volks gegen Unrecht und Unterdrückung, die das Schicksal zu Märtyrern ihres kühnen Bekennermutes gemacht hatte. Ihr Beispiel wirkte mächtig anfeuernd auf den jungen poetischem Landsmann, dessen Muse bisher am liebsten geselliger Lust gedient hatte, den Becher mit Rosen bekränzend, und der sich nun auch der politischen Zeitdichtung zuwandte, namentlich das Vorbild Freiligraths wurde für ihn auf lange hinaus bestimmend. Aber der heiße Zornesmut des westfälischen Leuen fehlte dem Sänger eines jüngeren Geschlechts. Wohl fand auch Rittershaus kraftvolle Töne als Kämpfer für Freiheit und Recht, aber die Volkserhebung war für ihn kein unmittelbares Erlebnis gewesen, die Zeit der fünfziger Jahre in der er zum Manne reifte, war keine Epoche der Revolution mehr, sondern der Reaktion. Da kam unter dem Druck derselben eine neue Volksbewegung in Fluß. Diese revolutionierte zwar nicht, aber sie manifestierte – und zwar vernehmbar genug für das unvergessene Ideal eines in Freiheit geeinten Deutschlands, sie manifestierte auf den großen Bundesversammlungen der geeinten deutschen Sänger, Turner und Schützen. Und diese Bewegung, deren Verdienste um die Neugestaltung des Reichs erst neuerdings auch von Bismarck anerkannt worden, fand in Emil Rittershaus den berufenen Dichter. Hier fand er sich vor Aufgaben gestellt, an denen sich sein ernster Anteil am politischen Leben und seine Lust an frohem Festbehagen, seine patriotische Begeisterung und freiheitliche Gesinnung, sein fröhlicher Humor und seine markige Sprachkraft in vollster Harmonie bethätigen konnten. Hier durfte er seinen politischen Idealen als Dichter dienen im reinen Einklang mit dem Grundzug seines Wesens, den das Wort der Antigone wohl am besten bezeichnet. „Nicht mitzuhassen – mitzulieben bin ich da!“ Diese Begrüßungs- und Weihegedichte, oft von ihm selbst mit seinem volltönigen sympathischen Organ im Tone heiliger Ueberzeugung und mit dem Ausdruck augenblicklicher Eingebung vorgetragen, wirkten auf die gewaltigen Volksversammlungen mit geradezu hinreißender Macht. Und wenn wir sie heute – in so veränderter Zeit – lesen, müssen wir immer noch seine Kunst und Kraft bewundern, einen begeisternden Gedanken, der Tausende erfüllt, in poetischer Fassung zu echt volkstümlichem, stets edlem und kräftig zündendem Ausdruck zu bringen.

In jener Zeit erschien auch sein erster Beitrag in der „Gartenlaube“. Es war der Festgruß für das große deutsche Bundesschützenfest in Bremen. Seitdem ist kaum ein Jahr vergangen, in welchem die „Gartenlaube“ nicht wenigstens ein Gedicht von Rittershaus gebracht hätte, das in besonderem Maße [227] ihrem Charakter als Volks- und Familienblatt entsprach. Er begegnete sich mit ihr in dem Drange, die nach Gestaltung ringenden nationalen Ideale im Volke frisch zu erhalten und die Erinnerung an deren Herolde und Pioniere zu pflegen. Wie herrlich ist z. B. in diesen Blättern sein Lied zu Ehren Ernst Moritz Arndts, seiner früheren Meister und nachherigen Freunde Hoffmann von Fallersleben und Ferdinand Freiligrath erklungen! Es entstand ganz von selber ein Zusammenwirken, das dem Verstorbenen mit Recht die Bezeichnung des „Dichters der Gartenlaube“ eintrug. Wie hat er es verstanden, in Zeiten schwerer Heimsuchung, welche die ganze Nation empfand, den Ruf nach gemeinsamer Hilfe in poetische Worte zu kleiden, die von Herz zu Herzen drangen und dann auch wirklich, dank der weiten Verbreitung der „Gartenlaube“, ein nationales Hilfswerk ins Leben riefen! Als 1866 der deutsche Bruderkrieg entbrannt war und das Elend der Verwundeten zum Himmel schrie, da erschien sein Gedicht „Zu Hilfe!“ An alle deutschen Herzen, mit dem die „Gartenlaube“ ihre große Sammlung für die Pflege der Verwundeten aller deutschen Heere einleitete …

„Zum Himmel hallt ein Jammerschrei
Von Herzen die in Schlachten brechen –
Nun schweigt die Stimme der Partei,
Nun hat das Herz ein Recht, zu sprechen! …“

Emil Rittershaus.
Nach einer Kreidezeichnung von Ludwig Knaus.
Photographie im Verlage von Emil Flasche in Barmen.

Auch während diese Heere dann geeint in Frankreich von Sieg zu Sieg, aber auch von Schlachtfeld zu Schlachtfeld schritten, eröffnete die „Gartenlaube“ eine Sammlung „für die Verwundeten und die Frauen und Kinder unserer unbemittelten Wehrleute, und wiederum war es Rittershaus, der sich mit seiner herzenswarmen Lyrik in den Dienst dieses Liebeswerks stellte.

Welche Früchte ein solches Zusammenwirken im Dienste der Menschenliebe zeitigte, dafür aus neuerer Zeit noch ein Beispiel! Im Herbst 1888 ließ Rittershaus das Gedicht „Eine Bitte für arme Kinder“ in diesen Spalten erscheinen. Mit ergreifender Schlichtheit war darin das Schicksal jener armen Schulkinder geschildert, deren Eltern ihr mühselig Tagewerk schon bei Tagesgrauen hinaustreibt, ohne daß sie ihren Kleinen mehr als trocken Brot zum Frühstück zurücklassen können. Es zeigte die schlechtgekleideten barfüßigen Kinder beim Schulweg über Schnee und Eis. Frosterstarrt und ungesättigt nahen sie der Schule, wo dann die Zucht von ihnen verlangt, daß sie den andern gleich ihre Schuldigkeit thun.

„Ach, warum irrt das matte trübe Aug’
So oft umher, was zittert in der Hand
Der Griffel? – – – – – – –
– – – Habt ihr Hunger je gekannt?
Seid ihr durchfroren nach der langen Nacht
Einmal auf Stroh am Morgen aufgewacht,
Habt mit dem ersten Blick nur Not geschaut,
Habt dann als Imbiß trocknes Brot gekaut? –
Fürwahr, wenn ihr es einmal nur gesehen
Ihr könnt nicht herzlos mehr beiseite stehen …
Und kann man auch nicht helfen allen, allen,
Die auf der Armut Dornenwegen wallen,
Den hagern Mündlein, die da hungernd beben –
Das Frühbrot laßt uns jenen Kleinen geben! …“

Bald nach der Veröffentlichung erhielt die Redaktion zahlreiche Zuschriften mit Geldspenden, darunter viele, die um Organisation des angeregten Liebeswerks baten. Der Dichter selbst machte darauf praktische Vorschläge. Und am Schlusse des Jahres konnte den Lesern mitgeteilt werden, daß diese Vorschläge zur Frühstücksverteilung an arme Schulkinder in verschiedenen Städten verwirklicht worden seien. In Stuttgart hatte ein wohlthätiger Bürger allein 100 000 Mark für diesen Zweck gestiftet.

Diese Beispiele bilden nur einen kleinen Teil dessen, was Rittershaus in solcher Weise als „Dichter der Gartenlaube“ geleistet hat, und noch größer ist die Zahl der Gedichte, in denen er, wie nach den Siegen in Frankreich, bei der Anregung und dann der Einweihung des Niederwald-Denkmals, einer hohen festlichen Stimmung der ganzen Nation wahrhaft volkstümliche herzentsprossene poetische Gestaltung gab. Auch für die Deutschen in Amerika wurde er wiederholt zum lyrischen Verherrlicher ihres gemeinsamen Empfindens. Schon in den sechziger Jahren mit seinen Festgedichten für das große Sängerfest in Chicago und zum „Humboldtsfest“ in der alten und neuen Welt, später, als deutsch-amerikanische Gesangvereine ihn um ein Bundeslied gebeten hatten. Die „Gartenlaube“ setzte damals einen Preis aus für die beste Komposition des von ihr veröffentlichten Liedes.

Der hingebenden Vaterlands- und Menschenliebe, die unser Dichter so oft und so erfolgreich bethätigt hat, entsprach aber auch die Innigkeit seines Empfindens in seinen ganz persönlichen Herzensangelegenheiten. Der Schwerpunkt seines Poetendaseins wie seines bürgerlichen Lebens blieb immer in der Familie. Schon in frühem Lebensalter hatte er gesungen:

„Nicht steh’ ich um den Segen ew’gen Glückes,
Nicht steh’ ich um ein flüchtig Erdengut.
Gieb, ew’ger, nur in Stürmen des Geschickes
Dem leiste Kraft und meinem Herzen Mut!
Den Pfad des Rechtes laß mich ruhig schreiten,
Ob still die Lust, ob wild die Stürme wehn,
Und Eines gieb mir, Gott, zu allen Zeiten.
0, die ich liebe, laß mich glücklich sehn!“

Dem Andenken seiner zärtlich geliebten Großmutter, seiner Eltern hat er Gedichte voll rührender Dankbarkeit geweiht, und seiner Gattin Ruhm erklang von allen Saiten seiner Leier. Wie unsere Leserinnen nicht nur erst aus dem oben erwähnten Gedicht an die Verstorbene wissen, lebte Rittershaus in sehr glücklicher Ehe. Als er Hedwig Lucas, die Tochter eines Fabrikanten in Elberfeld, heiratete, war er erst 22 Jahre alt – er gehört zu denen, an welchen sich das Sprichwort „Jung gefreit, hat niemand gereut“ – in schönster Weise erfüllt hat. Unter den Dichtern, welche das Glück solcher Ehe, die zarten Regungen des Vaterherzens, die gemütlichen Freuden des intimen Familienlebens aus tiefstem Dankgefühl verherrlicht haben, steht Rittershaus ebenbürtig neben Freiligrath. Das von ihm besungene „Doppelkleeblatt“, drei Knaben und drei Mädchen, war dieser Ehe Segen, und gar mancher hübsche Zug aus der Kinderstube ist uns mit dem vollen Reiz seiner Besonderheit in Gedichten wie „Die Sonntagspuppe“ aufbewahrt. „Kummerwolken“ blieben freilich auch diesem Glück nicht erspart, aber dieses bestand die Probe. Das schöne Gedicht „Am letzten Lenztage“, in dem er sein liebliches Anwesen im waldbekränzten Mirke bei Elberfeld schildert, das er infolge geschäftlicher Krisen einbüßte, schließt er mit dem Bewußtsein, daß die Seinen, sein Weib und seine Kinder, „die Welt in seinem Herzen“, doch sein bester Reichtum sind. Gerade die Zeiten der Sorge ließen ihn erst recht empfinden, welchen Schatz er in seinem treuen Weibe besaß.

„Und ist dir hart die Lebensweise –
Der Schmerz wird stumm, der dich bewegt,
Wenn eine weiche Hand sich leise
Auf deiner Stirne Furchen legt.

[228] An Anerkennung, Sympathie und Liebe hat es einem so gearteten Dichter auch sonst im Leben nicht fehlen können. Es dürfte wenig hervorragende Zeitgenossen geben, die so viel echte Freunde zählen konnten wie er. In seiner Jugend schloß sich ein engerer Kreis gleichgestimmter Poeten wie Schults, Röber, Stelter, Karl Siebel, um ihn, die in der Woche gleich ihm hinter dem Kontortisch sitzen mußten, um dann beim perlenden Rheinwein im „Sonntagskränzchen“ den Musen zu huldigen. Bald weitete sich der Kreis; oft sah er sich umjubelt als Sprecher der Poeten des Rheinlands bei so manchem festlichen Anlaß, so mancher Denkmalsenthüllung. Der starke Trieb, seine Ideale praktisch zu bethätigen, führte ihn aber auch hinaus in die Welt. Er schloß sich der Bewegung zu gunsten von Berufsgenossenkassen, von Volksbildungsvereinen an und wurde einer der beliebtesten und begehrtesten Redner an den Vortragsabenden des Bundes der deutschen Kaufmännischen Vereine. Ueberall ward sein Erscheinen hochwillkommen geheißen, er war einer der seltenen Dichter, deren äußeres Wesen und ganze Erscheinung sich völlig mit der litterarischen Physiognomie ihres Schaffens deckte, dazu war er ein vorzüglicher Unterhalter voller Witz und Laune, tolerant und verträglich, im Erzählen von Anekdoten und Selbsterlebtem unerschöpflich – ein guter Kamerad! Wer ihn so noch vor wenigen Jahren gekannt hat, ohne ihn seitdem wiederzusehen, mußte durch seinen Tod schmerzlich überrascht werden. War er doch – am 3. April 1834 geboren – noch keine 63 Jahre alt. Und welche Kernnatur an Gesundheit schien er zu sein! Doch hat er an den Folgen einer Influenza schon seit mehreren Jahren gekränkelt; sie hat das Herzleiden vorbereitet, das nach dem Tod seiner Frau sich so verhängnisvoll entwickelte.

Nun trauern Tausende um ihn – unter den treuen Lesern der „Gartenlaube“ wird die Trauer ebenso allgemein wie innig sein. Bisweilen hat den Dichter die Sorge beschlichen, daß seine Dichtung, weil sie der Gegenwart so unmittelbar diente, sich die Zukunft verkümmert habe. Das trifft ja auf manche Augenblicksschöpfung, die auch nur für augenblickliche Wirkung bestimmt war, zu. Aber getrost! Die Liederernte seines reichen Lebens bewahrt einen vollen Strauß unverwelklicher Blüten. Und an ihnen wird sich weiter bewähren, was der Dichter vorm Jahre am Grabe seines Weibes als Vorsatz fürs Leben geäußert –

Wo sich die Kummerwolke drohend ballt,
Wird bringen er der Liebe Lenzgewalt
Wo Trübsinn häuft die schweren Nebel dicht,
Wird bringen er des Frohsinns Sonnenlicht!

Johannes Proelß.     


     Der Traum vom Osterhasen.
 (Zu dem Bilde S. 229.)

Der Himmel dunstig. Im Grase blüh’n
Maßliebchen und Veilchen herfür,
Die Bäume knospen mit jungem Grün,
Und Ostern steht vor der Thür.

5
Da kehrt das Mädchen zum Dorfe her,

Das zur Stadt frühmorgens ging.
Der Korb so schwer – jetzt ist er leer;
Und sie ist ein armes Ding.

Sie kauften die Eier ihr ab zum Fest,

10
Die die Hühner gelegt im Stall;

Die Mutter packte den letzten Rest
In den Korb, nun sind sie all’.
Und sie hätte doch gern wie alle Welt
Ihre Eierchen blau und rot –

15
Nun hat sie nichts als das blanke Geld,

Und die Mutter braucht es zu Brot.

Und als sie kommt an den Wiesengrund,
Da setzt sie sich nieder und denkt;
Da schläft sie ein bei den Blumen bunt,

20
Den Kopf auf den Korb gesenkt …

Auf einmal hebt sich’s am Lattenzaun,
Die langen Löffel gespitzt,
Und sechs blitzblanke Aeugelchen schau’n
Auf die Schläferin her verschmitzt.

25
Drei Hasen, die kauern im Frühlingsgras,

Und näher hüpfen zwei
Und deuten: „Der dort ist der Osterhas!“
Und nicken vertraulich dabei.
„Die schönsten Eier in kurzer Frist

30
Sind dein – grad’ legt er sie dir!“

Und wie der mit Legen fertig ist,
Da kommt er und duckt sich zu ihr.

Er schmiegt sich an sie wie längst bekannt –
Nun sieht sie ihn ganz genau!

35
Die andern holen ein Netz, bis zum Rand

Voll Eierchen rot und blau.
Die packen sie einzeln Stück für Stück
In ihren Korb daher,
Sie zählt – ihr Herz schlägt hoch vor Glück –

40
Ein ganzes Schock und mehr …


Da ward das Mädchen vom Schlafe wach:
Die Glocken gingen bim baum –
Da schaute sie schnell im Korbe nach:
Das Ganze war nur ein Traum!

45
„Und hab’ ich geträumt, ich sah’ ihn doch!

Kein andrer sieht ihn wie ich.
Wo giebt’s auf der weiten Erde noch
Ein Glückskind so wie mich!“
 Victor Blüthgen.


Das Tagebuch.

Eine Backfischgeschichte von Hans Arnold.

Wie für den Jüngling im Alter zwischen dreizehn und fünfzehn Jahren die Cigarre ein mit allen gesetzlichen und ungesetzlichen Mitteln erstrebter Besitz ist, so sehnt sich der richtige Backfisch dieses Alters nach längeren Kleidern, nach der Anrede „Sie“ und – nach einem Tagebuch!

Er – der Backfisch! – pflegt dann plötzlich nicht mehr drei Tage ohne diesen Gegenstand leben zu können, zerschlägt alle alten Sparbüchsen, in denen aber erfahrungsgemäß nur einige „Heckpfennige“ ein beschauliches Dasein fristen, dreht die Taschen sämtlicher entwachsenen Sommer- und Winterkleider um, in der kühnen und vergeblichen Hoffnung, darin ungeahnte Reichtümer „vergessen“ zu haben, und schreitet schließlich zu Zwangsanleihen bei der Mutter, die mit der glaubhaften Versicherung: „Wenn du mir zehn Pfennig schenkst, lasse ich nie mehr etwas in meiner Stube herumliegen und wische täglich zweimal den Staub ab,“ betrügerisch verzinst werden.

Diesem Kapital entsprechend, beginnt der Tagebuch-Raptus gewöhnlich in allerbescheidenster Form. Er nimmt die Gestalt eines Notizbüchelchens in schwarzem Wachstaffet mit kariertem Papier von zweifelhafter oder unzweifelhafter Qualität an. Dieses erste Tagebuch wird, seiner Größe entsprechend, in der Tasche getragen, in der es mit der eiligst „in der Litteratur“ (das heißt: Litteraturstunde) hineingequetschten Buttersemmel und einem halben, rohen Kohlrabikopf verträglich und fettig bis nach Schulschluß haust und sich demzufolge nicht gerade verschönert.

Es wird auch gewöhnlich nicht voll geschrieben, sondern

[229]

Der Traum von Osterhasen.
Nach einer Originalzeichnung von W. Leo Arndt.

[230] nach kurzer Frist, durch „Aussetzen“ bis zur äußersten Dünnleibigkeit abgemagert, dem Küchenofen als willkommene Beute überliefert. Sein Nachfolger im Reiche pflegt das schon prunkend und anspruchsvoller auftretende „Album aus dem Fünfzigpfennigbazar“ zu sein, welches die großartig klingende Aufschrift „Poesie“ in herrlicher Goldfarbe und mit einem kühnen Riesenschwung auf dem Deckel trägt, sich aber ungeachtet dieses vielverheißenden Signalements auch geduldig mit Prosa und Tintenklexen vollschmieren läßt. Schließlich gipfelt der Tagebuch-Raptus in einem wunderbar schönen, ledergebundenen Folianten „mit Schloß“ eine unerläßliche Bedingung, die zugleich ein wichtiges Symptom für den Seelenkenner des weiblichen Geschlechts bedeutet und anzeigt, daß der Backfisch für jemand „schwärmt“, der aber durchaus kein junger Herr zu sein braucht. Es kann vielmehr ebensogut ein anderer Backfisch, eine erwachsene, junge Dame – in schweren Fällen eine Schauspielerin – in den ungefährlichsten ein längst verstorbener Dichter sein. Das Schwärmen, das bewußtlose, ziellose „Verhimmeln“ ist Selbstzweck – auf den Gegenstand kommt es in den meisten Fällen weniger an.

Lotte, unser Backfisch, war seit vorigen Weihnachten auch in das obenerwähnte Stadium getreten und befand sich im Besitz eines Tagebuches, das ein gütiger Onkel ihr in liebenswürdigster Weise verehrt hatte.

Das Tagebuch, in der Backfisch-Phraseologie mit dem Beiwort „göttlich“ bezeichnet, hatte auch richtig ein Schloß – ein bezauberndes, süßes Vorlegeschloß mit einem „wonnigen“ Goldschlüsselchen das sofort an eine abgedankte Kneiferschnur des Vaters befestigt und von der Besitzerin um den Hals getragen wurde.

Dieser Schlüssel ging bereits am Weihnachtsabend das erste Mal verloren und bekundete dadurch die boshafte und entschiedene Absicht, dieser üblen Angewohnheit des öfteren zu frönen. Wie oft und wo überall Lotte ihren Tagebuchschlüssel suchte und verlor, das spottet jeder Beschreibung.

Es gab bald kein Sofa und keinen Schrank mehr in der Wohnung, unter dem sie nicht mit dem halben Leibe gesteckt hätte – sie fuhr bis an die Ellbogen in die Polsterung der Lehnsessel und grub darin wie ein Schatzgräber – sie durchwühlte die Regentonne im Hofe bis auf den Grund. Sie fand den Schlüssel schließlich mit Jubelgeschrei, um ihn am Abend desselben Tages wieder zu verlieren.

Im Sommer, wo der Sport des Schwimmens eifrig betrieben wurde, geschah es durchschnittlich – ohne Uebertreibung! zwei- bis dreimal die Woche, daß Lotte bei der Mahlzeit mit dem Schreckens- und Weheruf in die Höhe fuhr. „Ich habe meinen Tagebuchschlüssel in der Schwimmanstalt vergessen!“ Sie stellte bei diesen Anlässen sogar das flehentliche, jeder Haus- und Tischordnung freventlich ins Antlitz schlagende Verlangen, sofort von Tisch aufstehen und dem Verlorenen nachjagen zu dürfen.

Die Geschwister fanden, versteckten und stahlen nebenbei den Schlüssel und das Buch noch unaufhörlich und ließen sich „gemeinerweise“ jedesmal Lösegeld geben, ehe sie beides wieder herausrückten. Lotte sah sich infolge dieser Zwischenfälle schon in den zerrüttetsten Vermögensverhältnissen und trug das bedrückende Bewußtsein mit sich umher, einer Freundin zehn Pfennig für einen „Faber Nr. 2“ zu schulden.

Die Freundin war noch dazu so „schäbig“, mehrmals an diese peinliche Thatsache zu erinnern, was eigentlich nicht für ihr Zartgefühl sprach! Zur Entschuldigung diene ihr übrigens, daß das Taschengeld bei sämtlichen Schülerinnen der ersten Klasse augenblicklich sehr knapp war. Infolge eines neuerwachten entzückenden Sports wurde nämlich jeder Pfennig zu der unentbehrlichen und nutzbringenden Anschaffung der „Knietsche“ verwendet.

Ein Knietsch, dies zur Aufklärung für diejenigen meiner Leser, die unglücklich genug sein sollten, diese Segnung der neuesten Kultur nicht persönlich zu kennen – ein Knietsch also ist ein Stück grauen Knetgummis, aus dem sich die herrlichsten Gegenstände formen und quetschen lassen, und durch dessen Massenanschaffung die Papierlieferanten für höhere Töchterschulen auf dem besten Wege sind, Millionäre zu werden.

Daß Lehrer und Lehrerinnen mit irgend welchen Eigentümlichkeiten der Gesichtsbildung in Knietschen dargestellt wurden, ist so selbstverständlich, daß es eigentlich kaum der Erwähnung bedarf, daß aber sogar die Gestalten der klassischen Dichtkunst in der französischen Stunde in Knietschgummi nachgebildet und mit Puppenflicken buntfarbig kostümiert wurden, dürfte doch als neu und empfehlenswert der Oeffentlichkeit nicht vorenthalten werden.

Lotte, die sich neben anderen Vorzügen eines besonders krausen und wirbligen Haarwuchses erfreute, der zu ihrer ganzen Persönlichkeit sehr gut stimmte, hatte noch die geniale Idee gehabt, „Verbrecher“ aus Knietschen zu bilden und sie während des Unterrichts an den einzelnen Haarsträhnen – von ihr „Galgen“ genannt – zu befestigen. Dieses sinnige Spiel vermochte aber den Beifall des Lehrers leider so wenig zu erringen, daß es Lotte fast die Vier im Betragen eingebracht hätte.

Diese Knietsche also, die, wie man sieht, zu den vielseitigsten Erzeugnissen des Weltmarktes gehören, dienten nun als Lösegeld für den Schlüssel zum Tagebuch und Lotte sah sich in dem Augenblick, von dem wir berichten wollen, auf einen einzigen und letzten Knietsch angewiesen – ein Zustand der Verarmung, der bitter zu tragen war!

Der Kummer über diese Thatsache wurde natürlich, wie jede tiefere Seelenregung, auch dem Tagebuch anvertraut, und aus der Gefährlichkeit dieses Bekenntnisses kann man ungefähr auf die des ganzen Inhalts schließen ohne sehr fehl zu gehen. Nichtsdestoweniger hütete Lotte ihr Album mit Argusaugen, legte es jede Nacht unter ihr Kopfkissen, verteidigte es kreischend und, wie ein nicht unverbürgtes Gerücht behauptet, sogar beißend gegen die Geschwister, die das Wertstück mit List und Gewalt an sich zu bringen versuchten.

Niemand – selbst die beste unter den acht besten Freundinnen nicht – durfte jemals einen Blick in die geheiligten Blätter zu thun hoffen. Da sich die menschliche Natur aber immer mehr oder weniger nach einem Vertrauten sehnt, so wurde der sehr geliebte Teckel Ami bisweilen nachmittags zu einem Lesestündchen eingeladen und es wurden ihm effektvolle Abschnitte des Tagebuchs bei verschlossenen und verriegelten Thüren mit gedämpfter Stimme vorgetragen. Dieser Vertrauensbeweis war freilich nicht so übermäßig hoch anzuschlagen, da Ami ja von der Mutter Natur zur absolutesten Verschwiegenheit beanlagt war.

Ami zeigte sich übrigens bei diesen Anlässen leider oft ungalant. Er hielt das Tagebuch zunächst seines roten Einbands wegen anscheinend für eine Cervelatwurst und bat flehentlich mit winkenden Pfötchen darum. Als ihm sein verderblicher Irrtum durch einen sanften Klaps auf die Nase und die Versicherung. „Ami, du bist ein himmlischer Kerl, aber du bist ein Schafskopf!“ genügend klar gemacht war, legte sich der Teckel zwar resigniert zum Zuhören zurecht, langweilte sich aber so sichtlich bei der Vorlesung, daß er schamlos und schreiend gähnte und mitten in einem gefühlvollen Passus aufsprang, um sich der völlig aussichtslosen Jagd auf eine große Brummfliege hinzugeben.

Die gänzliche Teilnahmlosigkeit, die in diesem Betragen lag, beleidigte die Besitzerin natürlich aufs tiefste und kühlte sie sogar auf einige Zeit gegen Ami ab, der sonst von ihr als „Heldengestalt“ mit entzückenden schwarzen Ellbogen in einer jedem denkenden Menschen rätselhaften Weise gefeiert wurde. Zu der Zeit, als alles dieses sich begab, war inzwischen das Tagebuch beinahe voll geworden, und die Zahl der leeren Seiten schmolz bedenklich hin. Lotte lieh dieser Thatsache im Familienkreise Worte und fügte den kaum mißzuverstehenden Wink hinzu. „Ich habe keine Ahnung, wo ich ein neues Tagebuch herbekommen werde!“

Der Vater schenkte sich ein frisches Glas Wein ein – man war bei Tisch –, „ich auch nicht!“ meinte er mit unheilverkündender Gleichgültigkeit.

„Soll ich dir eins schenken, Cousinchen?“ frug der eben anwesende Vetter Ludwig, ein lustiger, neugebackener Referendar, der sich in zehn Semestern fast bis zu zwei Centnern Schwere emporgekneipt hatte. Infolge dieser wohlhabenden Körperbeschaffenheit wurde der von den Eltern sehr wohlgelittene und wirklich nette junge Mann von Lotte schlecht behandelt und nur der „ekliche Dickus“ genannt.

Es muß hier zugestanden werden, daß der ekliche Dickus kein größeres Vergnügen zu kennen schien, als unseren Backfisch bis zur Verzweiflung zu necken, der, wie es seiner Gemütsart und seinem Alter zukam, dann wie eine kleine zornige Hornisse auf den Vetter losfuhr. Aber auch hinter dem harmlosesten Wort, das er sprach, witterte Lotte eine Heimtücke.

[231] So auch jetzt. Als der Referendar den ganz ernst gemeinten, freundlichen Vorschlag machte „Soll ich dir ein neues Tagebuch schenken?“ erwiderte Lotte nur rasch und ungezogen. „Wohl von deinen Schulden?“

„Lotte!“ ermahnte die Mutter strafend.

„Nein – ernstlich!“ sagte der Vetter milde. „unter einer Bedingung schenke ich dir ein unsagbar schönes, neues Tagebuch –“

„Und die wäre?“ frug Lotte rasch und lebhaft.

„Daß du mich das alte lesen läßt!“ erwiderte der Dickus so obenhin, als wenn er die schaurige, unermeßliche Größe seines Verlangens nicht ’mal ahnte!

Lotte saß einen Augenblick sprachlos. Dann maß sie den Kühnen mit einem Blick voll wahrhaft erhabener Verachtung.

Dich??“ frug sie endlich niederschmetternd und in der Haltung einer Tragödin, „dir ist wohl nicht ganz richtig im Oberstübchen!“

Der Vetter lächelte kühl. „Wenn du nicht willst, dann läßt du’s natürlich bleiben, sagte er, „ich will nur sagen, daß ich ein prachtvolles Tagebuch gesehen habe – dunkelblaues Leder, weich, wie Butter – extra verschnitztes Schloß, Goldschnitt, Papier so dick wie dein kleiner Finger – kurz – einfach großartig!“

Lotte sah ihn flehend an – sie litt sichtlich alle Qualen des hochseligen Tantalus. „Aber für nichts wird nichts gereicht!“ schloß der Dickus und erhob sich gleichzeitig mit den Eltern von der Mittagstafel, „Buch gegen Buch – Verschwiegenheit Ehrensache – na? wie ist’s, Lotte?“

„Ich werde dir was –“ erwiderte der Backfisch mit zornig blitzenden Augen und ließ den freundlichen Anerbieter mit dieser geheimnisvollen Drohung stehen.

An diesem Abend schrieb sie in ihr Tagebuch. „Der Dickus wollte dich lesen, geliebtes Tagebuch, – eher werfe ich dich doch ins Meer, wo es am tiefsten ist!“ ein Unternehmen, welches sich, nebenbei gesagt, etwas mühselig hätte ins Werk setzen lassen, da Lottes Wohnort etwa zweihundert Meilen weit von jeglichem Meere entfernt lag.

Der Dickus eröffnete übrigens mit diesem Tage einen systematischen Feldzug gegen das Tagebuch.

Er schlich sich hinter die Besitzerin, wenn sie darin schrieb, und las ihr ein Wort laut und mit gemacht empfindsamer Betonung über die Schulter vor, wobei es ihm königliches Vergnügen zu bereiten schien, wenn die sittsame Jungfrau wie eine Wildkatze gegen ihn ansprang und ihm beinahe die Augen auskratzte.

Er fand das Tagebuch einmal – allerdings verschlossen – im Wohnzimmer und war so gemein, sich darauf zu setzen, so daß Lotte, weinend vor ohnmächtigem Zorn, nichts übrig blieb, als den Bruder mit einer Tafel Chokolade zu bestechen und mit ihm in Gemeinschaft den Dickus vierhändig mit dem Stuhl umzukippen, wobei dieser – das heißt der Stuhl – eines Beines und die beiden Verbrecher für den Rest des Tages jedes väterlichen Wohlwollens verlustig gingen – ein Umstand, der sich recht betrübend und fühlbar äußerte.

Inzwischen schien niemand der armen kleinen Memoirenschreiberin zu einem zweiten Bande verhelfen zu wollen. Sie sann Tag und Nacht auf Möglichkeiten und Erwerbsquellen, sie versuchte sich sogar anderweitig als im Tagebuch schriftstellerisch und produzierte eine „Novelle“ unter dem Titel „Erstorbenes Glück“. In diesem Meisterwerk starben alle Mitwirkenden wie die Fliegen – der eine wurde sogar als „knieende Leiche“ nach einem vermutlich zu strapaziösen Fußfalle vorgeführt, hätte demgemäß schon als naturhistorisches Phänomen auf das Interesse der Lesewelt die gerechtesten Ansprüche gehabt. Sie that denn auch in aller Stille die nötigen Schritte, um es der Oeffentlichkeit zu übermitteln. Aber das wertvolle Dichterwerk kam zweimal zurück – ohne jegliches Begleitschreiben, was darauf zu deuten schien, daß der betreffende Redakteur wortlos vor Empörung über die ihm gestellte Zumutung gewesen war – und es ein drittes Mal sich auf den Wogen der Oeffentlichkeit schaukeln zu lassen, dazu fehlte es der geschätzten Verfasserin an dem nötigsten Erfordernis, nämlich an zwei Briefmarken.

So blieb ihr auch dieser sonst so einfache Weg, zu Gelde zu gelangen, versagt, und sie mußte auf anderes denken.

Der Vetter blieb bei seiner Bedingung, war also ausgeschlossen – der Vater erklärte mit verletzender Derbheit die ganze Tagebuchschreiberei für hellen Blödsinn, und die Mutter erbot sich als höchsten Beweis des Mitgefühls, ein Diarium mit festem Deckel zu stiften. Dieser entweihende Vorschlag konnte auch nicht angenommen werden, wie jeder Verständige einsehen wird – kurz, die Sachlage wurde immer schwieriger.

Lotte, die sich somit vor die schreckliche Möglichkeit gestellt sah, ihre Gefühle und Gedanken unbestimmte Zeiträume hindurch für sich behalten zu müssen, griff zu einem letztem verzweifelten Mittel. Sie schrieb dem erwähnten Onkel, dem großmütigen Spender des ersten Bandes, einen scheinbar ganz unbefangenen Brief. Dies geschah sonst nur zu Neujahr und Geburtstagen, meist als Quittung für dankend erhaltene Gaben, und noch dazu öfter unter Aechzen und Murren, da der Onkel gerade Zeilen und anständige Schrift zu verlangen so anspruchsvoll war.

Heute nun wurde dies gern befolgt – die Korrespondentin teilte dem geschätzten Anverwandten zunächst allerlei interessante Ereignisse aus ihrem Leben mit – daß sie vor vierzehn Tagen einen toten Maulwurf gefunden habe – und daß sie jetzt unter Wasser schwimmen könnte – daher ganz geeignet schiene, eine tüchtige Stütze im Haushalt zu werden! Diesen so ganz selbstlosen Brief schloß unser Lottchen mit der leicht und geschickt hingeworfenen Mitteilung. „Mein Tagebuch ist übrigens bald voll – ein so schönes werde ich wohl nie wieder bekommen!“

Als das Schreiben, natürlich eigenhändig besorgt, in dem breiten, blauen Maul des Briefkastens verschwunden war, überkam die Verfasserin allerdings leichte Gewissensunruhe, ob ihres Zaunspfahlverfahrens und sie verkündete ihre Unthat bei Tisch mit einigem Erröten. Dazu geschah diese Veröffentlichung noch in Gegenwart des Dickus, der heute seinen bösesten Necktag und schon beim Eintreten in die Stube die Frechheit gehabt hatte, sich nach Lotte mit der eleganten Wendung zu erkundigen: „Nun, wo ist denn das corpus delicti?“, was seine Gegnerin beim Hinzukommen gerade noch hörte.

Der Dickus konnte sich also auch natürlich nicht einige höhnische Bemerkungen versagen und versicherte aus vollstem Herzen, der Onkel werde sich, seiner Ueberzeugung nach, hüten, auf eine so unbescheidene Anzapfung irgendwie zu reagieren – ein plumper Angriff, gegen den Lotte die seine Verteidigung zu finden wußte: „Jeder ist nicht so ein Ruppsack wie du!“

Anscheinend hatte der Backfisch aber größere Menschenkenntnis als der Dickus, trotz juristischer Studien und glänzender Examina. Denn acht Tage waren noch nicht nach Absendung des Briefes vergangen, als die Post eines Morgens der bis zu Thränen beseligten Lotte ein Paketchen brachte.

Der Absender war ungenannt, das Päckchen aber aus dem Wohnort des Onkels abgestempelt. Es enthielt das schönste Tagebuch, welches jemals eine Schülerin der ersten Klasse in ihren beglückten Händen gehalten.

Lotte durchwanderte das ganze Haus vom Keller bis zum Boden, um ihr neues Kleinod zu zeigen, verwahrte sich mit Entsetzen gegen den wohlgemeinten Vorschlag der Mutter: „Das werde ich dir bis nach deiner Einsegnung aufheben, das ist viel zu schön zum Vollschmieren’ – und trug das Buch den ganzen Tag mit sich herum. Ja, sie war infolge des frohen Ereignisses so menschenlieb gestimmt, daß sie dem Dickus, der zu Tisch kam, bis in den Vorsaal entgegenlief, um auch ihm ihren Schatz zu zeigen.

Ackerdings konnte sie sich seiner laut und lebhaft geäußerten Ueberraschung und Bewunderung gegenüber den triumphierenden Zusatz nicht versagen. „Siehst du! und der hat nichts dafür von mir verlangt – nimm dir für ein andermal ein Beispiel daran!“

„Was kommt denn auf die erste Seite?“ frug der Dickus mit Interesse, während er seinen Ueberzieher ablegte.

„Das kann dir ganz Wurst sein!“ erwiderte Lotte formvoll, „du brauchst dich überhaupt nicht um mein Tagebuch zu kümmern! Schreibe selber eins, wenn du es so gern lesen willst!“

Der Dickus nahm die Sprecherin bei beiden Händen und hielt sie, wie im Schraubstock, fest. „Lotte, ich warne dich!“ sagte er und sah auf einmal ganz ernsthaft aus seinen fidelen Augen, „wenn du mich noch lange so schlecht behandelst, räche ich mich ’mal furchtbar! Ich kann nämlich sehr unangenehm werden – das ist so ein kleines geselliges Talent von mir! Versuche es doch abwechslungshalber ’mal, liebenswürdiger gegen mich zu sein – wer weiß, wie ich dann bin!“

[232]

Kaiser Wilhelm I. begrüßt den Fürsten Bismarck bei der Einweihung der Siegessäule in Berlin am 3. September 1873.
Nach einer Oelskizze von Rob. Warthmüller, gezeichnet von O. Gerlach.

[233] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [234] Lotte betrachtete ihn einen Augenblick nachdenklich.

„Nein!“ entschied sie dann mit dem Brustton der Ueberzeugung, „es geht nicht! du bist zu eklich! Immer mußt du mich necken – du läßt es doch nicht – ich kenne dich!“

Der Dickus zuckte die Achseln und folgte ihr ins Wohnzimmer.

„Also von heut’ ab erklärter Krieg!“ sagte er mit Nachdruck, „und du weißt, im Kriege ist alles erlaubt!“

Unmittelbar nach dem Essen holte sich Lotte ein Tischchen ins Wohnzimmer, nahm triumphierend daran Platz und legte die beiden Tagebücher vor sich hin – das alte rechts, das neue links – wog – verglich – und spielte so glückselig mit ihren beiden Büchern, wie noch manchmal mit ihrer Puppe, der sogenannten „Präsidentin“. Aber bitte, daß das nicht weiter erzählt wird – es könnten große Unannehmlichkeiten daraus entstehen, wenn es die erste Klasse erführe!

Dann suchte sich unsere kleine Heldin den schönsten Briefbogen aus ihrer Mappe und schrieb aus der Fülle ihres dankbaren Herzens an den Onkel – sogar in Versen, die allerdings mit dem Wagen ihrer Gefühle über einen bedenklichen Knüppeldamm rasselten. Sie flehte darin des Himmels reichsten Segen auf den Spender des herrlichsten Tagebuchs herab und gelobte ihm, sich dieses unvergleichlichen Besitzes durch tadellose Schrift und sonstiges Wohlverhalten jederzeit würdig zu erweisen.

Der Einwurf der Eltern und des Dickus, daß man auf anonyme Geschenke eigentlich nicht antworten dürfe, wurde ignoriert – „ich muß mich bedanken! es war zu reizend von Onkel!“ versicherte Lotte mit Begeisterung und rannte wiederum selbst mit glühenden Wangen und fliegendem Zopf zum Briefkasten, um auch diese zweite Epistel an den Onkel fortzuexpedieren.

Mit wendender Post kam eine Antwort, die aber unseren Backfisch in einen wahren Abgrund von Blamage stürzte. Der Onkel schrieb kurz und freundlich, er hätte sich über Brief und Gedicht sehr gefreut, aber er wüßte von keinem Tagebuch und hätte keines geschickt.

Lotte wollte natürlich in die Erde sinken, denn ihre Dichtung erschien ihr nun als die Höhe der Unbescheidenheit – sie ging ein paar Tage lang still. und in sich gekehrt im Hause herum und schämte sich – mitunter ein ganz heilsamer Zustand, wenn auch kein angenehmer.

Der Dickus, vor dessen ironisch ausgestrecktem Zeigefinger und beständigem: „Siehst du ’s!“ Lotte die größte Sorge hatte, fuhr zum Glück gerade um diese Zeit auf zwei Tage zur Jagd. Er verabschiedete sich eines Abends in der Dämmerstunde mit der gefühlvollen Wendung: „Na, Lotte, nun mußt du bis Dienstag ohne mich fertig werden!“, was der Backfisch in seiner gedemütigten Verfassung nur mit einem leise gemurmelten „Der reine Segen“ erwiderte.

Daß der Dickus durch die fortgesetzte schlechte Behandlung aufs äußerste gereizt war, wird ihm niemand verdenken können, und ich führe es als Milderungsgrund für seine im Laufe unserer Geschichte allerdings scheußlich werdende Handlungsweise ausdrücklich an.

(Schluß folgt.)


Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Altdeutsches Kinderleben.

Von Hans Boesch. Mit Illustrationen von Fritz Bergen.

Echter Familiensinn hat die alten Deutschen seit jeher vor ihren Nachbarvölkern ausgezeichnet und hingebende Mutterliebe hat immer traut im altdeutschen Heim gewaltet. Selbst in heidnischen Zeiten, in welchen das Recht so manche Härte aufwies und es dem Vater erlaubt war, seine Kinder auszusetzen oder in die Knechtschaft zu verkaufen, galt eine derartige Handlung als schimpflich. Nur in den größten Notfällen, wenn Hungersnot im Lande herrschte, wurde hier und dort von dem barbarischen Rechte Gebrauch gemacht. In dem Märchen von Hänsel und Gretel, die von ihrem Vater, einem armen Holzhacker, in den großen Wald hinausgeführt wurden, damit sie den Weg nach Hause nimmer finden sollten, ist ein Nachklang jener barbarischen Sitte enthalten. Sie schwand dahin, als das Christentum seinen Einzug in die deutschen Gaue gehalten hatte, und mit den Fortschritten der Kultur gestaltete sich bei unseren Vorfahren das Familienleben immer inniger und begann die Liebe zu den Kindern ihre schönsten Blüten zu entfalten. Hinter den Butzenscheiben des altdeutschen Gemaches, im mittelalterlichen Hof und in der altertümlichen Schulstube herrschte ein frohes Kinderleben, in vieler Hinsicht war es aber von dem unsrer heutigen Kinder verschieden, denn auch die Sitten und Gewohnheiten waren andere und ihnen wurde die Erziehung der Kinder angepaßt. Darum sind Bilder aus der altdeutschen Kinderstube ein lehrreiches Stück Kulturgeschichte, sie zeichnen sich aber dabei durch so viel Eigenart aus, daß eine Reihe derselben gewiß das allgemeinste Interesse erwecken wird. Folgen wir also an der Hand der trefflichen Bilder von Fritz Bergen den kleinen altdeutschen Erdenbürgern auf den ersten Abschnitt ihres Lebenslaufes!

*               *
*

Die Geburt eines Kindes galt auch unsern Vorfahren als ein freudiges Familienereignis, aber schon zu alten Zeiten freute man sich im allgemeinen mehr über die Ankunft eines Knaben, während die eines Mädchens weniger gerühmt wurde. Das kam in verschiedenen Bräuchen zum Ausdruck. Dorfweistümer bestimmten, daß der Markgenosse, dem ein Knabe geboren ward, sich zwei Fuder Holz aus dem Walde hole; ward ihm aber ein Mädchen beschert, mußte er sich mit einem begnügen. Und diese ungalante Anschauung spiegelte sich in Volksbräuchen noch lange wider. In Schaffhausen war es noch vor einigen Jahrzehnten Brauch, daß die Magd, welche den Freunden und Verwandten die Geburt eines Kindes ansagte, bei einem Buben zwei Sträuße am Mieder, bei einem Töchterlein nur einen trug. Ihr Aeußeres verriet schon die Botschaft, die sie brachte.

Möglichst bald sollte das neugeborene Kind durch die Taufe in die Gemeinschaft der Kirche aufgenommen werden, denn so lange das Kind nicht getauft war, wurde es als Heide betrachtet. Die Taufe wurde daher oft schon am dritten Tage nach der Geburt vorgenommen. Oft ward sie zu einem Hauptfamilienfeste, das eine freudig begrüßte Abwechslung in das gewöhnliche Alltagsleben brachte. In einem schönen Kleidchen wurde der Täufling in feierlicher Weise zur Kirche getragen und völlig entkleidet in das Taufbecken eingetaucht. Dann wurde ihm etwas Salz in den Mund gelegt, zwischen den Schultern und auf der Brust wurde er geölt, der Scheitel mit dem heiligen Chrisam gesalbt. Zum Schutze dieser Salbung erhielt das Kind ein Häubchen oder einen Hut, den „Kresmenhuot“. In die Hand bekam es eine brennende Kerze als Zeichen, daß es durch die Taufe so rein und lauter geworden sei wie das Licht, wie die Sonne. Die Haustaufen kamen erst spät auf, in Frankfurt a. M. in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in Nürnberg sogar erst gegen 1800.

Schon Berthold von Regensburg hält sich darüber auf, daß manche Leute es nicht unterlassen konnten, bei Gelegenheit von Taufen übertriebenem Luxus zu huldigen, und oft zwölf Gevattern einluden; drei wären mehr als genug, meint er. Diese zahlreichen [235] Gevatterschaften hatten auch kirchenrechtlich bedenkliche Folgen, die Taufzeugen traten mit dem Patenkinde in geistliche Verwandtschaft, die nach dem Gesetz der Kirche das selbe Ehehindernis bildete wie die Blutsverwandtschaft. Und so war dem Täufling, wenn er herangewachsen war und sich eine Gattin suchen wollte, oft fast der ganze Kreis der Freundschaft verschlossen oder aber es mußte ein ausdrücklicher kirchlicher Dispens nachgesucht werden.

Bei der Taufe in der Kirche.

Das Eifern Bruder Bertholds gegen die vielen Taufzeugen war – wie gewöhnlich, darf man sagen – ohne Erfolg, im 16. Jahrhundert ward der Luxus in dieser Beziehung noch viel weiter getrieben. Fürstliche Herren gingen selbst mit schlechtem Beispiele voran, indem sie sich sogar nicht bloß auf Personen beschränkten, sondern auch Stände und Städte zu Gevattern gewannen. Goldene Geschirre, manchmal mit Goldgulden gefüllt, waren häufig die Patengeschenke reicher und vornehmer Gevattern. Hans von Schweinichen bat zu der Taufe seines Erstgeborenen den Herzog Heinrich von Liegnitz und noch 21 Herren, meist Adelige, sowie 8 Frauen zu Gevatter. An Patengeld erhielt er vom Fürsten einen Ring im Werte von 21 Thalern und sonst 42 Thaler 18 Weißgroschen. Die Taufe währte „bloß“ acht Tage und kostete 103 Thaler. Selbstverständlich wurde dabei gehörig gegessen und noch viel mehr getrunken. „Mit solchen Taufen“, berichtet Hans von Schweinichen selbstbewußt, „machte ich mir einen großen Namen im Lande.“ Die Taufe einer Tochter Schweinichens ein Jahr vorher hatte nur drei Tage gedauert; an Patengeld hatte der Vater 42 Thaler eingenommen, die Unkosten bezifferten sich auf 88 Thaler. Man muß bei diesen Zahlen sich des so ganz andern Wertes von einem Thaler erinnern.

Außer der Geistlichkeit traten auch die weltlichen Obrigkeiten gegen den zu großen Prunk und die Schwelgereien bei den Kindtaufen auf. Eine Nürnberger Taufordnung des 15. Jahrhunderts verbot, die Kinder in einem seidenen oder mit Seide, Gold, Silber und Perlen geschmückten Tuche zur Taufe zu tragen; es waren, wie in München, nur 12 Begleiterinnen gestattet, in Rothenburg o.d.Tauber nur zwei. Die Nürnberger waren in dieser Beziehung überhaupt sehr streng. Sie gestatteten schon im 14. Jahrhundert nur einen einzigen Gevatter, setzten die Zahl der Leute, welche der Kindtaufe beiwohnen durften, auf 8 außer dem Paten fest und bestimmten etwa 100 Jahre später, daß das Patengeschenk den Betrag von 32 Pfennig (nach dem heutigen Gelde ungefähr 12 Mark) nicht überschreiten dürfe. Ursprünglich bestand das Patengeschenk aus einem oder mehreren Geldstücken, einem kostbaren Rosenkranz, einem goldenen Ring, einem silbernen Medaillon mit Heiligenbildchen, die in einem Beutelchen dem Kinde in das Wickelband gesteckt oder, wie man sagte, eingebunden wurden. Von dieser Sitte stammt auch das „Anbinden“ an den Geburtstagen und der heutige Ausdruck „Angebinde“ her. Besonders beliebt waren silberne und vergoldete Medaillen mit einer Darstellung aus der heiligen Geschichte oder mit allegorischen Figuren auf der Vorderseite, während die Rückseite meist eine gravierte Widmung, den Namen des Spenders und des Täuflings, die Wappen der Familien und die Jahreszahl trug. Taufordnungen wurden auch in anderen Städten und Ländern erlassen, aber alle waren nur dazu da, um übertreten zu werden, und zwar manchmal gleich in ganz großartigem Maßstabe. Als z. B. der Frankfurter Prädikant Algesheimer 1527 Kindtaufe hielt, waren in seinem Hause zwölf Tafeln mit Gästen besetzt, und noch viele andere Leute würden teilgenommen haben, wenn noch mehr Platz vorhanden gewesen wäre.

Nicht lange dauert es, so rutscht das Kleine auf dem Boden herum und versucht sich an den Möbeln aufzurichten. Im Gehstühlchen, mit einer Fallkappe versehen, macht es seine ersten Schritte, wird durch Geschenke ermuntert, einige Schritte allein zu wagen, und lernt so das Gehen. Gleichzeitig regen sich die ersten Versuche des Kindes, zu plaudern. Fischart sagt dies ganz reizend in seiner Christlichen Kinderzucht:

In der Kinderstube.

„Dann was ist lieblichers zu hören,
Als wenn die Kinder reden leren?
Wanns herauslispeln bald die red
und rufen: Abba, Vater, Ett,
Rufen der Mutter: Mamm und Ammen,
Geben nach irer Notturft Namen,
brauchen den ererbt Adamsgwalt,
der jedem Geschöpf ein nam gab bald.
Wie ist ihm zuzusehen wol
Wanns wanken wie ein Wasserpfol
und so halslemig[1] ungewis tasten,
Und wie ein Engelchen erglasten?
Solch Freundlichkeit und lieblich Sitten,
Sollten die Aeltern und ein ieden
Reizen, daß sie deß lieber mehr
Mit Kinderzucht umgiengen sehr.“

Die Freude an den Kindern teilten mit den Eltern die Großeltern. Hermann Weinsberg von Köln berichtet, daß ihm seine Ahnfrau zum Neujahr 1827, als er noch nicht 3 Jahre alt gewesen, einen blauen Rock gegeben, der vorn mit silbernen Knöpfen geschmückt war. Das hatte ihn wohl gezieret, so daß seine Mutter ihre Freude und Lust an dem Kinde hatte, denn es war „völlig von Leib“ und hatte gelbes Haar, was ihm wohl stand. Herr Michel Behaim in Nürnberg schreibt seinem Sohne Friedrich. „Schreib am negsten der Anfrau auch ein clein Brieflein, wirt ir gar sanft thun, den sie hat dich lieb.“

Natürlich gab es auch böse und wilde Kinder, die den Eltern Sorge machten. Da trat dann die Rute in ihr Recht, mit welcher der hoffnungsvolle Sprößling geziemend gestraft wurde. Schon Berthold von Regensburg spricht sich dafür aus, daß „allezeit ein kleines Rütelein zur Hand sein solle, sobald das Kind ein böses Wort spreche, solle es damit Schläge auf die bloße Haut bekommen, auf den bloßen Kopf aber solle man es auch mit der Hand nicht schlagen, „denn man könnte es zu einem Thoren machen“. Auch andere halten die Rute für ein unentbehrliches Erziehungsmittel. So [236] der Tiroler Oswald von Wolkenstein, der letzte der Minnesänger, von dem die Verse herrühren.

„Mich wundert sehr an einem Mann,
daß er sein Kind nit ziehen kann,
und lat es gan, so gar on alle Ruete.“

Und Hans Sachs ermahnt die Eltern:

„Hiebei merket, ihr ehrbaren Alten,
Daß ihr sollt eure Kinder halten
Unter der Ruten; die mit Schmerzen
Des Kinds Thorheit treibt aus dem Herzen.“

Der Tageslauf in der Familie, nicht bloß in der ländlichen, auch in der städtischen, begann damals recht früh. Um 6 Uhr morgens mußten die Kinder des markgräflich brandenburgischen Leibmedicus Thurneiser von Thurn aufstehen, sich Mund, Hände und Augen mit frischem Wasser waschen, sich säuberlich anziehen, beten und dann zur Arbeit gehen. Um 8 Uhr erhielten sie eine Suppe, um 10 Uhr das Mittagsmahl, um 3 Uhr das Abendbrot und um 5 Uhr das Nachtmahl. Jedes von den Kindern bekam dazu sein Geschirrlein mit Wein; wenn sie mehr dürstete, sollten sie Wasser trinken.

Gebet vor der Mahlzeit.

Frühzeitige Gewöhnung an die Arbeit war in allen tüchtigen Familien Erziehungsgrundsatz, getreu den Versen Fischarts:

„Welchen man an zur Arbeit hält,
Demselben Arbeit für Kurzweil g’fällt.
Welchen man zieht zum Müssiggang,
Dem thut ein jedes Schweißlein bang.
Darumb zur Arbeit angezogen
Und ernstlich gleich den Hals gebogen,
So g’wohnt man alsdann gleich von Jugend
Des mühsamen rauhen Wegs zur Tugend.“

Es mußten also die Kinder nach Maßgabe ihrer jugendlichen Fähigkeiten den älteren an die Hand gehen und mitarbeiten in Haus und Feld. Hans von Schweinichen, obwohl von adliger Geburt, bekam nach der Schule die Gänse zu hüten, und als der grausame kleine Bursch diesen zur Strafe fürs Davonlaufen die Schnäbel mit Hölzchen aufsperrte, wurde er zwar dieses Amtes enthoben, dafür aber mit dem Eiersuchen in Stall und Scheuer beauftragt. Der schon genannte junge Kölner Hermann Weinsberg hatte nach der Schule seinen Eltern beim Weinverzapfen zu helfen, und es gab oft so viel zu thun, daß man dem armen Kerl sein Essen in den Keller schicken mußte. Auch mit Garnhaspeln wurde er beschäftigt. Die Schwester des Bartholomäus Sustrow, der um 1550 Bürgermeister von Stralsund war, mußte mit fünf Jahren schon spinnen. Einst saß sie bei der ihr noch recht schweren Arbeit, als sie von einem Reichstag sprechen hörte, den der Kaiser ausgeschrieben, dort würden die Gesetze beschlossen, sagte man ihr. Da seufzte das Mägdlein an seinem Rocken und meinte: „Ach du lieber Gott, wenn sie doch auch ernstlich verordnen möchten, daß so kleine Mädchen nicht spinnen dürften!“

Bis zum siebenten Jahre gehörten die Kinder in der Regel der Pflege und Zucht der Mutter an. Von ihr lernten sie das Sprechen der Mutter Sprache. Mit dem siebenten Jahre waren die schönsten Tage des Kindes vorüber, es begann die Zeit der Schule, d. h. nur da, wo man überhaupt die Kinder unterrichtete, denn auf dem Lande durften die Kinder im Mittelalter meist wild und ohne Schule aufgewachsen sein. Frühreife Kinder ließ man wohl auch schon in jüngeren Jahren zu lernen anfangen. Der Elsässer Ambrosius Müller erzählt im Jahre 1649. „Als mir Gott die Gnade verliehen, die Muttersprach ein wenig zu reden, hab ich in der Schoß meines lieben Vaters das Namenbüchlein im dritten Jahre meines Alters anfangen zu lernen und bei ihme meinem lieben Vater von Tag zu Tag darinnen geübt, daß ich im fünften Jahre meines Lebens lesen können.“

Auch Mathäus Schwarz in Augsburg lernte mit fünf Jahren (1502) das Abc. Sein Sohn Veit Konrad[2] mußte mit 5 Jahren in die lateinische Schule. „Ich that’s aber nicht gern“, sagte er. Da er aber sah, daß ihm keine andere Wahl blieb, fügte er sich gutwillig. Der Lehrer Johs. Busch hatte nicht weniger als 110 Buben in der lateinischen Sprache zu unterrichten. Ergötzlich schildert Schwarz, wie es ihm zu Anfang ergangen. „Ich gab zum Einstand einem jeden eine Brezen, da ward ich vom Präzeptor, seinem Weib und auch den Buben, in Summa von Jedermann mit freundlichen und guten Worten empfangen. Ja da stund mein Sach ein 8 oder 14 Tag wohl! Ich wollt kein Schul versäumen. Da aber die Zeit fürüber war, sprach man mir seltsam zu, also daß ich nit viel Lust mehr in die Schul hätt, stellet mich aber nit dergleichen. Andere dagegen kamen erst nach dem siebenten Jahr zum Lernen, so Hans von Schweinichen, der ins neunte Iahr ging, als er zu einem Dorfschreiber geschickt wurde, bei dem er zwei Jahre lang Schreiben und Lesen lernte.

Ein Schulzwang herrschte nicht, daher es auch unter den höheren Ständen so manchen Erwachsenen gab, dem das Schreiben und Lesen als eine große Kunst erschien. Sogar der Herzog Christoph von Württemberg, dieser sonst so durchaus tüchtige Regent, dem die Bildung des Landes viel verdankt, entschuldigte sich einmal bei Ludwig von Bayern, daß er „mit eigener Hand nit geschrieben … denn ich wahrlich der Federn nit so mächtig“. In den Städten war das Schulwesen immerhin in eine gewisse Ordnung gebracht. In Köln gingen zu Beginn eines Schuljahres, am St. Gregoriitag in den Fasten, also am Tage des Schutzpatrons der Schulen (12. März), die Schüler durch das Kirchspiel von Haus zu Haus und frugen an, ob Kinder vorhanden wären, die man auf die Schule thun wolle. Da nahmen sie auch den uns schon bekannten Hermann Weinsberg mit, als er in sein siebentes Jahr ging. Sehr groß waren die Anforderungen an die mittelalterlichen Schüler nicht. Von Kindern mit sieben Jahren verlangte man außer Lesen und Schreiben das Glaubensbekenntnis und das Paternoster, konnten sie dazu das Ave Maria, so war das „vil wunderguot“.

Die Abc-Bücher waren viel unterhaltender als heutzutage, sie beruhten teilweise schon auf dem Anschauungsunterrichte. In Nürnberg war z. B. eine Fibel im Gebrauch, in welcher beim Buchstaben A ein Kinderkopf mit aufgerissenem Munde dargestellt war; darunter stand. „Hiebei muß man den Kindern sagen, dieses Kindlein reißet das Maul auf, gänet und schreit a a a“. Beim Buchstaben W war das Bild eines Kindes angebracht, das gerade mit der Rute gezüchtigt wurde, dazu die Worte: „Dieses Kindlein hat nichts gelernt, darum wird es geschlagen und schreiet [237] weh, weh, weh.“ Das war nun freilich eine sehr drastische Art von Anschauungsunterricht, die ihres Eindrucks nicht verfehlt haben wird.

Das Holen der Ruten für den Lehrer.

Den Lehrern ward zur Pflicht gemacht, die Kinder zu christlicher Zucht und Ehrbarkeit, zum schuldigen Gehorsam gegen ihre Eltern zu erziehen, in Gottes Wort zu unterrichten und zum Gebete herzlich zu vermahnen. Nach Erasmus von Rotterdam sollten die Knaben in der Schule züchtig und still sitzen, nicht brüllen oder murmeln und sich hüten, daß sie gestäupt würden. So sie unterwiesen werden, sollen sie nicht „verwegen widerbellen“. Die Halsstarrigkeit sollten sie ablegen, dagegen gehorsam und aufmerksam sein, fleißig zuhören und was gelesen wurde und der Präzeptor sprach, sich aufzeichnen „und solches alles wie einen Schatz verwahren, auswendig studieren, nicht hinter die Bänke werfen zur Ergötzung der jungen Mäuse“. Auf dem Heimweg von der Schule, wenn die Jungen den Fesseln der Zucht entronnen waren, mag es oft recht wild zugegangen sein. Denn der ehrenwerte Erasmus ermahnt die Knaben, sie sollten züchtig heimgehen, „nicht laufen wie ein Botenläufer“, oder wie eine Sau zum Troge, sollten nicht heulen und brüllen wie die Ochsen, sich nicht keilen wie die Märzenkälber. Nicht hin- und wiederlaufen wie die Antoniusferkleim gethan haben. Und wenn sie des Nachts zu Bette gingen, sollten sie nicht einschlafen, sie hätten denn alles, so sie den ganzen Tag vom Lehrer gehört, wiederholt und nochmals überlegt.

Ein braver Schüler, der diese Vorschriften fleißig befolgte, war der zehnjährige Friedrich Behaim von Nürnberg, der im Januar 1573 seinem Bruder Paul, der in Leipzig studierte, folgenden prächtigen Brief schrieb: „Brüderliche Lieb und Treu und von Gott ein gelikseliges neies Jar winsch ich Dir, lieber Bruder Paulus. Wiß, daß ich frisch auf pin und geren frie in Schul geh mit meinem prezepter Mattes Zoberer, welcher alle Nacht bei mir in der Kammer ligt. Wanns zwei gen Tag schlägt, so heb ich an zu singen und laß dem Mattesen kein ruh, er muß auch herfür. Als dann sehen wir, wo ein Trog mit Suppen ist, den streichen wir miteinander aus und essen und laufen miteinander in die Schul. Wann der Offel (Christoph) und die andern Suppen essen, so haben wir unsere verdaut … Weiter, lieber Bruter, laß ich Dich wissen, daß ich … hab den Donat ausgelernet und lern die Grammatica und den Sintax auswendig; wil mich flux fördern und darnach hinein zu Dir wischen und Deines Prezebters Prezebter werden. Wils Gott, iez nittmeer (d. h. „für heute nicht mehr“) denn spar Dich gesund, bis ein Has fängt ein Hund. Datum der Jener 1573. Dein lieber Bruder Friedrich Behaim.“

Schulstrafe.

Aber es wird auch viele gegeben haben, denen es überall besser gefallen hat als in der Schule. So z. B. unserem Veit Konrad Schwarz, den wir vorhin bei seinem Eintritt in die Schule begleitet haben und der ja überhaupt ein großer Schalk war. Er ging lieber hinter als in die Schule; mit Vögeln zu schachern, Kreisel und Reif zu treiben, mit Schussern (Marbeln) zu spielen war sein größtes Vergnügen. Im Winter 1551, als er ins zehnte Jahr ging, kam er von der lateinischen in die deutsche Schule, um Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen. „Das that ich aufs allerschlechtst,“ sagt er, „denn die Bosheit lag mir mehr im Sinn, denn das Lernen, als ich darauf dachte, was ich nach der Schul ausrichten wollt, ob ich wollt schleifen, Schneeballenwerfen oder Schlittenfahren, oder ob ich einem ein Kampf wollt anbieten, dem, der mich etwa bei meinem Schulmeister, meiner Bosheit oder anders halben, angegeben hat. Da wird dem Lehrer eben oft nichts anderes übrig geblieben sein als den Burschen ordentlich mit der Rute zu stäupen. Die Rute spielte in der Schule die selbe wichtige Rolle wie in der Familie, ohne sie konnten sich die Alten den Lehrer überhaupt nicht denken, auf allen Bildern ist er mit ihr dargestellt – ja er ist mit diesem Attribut sogar auf einem Siegel verewigt, auf dem der Schule zu Höxter aus dem Jahre 1356, das einen Lehrer zeigt, der mit der erhobenen Rechten die Rute über einem knieenden Knaben schwingt. Manche Schulordnungen so die Eßlinger von 1548, machten die häufige Anwendung der Rute förmlich zur Pflicht, und in Heidelberg wurde ein Lehrer entlassen, da er „die Rute nicht brauchen wollte gegen die Jungen.“ Doch waren diese dem Lehrer nicht auf Gnade und Ungnade ausgeliefert, dem Züchtigungsrecht waren bestimmte Schranken gesetzt. In Breisach war es im 16. Jahrhundert strengstens verboten, die Schüler auf das Haupt zu schlagen oder die Faust ihnen gegenüber zu gebrauchen, bloß mit der flache Hand oder der Rute durfte die Strafe erteilt werden. In Frankfurt a. M. mußte der Schulrektor in seinem Amtseid geloben, den Schülern nicht unverdienterweise wehe zu thun.

Der Bedarf an Ruten war für eine Schule ganz ansehnlich. Ihre Herbeischaffung war im Mittelalter seltsamerweise der Schuljugend selbst überlassen. An einem schönen Sommertage zog die ganze Schule in den Wald, um in allgemeiner Fröhlichkeit die Ruten zu schneiden, mit denen die Faulen oder Ungezogenen im Laufe des Jahres nähere Bekanntschaft machen sollten. Waren die Ruten geschnitten, so wurden allerlei Spiele aufgeführt, es wurde gegessen und getrunken und in heiterster Stimmung der Heimweg angetreten. Vielleicht, daß manches heute noch bestehende Schulfest seinen Ursprung diesen Rutenprozessionen verdankt.

Außer mit der Rute wurden die Kinder auch noch mit dem „Asinus“, dem „Esel“, bestraft. Ein Holzschnitt, der in kräftigen [238] Linien einen Esel darstellte, wurde auf ein Brett aufgezogen und dieses dem unachtsamen Schüler um den Hals gehängt. Das Germanische Museum in Nürnberg ist im Besitze eines solchen Blattes, das noch mit Spottversen versehen ist, sie beginnen:

„Schaut, hier ist der Eselmann,
Der die Ohren spitzen kann.
Kommt her und sehet zu,
Er ist hurtig wie eine Kuh.
Wenn man ihm giebt Futterweck,
Flieget er, gleich wie ein Schneck.
Sein Kopf ist so wohl gestalt
Wie die Eule in dem Wald.“

So geht diese Beschreibung noch lange fort, am Schlusse aber kommt die Moral von der Geschichte in Versen, die lebhaft an Wilhelm Busch erinnern:

„Eben also, wenn die Jugend
Nicht will lernen Kunst und Tugend
Traget sie vor ihren Lohn
Einen Eselskopf davon.
Für den Heller und den Weck
Kriegen sie jetzt Rut und Steck
Für die Ehre Schand und Spott,
Daß es heißt: Erbarm es Gott!“

Denkzettel am Grenzpfahl.

In manchen Schulen mußte der faule Junge sich außerdem rittlings auf einen hölzernen Esel setzen.

Herrschte schon bezüglich des Schulbesuches der Knaben keinerlei Zwang, so war natürlich bei den Mädchen ein solcher noch viel weniger vorhanden. Es sind indessen so viele Geist und Gemüt, mütterliche Sorgfalt, frommen Sinn, gesunden Humor verratende Briefe von Frauen und Jungfrauen aus vergangenen Jahrhunderten auf uns gekommen, daß nicht zu bezweifeln ist, es seien auch die Mädchen fleißig in die Schule gegangen und nicht umsonst.

Doch mag es manchmal, namentlich in kleineren Städtlein, mit den Mädchenschulen nicht zum Besten bestellt, das Los der Lehrerin kein beneidenswertes gewesen sein. Ein Bild davon giebt uns eine Ueberlieferung aus dem thüringischen Städtchen Arnstadt. Dort verklagte die Schulmagd die Mädchenschulmeisterin, eine Predigerswitwe, bei den Vätern der Stadt, daß sie viel unnütze Worte mache, den Kindlein mehr schreibe und sage als vorgesehen – was aber doch eigentlich kein Fehler gewesen wäre –, daß sie nicht recht beten lehre und sie so übel ziehe, daß sie unter der Kirche aus- und einzulaufen nicht Scheu und Scham trügen. Das Schullokal gab zu besonderen Klagen Veranlassung, es war so beschränkt, daß ein Mägdlein häufig dem andern auf dem Schoß sitzen mußte, und so verwahrlost, daß Kröten „und andre Würmer“ ungehindert ihren Ein- und Ausgang in der Schule hatten, so daß die Kinder jedesmal in einen argen Schrecken gerieten und ein groß Geschrei machten. Und wie unsicher war der Lohn der Lehrerin! Der Schneider Christoffel hatte schon in das dritte Jahr zwei, auch drei Mädchen in die Schule geschickt, ohne nur einen Pfennig zu bezahlen. Wenn das Vierteljahr bis auf 14 Tage um war, behielt er die Kinder daheim; wenn aber wieder ein Vierteljahr angefangen hatte, so stellten sich die Mädel wieder ein. „Wenn er mir nur wenigstens meinen Mantel dafür gemacht hätte!“ ruft klagend die arme Mädchenschullehrerin aus.

Selbstverständlich fehlte es in alter Zeit nicht an heiteren Stunden und Tagen, an welchen die frohe Kinderlust sich nach Belieben tummeln durfte. An Spielzeug mangelte es den Kleinen nicht. Klapper und Puppe sind ehrwürdige Spielsachen, die man bereits in ältesten Zeiten kannte – hat man sie doch in Heidengräbern gefunden! Die Knaben ritten auf Steckenpferden, führten hölzerne Waffen und vergnügten sich mit Reistreiben und Reifschlagen. Wie unsre heutige Jugend, belustigte sich auch die des Mittelalters mit Kreiselschlagen und dem Schusserspiel mittels „Triebkugeln oder Schneller“. Kam der Lenz, da lockte er auch die Kinder auf die blumige Au und den grünen Rasen. Hier wurden die uralten Kinderspiele geübt, deren Reiz auch heute das Kindergemüt entzückt, Blindekuh oder Blindemaus, Gerad und ungerad, Schaf- und Wolfsspiel, Helfen und Geben, Verstecken und Suchen, Platzwechseln u. a. Für Bewegung im Freien war mehr Gelegenheit als in unsrer Zeit geboten, da ja auch die Alten an solchen Spielen Gefallen fanden, und so liefen auch die Kinder um die Wette, gingen auf Stelzen, schlugen Ball und Reifen. Das erste Veilchen wurde umtanzt, der erste Storch und der erste Maikäfer mit Spiel begrüßt. Und wie groß war nicht der Anteil der Kinder an den Jahresfesten, an all den Bräuchen durch die das Volk, die Weihe von Ostern und Pfingsten, von Sommer- und Wintersonnenwende erhöhte! Die Spiele und Umzüge, die jetzt hier und dort nur kümmerlich fortleben, waren damals überall üblich.

Es gab auch besondere Veranlassungen zu Freudenfesten der Kleinen. Bei christlichen Einzügen des Reichsoberhauptes oder des Landesfürsten spielten die Kinder eine wichtige Rolle. Sie durften in den Prozessionen nicht fehlen. Als Kaiser Friedrich 1471 feierlich in Nürnberg einzog, trug jeder der Schüler ein mit dem Wappen des Kaisers bemaltes Pannerlein. Friedensschlüsse wurden festlich in den Schulen begangen. Als im Jahre 1660 der Friede von Oliva geschlossen worden war, wurde in der Markgrafschaft Ansbach ein öffentliches Friedensfest gehalten, bei dem die Kinder tanzten und mit Wecken beschenkt wurden. Und was wäre die Legung eines Grundsteines, die Setzung eines Grenzsteines, ein Flurumgang ohne Kinder gewesen? Die Knaben wurden bei solchen Anlässen unversehens an den Ohren oder Haaren gerissen oder erhielten eine Ohrfeige, damit der Vorgang besser in ihrem Gedächtnisse lebendig bleibe und sie darüber auch noch in späteren Jahren Zeugnis ablegen könnten. Dabei empfingen sie aber auch kleine Geschenke Brezeln, Wecken, Bratwürste oder kleine Geldstücke, und recht vergnügt und durchdrungen von ihrer Wichtigkeit mag die Schar der Kleinen an solchen Tagen nach Hause gekehrt sein. So flossen die Tage der goldenen Kindheit dahin, wenn nicht kriegerische Wirren, die in damaligen Zeiten so häufig waren und so oft die Bevölkerung von Haus und Hof trieben, ihre düsteren Schatten auch in die jungen Gemüter warfen. Bald kam der Tag, wo die Kinderschuhe abgelegt wurden und der Jüngling und die Jungfrau sich der ernsten Berufsarbeit zuwandten. [239] 0


BLÄTTER UND BLÜTEN.

Ostermorgen. (Zu dem Bilde S. 225.) Paarweise können sie nicht über die schmale Stiege gehen, die von dem Thore des Friedhofes in die mauerumfriedete Bergstraße des steirischen Dorfes führt. Deshalb geht er voran, stolz und frohgestimmt. In den Augen der jungen Frau ist ein feuchter Glanz, der an die hervordringenden Blütenbolzen der Kastanien gemahnt, die sich schon nach den ersten warmen Strahlen zum lustigen Frühlingswerk gemeldet haben, und in seinem Herzen läuten frohe Osterglocken, das sieht und fühlt man, wenn man das glückstrahlende Antlitz mit den hellen blauen Augen und dem keck aufgezwirbelten Schnurrbart betrachtet. In der Kirche sind sie gewesen und haben dem auferstandenen Heiland gedankt, daß er ihnen ein so schönes bausbackiges Osterhäslein in die Wiege gelegt. Es war zwar kein Häslein, sondern ein Hänslein. Das war aber ihr schönes leuchtendes Osterglück. Und als sie an dem Grabe der Mutter der jungen Bäuerin standen, da erzählten sie ihr von ihrem Ostersegen, und zum erstenmal fielen die Tauperlen der Freude aus den Augen der glücklichen Mutter in den Epheu. Die da unten schwieg zwar dazu, aber sie ließ die Vöglein in den Zweigen einen jubelnden Hymnus anstimmen, der so gut zu den Stimmen im Herzen der Tochter taugte, die sich an dem heiligen Orte nur nicht so hervorzujauchzen trauten. –

Lang war der Schnee liegen geblieben in dem kleinen Gebirgsdorfe, bis der Frühling, der in den großen Thalniederungen seine Ankunft längst mit Blütenglocken eingeläutet hatte, den ungebärdigen Föhn von den Bergen heruntersandte, um Toilette zu machen für seinen prunkliebenden Herrn. Dann kam er selbst auf leisen Sohlen, hauchte ein zartes Grün über die Wintersaaten, nestelte schwellende Bolzen an die mächtigen Baumkronen, zarte Blattknospen an die Sträucher und verspottete den fliehenden Winter, indem er Kirsch- und Maulbeerbäume mit einem blendend weißen Hermelin verbrämte. Da drinnen in der Mulde, wo das mit dem welsch-gotischen Glockenturm gezierte Kirchlein steht, hat sich, geschützt vom rauhen Nord, der Lenz viel früher eingenistet. An der Mauer des Pfarrgartens blüht, an Staketen gezogen, ein Aprikosenbäumchen. Hier bummelt die Sonne den ganzen lieben Vormittag herum und wärmt die „Steinplätzer“ – ehemalige Selterskrüge – unter deren dunklen Glocken des Pfarrers Spargel trefflich gedeihen. Die klein’ Annamirl, welche der Ahnl das Gebetbuch nachträgt, schaut auf der Stiege staunend zu, wie die Sepherl ein Osterei nach dem andern aus dem Grase holt. Geschwindigkeit ist keine Zauberei, denkt sich diese und weiß mit geschickten Taschenspielerkunststückchen die Ostereier, welche ihr die Mutter am Morgen gegeben, immer wieder im Grase zu finden. Die kleinen Nachbarskinder geben sich alle Mühe – sie finden nicht ein einziges. Das vierjährige Everl geht mit ihrer älteren Schwester, der Vroni, zum Ahnl (Großvater) in der Klausen. Dem bringt sie den Buschen mit Primeln und Veilchen, den sie im Pfarrgarten gepflückt, und der Ahnl erzählt ihr dafür die Gschicht’ vom Achkatzl und von der Hausotter mit dem goldenen Krönchen, die nur lauter „Supperl“ und keine „Brockerl“ hat essen wollen. – Der Herr Lehrer, ein hoher Siebziger, geht still und sinnend, doch heiteren Gemütes heim. Er hat dem Auferstandenen gedankt, daß er ihn noch einmal die Frühlingssonne schauen ließ, während so viele seiner Schüler – einst ungebärdige Jungen – unter den kleinen Rasenhügeln gar manierlich und schweigsam auf die letzten Osterglocken harren. Und wie er dann durch die Dorfstraße schreitet, da wird ihm so jugendlich froh ums Herz, denn der warme Sonnenstrahl hat sie alle hervorgelockt „aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern, aus dem Druck von Giebeln und Dächern.“

Und da ist so alles wieder auferstanden, was er verstorben gegeglaubt – da sind sie alle wieder, die flachshaarigen Buben und Mädel, über die er seit fünfzig Jahren das Scepter geschwungen, und da sind die alten Kinderspiele noch, die auch sein Großvater schon gespielt, das „Kugelscheiben“, das „Eierpicken“, das „Anmäuerln“, und er kommt sich vor, als hätte er siebzig Jahre geträumt und als riefen ihn die Kameraden zu den wohlbekannten Spielen – denn das ist ja dieselbe Sonne, die Mauern und Straßen so festlich durchleuchtet, das sind dieselben Berge, die sich zart begrünen, und Lerche, Meise, Fink sind noch die alten Musikanten – nein, nein, es giebt keinen Tod, murmelt er vor sich hin. Dann setzt er sich auf den Platze vor dem Wirtshaus hinter ein Glas Wein und seine alten Augen glänzen immer jugendlicher und all die Zeit und all das Ungemach der langen Jahre verdämmert in freundlicher Ausschau hinter dem verklärenden Sonnenglast des Ostermorgens. V. Chiavacci.     

Des Kaisers Dank. (Zu dem Bilde S. 232 und 233.) Es war am Sedantage des Jahres 1873. Die junge Kaiserstadt Berlin hatte ein Festgewand angelegt und von hellem Jubel hallten ihre Straßen wieder. Diesmal sollte ja der denkwürdige Tag durch einen weihevollen Akt verherrlicht werden. In Gegenwart des Kaisers sollte von der stolzen Siegessäule, die „das dankbare Vaterland“ dem siegreichen Heere errichtet hatte, die letzte Hülle fallen.

Schon am frühen Morgen bot der weite Königsplatz einen prachtvollen, buntbewegten Anblick. Die kaiserliche Standarte wehte von einem zeltartigen Pavillon, der für die Kaiserin und den Hof bestimmt war, Estraden für geladene Gäste und Tribünen für das Publikum erhoben sich weiter seitwärts, rings um das am Unterbau verhüllte Denkmal wehte Fahne an Fahne, und auf den stolzen Festplatz rückten mit klingendem Spiel, zu Fuß und zu Roß, verschiedene Abordnungen des siegreichen Heeres, dem dieser Festtag galt.

Um 10½ Uhr verkündete lauter Kanonendonner das Nahen des Kaisers.

Wilhelm I. kam auf einem prächtigen Rappen geritten, hinter ihm ein glänzendes Gefolge, darunter Kronprinz Friedrich Wilhelm, Moltke, Prinz Friedrich Karl u. a. Als der Kaiser vor dem Denkmal erschien, ritt ihm Fürst Bismarck in der Kürassieruniform entgegen, um den Herrscher zu begrüßen. Da reichte ihm der Kaiser die Rechte und sprach dem Fürsten unter warmem Händedruck herzliche Worte des Dankes aus. Wilhelm I. bekundete damit, daß nicht kriegerische Siege allein Deutschlands Einheit geschmiedet haben, daß die Wiederaufrichtung des deutschen Kaiserthrones in hohem Maße und in erster Linie der weisen Staatskunst zu danken war, durch die der große Kanzler Deutschlands Nord und Süd zu einigen verstanden hatte!

Diesen denkwürdigen Augenblick, in dem Fürst Bismarcks unsterbliche Verdienste um das deutsche Vaterland in so offenkundiger Weise von seinem kaiserlichen Herrn anerkannt wurden, stellt unser heutiges Bild dar. *      

Volkstümliche Hochschulkurse. Die Wissenschaft, welche sich in früheren Zeiten lange in eifersüchtiger Weise gegen weitere Volkskreise abschloß, hat schon seit Jahrzehnten begonnen, sich mehr und mehr zu popularisieren, wie ja auch die „Gartenlaube“ eine große Anzahl ihrer besten belehrenden Artikel berühmten Forschern und Gelehrten verdankt. Als ein bedeutsames und hocherfreuliches Zeichen eines weiteren Fortschritts in dieser Richtung sind in neuester Zeit die an verschiedenen Universitäten auftauchenden „Volkstümlichen Hochschulkurse“ zu begrüßen. Zu diesem Zwecke hat sich neuerdings, wie es im Aufruf heißt, „Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung denjenigen Kreisen zugänglich zu machen, welchen der Besuch der Universitäten und sonstigen Hochschulen versagt ist. Jedwede politische, religiöse oder sociale Parteistellung liegt dem Verein vollständig fern. Sein Zweck ist lediglich die Förderung der Erkenntnis. Insbesondere setzt er sich zum Ziel, auch solche Kenntnisse zu fördern, welche im Interesse der Volks Wohlfahrt als nützlich erscheinen. Die Veranstaltung solcher Vortragskurse soll sich keineswegs auf die Universitätsstädte beschränken. In München und in Leipzig, wo die ersten Kurse bereits eröffnet worden sind, erwies sich der Andrang der Hörer ungemein groß, mit Freuden konnte festgestellt werden, daß sehr viele Handwerker und Arbeiter von dieser neuen Gelegenheit zur Fortbildung den regsten Gebrauch machten, recht lebhaft ist auch die Beteiligung der akademischen Lehrer an diesem Werk der Volksbildung. Es ist aber dringend zu wünschen, daß auch die Zahl der „fördernden Mitglieder“, die durch größere oder geringere Beiträge das Fortbestehen der Kurse sichern helfen, entsprechend groß werde! Deutschland ist ja das Land, in dem es um die Volksbildung am besten bestellt ist, wir sollten darum alles daran setzen, diese Stellung auch in Zukunft unserem Volke zu wahren.*      

Die Wasserkräfte des Riesengebirges, welche ihre Energie bis jetzt nur im Schadenstiften zu bethätigen pflegen, endlich zu bändigen und den Anwohnern nutzbar zu machen, ist der Zweck von Bestrebungen, zu denen sich neuerdings eine Anzahl volkswirtschaftlicher und Finanzkräfte zusammengethan hat. Die Ueberschwemmungen am Fuße des Riesengebirges, welche hier bei der Höhe, Steilheit und dem Schneereichtum der Abhänge schlimmer als bei andren Gebirgen aufzutreten pflegen, betreffen allein im Bobergebiete 10 000 bis 11 000 Hektare und richten oft ungeheuren Schaden an, der sich auf keine andere Weise mit Sicherheit vermeiden läßt als durch die Anlage sogenannter Thalsperren, in denen die plötzlich steigenden Wassermengen sich ohne Schaden sammeln können. Der angesehenste Hydrotechniker Deutschlands, dem u. a. die Thalsperren des Wuppergebiets ihre Entstehung verdanken, Geh. Rat Prof. Intze, bereiste auf Veranlassung Berliner Interessentenkreise die Flußläufe des Riesengebirges und sprach sich mit Bestimmtheit für die Ausführbarkeit und Nützlichkeit von Thalsperren in denselben aus. Da die in solchen künstlichen Becken aufgestauten Wassermengen nicht nur zur Wasserversorgung benachbarter und selbst entfernterer Städte, sondern auch zur Umsetzung in nutzbare Kraft mittels Turbinen verwertbar sind, so kann aus einem heutigen Mißstand, wie ihn z. B. die 88er furchtbare Ueberschwemmung im Queisgebiet zeigte, leicht eine nutzbringende Anlage für lange Zeiten hinaus geschaffen werden, wenn nur die einmaligen, nicht geringen Baukosten solcher Thalsperren aufzubringen sind. Da der Staat an solchen hydrotechnischen Werken bereits im Elsaß, an der Ruhr und Wupper sich beteiligt hat, so wird auf seine Mitwirkung auch in Schlesien zu rechnen sein, zumal die Verhältnisse hier in technischer Hinsicht besonders günstig liegen.

Diese zuerst in engeren Kreisen verbreiteten Projekte haben schnell die Zustimmung der weitesten Interessentenschichten gefunden. Man denkt lebhaft daran, im ganzen Iser- und Riesengebirge eine derartige Aufschließung der natürlichen Kraftquellen des Landes zu befördern. Elektrische Kraft und Lichtanlagen sollen im Anschluß an große Turbinen-Werke entstehen, auch ein Netz von Kleinbahnen, mit dem die angrenzenden Landesteile zur Hebung der Landwirtschaft zu überziehen sind, würde eine Kraft am billigsten durch hydraulisch erzeugte elektrische Ströme erhalten. Die Gräflich Schaffgotsch’sche Kameralverwaltung zu Hermsdorf soll bereits mit der Ausarbeitung einschlägiger Projekte beschäftigt sein, und die Firma Siemens u. Halske in Berlin hat schon einen Teil der Wasserkraft des Bober bei Christianstadt im Interesse der Gemeinde Grünberg [240] nutzbar gemacht. Die in 1000voltigen Drehstrom umgewandelte Energie wird 25 km weit fortgeleitet und dient vorläufig zur Speisung von etwa 5000 Lampen und einer Anzahl Elektromotoren. Bw.     

Nachrichtenverbreitung einst und jetzt. Es war am 12. Januar 1519 als in Wels bei Linz Max I. die Augen zum letzten Schlummer schloß. Für das Heilige römische Reich deutscher Nation konnte es eine wichtigere Nachricht als die Kunde vom Tode des Kaisers nicht geben, und es zeugt für den Geist des Verkehrslebens jener Zeit, wie außerordentlich langsam diese Botschaft damals ihre Wellen schlug. Für gewöhnlich ging ein Brief von Linz nach Augsburg 2½ Tage, bei dem harten Wetter des Januar dauerte es aber 4 Tage, bis zum 16. Januar, bevor die kaiserlichen Räte in Augsburg den Tod ihres Monarchen erfuhren. Auch in Trient langte die Nachricht am 16. an, 2 Tage später in Ofen und Brescia und am 19., als Ulrich von Württemberg die Totenfeier beging, wußte man auch in Venedig bereits, daß Maximilian nicht mehr lebte. Nürnberg erhielt die Kunde ebenfalls eine Woche nach dem Ereignis – sie war also täglich um fünf Meilen fortgeschritten – und gab sie weiter nach dem Norden Deutschlands. Am 23. übermittelte Frankfurt a. M. die Nachricht nach Wetzlar, und gleichzeitig erfuhr auch Margarete von Oesterreich in Mecheln den Tod ihres Vaters und die Thronbesteigung Karls des Fünften. Auch in Rom war am 23. die Trauerbotschaft eingetroffen, während Paris sie am 25. und Spanien erst am 28. Januar, 16 Tage nach dem Ereignis, erhielt. Heute bedarf der Telegraph kaum ebensovieler Minuten zur Uebermittlung wichtiger Staatsereignisse. Bw.     

Auf der Spur des Osterhasen.
Nach einer Originalzeichnung von F. Mock.

Der Mensch im Kampfe mit den Kleinen. Es ist bekannt, wie in der Natur oft scheinbar äußerst geringe Ursachen ganz ansehnliche und einflußreiche Wirkungen hervorbringen. Wer aber sollte jemals daran gedacht haben, daß die kleine Spinne imstande wäre, den elektrischen Strom, der die mächtigsten Tiere zu lähmen vermag, gleichgültig zu unterbrechen und dadurch den armen Telegraphisten fortwährend Aergernis zu bereiten? Und dennoch ist die Thatsache nicht aus der Welt zu schaffen. Vor kurzem berichtete man aus dem aufblühenden Japan, über dessen Boden sich heute fast ebenso wie bei uns Telegraphennetze ausbreiten, daß es dort bisweilen nicht möglich sei, den elektrischen Draht zur Beorderung von Depeschen zu benutzen, sobald die kleine Spinne den Draht in den Bereich ihrer industriellen Tätigkeit gezogen habe.

Wie hier in Deutschland, spinnen auch in Japan die Weberspinnen feine Netze aus, um darin mit leichter Mühe ihre Jagdtiere zu erbeuten. Dabei geschieht es dort häufig, daß diese industriellen Tierchen zur Befestigung ihrer zarten Gewebe nicht nur die Aeste der Bäume und Sträucher benutzen, sondern auch die verhältnismäßig niedrigen Telegraphenstangen und Drähte, die Isolatoren und den Erdboden als Stützpunkte verwenden, so daß die Netze, wenn sie vom fallenden Tau befeuchtet worden sind, als vortreffliche Leiter dienen, indem sie den elektrischen Strom der Erde zuführen und dadurch die Linien außer Dienst setzen.

Wohl hat man in Japan bald nach Entdeckung dieses eigentümlichen Hindernisses des allgemeinen Verkehrs auch daran gedacht, den kleinen achtbeinigen Widersacher durch das geeignetste Mittel von seiner Lieblingsneigung abzubringen. Mit Bambusoefen bewaffnete Arbeiter wurden ausgesandt, die Telegraphendrähte und –pfähle von den lästigen Geweben zu befreien. Doch die kleinen fleißigen Arbeiterinnen zeigten sich weit thätiger in der Reparatur ihrer Netze als die Oefen im Zerstören derselben. Und so mußten die braven Japaner erfahren, daß es leichter ist, das mächtige „Reich der Mitte“ zu besiegen als diese meist verachteten winzigen Tierchen.

Auch aus Amerika hört man ähnliches. Dort hat man an den Denkmälern ein zerstörerisches Treiben der Spinnen erkannt, wie wir einem Bericht des englischen Journals „Nature“ entnehmen. Die zahlreichen elektrischen Flammen gaben sonst den Monumenten der Hauptstadt, die sie mit ihrem glänzenden Licht übergossen, ein großartiges Aussehen, das man nicht müde wurde zu bewundern. Mit der Zeit aber breitete sich ein bleicher Schleier über sie aus, der die mächtigen Gestalten wie ein leichter Nebel verhüllte. Auch hier waren Spinnen die Ursache.

Es ist ja bekannt, daß die klugen Spinnen ihre feinen Netze gern an einer Stelle aufspannen, die dem hellen Sonnenschein den Zutritt gestattet. Der Beweggrund zu dieser Handlungsweise ist nicht schwer zu erraten. Die Beute suchenden Tierchen scheinen aus Erfahrung zu wissen, daß die Insekten, die ihnen zur Nahrung dienen, meist Lichtfreunde sind und daher von dem Lichte auch aus dem dunkelsten Winkel hervorgelockt werden. All die elektrischen Flammen nun, die wie kleine Sonnen die Nacht erhellen, riefen Legionen von Spinnen herbei, die ihre Thätigkeit in einer Weise verdoppelten, wie man dies noch niemals beobachtet hatte.

Und so haben die gewaltigen Monumente mit der zerstörenden Macht einer kaum sichtbaren Spinne zu rechnen. Dieses so rührige kleine Wesen läßt sich auf dem Steine heimisch nieder und wohnt daselbst ganz behaglich für sich, indem es sein verhängnisvolles Netz darüber aufspannt, das mit der gewünschten Beute zugleich die atmosphärische Feuchtigkeit festhält. Eine feuchte Lagerstätte suchend, stellen sich bald mikroskopische Sporen ein, aus denen sich zarte Flechten mit nagenden Wurzeln entwickeln, wodurch der zugleich dem Temperaturwechsel unterworfenen einst unverwüstlich scheinende Stein nach und nach verwittert und zuletzt wieder wird, was er einst gewesen ist: ein Häufchen Erde. L. Haschert.     

Im blühenden Lenz. (Zu unserer Kunstbeilage.) Goldne Frühlingsstimmung beseelt unser Bild, das uns vor den Thoren einer altertümlichen Stadt den blühenden Lenz in voller Entfaltung zeigt. Es ist die Stimmung, die im Frühling alle Menschen ergreift und aus „der Straßen quetschender Enge hinaustreibt ins Freie, wo unterm Anhauch milder Lüfte, beim Anblick der neuerblühten Natur die Brust sich in ahnungsvoller Seligkeit weitet und die Seele wie befreit ausatmet, ledig der Hast“, in welcher der Winter alles Leben gefangen hielt! In hundert Farben schimmert die Flur. Selbst der Dornstrauch schmückt sich mit leuchtenden Blüten. 0, selige Kinderlust, die sich zum erstenmal wieder auf grüner Wiese tummelt, die aus Veilchen und Maßliebchen duftige Sträuße bindet, um sie der Mutter daheim als Grüß des Frühlings zu bringen! Auch die schmucke Maid, die selber im blühenden Lenze des Lebens steht, ist hinausgeschritten vors Thor. Aber in Gedanken verloren, sucht sie einsame Pfade. Wohl neigt auch sie sich zu einer Blüte hinab, um sie zu pflücken. Aber ihre Gedanken schweifen schon wieder hinüber in die wonnige Welt des sie begleitenden Traumes, in dem es auch wundersam knospet und blüht. Durch ihre Seele klingt das Lied vom blühenden Lenz der Liebe.


[ Verlagswerbung für "Neue Gedicht." Von Emil Rittershaus.]


☛      Hierzu Kunstbeilage VIII: „Im blühenden Lenz.“ Von G. Eggena.

Inhalt: [ Inhalt von Nummer 14/1897 – hier z. Zt. nicht abgebildet. ]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

  1. mit dem Kopfe wackelnd, als wenn der Hals gelähmt wäre.
  2. Vater und Sohn sind den Lesern der „Gartenlaube“ aus dem Aufsatz „Eine Gigerlfamilie des 16. Jahrhunderts“ (1892, Nr. 37) schon bekannt.