Die Gartenlaube (1899)/Heft 10
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10. Heft. | Preis 10 cents. | 16. Mai 1899. |
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Nur ein Mensch. Roman von Ida Boy-Ed (1. Fortsetzung) | 293 | |
Carl Gehrts. Von W. Schleicher. Mit Abbildungen | 304 | |
Das Schweigen im Walde. Roman von Ludwig Ganghofer (9. Fortsetzung) | 306 | |
Die Ursachen der Bergkrankheit. Von M. Hagenau. | 316 | |
Emilie Uhland. Ein Gedenkblatt zu ihrem hundertsten Geburtstag, 15. Mail 1899. Von J. Hartmann. Mit Bildnis |
318 | |
Die Brockenbahn. Von Friedrich Seiler. Mit Abbildungen | 321 | |
Blätter und Blüten: Bartholomäus Ringwaldt. S. 322. – Die Windfahnen auf dem Berliner Dom. Von Dr. C. Kaßner. (Mit Abbildungen.) S. 322. – In den Maremmen. Von Woldemar Kaden. (Zu dem Bilde S. 293.) S. 323. – Bei der Parade auf dem Tempelhofer Feld. (Zu dem Bilde S. 296 und 297.) S. 323. – Der Bismarckturm auf dem Zeigerheimer Berge bei Rudolstadt. (Mit Abbildung.) S. 324. – Maienzeit. (Zu dem Bilde S. 301 und unserer Kunstbeilage.). S. 324. – Die Entdeckung des Aluminiums. S. 324. – Abschied des Verlogbten. (Zu dem Bilde S. 313.) S. 324. – Das Möskefest in Rheinsberg. (Zu dem Bilde S. 317.) S. 324. | ||
Illustrationen: Kohlenbrenner in den Maremmen. Von Cl. Origo. S. 293. – Auffahren der Wagen bei der Parade auf dem Tempelhofer Feld bei Berlin. Von M. Plinzner. S. 296 und 297. – Der Mai. Von Walther Püttner. S. 301. – Abbildungen zu dem Artikel „Carl Gehrts“. Odhin. S. 304. Carl Gehrts. S. 305. Die Kunst am Anfang. S. 308. Die Kunst unter Roms Kaisern. S. 309. – Abschied des Verlobten. Von E. B. Hirschfeld. S. 313. – Das Möskefest in RHeinsberg. Von E. Thiel. S. 317. – Emilie Uhland. S. 320. – Abbildungen zu dem Artikel „Die Brockenbahn“. Kurve im Rennethal. Blick in das Drengethal. Rückblick auf den Brocken vom Eckerloch aus. S. 321. Bahnhof Brocken. S. 322. – Die Windfahne auf dem nördlichen vorderen Turme des neuen Domes zu Berlin. S. 323. – Zigeunermusik. Von Hans Stubenrauch. S. 323. – Der Bismarckturm bei Rudolstadt. S. 324. |
Heinrich Pfeil †. Ein um die Pflege des deutschen Männergesangs als Komponist wie als Dichter hochverdienter Mann ist in Heinrich Pfeil am 17. April in Leipzig gestorben. Viele von den zahlreichen wahrhaft volkstümlichen Männerchören, die er komponiert hat, sind in ganz Deutschland zu großer Beliebtheit gelangt. Wir erinnern nur an „Still ruht oer See“ und „Ein Sohn des Volkes will ich sein“. Als Herausgeber der „Sängerhalle“, die er von 1862 bis 1887 in seiner Vaterstadt Leipzig redigierte, hat Pfeil sich als ein Vorkämpfer für Veredelung des deutschen Männergesangs bewährt. Pfeil war am 18. Dezember 1835 als Sohn eines Buchdruckfarbenfabrikanten geboren. Anfangs widmete er sich dem Buchhandel, folgte aber bald auch als Schriftsteller seinen litterarischen und künstlerischen Neigungen. Außer verschiedenen Liedersammlungen, wie „Brautlieder“, „Dur und Moll“, „Gut Sang“, „Leicht Gepäck“, veröffentlichte er u. a. „Musikantengeschichten“ und „Tonkünstlers Merkbüchlein“. Von 1891 bis 1896 lebte er in Glauchau als Redakteur der „Glauchauer Zeitung“. Dann kehrte er nach Leipzig zurück, und hier erfüllte sich nun, was er in seinem letzten Chorliede „Letzter Wille“ gesungen:
„Dort, wo mein Mütterchen mich sang zum Schlummer ein,
In jenem Heimatsort möcht’ ich begraben sein!“
Auf Anregung des Leipziger Männergesangvereins „Concordia“ hat sich ein Komitee gebildet, um zum Besten der Hinterbliebenen Heinrich Pfeils, die er in bedrängter Lage zurückließ, eine Sammlung ins Leben zu rufen. Wir empfehlen den Aufruf der Teilnahme unserer Leser.
Kinderspiele im Freien. Unter den vielen Freuden, die das Spielen im Walde den Kindern bietet, war uns eine der liebsten das Bauen einer Waldlandschaft. Den Schauplatz gab ein ausgehöhlter Baumstumpf oder der Raum zwischen zwei alten Tannenwurzeln, das Material allerhand Rinden, Brettchen, Streichholzschachteln, das Werkzeug ein Taschenmesser. Da wurden Hüttchen gebaut, Möbel in den Moosboden gestellt, Wege mit Sand markiert, Kieselsteine zu Felsenpartien verwendet, Treppen angelegt und ein Stückchen Spiegelglas zum See erklärt. Eichelschälchen dienten als Blumentöpfe, allerlei Kräuter wurden zu Ziersträuchern erhoben; das schönste aber war eine ganze Schachtel voll Landvolk und Viehstand, wie sie in der Berchtesgadener Gegend den Winter über geschnitzt und bemalt, im Sommer in den verschiedenen Schnitzereiläden verkauft werden, lustig anzusehen und billig dazu. Unsere jungen Freunde sollen nur anfangen, zu bauen, die Erfindungen sprießen dabei wie die Pilze, welche sich, nebenbei bemerkt, vorzüglich zu Aussichtspavillons eignen.
Ein anderes sehr beliebtes Spiel war „Waldhütten bauen“; das durfte aber nur in der echten Waldwildnis geschehen, fern von allen künstlichen Anlagen, denn wir mußten starke lange Aeste dazu haben, wie man sie auf dem Waldboden findet. Vier solche wurden im Geviert in den Roden gerammt als Eckpfeiler und ein grünes Dach aus leichteren Zweigen darüber gelegt, geflochten, gebunden, wie’s eben kam; die Wände stellten wir ebenso her und ließen Fensteröffnungen darin; mit Guirlanden von Waldrebe schmückten wir den Eingang, die langen Stengel des blauen Schlangenenzians und die feinen Büschel der weißen Spiräa wehten von den Eckpfosten herab, ein Busch von roten Vogelbeeren hielt sie fest. Eine natürliche Moosbank war das Sofa, ein Kistendeckel auf zwei Pflöcken der Tisch, dahinter, zwischen ein paar großen Steinen, lag die Speisekammer, die wir mit ringsum gesammelten Beeren, mit ausgesparten Vier-Uhr-Aepfeln, mit Zwieback und Haselnüssen immer reichlich versahen. Wir waren „Familien“, jede im eignen Haus, und erfanden uns die merkwürdigsten Schicksale von verlorenen und wiedergefundenen Kindern, von Rittern, Feen, Indianern, und waren seelenvergnügt. Die Stilleren unter uns thaten sich dann wieder gern zum „Blättersticken“ zusammen. Da wurde erst ein großes, gutgeformtes grünes Blatt gesucht – Eichenblätter waren beliebt – und dann den bunten Herbstblumen, Astern, Georginen, Phlox etc. einzelne Blättchen ausgerupft. Diese steckten wir in hübschen Mustern mit feinen Tannennadeln auf das grüne Blatt fest, ein breites rotes Dahlienblatt in die Mitte, einen Kranz von blauen und weißen schmalen Asternblättchen rings herum, drei rote Geranienblätter in Kleeblattform darunter etc.: wenn auch unsere Arbeit nicht haltbar war – außer in gepreßtem Zustande – und höchstens daheim den Müttern gezeigt wurde, so hatten wir doch unsere Freude an der lustigen Blumenarbeit, und ich kann sie meinen kleinen Freundinnen nur empfehlen. J. B.
Einfluß seelischer Erregungen auf den Blutumlauf. Daß seelische Erregungen auf das Herz und den Blutumlauf einwirken, ist jedem aus eigener Erfahrung bekannt. Freude läßt unsere Pulse kräftiger schlagen und rötet unsere Wangen, während wir vor Schreck erblassen und unser Herz still zu stehen scheint. Diese Veränderungen der Herzthätigkeit machen sich auch an unseren Gliedmaßen bemerkbar. Je nach der Menge des Blutes, die jeder Pulsschlag zum Beispiel in die Hand hineintreibt, wird ihr Umfang größer oder kleiner. Wir sehen diese Größenveränderungen mit bloßem Auge nicht. Man hat aber Apparate erfunden, welche uns dieselben erkennen lassen. Sie werden Plethysmographen genannt.
Befestigt man die Hand an einen solchen Apparat, so wird jede Veränderung der Größe durch einen Stift auf einem fortlaufenden Papierstreifen aufgeschrieben. Wir erhalten so Kurvenlinien, die über die Beschaffenheit des Pulses und die Blutfülle der Hand während des Versuches Auskunft geben. Wie die Zeitschrift „La Nature“ berichtet, haben neuerdings die Physiologen Binet und Courtier den Einfluß seelischer Erregungen auf den Puls geprüft. Unsere Figur 1 zeigt die Kurve, die der Puls eines Kindes verzeichnet hat. Es wurde dem leichtgläubigen Kinde mitgeteilt, daß man ihm einen Zahn ziehen lassen werde. Diese Ankündigung geschah in dem Augenblick, der aus der Figur durch ein weißes Kreuzchen bezeichnet ist; das Kind wurde beängstigt und die Furcht drückte den Puls nieder; erst allmählich, nachdem das Kind beruhigt wurde, nahm er, wie es sich am rechten Ende der Figur zeigt, seine normale Beschaffenheit an.
Die zweite Figur stellt die Veränderungen des Pulses durch eine unangenehme Erwartung dar. Ein Professor sah sich genötigt, einem Studierenden, der oft zu spät in das Laboratorium kam, einen Tadel zu erteilen. Der Professor prüft gerade seinen Puls mittels des Plethysmographen. Da klingelt es an der Thür; der verspätete Zuhörer kommt. Dieser Augenblick ist unter der Pulskurve links auf der Abbildung durch ein Kreuz vermerkt. Der Professor wird durch die Erwägung, daß ihm nun eine unangenehme Auseinandersetzung bevorstehe, verstimmt. Er unterdrückt zwar rasch diese Gemütswallung, sie hat aber seinen Puls beeinflußt und spiegelt sich in der herabgedrückten Pulskurve wider, die der Apparat sofort gezeichnet hat.
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Halbheft 10. | 1899. |
Nur ein Mensch.
Sabine saß am Fenster und sah auf die Straße. Auf den runden Kopfsteinen, mit denen der Fahrdamm gepflastert war, rasselte eben mit klirrendem Geräusch ein leerer Ackerwagen entlang, der Knecht, der die Pferde trieb, stand aufrecht zwischen den grauen Wagenplanken. Drüben in der Hausthür lehnte der Inhaber der Kolonialwarenhandlung mit gekreuzten Armen am Pfosten und sprach leutselig zu einem kleinen Jungen, der in Holzpantoffeln vor ihm stand, mit einem alten Korb, aus dem die Rippen emporstachen, in der herabhängenden Rechten. Das Ladenfenster daneben war von sauber weißbemaltem Holzrahmen eingefaßt und blinkte.
Sabine zählte die Citronenreihe unmittelbar hinter dem Glase und sah, wie kunstvoll in eine glatte Fläche von Reis ein geschwungener Schnörkel von Rosinen als Mosaik eingelegt war. Hinter dieser flachbildnerischen Arbeit, welche quer die ganze Auslage einnahm und schräg sachte anstieg, erhob sich am inneren Ende als Krönung eine Reihe Blechdosen, auf denen ihr Inhalt mit goldenen Buchstaben auf olivgrünem Grund zu lesen stand. Der flache Deckel der mittelsten, gerade über dem Worte „Peccothee“, trug einen kleinen Pyramidenbau von Sardellen- und Anchovisgläschen.
Ueber Laden und Hausthür zog sich das erste und einzige Stockwerk hin. Da saß hinter sauber geputzten Fenstern und schneeweißen, mit Filetspitze zackig eingesäumten Gardinen, den Kopf emsig über eine Näharbeit geneigt, Frau Küps, die Frau des Kolonialwarenhändlers und Sabinens tägliches Gegenüber, das nie versäumte, mehrfach artig herüberzugrüßen.
Rechts von diesem Hause dehnte sich ein breites Gebäude
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Oben hinter dem ersten Fenster gähnte der Hauptmann gerade hinter dem Kreisblatt. Sabine konnte es noch sehen, dies Fenster war noch in ihrem Sehfeld.
An der andern Seite vom Krämer folgte ein modernes, nettes Haus mit zwei Stockwerken und je einem Erdgeschoßfenster rechts und links von der Hausthür. Unten links wohnte das alte taube Fräulein von Zimmermann; sie hatte nur 1200 Mark Rente und hielt sich bloß eine Morgenfrau. Rechts von der Hausthür wohnte die Modistin Fräulein Rodust; zwischen den Blumentöpfen auf ihrer Fensterbank sah man immer Tüll, Bänder und künstliche Blumen liegen. Das Fräulein galt für etwas unordentlich und man sagte, daß die Offiziere der Garnison sie mehr interessierten als ihre Hüte und Hauben. Im ersten Stock hauste der Rechtsanwalt Cohen mit seiner Frau und vier Kindern. Zwei hatten die Masern, aber Herr Küps sagte, es gehe sehr gut, denn sie bekämen schon Taubensuppe heute, Cohens Köchin habe bei Crolpa zwei Tauben geholt, zu dem unerhörten Preis von achtzig Pfennig pro Stück, woran man wieder mal sehe, was Crolpa für einen Charakter habe. Im zweiten Stock lebten Rechnungsrats, denen das Haus gehörte, selbst. Bei Frau Rechnungsrat war heute Kaffeegesellschaft, zwei Kuchen und eine Torte hatte der Bäckerjunge schon gebracht; Frau Kaufmann That hatte abgesagt, weil noch immer Masern im Hause seien, während Frau Apotheker Müller als aufgeklärte Frau eine solche Angst für albern erklärte.
Jetzt löste sich Herr Küps drüben aus seiner leutselig nachlässigen Haltung, denn der Bursche des Herrn Leutnant Bläser kam, um zum Abendbrot für seinen Herrn Einkäufe zu machen.
Zwei Minuten ging niemand vorbei. Zwischen den Kopfsteinen auf der Straße standen noch Spuren von Regen. Der Himmel sah grau, aber wolkenlos herab, er war ganz und gar gleichmäßig überzogen.
Sabine seufzte schwer. Sie stützte den Ellbogen auf das Fensterbrett, wo er zwischen bunten Porzellanblumentöpfen, in denen aber keine Gewächse standen, Platz fand. Sie legte ihr dunkles Haupt in die zur Schale geformte Hand und starrte vor sich hin.
Drüben dachte Hauptmann von Hallendorf: Wie die schöne Frau mit ihrer blassen Hand kokettiert. Er legte sein Kreisblatt weg und that, als unterhielte er sich damit, die Vorübergehenden zu beobachten, während er darauf hoffte, mit Sabine einen Blick wechseln zu können.
Einmal mußte sie doch wieder herblicken. Es war doch eine Rechnung, so sicher, wie zweimalzwei ist vier, daß die tödliche Langeweile diese wunderschöne Frau endlich zwingen mußte, sich eine Zerstreuung zu suchen.
Aber Sabine merkte nicht, daß der Hauptmann drüben Stellung genommen hatte. Sie starrte in das Zimmer hinein.
Draußen wußte sie alles auswendig. So wie Gesicht und Inhalt ihrer drei Gegenüberhäuser kannte sie fast die ganze kleine Stadt.
Aber auch hier drinnen, im Wohnzimmer ihrer Eltern, wußte sie alles auswendig. Es war ein großer Raum und dafür sehr niedrig. An der Hauptwand, vor der gelbgrauen Tapete, stand das mächtige Sofa. Drüber, in einer Gruppe geordnet, Photographien aller Deubens und Osterroths, die nach Erfindung der Photographie geboren waren und zu Herrn Oberamtmann Deuben und Frau geborenen Osterroth in einem Zärtlichkeits- oder Respektsverhältnis gestanden hatten. Die Rahmen dazu waren ohne Ausnahme oval und schwarz und gleich groß. Nur in der Mitte prangte ein großes, viereckiges Bild, auch eine Photographie, eingerahmt von einem grauen, mit Goldpressung versehenen Passepartout und brauner Leiste. Es stellte Sabine und Leopold von Zeuthern als Brautpaar dar.
Sabine konnte den Anblick dieses Bildes kaum ertragen. Ihre Bitten, es fortzunehmen, wurden mit Erstaunen von ihren Eltern gehört.
„Ih, das hat da immer gehangen!“ sagte der Oberamtmann. Das war eine Ablehnung.
Und so sah Sabine jeden Tag ihre siebzehn Jahre vor sich.
Wie schön sie damals gewesen war! Sie sah es selbst. Jetzt kam sie sich alt und verblüht vor, mit ihren Sechsundzwanzig zwar nicht, aber mit dem, was sie alles erlebt und erlitten hatte. Jeden Tag sagte ihr dies unselige Bild mit vernichtender Klarheit und Schonungslosigkeit: du hast nur geheiratet, weil es deinen siebzehn Jahren schmeichelte, schon Frau zu heißen, weil es dich reizte, so bald hinter die Geheimnisse des Lebens zu kommen, weil es so hübsch war, einen altadeligen Namen zu bekommen, weil ein heißer Drang nach Ereignissen, nach Wechsel, nach Bewegung dich hinweglockte von dem stillen väterlichen Gut, und endlich, weil du dich geliebt glaubtest, während er vielleicht nur deine Schönheit, Jugend und Unschuld mit in Kauf nahm als reizvolle Zugabe zu den zweimalhundertfünfzigtausend Mark, die Tante Sabine Osterroth dir hinterlassen hat.
Ob es wohl von hundert Frauen nicht achtzig ebenso trifft, daß sie ihr ganzes Leben verantwortlich tragen müssen, was sie in ihrer unverantwortlichen, blind zutappenden Jugend auf sich nahmen?
Sabine fragte sich das immer und beantwortete sich das immer mit einem resignierten „Gewiß“.
Aber wenn ein Unglück allgemein ist, trifft es darum den einzelnen geringer?
Ich werde dies Bild einmal heimlich fortnehmen, dachte Sabine. Ich lasse die Kinder photographieren und ersetze damit alles. Passepartout und Rahmenleiste können bleiben. So sage ich dann zu den Eltern, ich habe sie überraschen wollen.
Dieser Vorsatz belebte Sabine ein wenig.
Sie horchte, ob die Eltern noch nicht zum Kaffee kämen. Alles stand fertig auf dem Sofatisch.
Nichts rührte sich. Dann war es auch noch nicht halb Vier. Denn die Eltern waren pünktlich wie eine Uhr.
Wie lang die Tage schienen.
Ob die Bewohner von Mühlau es nicht empfänden? Ob sie nicht verzweifelten in der kleinlichen Monotonie ihres Daseins? Aber freilich, die Mühlauer kannten nichts anderes als ihr Städtchen und die kleinen Wichtigkeiten ihres Philistertums. Und wenn sie doch etwas anderes kannten – denn auch in Mühlau gab es schließlich Leute, welche reisten oder zeitweise in andern Städten oder Gegenden gelebt hatten, dann litten sie doch nicht so wie Sabine. Sie besaßen ein Glück oder eine Arbeit, worin sie so reich waren, daß sie nichts entbehrten, oder vielleicht ein Unglück oder eine Sorge, die ihre Tage und Nächte erfüllte.
Wie Sabine sich nach dem Leben zurücksehnte! Verzehrend! Die Vergnügungen in der Gesellschaft, das Gefeiertwerden in der großen Welt, Tanz, schöne Kleider, viel Gastlichkeit im eigenen Haus – das alles lernte sie eigentlich nur in den ersten vier Jahren ihrer Ehe kennen. Seit Zeuthern aus dem Staatsdienst geschieden war, schied er sich auch von der Gesellschaft. Doch hatte Sabine sich nach dem bunten Treiben nicht sehr zurückgesehnt. Das vielfach Einengende in solchem Verkehr, wo es doch immer Höhergestellte giebt, vor denen man sich ein wenig zu bücken hat, ward von ihr deutlich empfunden. Sich und ihren Sympathien Zwang anzuthun, war nie ihre Sache gewesen.
Aber die Weltstadt hatte sie genossen. Mit allen Organen nahm sie das auf, was Berlin ihr bot. Das Selbständige, das von allen Rücksichten Losgelöste, sie empfand es wie eine königliche Freiheit. Auf der Straße wandern und von tausend Tönen fremden Lebens sich umflutet fühlen, vor den Läden stehen und tausend schöne Dinge sehen, die Phantasie und Geschmack anregten, das liebte sie! Fremde Menschen, fremde Gesichter auf den Gassen, im Theater. Ueberall selbst ein fremder Mensch und ein fremdes Gesicht für die andern. Kein Nachbar, der beobachtet und im Beobachten zugleich richtet! Kein Gesetz, warum man zu dieser Stunde nicht jenes darf! Und bei jedem Umzug in eine andere Wohnung neue Räume, die Wechsel der intimen Umgebung brachten, ein neues Straßenbild.
Veränderung und Freiheit! –
Auf dem Tisch gab es ein kleines Geräusch. Der Deckel des Theekessels hob und senkte sich, von der Gewalt des Dampfes bewegt. Sabine trat hinzu und goß noch einmal auf. Herr und Frau Oberamtmann Deuben tranken nur getrichterten Kaffee, zu welchem die Oberamtmännin immer selbst die Beutel strickte, die vierundzwanzig Stunden vor dem ersten Gebrauch in dünnen [295] Kaffee gelegt werden mußten, sonst schmeckte der Kaffee nach dem Beutel.
Langsam ließ Sabine das kochende Wasser auf den mit Bläschen sich bedeckenden Kaffee tropfen. Das ist ein förmliches Stillleben, dachte sie dabei, wie der gestrickte Beutelrand, mit dem Aufhängsel daran, sich aus dem Blechtrichter erhebt.
Die ganze Stube war ein Stillleben, aber kein malerisches. Dazu standen alle Möbel zu gerade vor den Wänden aufmarschiert und dazu waren sie nicht alt genug. Sie waren bloß erst unmodern. Rechts und links vom Sofa noch ein Klavier und ein Sekretär, ersteres nach dem Fenster, letzterer nach dem Ofen zu. Drüben ein Cylinderbureau und Stühle, die Thüren mit braunen Damastportieren verziert, denen man ansah, daß sie nie aus ihren dicken Haltern von Posamentierarbeit gelöst wurden.
Gerade so hatten alle Sachen einst draußen auf Heinsdorf gestanden und gehangen.
Sabine hörte hinter sich Geräusch und wandte sich um.
Ihre Eltern kamen aus der nebenan gelegenen Schlafstube, wo Herr Oberamtmann im Ohrenlehnstuhl am Fenster und Frau Oberamtmann auf einer Chaiselongue eine Stunde zu schlummern pflegten. Sabinens Vater war ein großer, breiter Mann mit einem wohlwollenden Gesicht und hellen, klugen Augen. Sein graues, schon sehr spärliches Haar hatte er vom Nacken her über den kahlen Schädel gekämmt, den es so strähnig deckte, daß man doch die Kahlheit durchsah. Er trug immer ein schwarzes Halstuch um einen Vatermörderkragen und hatte einen unveränderlichen Geschmack für Gehröcke von braunem Tuch; aber er ließ sich nur alle drei Jahre einen neuen machen und trug die alten, fleckigen in der Familie auf.
Jetzt sah er verschlafen aus, und rot zeichnete sich auf seiner rechten Wange das Muster der gestickten Schlummerrolle, gegen die er sein Haupt gelegt hatte.
Frau Oberamtmann Deuben sah beinahe elegant aus. Ihr Gesicht mochte einst dem Sabinens geglichen haben. Ein Leberleiden hatte ihre Farben sehr gelblich gemacht. Das Haar fing an zu ergrauen, doch trug Frau Oberamtmann kein Häubchen, und es sah immer aus, als ob sie nicht fertig hergerichtet wäre, da das dürftige Flechtengesteck am Hinterkopf durchaus irgend einer Ergänzung bedürftig schien. Sie trug ein seidenes Kleid. Es war schwarz und hatte ein gelbes Treffasmuster.
Seit ihrer Hochzeit kannte Sabine dies Kleid. Es war dick und schwer wie Leder und wurde lange Jahre nur bei großen Gelegenheiten angezogen. Jetzt wollte ihre Mutter „es auftragen“. Aber das dauerte nun auch schon sehr lange, weil diese Absicht einigemal durch Familientrauer unterbrochen worden war.
Ihre Tochter sehr überrascht betrachtend, blieb Frau Deuben mitten im Zimmer stehen, indes der Alte mit etwas schweren, noch schlafmüden Schritten sich zu seiner Sofaecke begab.
„Du legst schon Trauer ab?“ fragte sie mißbilligend.
„Ich?“ fragte Sabine entgegen. Sie hatte zu ihrem schwarzen, überaus einfachen Blusenkleid einen weißen Klappkragen umgethan und trug eine Modekrawatte dazu, schwarz mit weißen Punkten.
„Als Witwe trauert man zwei Jahre ganz schwarz,“ sprach die Mutter.
„Ich werde in der kommenden Woche schon ein graues Kleid anziehen,“ sagte Sabine und goß ihrem Vater Kaffee ein.
„Nun, du bist dein eigener Herr und kannst machen, was du willst. Aber ich gebe dir zu bedenken, daß die Leute darüber sprechen werden,“ antwortete Frau Deuben und ließ sich neben ihrem Gatten nieder.
„Ich handle nach meiner Empfindung und will nicht länger einen Gram heucheln, den ich eben nicht empfinde.“
„Ah –“ machte der Alte, behaglich ausatmend, nachdem er laut die ersten Schlucke geschlürft, „man wird doch immer erst wieder Mensch, wenn man seinen Kaffee im Magen hat.“
„Das sagst du jeden Tag,“ bemerkte seine Frau und wiegte den Kopf, wie jemand, der mühsam unterdrückte Ungeduld markiert.
„Weil’s eben ’ne Wahrheit ist, die man alle Tage an sich merkt,“ schmunzelte der Mann und fragte: „Und die Kleinen? Wo bleiben die?“
„Lisbeth ist noch nicht mit ihnen zurück,“ sagte Sabine.
„Die bleibt alle Tage länger weg, wenn sie mit den Kleinen spazieren geht.“
„Küps hat sie schon mehrfach abends mit einem Unteroffizier drüben in der Crolpaschen Einfahrt stehen sehen,“ bemerkte Frau Deuben.
Sabine seufzte. Lisbeth war das Kindermädchen und erfreute sich der Ungunst und strengen Beobachtung der Frau Oberamtmann.
„Ich habe ihr schon oft genug Pünktlichkeit eingeschärft,“ sagte Sabine.
„Du mußt es ihr mal gründlich sagen. Denn so bei meinem Kaffee, da will ich die kleinen Deubels bei mir haben,“ sprach der Oberamtmann, der seine Enkel sehr liebte.
Man trank einige Minuten schweigend. Sabine strich vier Scheibchen für ihre Kinder und legte sie zierlich zurecht.
Es klopfte sehr hart, es war eigentlich nur ein Schlag gegen die Thür, und unmittelbar danach öffnete man schon. So befolgte und umging die Köchin Guste den Befehl, nie einzutreten, ohne vorher geklopft zu haben.
„Die Post“, sagte sie und blieb fast auf der Schwelle stehen. Denn sie war noch mitten beim Aufwaschen und trug eine graue, nasse Schürze.
Sabine sprang auf und nahm das Bündel von Zeitungen und Briefen der ihre Ungeduld sehr deutlich zeigenden Guste ab.
Es war ein Brief aus Heinsdorf vom Sohn und Bruder, dann ein Preiscourant, an Frau Oberamtmann Deuben adressiert, und Sabinens Zeitung nebst zwei Briefen an sie. Die Eltern fanden es thöricht und luxuriös, daß Sabine sich eine Berliner Zeitung hielt, noch dazu eine, die nicht agrarisch gesinnt war. Allein sie sagten nichts dazu, sie waren von sich überzeugt, der armen Tochter alles zu gönnen, und lebten des Glaubens, ihr ungemeine Freiheiten zu lassen.
„Was schreibt denn Reinald?“ fragte die Mutter.
Deuben nahm erst seinen Kneifer aus der Westentasche und setzte ihn sehr vorn auf seine fleischige Nase.
Schweigend, mit kritischer Miene, las er den Brief, bald beifällig in seine Lektüre hinein nickend, bald den Kopf wiegend. Er verfehlte nicht, auch laute Bemerkungen zu machen, und er sagte nacheinander: „Ja so“ – „na nu“ – „ach daher“ – „kann ich mir denken“ – „woll’n wir hoffen“.
Diese Manier ihres Gatten, Briefe zu lesen, die Frau Oberamtmann nun doch schon fünfunddreißig Jahre kannte, machte sie immer noch nervös und steigerte ihre Neugier bis zur Unerträglichkeit. „Wird man erfahren dürfen ...“ sagte sie ungeduldig.
„Lauter Wirtschaftsgeschichten,“ erklärte der Alte und gab seiner Frau den Brief. „Lies selbst. Zum Vorlesen ist es nicht. Sabine interessiert sich nicht für die Heinsdorfer Geschichten.“
„Aber das interessiert mich,“ sprach Sabine unbewußt ein wenig gereizt, „ob Reinald sich nach deinen Erwartungen und Wünschen einlebt.“
„Großartig!“ rief der Vater. „Er ist ein glänzender Landwirt. Heinsdorf wird unter ihm mindestens so prosperieren wie unter mir, wenn nicht besser – denn im ganzen ist man ja ’n gut Teil weiter als zu den Zeiten, wo ich lernte. Er hat ’ne andere Schule durchgemacht.“
„Ich denke immer, ihr hättet mich zu Reinald ziehen lassen sollen,“ meinte Sabine.
„Nein, nein, Tochter – das war nur so ’ne überspannte Idee von mir. Erstmal hast du keinen Dunst davon, was es heißt, Gutsherrin spielen und überall die Direktion geben können, ob’s nun Hühnerhof, Milchkammer oder Küche ist. Und zweitens: es wäre ja doch keine Sache von Dauer gewesen. Denn Reinald muß bald heiraten. Unverheirateter Landwirt – das geht nicht. Aber vorsichtig muß er sein, sehr vorsichtig. Es muß ein Mädchen sein mit Neigung und Befähigung für Landwirtschaft und mit den nötigen Batzen Geld dazu. Beinahe scheint es ja – er hat was in Sicht.“
„O schon? Wie schade,“ rief Sabine erschreckt. Sie liebte ihren Bruder sehr. Er war sechs Jahre älter als sie; als sie ein Kind war, brachte er seine Bildungsjahre fern vom Elternheim zu, dann heiratete sie jung. So kam man nur in Ferienwochen und auf Besuchstage zusammen und kannte sich im Grunde wenig. Aber allen schönen, guten Glauben, den eine Schwester von einem Bruder haben kann, hatte Sabine von dem ihren,
[296][297] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [298] und alle tiefen, warmen Gefühle, die zu empfinden und zu verschenken sie das heißeste Bedürfnis hatte, weihte sie dem Bruder.
Und sie hatte gehofft, ihn eines Tages mit ihrer Freundin und Cousine Susanna Osterroth vermählt zu sehen. Sie dachte, ihre Eltern zu bestimmen, Susanna im Sommer einzuladen, obschon ihre Eltern diese gar nicht kannten. Die Osterroths, von denen Frau Deuben abstammte, waren mit den Osterroths, die den Zeuthern verwandt geworden, nur durch eine gemeinsame Urgroßmutter verknüpft. Die Erblasserin und Patin Sabinens, das Fräulein Sabine Osterroth, war die Mittelsperson zwischen beiden Familien gewesen und wurde von beiden Zweigen als nächste Verwandte gefeiert. Sie hatte auch einst den Referendar von Zeuthern mit einem Gruß nach Heinsdorf geschickt, als der junge Jurist dem Mühlauer Landratsamte zugeteilt gewesen war.
Wenn Reinald schon eine Liebe hatte oder eine Wahl getroffen, dann fiel freilich Sabinens Hoffnung ins Wasser.
„Lies das mal, Alte,“ befahl der Oberamtmann. Er selbst hörte es wohlgefällig gern noch einmal.
Und die Mutter las, daß auf Wendessen, dem Nachbargut von Heinsdorf, bei den Voigtstedts, die älteste Tochter heimgekommen sei, nachdem sie ein Jahr auf einem ostpreußischen Gut gewesen war, die Wirtschaft zu lernen, und daß Reinald nur sagen müsse: jeder Mann könne sich gratulieren, der das frische, gesunde, tüchtige Mädchen mal erringe.
„Er soll selbst drauf los gehen. Schreib’ ihm gleich morgen, Alte!“ meinte der Vater.
Er sprach noch lange hin und her über die Voigtstedts.
„Na und da war ja noch mehr,“ sagte er dann, zu Sabinens Briefen hinüberschielend. Er mochte zu gern alles wissen und konnte nicht begreifen, daß es in seinem Hause Menschen gab, die ihre Briefe für sich behielten.
„Von meinem Schwager und von meiner Freundin,“ sprach Sabine und nahm ihre Briefe, um sie in die Tasche zu stecken.
Zugleich stand sie auf, um für einige Minuten in ihre eigenen Zimmer zu gehen. Es war ihr unmöglich, in Gegenwart der Eltern Briefe zu lesen. Ihr Vater hätte sagen können: „Na gieb mal her, wenn da keine Geheimnisse drin stehen.“ Das wollte sie vermeiden, obschon sie wirklich keine Geheimnisse hatte.
Man reißt doch auch nicht die Thüren fremder Wohnungen auf und sieht hinein. Gerade solch Beginnen erschien es ihr, wenn man Briefe an Personen herumzeigte, an die sie nicht gerichtet waren –
Sabine bewohnte in dem flügelartigen Anbau zwei Zimmer des ersten Stockes. Sowohl das Wohngemach als die dahinter folgende Schlafstube hatten je zwei Fenster nach dem Hofe. Hier war Sabinens Asyl, hier hatte sie soviel als möglich von ihren künstlerisch schönen, kostbaren Möbeln und Stoffen untergebracht, um sich ein trautes Nestchen zu schaffen. Aber die zwei engen Räume, von Sachen überfüllt, machten es ihr schwer, immer die zierliche Ordnung festzuhalten, die sie liebte. Die beiden lebhaften Kinder durften nicht immer vorn bei den Großeltern sein und konnten nicht immer auf dem großen Flur spielen, oft genug waren sie auf diese beiden Stuben angewiesen.
Am Fenster war mit Hilfe eines Wandschirmes, dessen obere Teile von fahler, faltig gezogener Seide gebildet wurden, ein reizendes Eckchen hergerichtet. Da stand ein englischer Lehnstuhl von bizarrer Form und davor ein leichtfüßiges Tischchen, in dessen blanker dunkler Platte sich das hohe Zierglas wiederspiegelte, in dem drei rotgelbe Tulpen blühten.
Sabine setzte sich in den Stuhl und nahm ihre Briefe aus der Tasche. Erst den von Susanna lesen, dachte sie, denn ihr Schwager hatte ihr eigentlich nie etwas zu schreiben. Pflicht und Anhänglichkeit trieben ihn ab und an, einen Brief zu verfassen, der dann doch immer den Charakter des Herausgequälten trug.
Susanna Osterroth schrieb:
„Meine geliebte Sabine! Immer wenn ich Dir schreibe, habe ich den Wunsch, Dir ein bißchen Sonnenschein in die Mühlauer Verbannung senden zu können. Allein diesmal wird mein Brief wohl zu ernst werden, um Dich zu erheitern; die Geschichte mit dem Gelde ist nämlich endlich, endlich abgewickelt. Es stellt sich heraus, daß uns soviel Kapital bleibt, um fünfzehnhundert Mark Zinsen zu erzielen – in preußischen Consols angelegt nämlich! Vor anderthalb Jahren wußte ich gar nicht, was das für Dinger sind. Aber nun weiß ich es; nachdem Dein Mann, mein Vetter, unser aller Geld in „Goldminen“ und „Philippinen“ verspekuliert hat, flößt uns jedes Papier Angst ein, außer den obenbenannten Consols. Solange unser guter Onkel Fritz lebt und Mama und mir fünftausend Mark dazu giebt, haben wir also recht auskömmlich zu leben. Stirbt er, wird es freilich anders. Wir wissen es ja, Onkel Fritz’ Vermögen geht mal in zweiundzwanzig Teile. Davon kommt ein Zweiundzwanzigstel auf Dich, meine arme Sabine, ein Zweiundzwanzigstel auf Deinen Schwager und eines dito auf mich. Er hat es mir genau vorgerechnet: das macht für jeden von uns 40000 Mark.
Onkel Fritz sagt, wenn er auch zu seinen Lebzeiten uns 5000, Dir 2500 und Deinem Schwager 2500 Mark, zukommen läßt und uns damit vor allen seinen Verwandten bevorzugt, so will er doch nach seinem Tod sein Vermögen gerecht und gleichmäßig verteilt wissen. Dagegen kann kein Mensch was sagen, und ich bin Onkel Fritz so dankbar, daß er mir gar keine Illusionen gelassen hat.
Mein Weg ist nun klar vorgezeichnet. Onkel Fritz kann noch zwanzig Jahre leben, er kann aber auch morgen sterben. Auf das Leben und das Geld eines anderen Menschen will ich nicht zählen, sondern allein auf meine eigene Kraft. Ich fange sofort an, mein Französisch und Englisch gründlich aufzubessern, lerne Italienisch und Russisch und Buchhalten dazu. Perfekt, Sabine – alles so wie geschmiert! Dumm bin ich ja Wohl gerade nicht, und so denke ich, bereits im Winter in einem großen Handelshaus eine Stellung erlangen zu können. Was ich dann verdiene, kann ich, solange eben Onkel Fritz lebt, alles zurücklegen. Onkel Fritz gab mir einen Kuß und besteht darauf, allen Unterricht extra zu bezahlen, und hofft, ein Jubelgreis zu werden. Zu niedlich ist er immer, der gute Alte.
Wenn Du wüßtest, wie mir so ist! Eigentlich riesig wohl! ‚Wenn der Mut in der Brust die Spannkraft übt.‘ – – Ja es ist wohl etwas Schönes, sich erproben zu dürfen. Hoffentlich bestehe ich die Probe.
Wie gern sähe ich Dich einmal wieder, meine Herzenssabine. Du willst nicht nach Berlin kommen, schreibst Du, Du fürchtest, es bräche Dir vollends das Herz? Ja, das verstehe ich nicht ganz. Ich meine, so ein rechter, stolzer Charakter läßt sich Sonnenschein und Regen, wie es gerade kommt, ins Gesicht weh’n und hält immer die Stirn hoch. Wenn Du schon so zerbrochen und so – mutlos bist, daß Du fürchtest, eine einfache Abwechselung und geistige Erfrischung, wie eine Reise nach Berlin wäre, mache Dir nachher Deine Mühlauer Existenz vollends unerträglich, dann ist Deine Seele krank.
Oder vielleicht verstehe ich’s bloß noch nicht. Dann vergieb meine Altklugheit. Ich kleines Hühnchen, sechs Jahre jünger als Du, will Dir Vernunft predigen! Unerhört!
Aber zu Dir kommen möchte ich. Und Dich riesig verziehen und erheitern! Im Augenblick natürlich kann ich nicht. Denn ich stürze mich in den Unterricht. Aber nach einigen Monaten, da kann ich mal bei den Lehrern pausieren. Es soll sehr gut sein, mal so vier Wochen sich alles im Gehirn setzen zu lassen. Dann melde ich mich mit der Botschaft: ‚Bitte mich gefälligst einzuladen.‘
Empfiehl mich Deinen verehrten Eltern und gieb Leo und Milly einen lauten Kuß. Es umarmt Dich
Deine Susanna.“
Sabinens Augen standen in Thränen. Heimweh nach der Freundin, Heimweh nach der Welt, Sehnsucht nach Thaten, nach Erlebnissen überwältigte sie.
Ja, Susanna war glücklich, denn sie war ihr eigener Herr und konnte arbeiten, um voll Stolz zu fühlen, daß sie ein freier, unabhängiger Mensch sei. Aber sie selbst, Sabine, sie konnte nichts als stillhalten. Und gerade das war für ihr Temperament das fürchterlichste.
Nachdem der Nachlaß ihres Gatten geordnet worden war, fühlte sie sich als eine vollkommen verarmte Frau.
Der almosenartige Zuschuß, den der Onkel gab, reichte in ihren Augen wohl, sich und die Kinder zu kleiden, den Lohn des Kindermädchens zu bezahlen. Auch hatte Sabine die Absicht, einige hundert [299] Mark jährlich davon zu erübrigen, um für spätere Unterrichts- und Studienzwecke ihrer Kinder etwas Geld frei zur Verfügung zu besitzen. Obdach und Nahrung fanden sie und ihre Kleinen bei ihren Eltern. Ihre flehentliche Bitte, bei dem Bruder auf Heinsdorf wohnen und sich nützlich machen zu dürfen, war abgewiesen worden, ebenso hatte man ihren Wunsch als thöricht erklärt, sich in Berlin auf irgend eine Weise selbständig zu machen, durch Aufnahme und Erziehung von Schulkindern, durch Gründung eines Damenpensionates oder dergleichen.
„Was würden die Leute davon denken, wenn der Oberamtmann Deuben seine Tochter für Geld arbeiten ließe,“ fragte ihr Vater entrüstet.
Ja, stillhalten – immer stillhalten – –
Sabine lächelte bitter, als sie nochmals die Stelle las, wo Susanna ihren späteren Besuch ankündigte. Als ob Sabine in der Lage sei, sich so ohne weiteres ihre liebste, einzige Freundin, noch dazu eine Verwandte, einzuladen! Die Mutter würde einwenden, daß man kein anderes Zimmer zur Verfügung habe als oben im Giebel, unterm spitzen Dach, die Schrankstube, wo allerdings ein Fremdenbett stand für den noch nie dagewesenen Fall, daß Reinald nachts in Mühlau bleiben wolle, anstatt wieder nach Heinsdorf hinauszufahren oder zu reiten. Und der Vater würde fürchten, in seiner Bequemlichkeit beeinträchtigt zu werden. Der alte Mann hatte ja auch ganz recht: war es nicht schon Unbequemlichkeit genug für ihn, die Tochter samt Enkelkindern wieder im Hause zu haben?
Liebe, tapfere Susanna, dachte Sabine, du würdest mit deinen Vorwürfen zurückhalten, wenn du wüßtest, wieviel leichter kämpfen als dulden ist!
Mechanisch, noch mit all ihren Gedanken bei Susannas Plänen, griff sie nach dem Brief des Leutnants von Zeuthern. Sie hatte immer so ein bißchen Mitleid mit seinen rührend gemeinten und treuen Zuschriften. Sie las:
„Liebe Sabine! Erwarte seit vier Wochen mal eine Zeile von Dir. Immer umsonst. Hoffentlich sind Leo und Milly wohl. Ich las was von Masern, die grassieren. Kann aber auch anderswo als in Mühlau gewesen sein. Mir geht es ja gottlob soweit gut. Ueber das fatale Gefühl, Onkel Fritz für die Zulage danken zu müssen, während ich früher das Doppelte aus Eigenem hatte, bin ich immer noch nicht weg. Das muß ich aber sagen: kolossal taktvoller alter Mann, Onkel Fritz. Gott verzeihe Leopold, was er an uns allen verbrochen. Uebrigens kolossal peinliche Empfindung, an den eigenen Bruder so mit höchst gemischten Gefühlen denken zu müssen! – Du fragtest mal nach Körlegg. So was begreife ich – man interessiert sich unwillkürlich – kann ich Dir nachfühlen. Eigentlich schreibe ich bloß seinetwegen. Bereite Dich vor, was Sonderbares zu hören! Er war zehn Monate drüben. Daß er sich versetzen lassen würde, schrieb ich wohl mal schon? Ich hatte immer so eine Art Schuldgefühl – als wenn ich den Kameraden einen liebsten Kameraden raube. Denn Körlegg war kolossal beliebt. Ich erbot mich, meinerseits um Versetzung einzukommen. Aber der Oberst meinte, Körlegg wolle und brauche eine totale Aenderung und ich sei eben erst ’reingekommen ins Regiment. Na, er ist versetzt. Und von seinem neuen Regiment steht ein Bataillon in Mühlau. Nun ist es heraus.
Bei Deinen Eltern, schriebst Du mal, verkehrt keiner der Herren. Dein Vater sah auf Heinsdorf Offiziere bei sich, jetzt aber nicht mehr. Er überläßt den Verkehr Deinem Bruder. Da wird ja jedes Zusammentreffen sich vermeiden lassen. Und da Du ihn nie gesehen, wirst Du an ihm auch harmlos auf der Straße vorbeigehen.
Aber ich dachte mir doch so: besser ich schreibe es Dir, als daß Du es von anderer Seite hörst. Er natürlich hat keine blasse Ahnung, daß Du in Mühlau wohnst. Woher sollte er?! Ich hab’ auch im Kasino fein stillgeschwiegen, als die Versetzung Körleggs besprochen ward.
Leicht hätte es ihm sonst einer der Kameraden mitteilen können; er hätte getrachtet, andere Kommandierung zu erlangen. Und man darf den Mann doch nicht ruhelos machen und schädigen. Vielleicht erfährt er nie, daß Du in demselben Ort mit ihm wohnst.
Schreibe bald Deinem
treuen Schwager Benno v. Z.“
Mit farblosen zitternden Lippen saß Sabine und sah vor sich hin.
Unverblaßt lebte in ihrem Gedächtnis jene Stunde, wo sie auf dem Kirchhofe den hohen, blonden Mann gesehen hatte.
Wie ernst hatte er gesprochen damals – welche schwere, gewissenhafte Lebensauffassung offenbart, ihr, deren Schicksal sich so hart gewendet infolge der egoistischen und frivolen Lebensauffassung eines anderen Mannes!
Ein verworrenes Geräusch riß Sabine aus den Träumen, in welche sie der Brief ihres Schwagers versetzt hatte.
Schrie oder jammerte – oder schalt da nicht jemand?
Sie fuhr auf und war mit drei Schritten auf dem Flur. Richtig, vorn aus dem Wohnzimmer drang ein heftiges Durcheinander von Stimmen. Im nächsten Augenblick war sie an der Thür und riß sie auf.
Drinnen stand die kleine Milly und schluchzte, ihr Köpfchen auf Großpapas Knie gelegt, der tröstend zu ihr niedersprach. Mitten im Zimmer, einander gegenüber, befanden sich die Oberamtmännin und Lisbeth, das Kindermädchen, aufeinander lossprechend, mit allen Zeichen höchsten Zornes. Daneben heulte Leo, beide Fäuste vor den Augen.
Sogleich wandte sich Lisbeth hilfeheischend an ihre Herrin: „Frau Oberamtmann hat mir jesagt, ik soll stantepeh das Haus verlassen. Keen Mensch hat hier det Recht, mir den Dienst ufzukündigen als meine Jnädige! Von Ihnen bin ik engaschiert und weer ik saläriert!“
„Ich muß dir bemerken, Sabine, daß die Person sich sehr aufsässig betragen hat, weil ich ihr verwies, mit den Kindern nochmals den Unteroffizier in dessen Wohnung zu besuchen,“ rief die Oberamtmännin.
„Haben Sie das gethan, Lisbeth?“ fragte Sabine erschreckt.
„Nu ja. Dat is keen Schande nich, wenn ik mal an ’n helllichten Tage ’n Momang bei meinen erklärten Bräut’jam vorspreche,“ trotzte Lisbeth.
„Aber die Kinder hat sie mitgenommen – Leo kam damit heraus – er habe einen großen Soldaten mit einem großen Schnurrbart besucht und das Gewehr in der Hand gehabt – und Milly hat der Kerl geküßt,“ erzählte die Mutter.
„Der Kerl?“ schrie Lisbeth, „’n königlich preußischer Unteroffizier mit Aussicht auf Civilversorgung ’n Kerl? Nee, so wat.“
Leo heulte stärker.
„Du wirst die freche Person auf der Stelle entlassen,“ rief die Oberamtmännin, „das bist du mir schuldig.“
„Gewiß, liebe Mutter,“ sprach Sabine fast tonlos. Sie sah sehr bleich und leidend aus.
Sie wußte ja: dieser Ausbruch war nur das Resultat monatelanger Hetzereien der Köchin Guste. Sie selbst war mit Lisbeth zufrieden. Das Mädchen zeigte sich stets reinlich, ehrlich, kinderlieb und ihr persönlich anhänglich. Für den Besuch beim Unteroffizier würde sie sie wahrscheinlich streng vermahnt, im Wiederholungsfalle ihr auch gekündigt haben. Aber eine Entlassung mit Skandal in Gegenwart der Kleinen mitten im Monat, ohne Aussicht auf Ersatz – das war weder Sabinens Neigung noch Nutzen.
Indessen da Lisbeth offenbar unziemlich geworden war – da ihre Mutter es verlangte – – –
„Gehen Sie, Lisbeth! Ich komme gleich nach hinten und gebe Ihnen Ihren Lohn,“ sprach sie.
„Aber Kostgeld bis zum ersten Mai steht mir außerdem zu,“ trotzte Lisbeth.
„Sie sollen es haben.“
Lisbeth ging. Eine schwüle Stille trat ein, denn die Kinder hörten plötzlich vor Schreck auf zu weinen. Sie hingen an Lisbeth und ihnen war, als habe sich da etwas ereignet, infolgedessen sie Lisbeth nicht wieder sehen würden.
Sabine fing an, den Kindern die Mäntel auszuziehen.
„Wir müssen es ins Kreisblatt setzen lassen,“ bemerkte der Oberamtmann.
„Vielleicht hat Frau Weder eine,“ meinte die Mutter.
„Nein, nein – was von der Gesindevermieterin kommt, taugt nicht viel. Es wird nicht ganz leicht sein, jetzt mitten in der Zeit einen Ersatz für Lisbeth zu finden. Im Notfall muß Sabine [300] bis zum ersten Mai eine Aufwartefrau für die Morgenstunden nehmen und tagsüber die Kleinen selbst besorgen.“
Die Geister der Eltern waren durch den Vorfall noch zu erregt, sie konnten jetzt nicht an Rücksichten und an Sabinens „Selbständigkeit“ denken. Es entfuhr der Mutter: „Das schadet auch nichts, wenn Sabine ein bißchen mehr zu thun bekommt als bisher.“
Sabine wurde dunkelrot. Sie richtete sich höher auf. Ihr Blick, düster und tief, ging an allen Anwesenden vorbei. Sie sah durchs Fenster, in den grauen Himmel, ins Grenzenlose, ins Ungewisse – – – Und ein schwerer Seufzer zitterte von ihren Lippen.
Der Oberamtmann gab seiner Frau einen mahnenden kleinen Puff. Er billigte diese Aeußerung nicht, wenngleich er deren Richtigkeit innerlich durchaus beistimmte. Aber was sollte die arme Sabine machen? Man konnte doch nicht die treue Guste abschaffen, damit Sabine sich mehr um die Küche zu bekümmern vermöge. Die Pflicht, das Küchendepartement unter sich zu haben, hatte für die Vorstellung des Oberamtmanns etwas Befriedigendes, Lebenausfüllendes. Auch der Mutter that es sehr leid, Sabine gekränkt zu haben. Doch gehörte sie zu jenen Naturen, die immer glauben, sich eine Blöße zu geben, wenn sie einen begangenen Fehler eingestehen.
Sich künstlich zum Weitergrollen zwingend, sagte sie halblaut: „Na ja, es ist doch wahr. Es liegt in den Verhältnissen. Ich betone es auch nur, ein Vorwurf soll es nicht sein.“
Das wußte Sabine auch. Aber es that doch weh, sehr weh.
Die Anforderungen der Kinder und all die kleinen unbequemen Folgen des Auftritts rissen Sabine aus ihren Grübeleien.
Die Kinder wollten endlich trinken. Dann sollte die schluchzende Lisbeth abgelohnt werden. Es galt, das triumphierende Gesicht der Köchin Guste zu übersehen. Leo und Milly wollten bis zum Zubettgehen beschäftigt sein, und nachher mußte Sabine sie in großer Hast auskleiden und waschen.
Heute hatte die Mutter ihren Trioabend. Da wurde schon um sieben Uhr gegessen, weil um Acht der Organist Kolvater und der Musikdirektor Turibius kamen. In der üblichen Spielpause hatte Sabine dann belegte Brötchen und Wein herumzureichen; diese Dinge wollten auch erst vorbereitet sein. Es stellte sich in diesen ersten Stunden nach Lisbeths Abgang schon heraus, wieviel Arbeit das flinke Mädchen der Köchin Guste abgenommen hatte, und sowohl Guste als ihre Herrin wurden allmählich doch etwas bedrückt.
Leider konnte aber die Oberamtmännin ihre Hilfe nicht anbieten; sie mußte noch notwendig ihren Klavierpart zu dem Brahms’schen H-dur-Trio üben, der viel zu schwer für ihr Können war. Laut drang durch die kleine Wohnung das seltsam anzuhörende Spiel der einen Stimme. Es war ein Gestammel. Das Fehlen der Cello- und der Violinstimme erzeugte den Eindruck einer peinigenden Unfertigkeit, die auch, abgesehen von dem mangelhaften Spiel, an und für sich den Zuhörer nervös machen konnte. Bald setzte ein melodisches Thema ein und schien plötzlich abzubrechen, dann folgten viele Takte mit unverständlichen Begleitfiguren. Dazu zählte die Spielerin laut und immer lauter.
Der Oberamtmann hörte nie hin. Er war an das Geräusch gewöhnt und las seelenruhig sein Kreisblatt dabei. Aber Sabine glaubte jedesmal, daß sie davon verrückt werden würde.
Die Mutter beklagte sich oft, daß die Tochter gar nicht musikalisch sei. Sabine widersprach nicht. Sie gönnte der Mutter von Herzen diese eifrige Freude am Triospiel und erinnerte sich, daß früher, auf Heinsdorf, die Mutter stets gejammert habe, keine andere Gelegenheit zum Musizieren zu finden, als das vierhändige Spiel mit dem Dorfschullehrer Küps, des Mühlauer Kolonialwarenhändlers Küps Bruder. Jetzt hatte Frau Oberamtmann die Gelegenheit und nutzte sie wöchentlich aus. Sabine mochte nicht erzählen, wie viele herrliche Konzerte sie in Berlin gehört hatte; sie vermied es sorgsam, Künstlernamen zu nennen, die bei ihr Erinnerungen an köstliche musikalische Offenbarungen hervorriefen. Alles würde wie eine abfällige Kritik des Organisten Kolvater und des Musikdirektors Turibius aufgefaßt worden sein.
Und daß Kolvater ebensogut wie Joachim Geige spiele und daß Turibius einer der hervorragendsten Pianisten und Musiker der Gegenwart war, stand für Frau Oberamtmann Deuben wie für ganz Mühlau fest. Beide Männer waren nur durch Familienverhältnisse und Chicane in Mühlau hängen geblieben, während sie in Berlin einen ersten Rang hätten einnehmen können!
Nach dem hastigen Abendbrot war Sabine noch beschäftigt, kleine belegte Brötchen in der Küche zu bereiten, als schon die beiden Herren vorn in das bereits erleuchtete Wohnzimmer traten.
Frau Oberamtmann entschuldigte sich gleich, daß sie keine rechte Zeit gehabt habe, ihren Part ordentlich durchzuüben. Kolvater und Turibius waren in derselben Lage gewesen. Uebrigens tauschten sie diese Entschuldigungen jedesmal aus.
Bevor man sich zum Spiel setzte, pflegte man auch noch die Neuigkeiten der letzten Woche flüchtig zu besprechen, woran Deuben selbst interessierten Anteil nahm.
Im Lichtkreis der Lampe saß man um den Tisch, die Lichter am Klavier und den Notenpulten zündete die Oberamtmännin erst im Augenblicke des Spielbeginnes an.
So im Dämmerschein, im weit zurückgeschobenen Lehnsessel hatte Musikdirektor Turibius wirklich das Aeußere eines Künstlers. Er ließ sich, ohne zu ahnen, daß er damit zwanzig Jahre hinter der Mode für Musiker zurückblieb, das Haar lang wachsen; es fiel in lockiger Biegung hinten bis über den Stehkragen, um den er natürlich einen flatternden Lavallièreschlips geschlungen hatte.
Sein Gesicht war bartlos, da es aber von vielen Fältchen durchfurcht war, so hatte dieser lockige Kopf etwas von verkümmerter, karikierter Jünglingshaftigkeit. Auf der Straße trug Turibius stets einen Kragenmantel. Alle Mühlauer Damen fanden seit 25 Jahren, daß er genial aussähe. Kolvater hatte weniger Pose und wirkte anspruchsloser. Ein gebücktes, bärtiges Männchen, sah er überarbeitet und bescheiden aus, besonders wenn er, der seine acht Kinder mit Orgelspiel, Violinstunden, Schreib- und Leseunterricht an der Elementarschule durchbringen mußte, bei den „reichen“ Deubens zu Gast war.
Sowohl Turibius als auch Kolvater schienen etwas befangen. Das Gespräch floß spärlich. Deuben und seine Frau mußten heute alles abfragen: ob der alte Meinert noch wieder werde; ob bei Landrats heute abend Zeichen besonderer Unruhe im Hause bemerkbar für den Nachbar Turibius gewesen, denn endlich müsse der erwartete Erbprinz sich doch einstellen; ob Frau Organist Kolvater auf dem Damenkaffee bei Frau Rechnungsrat Müller etwas Neues gehört; ob der Leutnant von Pfordt gestern wirklich im Hotel zum Kronprinzen mit Herrn Schrötter-Melanienhof eine tolle Wette um zwanzig Flaschen Sekt eingegangen sei. Kolvater und Turibius waren karg in ihren Antworten und wechselten oft bedeutungsvolle Blicke. Endlich mußte Deuben bemerken, daß sie etwas Besonderes hatten, womit sie zögerten, herauszurücken. Er fragte gradezu nach, in seiner derb humoristischen Art, von welcher er glaubte, daß er sich mit ihr alles herausnehmen dürfe.
„Na ja denn,“ sprach Turibius, einen letzten Blick des Verständnisses mit seinem Freunde Kolvater wechselnd, „es muß gesagt sein. Kolvaters Frau hat es bei Rechnungsrats auf dem Kaffee für ganz gewiß gehört, daß der Leutnant von Körlegg, der Ihren Schwiegersohn im Duell erschoß, nach Mühlau versetzt ist und nächster Tage eintrifft. Lehben ist Hauptmann geworden und kommt nach Metz.“
Deuben und seine Frau saßen wie versteinert. Die beiden Musiker wagten kein weiteres Wort. Endlich rief die Oberamtmännin: „Eine solche unerhörte Taktlosigkeit!“
„Die is unfreiwillig, Alte!“ beschwichtigte der Oberamtmann, „das kannst du dir doch an deinen fünf Fingern abzählen.“
„Gewiß – Gott – ja,“ gab sie zu. „Aber es ist doch ein schrecklicher Gedanke, daß unsere Tochter dem Manne begegnen könnte.“
„Was wollt’ es nicht! Aber sieh mal, Alte – wie oft haben wir uns nicht geärgert, daß Sabine sich um gar nichts kümmerte, was in Mühlau vorging. Sie guckt nich mal raus, wenn die Soldaten mit Musik vorbeikommen, wenn sie nicht gerad’ Milly und Leo ans Fenster heben muß. Ich glaube, sie weiß nicht mal, daß es Hauptmann von Hallendorf ist, der drüben bei Crolpa wohnt, und kennt überhaupt keinen der Herren mit Namen. Das
[301][302] Kreisblatt, wenn es drin steht, können wir ihr auch leicht verstecken. Sie liest es so wie so fast nie. Na, nun sieht man doch, daß es auch seine guten Seiten hatte, daß Sabine sich um nichts in Mühlau kümmert. Sie wird gar nicht erfahren, daß der Körlegg hier ist. Und sagen wird’s ihr auch keiner. Hab’ ich recht?“
Die beiden Herren sagten einstimmig: „Durchaus.“
Auch Frau Deuben war beruhigt, soweit es ging, und konnte wieder eine heimliche Bewunderung für den klaren und allezeit gefaßten Geist ihres Mannes nicht unterdrücken. Sie hielt es aber für verkehrt, ihren Mann durch Zustimmung und Anerkennung zu verwöhnen, und sprach zögernd:
„Ja, du – du nimmst alles leicht.“
Seufzend und sich vertraulich zu den Freunden wendend, fügte sie hinzu: „Es war doch ein schweres Geschick. Mit Schicksalen geht es oft so wie mit Sachen, da hat man das Sprichwort: die Länge trägt die Last.“
„Sehr wahr!“ sprach Kolvater.
„Wahr, wahr!“ bestätigte der Musikdirektor.
Deuben hatte noch mehr beruhigende Punkte im Auge und fuhr fort: „Und dann Herr von Körlegg. So klein Mühlau ist – wer wird ihm gerade davon sprechen mögen, daß Sabine, daß wir hier wohnen? So taktlos wird ja niemand sein. Und da ist es immer möglich, daß sie nichts voneinander erfahren. Ganz Mühlau wird es wie ein öffentliches Geheimnis gerade den beiden gegenüber bewahren. Und schließlich: so etwas kommt doch vor! Wie oft treffen sich wohl sogar Leute, die sich gegenseitig an den Nord- und Südpol wünschen, in einer Gesellschaft!“
„Ach gewiß!“ rief Turibius.
„Hoffen wir das Beste,“ sagte Frau Deuben und stand auf, um die Lichter anzuzünden, wobei ihr keiner von den Herren half. „Aber ich kann nur noch mal sagen: leicht ist es nicht. Wenn man so als Mutter denkt, man hat seine Kinder treu und gut erzogen und selbständig gemacht! Und soll dann so beinahe wie von vorn anfangen! Wo man gedacht hatte, still und ruhig endlich seinen Neigungen leben zu dürfen!“
Alle seufzten beipflichtend, und man setzte sich zum Spiel.
Bald nachher trat Sabine ein und nahm mit einer Handarbeit am Tische Platz. Sie wäre lieber in ihrem Zimmer geblieben, aber der Obcramtmann hatte einmal eine Bemerkung darüber gemacht, daß es eine Verschwendung sei, allabendlich stundenlang zwei Lampen brennen zu lassen.
Von hundert Hindernissen in seinem Gange aufgehalten, stolperte das Trio einher. Die Oberamtmännin zählte halblaut, Kolvater mit stumm sich bewegenden Lippen, Turibius markierte jeden neuen Taktteil mit einer Kopfbewegung. Trotzdem blieben die Spieler nie lange zusammen; sobald eine Unordnung festgestellt war, brach man ab, zählte fünf, zehn, zwölf Takte laut zurück, setzte falsch ein, fing wieder an, bis endlich alle drei Instrumente ein Weilchen im Einklang blieben. Das schöne Hauptthema des ersten Satzes gelang am besten und fiel in Sabinens Ohr so bekannt, daß sie sich entsann, wann und von wem sie es einmal im Saal der „Singakademie“ in Berlin gehört hatte. Bei dem mittleren Teil des ersten Satzes ward die Verwirrung scheinbar heillos, aber die Spieler arbeiteten sich durch, indem jeder unwillkürlich so laut spielte, als er konnte. Ganz befriedigt, schon mit heißen Gesichtern, gingen sie zum Scherzo über, bei welchem Turibius mit dem Oberkörper gleichsam hin und her wogte. Endlich, nachdem das für Sabine ganz unkenntlich gewordene Adagio überstanden war, geriet der freudige Friede der Spieler in Gefahr. An dem leidenschaftlich feurigen Finale scheiterten alle drei, aber jeder schob mit ungeduldigen Worten den Mitspielenden die Schuld zu. Streitend sprach man gegeneinander an.
Sabine trug Wein und Brötchen auf und begeistert sagte die Oberamtmännin: „Ach, es macht doch zu viel Spaß!“
„Es ist das beste und bildendste Vergnügen, das man haben kann,“ bekräftigte Turibius.
„Wir werden es auch noch klein kriegen, dies verzwickte Trio,“ rief Kolvater.
„Natürlich werden wir das!“
Deuben klopfte seiner Frau wohlgefällig die heiße Wange und sagte:
„Na, Alte, du bist ja wieder mal ganz in Rage!“
Und Sabine hörte und hörte, wie sie schwatzten und wieder spielten und wieder stritten und wieder lachend sprachen. Und hörte alles zuletzt wie von fern.
Ihre Seele lechzte danach, ungestörte Sammlung zu haben. Wenn es denn kein Glück auf der Welt gab, mußte es doch irgendwo Ruhe und Einsamkeit geben, nur damit man denken konnte.
An all das Große, das Schmerzliche, das Ungeheure wollte sie denken, das schon in ihr Leben gegriffen. Das waren doch Ereignisse gewesen, das war doch Leben gewesen. Was war hier?
Und an das Unbegreifliche wollte sie denken, daß der Mann, der ihr den Gatten getötet, der Mann, dem sie einmal in das ernste, bleiche, stolze Angesicht geschaut hatte, daß gerade dieser eine Mann fortan mit ihr in dieser engen Welt leben sollte.
Aber der Kleinkram des Daseins, der sie umgab, gönnte ihr nicht einmal das Denken, nicht einmal das bange Staunen.
„Sabine, schenk’ mal Herrn Musikdirektor ein!“ – „Sabine, hörte man es sehr, daß wir nicht zusammen waren?“
Und dann, wenn sie herausgerissen war aus ihren Gedanken, hörte sie zunächst immer wieder das brutale Musizieren so erbarmungslos deutlich. Langsam, langsam stumpfte sich ihr Ohr ab, vergaß sie das Hören, verträumten und verschwammen die Töne, bis ein neuer Anruf sie zu ihrer Umgebung zurückrief. – Als Sabine sich an diesem Abend zu Bett legte, bohrte sie die Stirn fest ins Kissen, damit die Kleinen, die friedlich schliefen, die Mama nicht weinen hören sollten.
Wilder als sonst weinte sie, und sie sprach es mit lauter Stimme verzweifelt in ihr Kissen hinein: „Könnte ich doch nur Geduld lernen – Geduld – Geduld …“
Einige Zeit lang drehten sich die Gedanken Sabinens hauptsächlich um zwei Fragen. Die eine war: Wissen die Eltern es? die andere: Ist er schon hier?
Daß ihre Eltern von der Versetzung des Herrn von Körlegg in das Mühlauer Bataillon wußten, ward ihr ziemlich bald klar.
In der Bewahrung von Geheimnissen waren sowohl der Oberamtmann als auch seine Frau von einer rührenden Unbeholfenheit. Sie waren eben nicht gewohnt, Geheimnisse zu haben. Wenn jetzt ein Besuch zufällig von der Beförderung und Versetzung des Herrn von Lehben sprach, der bisher in Mühlau einer der „interessantesten Männer“ gewesen war, mit denen sich das Gespräch gern beschäftigte, gaben sie Zeichen, zu schweigen, und sahen in ängstlicher Verlegenheit drein. Sabine fühlte: die Verlegenheit galt dem Namen desjenigen, der an Lehbens Stelle ins Bataillon trat. In auffallender Weise riß der Oberamtmann morgens das Kreisblatt an sich. Sabine, die es doch nie las, merkte, daß jetzt etwas drin stehen könnte, was man ihr verbergen wollte.
Wie wäre es auch denkbar gewesen, daß sich in Mühlau eine Personalveränderung vollzogen hätte, ohne daß der Oberamtmann davon erfuhr. Seine Tagesbeschäftigung war ja geradezu, Mühlau zu bewachen.
Warum sprach man nicht offen mit ihr davon? Aber das begriff sie im Grunde. Kleinstädtische Menschen haben häufig nicht die innere Freiheit, ungewöhnlichen Dingen unbefangen ins Auge zu sehen, sondern im Gegenteil die Neigung, sie durch Zudecken und Vertuschen peinlicher zu machen.
Warum aber sprach sie selbst nicht harmlos davon, daß ihr Schwager ihr Körleggs Versetzung gemeldet hatte? Diese Frage vermochte sie sich nicht zu beantworten. Sie konnte sich zehnmal vorrechnen, daß hier kein Grund zum Verschweigen sei; es gab in dem Drama keinen Schuldigen, oder vielmehr Körlegg war dieser Schuldige nicht. Eher der Mitleidende, ein Mann, von dem man mit Verständnis, mit Schonung, mit Achtung sprechen durfte. Von dem gerade sie so hätte sprechen müssen, um darzuthun, daß in ihrer Seele kein Groll gegen ihn war!
Und allen Verstandesgründen zum Trotz beschwieg sie diesen Mann, und wenn sie seiner dachte, klopfte ihr Herz beängstigend.
War er schon in Mühlau angekommen? Sabine konnte an niemand diese Frage richten. Das frühere Kindermädchen, die gute Lisbeth, die mit einem Unteroffizier in Lehbens Kompagnie [303] verlobt war, die hätte man ganz obenhin fragen können, ob der neue Premier schon eingetreten sei. Aber Lisbeth war entlassen und mit der Neuengagierten, die auch wieder Lisbeth genannt wurde, weil der Oberamtmann für alle Dienerschaft von jeher bestimmte Vornamen in Gebrauch behielt, war es nicht ratsam, eine Silbe über das Notwendige zu wechseln. Die neue Lisbeth hatte ein ungemeines Mundwerk, und Guste sah ihre Intriguen gegen die frühere Lisbeth hart gestraft.
Eine verzehrende Neugier beunruhigte Sabine. Nur wissen hätte sie es mögen. Weiter gar nichts. Wenn ich erst weiß, er ist hier, wird mir wieder ruhiger werden, bildete sie sich ein.
Und eines Nachmittags konnte sie es denn mit eigenen Augen sehen: er war da!
Sie saß, wie alltäglich um diese Tageszeit, am Fenster, auf die Eltern wartend, während ihre Kleinen mit Lisheth spazieren gingen. Drüben am Fenster stand Hauptmann von Hallendorf und kokettierte herüber. Er war hierin neuerdings etwas deutlicher geworden, denn ihm schien es, als ob Sabine von Zeuthern ihn nicht mehr übersähe. Und darin hatte er recht – nur daß Sabine oft zu ihm hinsah mit den Gedanken: ob er schon den neuen Premier in seiner Kompagnie hat? – Ob er sich gut mit Körlegg steht, stehen wird? – Dieser Fant, dieser Mensch mit dem sonderbaren Gemisch von Philiströsität und Forschheit, der wird nun „sein“ unmittelbarer Vorgesetzter!
Unten auf der Straße ging alle paar Minuten einmal ein Mensch vorbei. Es war zwar die Hauptstraße, aber Mühlau schlummerte von Eins bis Drei. Träumerisch stand Herr Küps in seiner Thür, die Hände auf dem Rücken gefaltet, zum blauen Maihimmel emporsehend.
Da ging jemand mit raschen, klingenden Schritten vorbei. Ein hoher, schlanker, blonder Mann, im Ueberrock des Regimentes, die Mütze auf dem Kopf. Er ging mitten auf dem Fahrdamm.
Und drüben riß der Hauptmann sein Fenster auf und rief einige Worte hinab. Der unten stand still und antwortete hinauf.
Sabine sah nur ein Wangenprofil, sah seine Gestalt und seine Art sich zu halten und zu bewegen und kannte ihn gleich.
Ihre Knie zitterten, ihre Lippen wurden trocken.
Sie hielt sich mit klammernden Händen an dem Tischchen fest, das vor ihr stand, und saß doch sicher im Stuhl.
Als dann die Eltern kamen, fragte die Mutter liebevoll besorgt: „Fehlt dir was, Sabine?“
„Mir? – mir nichts. Ich bin ganz wohl,“ brachte sie heraus. Aber der Spiegel, in den sie unwillkürlich blickte, zeigte ihr ein fahles, verzerrtes Gesicht.
„Ich hab’ ein wenig Kopfweh,“ sagte sie, „das macht mich immer gleich so blaß.“
Nun wußte sie: er ist da. Aber das Wissen gab ihr keineswegs die vermutete Ruhe. Viele neue Fragen tauchten auf.
Wußte er, daß sie hier lebe? Was würde geschehen, wenn sie sich zufällig träfen, gar träfen, wenn Sabine in Begleitung ihrer Mutter sich auf der Straße befände? Würde er, würde sie selbst nicht verraten, daß man sich schon einmal im Leben begegnet war? Würde er grüßen? Sie überhaupt erkennen?
Die Neugier auf all dies war noch brennender als die vorige. Sabine fühlte sich außerstande, sie zu ertragen.
In langen Briefen sprach sie sich zu ihrer Freundin Susanna darüber aus, von der so viel Jüngeren Rat verlangend. Susanna schrieb, daß sie fände, ein Gebot der Menschlichkeit und Rücksicht gegen Körlegg erheische es, ihn von Sabinens Anwesenheit in zarter Form zu benachrichtigen. Nur so könnten aufregende Scenen, wie eine unerwartete Begegnung in Gegenwart taktloser, verständnisloser Menschen, vermieden werden.
Diesen Rat hatte Sabine hören wollen. Aber die „taktvolle Mittelsperson“, die Susanna für die Benachrichtigung an Körlegg zu wählen riet, fehlte. Ihren Bruder Reinald konnte Sabine nicht damit beauftragen, sie sprach ihn überdies nie allein.
Sie spielte mit dem Gedanken, Körlegg zu schreiben, schreckte aber vor der Ausführung doch zurück, obschon sie im Geist bereits zehn verschiedene Briefe entworfen hatte.
Mühlau ist so klein, er muß mir doch endlich einmal begegnen. Wo es auch sei, wenn ich allein bin und wenn er allein ist, wir werden uns aussprechen. Er wird fühlen, wie ich es fühle, daß es unmöglich ist, in einer Stadt zu leben, ohne eine letzte Aussprache, dachte sie entschlossen.
Von da an fing sie an, viel spazieren zu gehen. Sie machte auch kleine Besorgungen selbst, die bis dahin Lisbeth hatte ausführen müssen, und zeigte sich freundlicher gegen Hinz und Kunz in der Stadt. Befriedigt beobachtete Frau Oberamtmann Deuben einmal vom Fenster aus, daß Sabine auf der Straße mit Frau Doktor Sebold einige Schritte zusammen ging, dann noch mit Frau Küps und Frau Rechnungsrat Müller drüben vor Küps’ Laden plaudernd stand.
„Gottlob, so nach und nach findet sie sich in die Verhältnisse,“ sagte die Mutter, und der Oberamtmann meinte: „Zeit wurde es.“
Ja, Mühlau war sehr klein. In einem Städtchen von achttausend Einwohnern muß man sich eines Tages begegnen.
Auf dem großen ovalen Marktplatz stand ein Brunnen. Aus einem spitzgekrönten, vielfach durchbrochenen, verrosteten, eisernen Aufbau fielen in vorsichtigen Bogen vier dünne Wassersträhne in ein achteckiges Bassin. Die blanke Wasserfläche war in einer ewigen Bewegung, Kreise zerstießen sich aneinander, Blasen schäumten, wo der Strahl sich in die Fläche bohrte. Die Mühlauer waren sehr stolz auf ihren Marktbrunnen. Das heißt, früher hatten sie auf das „alte Monstrum“ geschimpft und würden längst einen andern Brunnen dahingesetzt haben, wenn der Stadtsäckel es nur hätte erlauben wollen. Aber seit es Mode geworden war, märkische Geschichte zu treiben und alte Stücke aus den Zeiten der ersten Hohenzollern hochzuhalten, war der Mühlauer Brunnen ein Werk „guter gotischer Schmiedeeisenarbeit“, das vermutlich von Albrecht Achilles gestiftet worden war, worüber der Bürgermeister schon seit Jahren Erhebungen anstellte. Um diesen Brunnen breiteten sich jeden Sonnabend und Mittwoch die Marktfrauen mit ihren Warentischen und Körben aus. Es war dann beinahe ein Gewühl auf dem Markt.
Für Leo und Milly war es ein Hauptvergnügen, dazwischen umhergeführt zu werden.
Und da gerade, im Gedränge der Menschen, hinter sich den plätschernden, raunenden Brunnen, in einer Lücke zwischen zwei aufgespannten Marktschirmen, sah Sabine zum erstenmal Achim von Körlegg. Er ging mit Hallendorf und dem Bürgermeister Dorsten. Sie gingen nah’ vorüber. Nur der Gemüsestand einer Bauernfrau, die Sabine und dem Brunnen den Rücken kehrte, war zwischen ihnen.
Hallendorf und der Bürgermeister standen mit der Oberamtmannsfamilie auf dem Grüßfuß. Sie grüßten Sabine, Körlegg grüßte natürlich mit.
Sie neigte das Haupt. Sie sah nur ihn, nur seinen Gruß.
Sie vermochte lange nicht von der Stelle zu gehen.
Diese Begegnung machte ihr Bedürfnis, einmal, ein einziges Mal nur noch mit ihm zu sprechen, zu einem fieberhaften.
Ihre Blicke hatten sich getroffen. Was kann nicht alles in einem Blick liegen! Immer sah sie den seinen vor sich, und er schien sie zu fragen: Hassest du mich? Habe ich dich nicht doch beraubt? Kannst du mir vergeben?
Dieser flüchtige Wechsel von mehr erschreckten als inhaltsvollen Blicken erweiterte sich in Sabinens Phantasie zu einem ganzen Erlebnis.
„Man wird ihm hier meine Ehe und mein Leben in einem falschen Licht darstellen,“ dachte Sabine gequält, „er wird hören, daß ich eine sehr glückliche Frau war, und das wird ihn belasten.“
Die Mühlauer glaubten in der That, daß Sabine von Zeuthern in einer sehr befriedigenden Ehe gelebt habe.
Sie klagte gegen niemand. Nicht einmal gegen ihre Eltern. Sie war von dem Gedanken ausgegangen, daß eine Frau, die in glücklicher Ehe lebt, gern einmal über ihren Mann schelten und über die Schwierigkeiten der Ehe sprechen darf – das Glück in ihren Augen korrigiert die augenblicklichen Mißstimmungen, von denen der Mund spricht. Für eine unglückliche Frau giebt es nur Schweigen und Diskretion.
So wußte es kein Mensch, wie sie gedarbt, und wie sie gelitten hatte. Er aber, er sollte wenigstens die Wahrheit ahnen, damit sein Herz nicht beschwert bleibe.
Carl Gehrts.
Ein köstliches Leben in der schönsten Blüte der Jahre, voll glänzender Hoffnungen, schloß sich am 18. Juli vorigen Jahres, köstlich für alle, die den liebenswürdigen, bescheidenen Künstler persönlich oder aus seinen Werken gekannt haben, und die er so oft allem Erdenleid durch seine Kunst entrückt hatte.
Ein tragisches Geschick schnitt den Lebensfaden gerade in dem Augenblicke ab, wo das mit verzehrender Sehnsucht erhoffte Ziel gesichert schien. Die Kräfte reichten noch aus, die Hand nach dem dargebotenen Lorbeer auszustrecken, aber in dem Momente der Berührung sank sie leblos zurück.
Carl Gehrts wurde den 11. Mai 1853 geboren. Die Eltern, beide tüchtige, gesunde Naturen, lebten in den allerkleinsten Verhältnissen in St. Pauli bei Hamburg. Der Vater, zuerst Anstreicher, malte nachher Oelgemälde von geringem Wert, mit denen die thätige und energische Mutter im Hafen hausierte. Auch der junge Carl malte bald mit, täglich zwei, später sogar vier Gemälde. Da er zugleich Talent zur Musik hatte, gab er für geringen Lohn Klavierunterricht und spielte Sonntag abends bis tief in die Nacht die Geige zum Tanz. Niemand dachte in der kleinen Vorstadtkneipe daran, daß der zarte, blonde Knabe mit den schönen leuchtenden Augen, der da oben zwischen den Musikanten saß, dereinst ein berühmter Mann werden würde. – So begann schon in frühester Jugend dies Leben anhaltender Arbeit ohne Rast und Ruhe. Zur Belohnung für seine ergiebige Thätigkeit durfte Carl abends, nachdem er den ganzen Tag gearbeitet hatte, die Kunstgewerbeschule besuchen, und hier war es, wo der Direktor Jessen, sein Talent erkennend, dafür sorgte, daß er durch Unterstützung wohlwollender Menschen, besonders auch des Herrn Arnold Otto Meyer, die Akademie in Weimar besuchen konnte. Wie Gehrts überglücklich hierhin im Jahre 1871 übersiedelte, Schüler Gussows und Baurs wurde, bei Preller im Hause verkehrte, anfangs sich der religiösen Malerei zuwandte, nachher mittelalterliche Scenen, Gnomen und Elfen malte, wie er Baur nach Düsseldorf folgte, hat er in seiner humoristischen Lebensbeschreibung, die in der Zeitschrift „Kunst für Alle“ erschien, selbst erzählt. In Düsseldorf fand er in einer seiner Schülerinnen seine Gattin; es war des Malers Köttgen talentvolle Tochter Anna, welche fortan ihre Kunst ganz seinem Dienste widmete und ihm eine bedeutende Gehilfin wurde. Ihr Heim richteten beide im romanischen Stile ein, den Gehrts besonders liebte und in welchem er auch später sein ländliches Wohnhaus bauen ließ.
Eine Anzahl meist kleinerer Bilder, zahllose Illustrationen, Widmungsblätter u. dergl. entstanden in dieser Zeit; unter anderem malte Gehrts auf seiner Hochzeitsreise das Widmungsblatt für die Goldne Hochzeit des alten Kaiserpaares. Blätter für Bismarck, deutsche Fürsten und hervorragende Privatpersonen, ferner viele von jenen übermütigen Scenen, wo die Elfen im Schilf kichern und die Kobolde so herzlich lachen, stammen aus jener Zeit. Die Darstellung Odhins, die den Anfang dieses Artikels schmückt, ist als Illustration zu einem Gedicht Felix Dahns entworfen worden. Wir sehen den höchsten Gott der alten germanischen Völker auf seinem Thron; zu seinen Füßen kauern die Wölfe „Geri“ (der Gierige) und „Freki“ (der Gefräßige), während die Raben „Hugin“ (Gedanke) und „Munin“ (Erinnerung) ihn umflattern.
Gehrts lebte anhaltend bescheiden, fast verborgen, bei Tag und Nacht mit derselben Unermüdlichkeit schaffend. Am liebsten hätte er alles verschenkt; große Schätze sammelte er denn auch trotz seines ungeheuren Fleißes absolut nicht, und es ist charakteristisch, daß eines unserer größten Blätter ihn zweimal selbst bat, seine Preise zu erhöhen.
Es nahte das Jahr 1882; mit ihm die Konkurrenz zur Ausmalung des Treppenhauses in der Düsseldorfer Kunsthalle, ein Wettbewerb, welcher Gehrts den größten Ruhm und die größte Pein seines Lebens bereiten sollte und welcher ihn plötzlich zum populärsten Künstler Düsseldorfs machte. Ohne die geringste Protektion, infolgedessen selbst ohne Hoffnung auf Erfolg, begann er die Arbeit, die ihn unwiderstehlich anzog.
Trotz dieser Hoffnungslosigkeit ging er vor, als gälte es sein Lebenswerk. Er schuf nicht nur eine Folge farbenprächtiger Entwürfe als Darstellung der Kunstgeschichte, sondern in ihnen zugleich ein bezauberndes Gedicht von wahrhaft sprudelnder Fülle poetischer Gedanken.
Der Raum enthält sechs viereckige Wandflächen, darüber sechzehn Lünetten. In letzteren stellte der Künstler die Kunstgeschichte in Märchenform dar, wobei die Kunst selbst immer als handelnde Person auftritt, von dem Augenblick an, wo sie als Göttergeschenk, ein kleines geflügeltes Kindlein, den wilden Menschen gebracht wird, bis zur Neuzeit, wo sie als Lehrerin des Volkes auftritt. Auf die Hauptflächen verlegte Gehrts sechs Hauptepochen der Kunstgeschichte, von denen die griechische Zeit und die Renaissance die größten Flächen erhielten. Alle Zwischenflächen, Stichkappen und Füllungen sind übersponnen von lieblichem Ornament mit zahlreichen Figuren. Zwei dieser [305] Wandgemälde bringt die „Gartenlaube“ (vgl. S. 308 und 309) in Holzschnittwiedergabe. Das erste zeigt uns die Anfänge der Kunst in vorgeschichtlicher Zeit. Ein Bildhauer vollendet ein Götzenbild, indem er in den Stein eine Runenschrift meißelt. Voller Andacht betrachtet das Volk sein Werk. Auf dem anderen Bilde sehen wir, wie der Baumeister des Kolosseums das Modell dieses Riesenbaues dem Kaiser Vespasian erläutert.
Trotzdem Gehrts nicht nur bei dieser Konkurrenz, sondern auch bei einer zweiten, welche man von gewisser Seite durchsetzte, den ersten Preis erhielt, bedurfte es einer Petition fast der gesamten freien Künstlerschaft Düsseldorfs, dem Künstler das Werk zu sichern. Von den Professoren der Akademie hatte nur Wittig, der Schöpfer der Hagar in der Nationalgalerie, unterzeichnet, welcher Gehrts erst durch die Entwürfe kennenlernte, seither aber sein bester Freund wurde, um ihm mit dem ganzen Schatz seines Wissens eine bedeutende Stütze bei dem großen Werk zu werden. Es ist bezeichnend für Gehrts’ Charakter, daß er letzteres stets gern aussprach. Auch gewann er durch sein Werk die wertvolle Freundschaft der Frau Sophie Hasenclever, der Tochter Schadows, welche bis zu ihrem Tode als die interessanteste Erscheinung in Düsseldorf galt. Die in hohem Alter stehende, immer noch schöne, stets thätige und einflußreiche Dame übersetzte Dante und die Gedichte Michelangelos. Sie war eine feine Kennerin der altitalienischen Zustände, dabei von bezaubernder Liebenswürdigkeit und hochverehrt in ihrem großen Kreise.
Trug dem Künstler auf diese Art sein Werk plötzlich die Verehrung und Freundschaft bedeutender Menschen ein, so war doch durch die entsetzliche Aufregung zwischen Hoffnung und Entsagung, besonders aber durch die unliebsame Bereicherung seiner Menschenkenntnis, die Gesundheit des Künstlers derartig erschüttert, daß er in Melancholie verfiel und es eines Jahres bedurfte, bis er völlig genesen in sein Heim zurückkehren konnte. Nachdem er nun den Auftrag erhalten hatte, folgte abermals eine lange Kette von Unannehmlichkeiten, so daß die Freunde mehrfach in der größten Sorge waren. Ein Glück war, daß Gehrts alles immer wieder vergaß, sobald er an der Arbeit saß, und so schuf er denn jenes schöne Werk, welches das Entzücken so vieler Menschen geworden ist, die es sahen. Die Ausführung hatte wesentlich im Sinne der ersten Konkurrenz stattgefunden; die zweite, welche beinahe des Künstlers ganze geistige Kraft ruiniert hatte, war also völlig überflüssig gewesen. Nur eine Aenderung, welche man, nicht zum Vorteil, verlangt hatte, daß nämlich die Kirche im Renaissancebild als Person auftrete, war notgedrungen beibehalten mit den daraus folgenden Konsequenzen. Der ganze Raum ist in geradezu vollendeter Harmonie so fein abgestimmt, als wäre das Ganze nur ein Bild.
Das in der alten Freskotechnik ausgeführte Werk wurde am 1. August 1897 nach siebenjähriger Arbeit des Künstlers der Oeffentlichkeit übergeben; ungefähr siebenhundert Studien dazu waren gleichzeitig ausgestellt. Die Düsseldorfer Künstlerschaft gab Gehrts im „Malkasten“ voller Jubel ein glänzendes Fest unter Teilnahme der ganzen Stadt. Alles war Lust ohne Ende und der Künstler, welcher mit dem Lorbeer gekrönt wurde, erlebte den glänzendsten Tag seines Lebens. Alle Freunde hofften, es sei dies nach aller Arbeit und allem Elend der schöne Abschluß der ersten Lebenshälfte des Künstlers – nur ein Gedanke drückte sie: Gehrts wurde unter glänzenden Bedingungen aufgefordert, mit Geselschap allein zur Ausmalung des Hamburger Rathaussaales zu konkurrieren. Die hohe Ehrung durch seine Vaterstadt barg in diesem Augenblick eine Gefahr, die dort niemand ahnen konnte. Gehrts hatte sein ganzes Künstlerleben hindurch mit unglaublicher Zähigkeit die Hoffnung genährt, dereinst seiner Vaterstadt das Beste seines Schaffens bieten zu können. Durch all sein Denken und Trachten zog sich diese eine Idee wie ein fortlaufender Faden hindurch. Nun schien dieser sein höchster Wunsch in Erfüllung zu gehen. Noch erschöpft von der großen Arbeit und den Quälereien, die er erduldet hatte, konnte Gehrts, von unbezwinglicher Sehnsucht zu diesem Werke gezogen, nicht Zeit und Ruhe finden, sich vorher gründlich zu erholen. Er gab sich sofort der neuen Aufgabe mit ganzer Seele hin, dachte und sah nichts anderes mehr. Die Geister, die er so oft zur Freude der Menschheit gerufen hatte, sie ließen den zarten Körper jetzt nicht mehr los. Stellte ihm ein Freund das Unrichtige vor, so sagte er: „Ich kann arbeiten so viel ich will, ich bin das gewohnt von Jugend auf; kam meine Mutter nach Hause, so gab es Mittagessen, kam sie nicht, so gab es keins, und nachts spielte ich die Fiedel, wenn die andern schliefen. Ihr dürft nicht vergessen, daß diese Arbeit der Wunsch meines ganzen Lebens seit dem 17. Jahre gewesen ist!“ So half alles Abmahnen nichts, und zwei Monate vor Ablauf der Konkurrenz, als die Entwürfe fast vollendet waren, versiegte mit einem Schlage die Kraft. Das Lebenslicht wurde trübe. Todmüde, fast wie im Traum, trotzdem immer im Geist mit seinen Arbeiten beschäftigt, lebte der erschöpfte Künstler noch ein halbes Jahr; dann war auch der letzte Rest der Kraft verzehrt, trotz aller Hoffnung auf Genesung, welche die Aerzte gaben, und sanft entschlief er hinüber in die seligen Gefilde, von denen er so oft geträumt. Sterbend hinterließ er seiner Vaterstadt das schönste Werk, das er im Leben geschaffen, leider nur im Entwurf.
Die Arbeit, welche die Geschichte Hamburgs in sieben Gemälden darstellt, von der Verkündigung des Christentums und der Gründung der Hammaburg an durch die bewegte Zeit des Mittelalters und der Reformation bis zu den Befreiungskriegen und der Gegenwart, bildete einen Hauptanziehungspunkt bei der Ausstellung von Gehrts’ Werken, welche vor kurzem in der Düsseldorfer Kunsthalle stattfand, einer Ausstellung, deren reiche Schätze nunmehr in Berlin zu sehen sind. Das letzte Bild, das Gehrts schuf, die Einsegnung der Freiwilligen von 1813, ist das ergreifendste Gemälde, das er in seinem Leben geschaffen hat; es ist, als hätte er alle künstlerische Kraft und sein ganzes edles Gemüt in diesem Werk wie in einem Testament dem deutschen Volke vererben wollen. Deutsch war ja überhaupt seine Kunst und deutsch wollte sie sein auch in den letzten Jahren, wo die Mode den Internationalismus verlangte. Deutsches Gemüt und deutscher Sinn sprechen namentlich auch aus den zahlreichen Illustrationen. Sein „Goldnes Märchenbuch“, „Reineke Fuchs“, „Demetrius“, die „lustigen Koboldgeschichten“, „Leben und Heimat in Gott“ und vieles andre werden dem deutschen Volk ein wahrer Schatz bleiben, und sein Wirken wird Segen bringen, solange es ein deutsches Gemüt giebt.
Das ist gewiß der schönste Lohn, der einem Künstler werden kann. Eine Ahnung davon verlieh wohl Gehrts jene unvergleichliche Heiterkeit und Seelenruhe, jene milde Beurteilung anderer, bei denen er stets das Gute zuerst sah, auch bei solchen, die ihm manch schwere Stunde bereitet hatten. Er war ein guter, edler Mensch, ohne Falsch und Bitterkeit, von echt deutschem Gemüt.
Das Schweigen im Walde.
(9. Fortsetzung.)
In lautloser Stille lag der Tillfußer Wald. Schon zog der laue Abendwind von den Bergen abwärts durch das Thal, aber so lind und leise, daß er die Zweige der Bäume nicht bewegte. Nur die schlanken Gräser, die am Saum des Pfades wuchsen, rührten sich ein wenig. Der ganze Waldgrund lag schon in tiefem Schatten, doch die Wipfel waren noch vom Glanz der Sonne umglüht, welche sinken wollte, und wie goldfunkelnde Riesenmauern, von purpurnen Schattenlinien durchzogen, sahen durch die Lücken des Waldes die grellbeleuchteten Berge nieder.
Auf einem Baum, den der Sturm geworfen hatte, saßen Graf Sternfeldt und der Förster. Nicht weit von ihnen zweigte sich der Pfad – der eine Weg führte zur Jagdhütte im Sebenwald, der andere zur Sebenalpe und zum See. Diesen letzteren Pfad konnte man, da er durch schütteren Wald in gerader Linie hügelan stieg, auf eine weite Strecke übersehen.
Je länger die beiden warten mußten, desto ungeduldiger wurde Sternfeldt.
„Endlich! Da kommt er!“ Der Graf erhob sich. „Bleiben Sie nur, Herr Förster … ich geh’ ihm entgegen!“
In Gedanken versunken und behaglich schlendernden Ganges kam Ettingen über den Pfad heruntergeschritten. Er trug den leichten Bergstock quer über den Rücken und hatte die Arme darübergelegt. Träumend und lächelnd blickte er vor sich nieder. Sein Hut war rings um die Krempe mit Blüten besteckt – es waren Edelrosen vom Sebensee.
„Heinz!“
Ettingen blickte auf, verwundert, als könnte er dem Klang dieser Stimme nicht glauben. Aber da leuchtete ihm die Freude aus den Augen. „Goni! Du?“ Ettingen stieß den Bergstock in die Erde und streckte dem Freunde die beiden Hände entgegen. „Du? Du? Wahrhaftig? Du? Ja sag’ mir nur … Nein, Goni, die Freude, die ich habe! Sagen kann ich dir das nicht … aber sieh mich an, und du mußt es fühlen!“
„Ja, Heinz!“ Tiefe Bewegung klang aus der Stimme des Grafen. „So deutlich wie in diesem Augenblick hab’ ich es noch nie empfunden, daß du mir gut bist!“
„Aber Goni! Hast du denn je daran gezweifelt?“
„Nein. Aber wer Gold besitzt, will auch gerne wissen, wie viel es ist, und freut sich der Stunde, die ihn zählen läßt. Und solch eine Zählstunde für deine Freundschaft … das war dieser Blick jetzt in deine Augen! Aber weißt du … dich jetzt so ansehen dürfen, das hat noch eine andere Freude für mich. Heinz! Heinz! Was ist aus dir geworden, seit ich dich nicht mehr gesehen habe!“
„Ein gesunder, froher Mensch! Ja, Goni, das hab’ ich dem Wald zu danken – und seinem schönen Schweigen! Und dir! Denn du warst es, der diesen herrlichen Fleck Erde für mich aussuchte … und du weißt ja gar nicht, was du da alles für mich gefunden hast! Ich danke dir, Goni! Ich danke dir! Aber …“ Ettingen lachte und schüttelte dem Freund die Hände. „So sprich doch endlich auch wieder ein Wort! Sieh mich nicht immer nur an! Ich will dich nicht nur sehen, ich will dich auch hören! … Aber Goni! Was machst du denn da für Augen?“ Lachend beugte er das Gesicht bis nah’ vor die Augen des Freundes. „Ich bin es schon! Wirklich! Ja, ja, ja!“
„Höre, Heinz! Wahrhaftig, jetzt hätt’ ich dich beinah’ gefragt: Bist du es? Denn daß du so gesund vor mir stehst, so sonnverbrannt, so lachend … das allein ist es nicht! Noch etwas anderes! An dir ist was Neues, weißt du! Und wär’ ich dir so in der Stadt begegnet, ohne zu ahnen, daß du da bist … ich glaube, ich hätte dich auf den ersten Blick gar nicht erkannt. Wie ein ganz anderer stehst du vor mir! Und wie mir dieser neue Heinz gefällt! Aus deinen Augen redet eine Lebenskraft, ein Wille zur Freude … Nein, jetzt hab’ ich keine Sorge mehr um dich! Jetzt kann ich es dir sagen, warum ich kam … heute! Ich bringe dir eine Nachricht, Heinz! Denk’ dir … sie ist da!“
„Wer?“
„Aber Heinz! Errätst du denn nicht?“
„Nein! Wer ist da?“
„Das ist eine Frage, die ich fast nicht begreife. Aber du hättest mir kein Wort sagen können, das ich lieber gehört hätte, als dieses ahnungslose: ‚Wer?‘ … Die Pranckha ist da. Draußen im Jagdhaus.“
Der Fürst erblaßte. So standen sie eine Weile schweigend voreinander. Dann stammelte Ettingen: „Sie? Bei mir? … Das ist stark!“
Sternfeldt lachte trocken. „Das weißt du doch aus Erfahrung: in Dingen, die stark sind, ist sie groß!“
„Und … sie kam allein?“
„Gott bewahre! Wenn ihr auch wenig daran liegt, dich zu kompromittieren – das dürfte sogar in ihrer Rechnung eine sehr notwendige Ziffer sein … aber für sich selbst muß sie den Schein wahren, um so mehr, da sie … wie ich fürchte … ‚ehrbare‘ Absichten hat.“
„Sie ist mit dir gekommen?“
„Aber, Heinz! Das ist eine Frage, die mich wirklich verdrießen könnte!“
„Ich bitte dich, Goni, sei mir nicht böse … aber ich weiß in meiner Empörung wahrhaftig nicht mehr, was ich rede.“
„Empörung? Wirklich? Was dich blaß macht und dir das Blut wieder ins Gesicht treibt … das ist nur Empörung?“
„Was sonst? … Aber ja, Goni, ich will ehrlich sein, es ist noch etwas anderes,“ sagte Ettingen mit bebender Stimme. „Was ich jetzt empfinde … es ist wie Schmerz! All dieses Vergangene, dieses Häßliche … vor einer Stunde noch war es so ganz vergessen, für mich so versunken, als wär’ es nie gewesen … und nun steht es plötzlich da vor mir! Ich hab’ ein Gefühl, als hätte man mir ein Stück Sonne ausgelöscht, das mich wärmte … als hätte man eine Blume zertreten, deren Anblick mir Freude war! Ich hatte das Gefühl wie nach einem Bad, als wär’ ich reingewaschen an Leib und Seele! Und jetzt! … Mir ekelt!“
„Sag’ ihr das … und du bist sie los! Aber das mit der Sonne und der Blume … wie meinst du das?“
„Nein! Diese Nachricht hören … und im gleichen Augenblick alles andere sagen? Nein! Das kann ich nicht! … Aber wenn sie nicht allein kam? Mit wem kam sie?“
„Rate!“
„Eine ihrer zweifelhaften Freundinnen?“
„Du mußt tiefer greifen! Aber du kommst nicht drauf! Denk dir, wen sie mitbrachte … den kleinen süßen Mucki!“
„Den soll ich auch noch ertragen? Ich danke!“ Ettingen lachte in Zorn vor sich hin. „Die Geschichte fängt an, mich zu erheitern. Und daß der mit ihr ist … das macht mir die Sache leichter. Aber du? Daß du mit ihnen kamst?“
„Mit ihnen? Nein! Nach ihnen! Aber gerade noch zur rechten Zeit, um dir die erste gefährliche Verblüffung zu ersparen. Gestern mittag brachte mir der biedere Mann, von dem ich in meiner ahnungsvollen Vorsicht ihre Villa überwachen ließ, die Nachricht: mit dem Frühzug sind sie abgereist, Salonwagen nach Innsbruck. Am Abend saß ich im Coupé, kam heute um 10 Uhr in Innsbruck an … drei Stunden früher waren sie vom ‚Hotel Europe‘ abgefahren … ich erinnerte mich an Shakespeare: ein Königreich für ein Pferd … und da bin ich! Und bin neugierig, was du thun wirst. … Nun?“
„… Ich bin ratlos, Goni!“
„Ich wüßte dir einen Rat! Aber ich weiß, du befolgst ihn nicht.“
„Ja, Goni! Ja! Ja! Jeden, den du mir giebst!“
„Machen wir die Probe! Dort steht der Förster. Laß dich von ihm nach Ehrwald führen, jetzt gleich … drunten nimm dir einen Wagen, fahre nach Garmisch, nach München … oder nach Imst, nach Trafoi, wohin du willst … oder bleibe in Ehrwald, bis ich dich wieder rufe. Was du brauchst, schick’ ich dir noch heute hinunter … durch einen Jäger, nicht durch Martin!“ Sternfeldt lachte. „So schmerzlich es für dich sein wird, aber von diesem Ehrenmann wirst du dich trennen müssen; denn er ist ihr Helfer gewesen …“
„Martin?“
„Ja! Er hat dich neulich auf die Jagd geschickt – und [307] während du fort warst, wurde meine Stube in ein Boudoir für die Pranckha verwandelt! … Also? Soll ich den Förster rufen? Und willst du noch ein Uebriges thun, so schreib’ mir auf eine Visitenkarte: ‚Mache mein Haus rein, Goni, und ich werde dir dankbar sein!‘ … Willst du?“
„Nein!“
„Siehst du, wie ich dich kenne!“
„Sie ist unter meinem Dach, sie ist mein Gast! Und was du mir auch sagen magst … eines wirst du nicht aus der Welt schaffen: ich habe diese Frau geliebt!“ erwiderte Ettingen in Erregung. „Und eine Roheit an ihr begehen, um sie abzuschütteln? Nein! Das kann ich nicht!“
„Roheit? Ich danke für das Kompliment. Aber ich bin nicht gekränkt. Ganz im Gegenteil … ich vermute sogar, daß du schon morgen für meinen Rat empfänglicher sein wirst. Du hast sie geliebt … ja! Und daß du von deiner Liebe geheilt bist, das glaub’ ich auch! Nur die Blindheit ist dir geblieben. Ich aber habe diese Person gehaßt … um deinetwillen! Und der Haß hat Augen. Ich kenne sie. Besser als du. Ohne Gewaltstreich, lieber Heinz, wirst du mit der nicht fertig! Sei vornehm, wohlerzogen und höflich … und in drei Tagen hat sie dich wieder eingefangen.“
„Da irrst du dich!“
„Beweis’ es mir, und ich leiste dir Abbitte. Aber jetzt komm! Nun weißt du, daß die beiden unter deinem Dach sind … und deiner vornehmen Seele muß es doch als eine Unhöflichkeit erscheinen: liebe Gäste so lange warten zu lassen. Komm!“ Lachend gab Sternfeldt dem Freunde einen leichten Schlag auf die Schulter und ging auf Kluibenschädl zu. „Na also, lieber Förster … fertig zum Heimweg! Unsere gute Durchlaucht hat über ernste Dinge reiflich nachzudenken … aber wir beide, wir plaudern? Ja? Was macht die Jagd? Und wo ist der Zwölfender gefallen?“
„Droben beim Sebensee, Herr Graf! Und wenn S’ das G’weih sehen … da passen S’ auf!“ –
Sie waren noch nicht weit gegangen, als sie laute Stimmen im Wald vernahmen. Ueber den Weg, der zur bayrischen Grenze, zur Knorrhütte und zur Zugspitze führte, kam mit Lachen, Schwatzen und Singen eine lustige Touristengesellschaft herunter, vier junge Leute mit dick angepackten Rucksäcken, und zwei hübsche Mädchen, zu deren runden, vergnügten Grübchengesichtern die Maskerade des ländlichen Kostüms nicht übel paßte. Pfundweis trugen sie die Blumen auf Hüten und Bergstöcken. Ob das der richtige Weg nach der Tillfußer Alpe wäre, fragten sie den Förster.
Freilich; nur immer gradaus, und sie könnten nicht fehlen.
Und ob in der Sennhütte für sechs Leute Platz zum Uebernachten wäre?
„Natürlich! Auf’m Heuboden halt! ’s Heu is frisch … da liegen S’ gut!“
Diese Aufklärung wirkte auf die heitere Gesellschaft, als hätte man ihr ein köstliches Amüsement in Aussicht gestellt. Lachend und singend wanderten die jungen Leute davon, so eilig, als hätten sie was zu versäumen, und von ihren fröhlichen Stimmen wiederhallte der ganze Bergwald. Als sie die Lichtung erreichten und über den Baumwipfeln die Fahnen des Flaggenmastes wehen sahen, begrüßten sie das Ziel ihres Marsches mit Jauchzern und mit Jodelrufen, von denen der eine und andere freilich etwas zweifelhaft ausfiel. Aber das gab nur Anlaß zu neuer Heiterkeit. Lachend und schwatzend musterten sie die Wagen, guckten in den Stall und grüßten einen Kutscher: „Guten Abend, Herr Vetter!“ Als sie an Mazeggers Hütte vorüberkamen, blickte eines der Mädchen neugierig durch das offene Fenster in die Stube. Kichernd fuhr die Kleine zurück, winkte ihrer Freundin und flüsterte ihr zu: „Du, da mußt hineinschauen: da sitzt einer drin, der macht ein Gesicht wie der Hamlet nach dem Monolog: Sein oder Nichtsein!“ Natürlich, das mußte die andere auch sehen. Aber als sie mit ihren lachenden Augen in die Stube spähte, fuhr Mazegger mit groben Worten auf:
„Was wollen Sie denn? Machen Sie, daß Sie weiterkommen!“
Die Folge war, daß von den jungen Touristen einer nach dem anderen ans Fenster trat und sich höflich verbeugte: „Habe die Ehre!“ Und dann ging’s mit Gelächter hinunter zur Sennhütte.
Mazegger hatte im ersten Zorn das Fenster zugeschlagen. Doch als die lustigen Stimmen verklangen, öffnete er die Scheiben wieder und kehrte zu seinem Lauerposten neben dem Herd zurück.
Rittlings saß er auf dem Holzstuhl, mit den Ellbogen auf die Lehne gestützt, das Gesicht zwischen den Händen. Seine Augen schienen nichts anderes zu sehen als Thür und Fenster des Fürstenhauses. Da schoß ihm das Blut ins Gesicht, und hastig griff er nach dem Fernrohr.
In der Thür des Jagdhauses war Baronin Pranckha erschienen. Während sie über die Stufen langsam niederstieg in den Hof, stützte sie sich auf die Goldkrücke ihres Spitzenschirmes. Sie trug eine Sportmütze aus schottischer Seide und ein weißes Lodenkleid von glatter Elegance, mit breitem Ledergürtel von schillerndem Kupferglanz. Faltenlos, wie angegossen, umschmiegte der linde Stoff die schöne Büste dieses Frauenkörpers, der bei all seiner schlanken Grazie leicht zur Fülle neigte. Weich flossen die Falten des Rockes von den Hüften nieder, jeder Bewegung sich anschmeichelnd, als ob sie nicht verhüllen, sondern zeigen wollten. Dieser langsam ruhige Gang war von seltsam weichlicher Geschmeidigkeit – bei jedem Schritt, bei jeder leisen Bewegung der Arme, bei jedem Wenden und Neigen des Kopfes schien der ganze Körper mitbewegt. Und wie dieses Haar in der Sonne schimmerte! Es war nicht blond, nicht rot – es hatte jenen dunklen Farbenglanz, wie ihn die sterbenden Blätter an einem schönen Herbsttag haben. In seiner kapriziösen Modefrisur, in dem lockeren Gewell, das sich reich über die Schläfe herauslegte, umschloß dieses Haar gleich einer leuchtenden Goldhaube ein rundes Gesichtchen, wie von Watteau gemalt, weiß und rot, mit zarten Grübchen und bläulichen Schatten, mit den klar gezeichneten Sicheln der dunklen Brauen und mit heißen Lippen, leicht geöffnet, wie ein Mund, welcher dürstet. Und diese reinen, frischen Farben wirkten wie Natur. Waren sie Kunst – dann verstand sich diese Frau wie eine Meisterin auf das corriger la beauté.
Bei der rosigen Frische dieser Farben hatte das linde Gesichtchen etwas jugendlich Unreifes, fast rührend Kindliches. Dem widersprachen aber die feinen, wie mit der Nadelspitze gezogenen Linien an den Mundwinkeln – und die Augen! Das waren Augen, die zu einem anderen Gesichte zu gehören schienen. Wohl gaben die schweren Wimpern diesen Augen etwas müd’ Verschleiertes, und ihre Farbe war ein erloschenes Blau, doch in der matten Iris brannten die großen Pupillen, schwarz und feurig wie die Beeren der Tollkirsche.
Und wie diese Augen in nervöser Ungeduld und Erregung flackerten, während sie beim Hofthor stand, mit der Schirmspitze im Sand wühlte und immer hinunterspähte über den Weg!
Dann plötzlich lachte sie, mit perlender Stimme, hell und vergnügt wie ein Kind, das in gereizter Laune mit einem Spielzeug überrascht wird.
Sensburg kam über den Weg herauf – „jaagerisch“ maskiert, mit Joppe, grüner Weste, kurzen Lederhosen, genagelten Schuhen und Wadenstrümpfen, die wohl mit fünffacher Wolle unternäht waren, um hinter den Knien den „echten“ Buckel zu machen. An der Joppe trug er Hirschhornknöpfe, die ein spannenlanges Knopfloch brauchten, und an der Uhrkette baumelte eine faustgroße Berlocke von silbergefaßten Adlerklauen, Hirschgranen und Murmeltierzähnen. Die Knie mußte er mit irgend einer Tinktur gefärbt haben, denn sie waren wie Kastanien so braun. Er ging wie ein Holzknecht, breitspurig und die Arme schlenkernd.
Das war ein Anblick, daß auch Mazegger lächeln mußte, als dieser „jaagerische Bua“ im Gesichtsfeld des Fernrohrs erschien. Bis in seine Stube konnte Mazegger das heitere Lachen der schönen Frau und ihre Stimme hören, als sie in einer fremden Sprache – es war englisch – dem anderen etwas sagte. Das mußte ein Kompliment gewesen sein, denn der „Jaagerische“ verbeugte sich geschmeichelt, und um seiner Rolle recht getreu zu werden, versuchte er das Lallen und Wortkauen eines steirischen Kretins nachzuahmen. Dann fiel er, nach ein paar englischen Floskeln, wieder in den Wiener Fiakerton und lachte:
„So ein G’stell? Was? Is ein G’stell! Eisssen! Und ächter man kann nicht! Aber Sie, Baronin … ausschauen thun S’ heint wieder … ich sag’ Ihnen, Baroninderl, großoatig! Zucker!“ Galant umtänzelte Sensburg die schöne Frau und begann mit gustiöser Ausführlichkeit ihre Reize zu preisen. „Und denken, daß all diese heazige Schennheit für einen anderen blüttt … das ist schmeazhaft, Baronin, wiaklich schmeazhaft!“ Er verdrehte die Augen und seufzte. Um die schöne Frau wieder lachen zu machen, spielte er eine drollige Pantomime als hoffnungslos [308]
schmachtender Seladon – aber es schien in dieser Posse auch ein Funke von Ernst zu glimmen: die ohnmächtige Sehnsucht eines verliebten Narren, der begehrt, was hoch über ihm steht, unerreichbar.
Sah sie dieses kleine Lichtlein brennen und hatte sie Ursache, zu wünschen, daß es nicht erlosch?Lächelnd reichte sie ihm die Hand, an der in der Sonne die Ringe blitzten, und ließ sie küssen. Plaudernd und lachend wanderten sie im Hof des Jagdhauses auf und nieder, und so oft sie Kehrt machten, tänzelte Sensburg auf die linke Seite der Baronin.
Da sah Mazegger durch das Fernrohr, daß die schöne Frau jählings verstummte. Alle Züge ihres Gesichtes veränderten und spannten sich, ihre Augen wurden größer. Aber diese Erregung löste sich in ein bezauberndes Lächeln, als sie mit Sensburg zum Hofthor ging. Im gleichen Augenblick hörte Mazegger die Stimme des Fürsten, der mit Sternfeldt an der Hütte vorüberging. Was Ettingen sagte, konnte der Jäger nicht verstehen, auch nicht, was der Graf erwiderte. Aber wie gepreßt diese Stimmen klangen, wie erregt!
Als die beiden an der Hütte vorüber waren, huschte Mazegger gebückt zum Fenster, kniete auf die Dielen nieder und stützte das Fernrohr, damit es in seinen unruhigen Händen nicht zittern konnte, auf das Gesimse. Schwer atmend richtete er das Glas auf das Gesicht der schönen Frau und belauerte jeden Blick ihrer Augen, jede leise Sprache ihrer Mienen.
Den Grafen, der sie zuerst begrüßte, schien sie nicht gern zu sehen; als er sich lächelnd vor ihr verbeugte, nagte sie mit den kleinen blinkenden Zähnen an der Lippe, und ein Zornblitz flammte aus ihren Augen. Aber ganz verwandelt schien sie, als sie auf den Fürsten zutrat, dem Sensburg lachend und schwatzend entgegengegangen war. Da hatten ihre Augen einen anderen Blick! Und wie sie lächelte, wie sie plauderte, wie alles lebte und sprühte in diesem Gesicht! Und dieser Blick nun wieder! Wie eine Bitte, welche schenkt, demütig und sieghaft – ein Blick, der zu sagen schien: „Ich will dich … darum bist du mein!“
Da verfinsterte sich das Glas, Mazegger sah nichts mehr – und als er aufblickte, stand der Förster vor dem Fenster.
Kluibenschädl machte verblüffte Augen, als er den Jäger mit dem Fernrohr so auf den Dielen knien sah.
„Was treibst denn da? Unsere Herrenleut’ ausspionieren? So was laß fein bleiben, gelt? Und Uhr
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hast wohl auch keine? Sechse is’s! Schau, daß in’ Dienst kommst!“
Wortlos erhob sich Mazegger und schob das Glas zusammen. Hastig richtete er sich für den Birschgang und schritt über das Almfeld hinunter. Als er den Wald erreichte, blieb er stehen und blickte nach dem Jagdhaus hinauf, der Hof war leer – der Fürst und seine Gäste waren ins Haus getreten.
Mazegger nahm den Hut ab und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Es schien, als wäre er ein anderer geworden. Sein Gesicht brannte, und er atmete wie einer, dem eine Kette von den Gliedern fiel. Lachend streifte er mit den Augen alle Fenster des Jagdhauses, und während er hineinschritt in den Schatten des Waldes, raunte er vor sich hin: „Die erlöst mich von ihm! Wenn die ihm ihre Augen hinmacht, muß er vergessen …… alles!“ – –
Der Förster war in seine Hütte gegangen und schürte im Herd ein Feuer an. Er schien zu denken, daß man ihn heute nicht zur Tafel rufen würde. „Schad’ um mein’ g’sparten Hunger!“ Aber just, als er die Pfanne von der Wand herunternahm, erschien Martin in seiner schwarzen Gala.
„Durchlaucht lassen den Herrn Förster zur Tafel bitten!“
Während die beiden dann hinaufgingen zum Jagdhaus, sagte der Förster plötzlich: „Sie, Herr Kammerdiener … Ihnen hab’ ich einen ernstlichen Vorhalt zu machen! Wie mich einige Andeutigungen des Herrn Grafen Sternfeldt vermuten lassen, haben Sie mich, wie man zu sagen pflegt, über den Löffel balbiert … mit derselbigen ,Ueberraschung‘! Sie verstehen mich schon! Und ich muß mir so was für die Zukunft ganz entschieden verbitten! Solchene Sachen mag ich net!“
Martin biß sich wütend auf die Lippe, doch er erwiderte kein Wort. Er warf nur einen scheuen Blick zu den offenen Fenstern des Speisezimmers hinauf, als hätte er Sorge, daß irgend jemand die geharnischte Erklärung des Försters gehört haben könnte. Es war überhaupt in seinem ganzen Wesen etwas unruhig Aengstliches, als hätte er die Ahnung, daß ihm heute noch irgend eine Unbehaglichkeit bevorstünde.
Sie traten ins Haus.
Nach einer Weile wurden droben im Speisezimmer die Fenster geschlossen. Von den Stimmen bei der Tafel drang nur ein leiser, verschwommener Hall in den Hof herunter. Am deutlichsten unterschied man die Stimme des Edlen von Sensburg, der während des ganzen Diners das große Wort zu führen [310] schien. Häufig hörte man auch ein helles, perlendes Lachen. Die Fiakerspäße des „kleinen süßen Mucki“ schienen die schöne Frau in die heiterste Laune zu versetzen.
Je ruhiger der schöne Abend um die Mauern des Jagdhauses und um die stillen Jägerhütten dämmerte, desto lauter ging es drunten in der Sennhütte zu, in der sich die junge Touristengesellschaft gemütlich eingerichtet hatte. Vergnügtes Schwatzen wechselte mit Gesang, lustiges Kreischen mit lautem Gelächter, und dazu klimperte und klang eine Zither.
Als es dunkel wurde, kehrte Pepperl von der Birsche zurück. Lange stand er vor der Thür des Försterhäuschens und lauschte zur Sennhütte hinunter, bis er wütend vor sich hin brummte: „So ein Madl! Da hört sich doch alles auf! Daß die doch allweil ihr Gaudi haben muß … mit andere Leut’!“ Schwer seufzend trat er in die Hütte, legte sein Jagdzeug ab und setzte sich vor die Thüre.
Wenn drunten in der Sennhütte ein Lied verklang und die jungen Stimmen so recht in übermütigem Jubel durcheinander schrieen, drückte Pepperl die Hände über die Ohren, als ginge ihm diese laute Freude wie ein unerträglicher Schmerz in den Kopf.
Es war finstere Nacht geworden, als Martin mit einer Laterne über den Weg herunterkam, um Herrn von Sensburg zum Fremdenhaus zu führen.
Ein paar Minuten später erschien der Förster, und gerade, als er seine Hütte erreichte, fingen sie drunten in der Sennhütte wieder zu singen und zu jodeln an. Fast wäre er in der Finsternis über Pepperls Beine gestolpert. „Geh, du Leimsieder! Was hockst denn da in der Nacht umeinander! Hörst denn net, wie lustig als ’s zugeht bei der Burgi drunten! Mach’ weiter … geh halt auch ein wengerl ’nunter und thu dich ein bißl veramasieren. Brauchen kannst es … du mit deiner maulhenkolischen Traurigkeit allweil! Geh zu, geh ’nunter ein bißl!“
Pepperl erhob sich – er war ein allzugehorsamer Jäger, als daß er einem so klaren Befehl seines Vorgesetzten hätte widersprechen können. „No ja, wenn S’ meinen, es muß sein … in Gott’snamen … geh ich halt ’nunter!“
„Aber bleib net z’lang, gelt? Morgen in der Fruh um Fünfe mußt mit’m Herrn von Sensburg zur Gamsbirsch ’naus!“
„Mit dem? Da dank’ ich schön! Vor dem laufen ja die Gamsböck davon auf tausend Schritt’! Wo soll ich denn hin mit ihm? Zum Sebensee ’naus?“
„Na, na! G’rad’ hat’s der Herr Fürst g’sagt: überall kann er hingehn, bloß net zum Sebensee … den b’halt’ sich der Herr Fürst für ihm selber vor! Gehst halt hin, wo d’ meinst, er verdirbt nix! Und schießen kannst ihn lassen, auf was er mag … treffen thut er eh nix, der! Aber jetzt geh zu, Pepperl, und sei vergnügt!“
„No ja, mein’twegen, muß ich halt ’nunter!“ Pepperl seufzte, als wäre für ihn der Weg zur lustigen Sennhütte noch eine „viel härtere Sach’“ als die Gamsbirsche, die ihm für den kommenden Morgen drohte. Und stolpernd verschwand er in der Nacht.
Der Förster zündete in der Hütte die Lampe an. Da hörte er einen Wagen kommen. Es war ein Einspänner aus Innsbruck, der das Gepäck des Grafen brachte. Kluibenschädl hieß den Kutscher warten und eilte ins Jagdhaus hinauf. Am Wohnzimmer des Fürsten mußte er ein paarmal pochen, bis man ihn hörte – so erregt, wenn auch mit gedämpften Stimmen, wurde da drin gesprochen.
Als Kluibenschädl in das von einer großen Lampe hell erleuchtete Zimmer trat, saß Graf Sternfeldt mit erloschener Cigarre in einem Fauteuil, und Ettingen stand mitten im Zimmer. So hatte der Förster seinen Herrn noch nie gesehen: mit dieser Zornader auf der Stirn, mit diesen blitzenden Augen.
„Ich bitt’ um Vergebung, Duhrlaucht, wenn ich gestört hab’,“ stotterte Kluibenschädl, „aber ich hab’ nur dem Herrn Grafen melden wollen, daß seine Sachen ein’troffen sind.“
Ettingen nickte, als hätte er nicht recht gehört. Und zum Fenster tretend, preßte er die Hand an seine glühende Stirne.
„Ja, lieber Förster, ich danke Ihnen,“ sagte Sternfeldt, „und bitte, lassen Sie drunten im Fremdenhaus die Sachen einstweilen in mein Zimmer schaffen … ich komme gleich hinunter. Es ist Zeit für mich, daß ich mich aufs Ohr lege … ich bin müde.“ Er erhob sich und streckte die Beine. „Jetzt merk’ ich doch, daß ich meinen alten Knochen mit diesem Ritt mehr zugemutet habe, als ihnen lieb ist. Nna, hoffentlich werde ich heute in meinem delogierten Bett ebensogut schlafen, als ob es noch an seinem alten Platz stünde.“ Lachend trat er zum Schreibtisch und brannte die erloschene Cigarre wieder an. „Also, lieber Förster, ich komme gleich!“
Kluibenschädl machte ein Buckerl und drückte sich, wobei er noch einmal mit scheu besorgtem Blick seinen Herrn streifte.
Eine Weile war’s still im Zimmer. Ettingen blickte durch das Fenster in die sternhelle Nacht hinaus, und obwohl die Scheiben geschlossen waren, konnte er den heiteren Spektakel hören, den die junge Gesellschaft drunten in der Sennhütte trieb.
Sternfeldt blies den Rauch seiner Cigarre vor sich hin und betrachtete das erlöschende Zündholz, als wäre er neugierig, wie lang’ der kleine Funke, der von der Flamme zurückgeblieben, noch glimmen würde.
Plötzlich kehrte sich Ettingen vom Fenster ab, und wie an eine Auseinandersetzung anknüpfend, in der sie durch den Eintritt des Försters unterbrochen wurden, sagte er: „Von allem, was du mir vorgehalten, kann ich nicht ein einziges Wort widerlegen. Und ich will es auch gar nicht. Aber versetze dich nur in meine Lage, Goni! Sie sind meine Gäste … das bindet mir die Hände … auch wenn ich mir hundertmal sage: ich habe sie nicht gerufen. Ich selbst empfinde doch das Zusammenleben mit diesen beiden wie etwas Unerträgliches! Und ja, du hast recht … dem wäre am leichtesten mit einem rücksichtslosen Wort ein Ende gemacht. Aber das kann ich nicht, das bring’ ich nicht fertig. Ich kann doch meine Natur nicht auf den Kopf stellen. Ich bin nun einmal so … und damit mußt du rechnen.“
„Ja, ich habe in meiner Rechnung einen Fehler gemacht. Während ich da heraufritt, daß mir und dem Pferd der Atem ausging, hab’ ich mit all deinen Eigenschaften gerechnet, nur nicht mit deiner Höflichkeit. Die ist in dir zu klassischer Vollendung ausgebildet. Wär’ ich ein Dieb, ich würde bei dir einbrechen … da wär’ ich eines liebenswürdigen Empfanges sicher! Sollte dir der unhöfliche Gedanke kommen, mich aus dem Haus werfen zu lassen, dann dürfte ich nur sagen: Mein Herr, ich bin unter Ihrem Dach und fühle mich als Ihr Gast! Tableau! Und ich würde an deiner Tafel sitzen und bekäme von dir die Schüssel gereicht … wie heute die Pranckha.“
„Ich bitte dich, Goni .. du marterst mich .. laß diese Scherze!“
„Ich? Und scherzen? Gott bewahre! Mir ist so ernst, wie einem Menschen nur sein kann, der einen Freund in Gefahr weiß.“
„Gefahr? Ach, geh doch!“ erwiderte Ettingen fast unwillig. „Glaube mir, ich fühle mich an Leib und Seele so frei, als hätte mich nie ein Wunsch meiner Sinne an diese Frau gefesselt. Sie ist mir so fremd geworden, so völlig fremd, daß ich sie ansehen und mich erschrocken fragen kann: Wie war’s nur möglich, daß ich sie geliebt habe? … Das ist Wahrheit, Goni! Was fürchtest du also?“
„Ihre Schönheit! Denn schön ist sie … das muß ich ihr lassen. Ich habe sie heute bei Tisch allen Teufeln an den Hals gewunschen … aber bewundert hab’ ich sie doch! Und noch etwas anderes macht mich unruhig: deine Erregung. Könntest du nur sehen, wie deine Augen brennen, und hören, wie deine Stimme klingt. Wenn du deiner so sicher bist … weshalb diese Erregung? Das versteh’ ich nicht.“
Ettingen antwortete nicht gleich. „Ja, du hast recht! Ich begreife mich selbst nicht. Ich könnte doch wirklich die deplacierte Posse, die mir diese beiden Menschen ins Haus brachten, mit kalter Ruhe an mir vorüberspielen lassen! Und doch ist ein Aufruhr in mir …“
„Ja, Heinz, in dir ist etwas, das sich meinem Blick verschließt. Und das eben beunruhigt mich. Das ist noch etwas anderes als nur der Widerwille, von dem du sprichst. Diesen Widerwillen … den hast du übrigens bei Tisch zur Genüge merken lassen, trotz all deiner Höflichkeit als Wirt. Der süße Mucki, freilich, der war blind dafür … dem geht nicht so leicht was durch die dicke Haut. Aber sie hat gemerkt, wie sie dran ist. Und es war für mich ein wahrer Hochgenuß, ihre wachsende Wut zu beobachten und das fabelhafte Geschick, mit dem sie ihren nervösen Zorn durch forcierte Heiterkeit maskierte. Der erste, lächelnde Empfang, den sie dir bereitete, ließ mich vermuten, daß sie dich in aller Liebenswürdigkeit ein paar Wochen blockieren will, um dich im Anblick ihrer Reize dürsten zu lassen. Aber sie wird ihre Taktik ändern. Nun weiß sie, daß deine Höflichkeit mit dem Ekel kämpft – und sie ist klug genug, um diese Stimmung in dir nicht wachsen zu lassen. Sie selbst wird die gründliche Aussprache, die du in deiner übel angebrachten Höflichkeit gerne vermeiden möchtest, so rasch wie möglich herbeiführen …“ ein sarkastisches Lächeln glitt über die Lippen des Grafen, „vielleicht schneller, als du denkst ...“
„Was meinst du damit?“
[311] „Das soll ich dir noch erklären?“ Sternfeldt lachte. „Nein, guter Heinz! Da wart’ es nur lieber geduldig ab, bis du verstehst, was ich meine. Und jetzt Gute Nacht!“ Er zerdrückte die Cigarre in der Aschenschale und trat vor Ettingen hin. Jeder spottende Zug war ausgelöscht in seinem Gesicht, und tiefer Ernst blickte aus seinen Augen. „Heinz, du bist erregt … das gestehst du ja selber zu! Und Blut, das siedet, ist immer zu unberechenbaren Dingen geneigt. Laß dir wenigstens den einen Rat noch geben … leg’ dich mit diesem heißen Kopf nicht schlafen! Mach’ draußen in der kühlen Nacht noch einen Bummel, oder … auf deinem Schreibtisch liegt der Quartalsbericht und die Abrechnung deines Verwalters … setz’ dich heute noch drüber, Heinz! Da hast du drei oder vier Stunden nüchterne Arbeit. Das wird dich beruhigen, und …“ wieder lächelte er, „dann geht’s ja auch auf den Morgen zu. Ja, Heinz? Willst du das?“
Zögernd reichte Ettingen dem Freunde die Hand, ohne ein Wort zu sagen.
„Na also, ruhige Nacht!“
Ettingen sah dem Grafen nach, der zur Thüre ging. Dunkle Röte war ihm ins Gesicht gestiegen. „Goni? … Du denkst nicht gut von mir!“
„Von dir? Doch, Heinz!“ Sternfeldt lächelte. „Aber von ihr nicht.“ Er wollte schon die Thür öffnen, aber da blieb er wieder stehen. Der Ausdruck seiner Züge verriet, daß er mit einem Entschluß kämpfte, der ihm nicht leicht wurde. Und dann erwachte in seinen ernsten Augen ein Blick, so träumend weich und von so mildem Feuer, daß Ettingen seltsam betroffen zu ihm aufsah.
„Goni?“
Sternfeldt hob den rechten Arm und streifte die Manschette zurück. „Sieh her, Heinz, was ich da habe!“ Er trug am Handgelenk eine Goldkette mit kleinem Medaillon. „Ein Talisman, den ich seit fünfzehn Jahren trage! Es hat eine Zeit gegeben, Heinz, in der ich, aller Tollheit des Lebens fähig, ein Spielzeug jeder Stunde war, die mir das Blut heiß machte. Aber dann kam eine Wandlung über mich, es ist rein in mir geworden, klar und still. Seit damals trag’ ich diese Kette. Und der Talisman, den diese Kapsel enthält, hat mich seit fünfzehn Jahren vor aller Thorheit und Häßlichkeit des Lebens bewahrt. Und dieser Talisman, Heinz … ich glaube, der hätte auch Macht über dich … und ich möcht’ ihn dir geben. Aber ich kann die Kette nicht abnehmen … sie hat kein Schloß und ist angeschmiedet an meinen Arm … denn weißt du, ich will sie mitnehmen auf meinen letzten Weg. Aber willst du nicht sehen, was diese Kapsel enthält?“ Er trat zum Schreibtisch und hielt den Arm in das helle Licht der Lampe. „Komm her, Heinz!“ Schweigend öffnete Ettingen die goldene Kapsel und sah in ihr das Miniaturbild einer Frau, noch schön, obwohl sich schon graue Fäden in das Braun ihrer welligen Haare mischten, mit ernsten ruhigen Augen und einem leisen Schmerzenszug um den lächelnden Mund.
„Das Bild meiner Mutter? … Goni!“
„Das sagst du ja wie in Schreck? Daß ich deine Mutter liebte … hast du es nie geahnt?“
„Und … und meine Mutter?“ stammelte Heinz.
„Sie war mir gut … und ich glaube, sie wäre glücklich geworden an meiner Seite. Aber sie war es … auch ohne mich! In ihrer Liebe zu dir! Und sie wies mich ab, weil sie ganz ihrem Sohn gehören wollte. Aus dir einen Mann zu machen, frei, glücklich und stolz … mehr wollte sie nicht von ihrem Leben. Dafür konnte sie jedes Opfer bringen, auch das Opfer ihres Frauenherzens. Und sag’, Heinz … verpflichtet solche Liebe nicht? Und begreifst du nun meine Sorge um dich? Soll deine Mutter umsonst gelebt haben?“
„Goni …“
„Nein! Jetzt wollen wir nicht weiter reden. Nachdem ich dir das gesagt habe, giebt es kein Wort mehr!“ Sternfeldt legte die Hände auf Ettingens Schultern und sah ihm in die Augen. „Gute Nacht, Heinz!“ Dann ging er.
Ettingen blieb in einer Erregung zurück, die ihn erschütterte bis ins Innerste. Als wäre in ihm ein Wirbel von Gefühlen und Bildern, die in stürmendem Wechsel auf und nieder tauchten, ohne vor seiner Seele zu rechter Klarheit zu kommen, so stand er regungslos inmitten des Zimmers und preßte die zitternden Hände an seine Schläfen.
Da weckte ihn ein Geräusch im anstoßenden Raum. Er richtete sich auf, und eine Furche grub sich in seine brennende Stirne. Als er die Thüre des Schlafzimmers aufstieß, gewahrte er den Lakai, der das Lager für die Nachtruhe seines Herrn bereit gemacht hatte und mit einem Sprühflacon durch das Zimmer ging, um ein schwül duftendes Parfum in die Luft zu stäuben.
„Was machen Sie da?“ fragte Ettingen mit erzwungener Ruhe. „Ich habe Sie nicht gerufen.“
„Aber ich bitte, Durchlaucht,“ stotterte Martin, „mein Dienst ..“
„Dienst? Bei mir? Sie irren sich! Ich habe Grund zu vermuten, daß Sie im Dienst der Baronin Pranckha stehen. Und fremde Dienerschaft will ich für meine Person nicht belästigen. Sie können gehen … und von morgen an wird Praxmaler den Dienst bei mir übernehmen. Adieu!“
Mit aschfahlem Gesicht verbeugte sich Martin, und während er das Zimmer verließ, konnte er noch hören, wie Ettingen das klirrende Fenster aufriß. Die frische Nachtluft rauschte in den schwülen Raum und trieb, als die Thür geöffnet wurde, den schweren süßen Wohlgeruch in den Flur hinaus und hinter dem Lakaien her, dessen Frackschöße in der Zugluft wehten.
Eine Weile stand er ratlos, mit geballten Fäusten. Da sah er die kleine Französin aus dem Zimmer der Baronin treten.
Lautlos huschte er auf das Mädchen zu. „Mam’zelle Fifi?“
„Monsieur?“
Ob die Baronin noch zu sprechen wäre? Nur eine Minute.
Für den guten getreuen Martin? Gewiß.
Er pochte an die Thüre.
„Entrez!“
Martin trat ein. Als er einige Minuten später das Zimmer wieder verließ, schien seine Erregung und Sorge beschwichtigt, denn er trug die Nase hoch in der Luft und lächelte.
Während er über die Treppe hinunterstieg, hörte er das kichernde Gezwitscher der Französin. Sie stand mit Sensburgs Leibjäger im Hof, und der heitere Lärm, der von der Sennhütte heraufklang, reizte ihre Neugier.
Das wollte, das mußte sie sehen.
Zu diesem Wunsche zuckte Martin hoheitsvoll die Schultern. Der „Stall“ dort unten, das wäre doch kein Aufenthalt für „feine Leute“ – in „solche“ Gesellschaft könnte man unmöglich gehen, ganz unmöglich.
Fifi verzog das hübsche Mäulchen und lachte. Ob man in solche Gesellschaft gehen könne oder nicht, das wäre ihr ganz egal, erklärte sie. Um sich zu langweilen wie in der Stadt, dazu wäre sie doch nicht aufs Land gekommen. Und wenn es der „feine“ Herr Martin vorzöge, schläfrig unter die Decke zu kriechen, statt sich eine Stunde nach Herzenslust zu amüsieren, so wäre doch zum Glück noch ein anderer da, um den Wunsch einer Dame zu erfüllen und sie als Kavalier in die Sennhütte zu begleiten.
Geschmeichelt verneigte sich der Grünverschnürte und bot ihr galant den Arm.
Während Martin geärgert seine Stube aufsuchte, wanderten die beiden schwatzend und kichernd über das finstere Almfeld hinunter.
Einige Stunden früher.
Es dämmerte über dem Thal der Leutasch, und vom Kirchturm tönte der Abendsegen über die stillen Häuser hin und hinaus über die von zartem Nebel behauchten Wiesen. Auf den Straßen lag schon die Ruhe des schläfrig gewordenen Tages, nur einige junge Burschen stapften paarweis mit ihren qualmenden Pfeifen an den Zäunen hin, manchmal nach einem Fenster spähend, hinter dem ein Licht brannte.
Da kam ein Jäger hastigen Ganges durch das Dorf herunter. Es war Mazegger. Keuchend ging sein Atem, und in Unruh’ blickte er nach allen Seiten und über die Straße aus. Sein Schritt verzögerte sich, je näher er dem Petrischen Hause kam. Um das Klappen seiner Schuhe verstummen zu machen, trat er in den mit Gras bewachsenen Straßengraben hinunter. Als er den Zaun des Hauses erreichte, das vom Duft seiner tausend Blumen still umflossen war, duckte er sich und schlich an der Holunderhecke hin, um eine Lücke zu finden, durch die er in den Garten blicken könnte. Am Hause waren die Fenster der Wohnstube schon erleuchtet, und da die Vorhänge offen standen, sah [312] man durch die hellen Scheiben in den traulichen Raum mit seinen Bildern und Geräten, und sah, wie Frau Petri ruhig ab und zu ging, um den Tisch zu decken und die Tassen zu stellen.
Dunkler und dunkler sank die Dämmerung über Haus und Garten nieder. Da hörte man zwischen den Beeten die Stimme Lo’s: „Zwei Kannen noch, und dann wird’s genug sein.“
Am Brunnen klapperte der Schwengel, das Wasser plätscherte, im Kiese knirschten die schweren Schritte der Magd, und nun ließ sich das leise Brausen des über die Blumen fallenden Sprühregens vernehmen. Dann war’s still im Garten; nur noch das Gemurmel der Quelle im Wasserbecken.
Während die Magd das Gartengerät und die Kannen in der Tenne verwahrte, machte Lo’ noch einen Rundgang um alle Beete und durch den Obstgarten. Einen grünen Zweig in der Hand, den sie unter stillem Sinnen spielend durch die Finger streifte, wandelte sie ruhigen Ganges auf den weißen Wegen dahin. In einem Sommerhäuschen, welches dicht am Zaun auf einem kleinen Hügel stand, ließ sie sich nieder. Da konnte sie über die dunklen Gärten und Wiesen weit hinausblicken gegen Westen, bis zur Waldscharte des Gaisthals, über dem der Himmel mit seinem letzten Gold noch zwischen den schattenblauen Bergen leuchtete.
Lind umwebte sie der schöne Frieden des Abends und trug ihre lächelnden Träume auf stillen Schwingen in die Ferne.
Da klang eine gepreßte Stimme über den Zaun her: „Guten Abend, Fräulein!“
Lo’ blickte auf und sah über der gestutzten Holunderhecke das bleiche Gesicht mit den funkelnden Augen. Sie erhob sich und verließ das Sommerhäuschen. „Guten Abend!“ sagte sie, wie man einen Fremden grüßt, und ging auf das Haus zu.
Der Pfad führte am Zaun entlang, und so konnte Mazegger über der Hecke draußen gleichen Schritt mit ihr halten.
„Aber eilig haben Sie’s heut!“ Der Jäger lachte. „Freilich, ich bin halt nur der Mazegger. Und nicht der ander’ … der mit’m Krönl im Schnupftuch! Wenn’s der wär’, aaah, da thät’ sich’s freilich rentieren, daß man stehen bleibt. Da hätt’ man Zeit eine ganze Nacht lang … wie draußen beim Sebensee! Gelt, ja?“
Schweigend, ohne das Gesicht zu wenden, folgte Lo’ ihrem Weg.
„Aber ich komm’ von Tillfuß herein! Da sollten Sie doch ein bißl neugierig sein, was draußen los is … bei Ihrem hochgeborenen Courschneider! Es könnt’ ja sein, daß ich ’was zu erzählen hätt’, das Ihr Herzl interessieren muß … weil’s was von ihm ist! Na also, wirklich? Gar nicht neugierig?“
Er wartete auf Antwort. Vergebens.
Nun lachte er wieder, gallig und rauh. „Sie, Fräulein … so gar stolz sollten Sie doch nicht sein! Denn wenn Sie von mir nichts hören mögen … bis er Ihnen wieder ’was vorplauscht, mein’ ich, das kann lang’ dauern. Jetzt kommt er so bald wohl nimmer zum Sebensee! Jetzt hat er keine Zeit mehr … für Sie! Jetzt hat er Besuch bekommen! Heut’! Und was für einen! Eine Baronin! Natürlich … billiger thut er’s nicht, wenn’s ernst wird. Ich hab’ mir allweil gedacht, es gäb’ nichts Schöneres auf der Welt, als Sie sind. Aber die! Aaah! Was die für ein Lachen hat! Da müßt’ der ägyptische Joseph d’rüber stolpern. Und Joseph ist der doch keiner! Gelt? Und wie sie ihn frißt mit ihren sündschönen Augen! Und er erst! Er!“ Mazegger lachte. „Freilich, die vornehmen Herren, die halten’s gern mit der Abwechslung. Heut’ Butterbrot und Sebenseeblüm’ln … und morgen wieder Salami mit Pfeffer …“
Lo’ hatte den Pfad verlassen, und quer durch die Wiese schritt sie auf das Haus zu. Was der Jäger ihr nachrief, verstand sie nicht mehr – nur noch sein Lachen hörte sie.
Als sie zur Hausthür kam, mußte sie sich an die Mauer stützen – so zitterten ihr die Kniee. Doch diese Schwäche währte nicht lang. Sie richtete sich auf, und ruhigen Schrittes trat sie ins Haus. Matter Lichtschein fiel aus der Küche in den Flur und über die Bilder hin, welche die Mauer bedeckten.
Während Lo’ zur Stube ging, berührte sie eines der Bilder mit der Hand – als gäb’ es ihr Trost und Kraft, die Leinwand zu fühlen, auf der ein reiner und schöner Gedanke ihres Vaters Form und Farbe gewonnen.
Nun trat sie in das helle, trauliche Zimmer, in dem Frau Petri noch mit dem Tisch beschäftigt war.
„Du, Lo’? Heute kommst du früher als sonst. Bist du draußen schon fertig?“
„Ja, Mutter … mit allem.“
Beim Klang dieser Stimme blickte Frau Petri betroffen auf. Da sah sie dieses weiße, vom Schmerz berührte Gesicht, diese verstörten Augen, und erschrocken fragte sie: „Kind? Was hast du?“
„Nichts!“
„Aber Lo’! Wenn du dich nur sehen könntest! Ich bitt’ dich, Kind, jage mir doch nicht solchen Schreck ein! Sag’ mir … was hast du? Bist du krank?“
„Nein, Mutter, gewiß nicht!“
„Das sagst du mir und kannst mich doch nicht ansehen dabei!“ Vor Sorge zitterte die Stimme der alten Frau. „Kind!“ Sie faßte die beiden Hände des Mädchens. „Und wie kalt du bist … deine Hände sind ja wie Eis!“
„Ich bin erschrocken … vor etwas Häßlichem. Draußen im Garten, dicht vor meinen Füßen, kroch eine Natter über den Weg …“
„Nein! Nein! Das hätte mich erschrecken können! Aber du! Vor einem Tier erschrecken, das nur unschön ist, aber nicht gefährlich … das ist doch sonst nicht deine Art! Sag mir, was du hast … und sieh mich doch an, Lo’!“
Ein Lächeln erzwingend, hob Lo’ die Augen. Aber stärker als ihr Wille, ruhig zu erscheinen, war der stumme Sorgenblick, der auf ihr ruhte. Sie zitterte und schlug die Augen nieder.
„Lo’! … Daß das vorhin, was du von der Natter sagtest, nur ein Gleichnis war, das fühl’ ich doch! Draußen im Garten ist etwas geschehen, was dich kränkte. Das war so abscheulich, daß du es deiner Mutter gar nicht sagen magst … und ich frag’ auch nicht mehr. Ich kann mir’s ja denken! Wie halt die Leute oft schwatzen: ein dummer oder böser Mensch wird dir was gesagt haben … ein Wort, das etwas in dir verletzte, was dir lieb und heilig ist.“
„Ja, Mutter! Lieb und heilig! Etwas, an das ich glaube, Wie ich an Papa glaube und an dich!“
„Gelt, ja? Ich hab’s erraten?“ Mit scheuem Blick an dem Gesicht ihres Kindes hängend, atmete Frau Petri, als läge ihr ein Stein auf der Brust. „Aber schau nur, wie ich mich sorge um dich! Und nicht nur, weil du so herein kamst … nein, Lo’! Schon die ganze Zeit her … seit ich den Buben heimbrachte, und … weißt du, wie du damals zu mir an den Wagen kamst, so ganz verändert! Und was mir gestern der Bub erzählte … vom Jagdhaus … schau, Kind, ich bitte dich, diese eine Sorge mußt du mir ausreden! Gelt, nein? Es ist nicht so, wie ich fürchte? Denn … schau, Lo’, wenn ich recht hätte mit meiner Sorge … das wäre ein Unglück, für dich und für uns alle! … Kind?“
Lo’ wollte sprechen, doch sie brachte kein Wort über die Lippen. Als könnte sie den erschrockenen Blick der Mutter nicht mehr ertragen, so löste sie ihre Hände und wandte sich ab. Sie wollte zum Tisch, doch ihre Kniee wankten, und auf die Holzbank niedersinkend, brach sie in strömendes Schluchzen aus.
Wortlos setzte sich Frau Petri an die Seite ihres Kindes, nahm die Weinende in den Arm, küßte ihr das Ohr und die Wange, streichelte ihr das Haar und suchte immer nach Worten, während ihr selbst die Thränen über die furchigen Wangen fielen.
Noch ehe Frau Petri sprechen konnte, hatte sich Lo’ schon wieder gefaßt. Sie trocknete die Augen, und nur noch ein schmerzliches Lächeln irrte um ihre Lippen, als sie ruhig sagte: „Mutter! Wir müssen fort von hier!“
„Fort? … Weil du ihn lieb hast?“
„Ja. Weil ich ihn liebe!“
„Ach, Gott! Ach du guter Gott!“ stammelte die alte Frau, Während sie die zitternden Hände ineinander schlang. Sie war von jenen Frauen eine, die ein schmerzvolles Leben müde gemacht und die nur stark sind, so lang’ eine ungewisse Sorge sie quält; erfahren sie, daß ihre Furcht begründet war, so werden sie schwach und ratlos, und es bleibt ihnen kein anderer Trost als Thränen, geduldiges Tragen und schüchterne Klage. „Ich hab’s gefürchtet! Ich hab’s ja gefürchtet! Was ist über mich schon alles gekommen! Und jetzt auch das noch! Mein Kind muß ich leiden sehen und kann ihm nicht helfen! Ach, Gott, ist das ein Unglück!“
„Ein Unglück? Nein, Mutter!“ Lolos Augen leuchteten in stillem Glanz. „Was ich fühle bei jedem Gedanken an ihn … es ist das Herrlichste, was über ein Menschenherz nur immer
[313]kommen kann! Und es wird mein ganzes Leben erfüllen, wie die Sonne einen klaren Tag erfüllt vom Morgen bis zum Abend! Ist Liebe denn weniger rein und schön und reich … weil sie nicht hoffen darf? Kein Unglück. Mutter, nein … was ich fühle, ist Glück. Und nicht ein Kummer ist es, dem ich entfliehen will. Denn wenn mein Glück auch Schmerz ist … dieser Schmerz ist süß … ihm kann und will ich auch nicht entfliehen. Er wird bei mir sein in jeder Stunde, ob ich gehe oder bleibe! Nur Zeit mußt du mir vergönnen, daß ich mich ganz wieder finde, daß ich stark und mutig werde … und daß ich ihm ruhig begegnen kann, ohne daß er ahnt, was in meinem Herzen brennt. Nur deshalb will ich fort … einige Wochen nur. Und ich bitte dich, Mutter, thu’ mir das zuliebe!“
„Ja, Kind! Alles thu’ ich, alles, was du willst. Und sag’ nur … wohin möchtest du denn?“
„Das war immer eine Sehnsucht in mir: Papas Heimat kennenzulernen … das Haus sehen, in dem er geboren wurde.“
„Ja, ja, da reisen wir hin.“
„Dort bleiben wir einige Wochen. Und dann, Mutter … dann gehen wir nach München.“
„… München?“ Vor den Augen der alten Frau erwachte bei diesem Wort das Bild ihrer bittersten Lebensjahre, und wie scheue Bitte und Abwehr klang es aus ihrer Stimme: „Kind?“
„Das müssen wir, Mutter! Was wir über Papa erfuhren … das hat eine Pflicht auf uns gelegt. Die Welt soll wissen, welche Schätze unser Haus umschließt, sie soll bewundern und lieben lernen, was Papa unter diesem Dach geschaffen hat. Deshalb müssen wir nach München!“
„Ja, ja, ich seh’ es ein, Lo’! Das müssen wir! Das sind wir seinem Namen schuldig … jetzt! Aber … Ach, Lo’! Ach du lieber Gott! Wieder hinein in den alten Kampf und in die neue Sorge! Und es war so schön hier … bei unserem Erinnern und bei seinen Blumen … so still und friedlich …“
Lo’ legte den Arm um den Hals der Mutter. „So wird es auch bleiben, immer! Und wenn wir heimkehren, werden wir nur reicher sein um eine Freude.“
„Ach ja, Gott soll es geben!“ Frau Petri seufzte; doch ihr wurde dabei das Herz nicht leichter. Sie hatte es verlernt, an die Hoffnung zu glauben. Als nach allem Kampf der früheren Jahre die Zeit der schönen Ruhe gekommen war, hatte sie diesen Frieden nicht recht von Herzen genießen können, weil sie immer fürchten mußte: er wird nicht dauern! Und hatte sie denn nicht recht gehabt mit dieser Furcht? Noch war die Trauer um den Mann, dem zuliebe sie alles noch leichter getragen, in ihrem Herzen nicht still geworden – und da kam nun das wieder! Der hoffnungslose Schmerz ihres Kindes! Und was würde dann kommen? Dann? Was stand ihr noch alles bevor an Leid und Weh? „Ach, ja!“ Mit zitternden Fingern drückte sie an ihren Augen die Lider zu. Dann fielen ihr die Hände schwer in den Schoß. „Und … sag’, Lo’, wann willst du reisen?“
„Sobald der Bub wieder wohl ist. Uebermorgen, mein’ ich, darf ich ihn aufstehen lassen. Aber dann muß er sich noch ein paar Tage schonen, bevor wir reisen dürfen. Und morgen will ich hinausreiten zum See … nur über eine Nacht … und will das Häuschen in Ordnung bringen für den Winter. Und die Blumen draußen, die dürfen wir in den heißen Sommerwochen nicht ohne Pflege lassen … ich will den Sebener Senn ersuchen, daß er diese Arbeit übernimmt.“
„Ja, Lo’, das mußt du noch thun! Seine Blumen … die waren ja sein letztes Wort … die dürfen nicht leiden.“
Nun schwiegen sie eine Weile, als wäre alles zu Ende gesprochen, was zu sagen war.
„Noch eines, Mutter …“ Lolos Wangen färbten sich, und in feuchtem Schimmer strahlten ihre Augen. „Weißt du … der Fürst …“ Wie ihr die Stimme schwankte bei diesem Wort! „All die Freude, die er uns brachte, mit seinem Glauben an [314] Papa … und mit dieser letzten Nachricht … das müssen wir ihm danken!“
Schweigend blickte die alte Frau zu dem brennenden Gesicht ihres Kindes auf.
„Ich meine,“ sagte Lo’, „wir sollten ihm eines von unseren Bildern schicken … als Erinnerung an Papa und … an alles andere.“ Ein mildes Lächeln verschönte ihren Mund, während ihre Augen in Thränen schwammen. „Meinst du nicht auch?“
„Ja, Lo’, wenn du es so willst, dann freilich, ja! Und welches meinst du denn?“
Da trat die Magd in die Stube. „Ich bitt’ Ihnen, Fräul’n … aber der Gusterl weiß, daß ’s Fräul’n schon im Haus is, und jetzt giebt er kein’ Ruh nimmer: ’s Fräul’n soll kommen, ’s Fräul’n soll kommen!“
„Ich komme gleich!“ erwiderte Lo’, und die Magd verschwand. Lo’ erhob sich. Lächelnd zog sie die alte Frau zu sich empor und umschlang sie. „Sei gut, Mutterl! Und sorg’ dich nimmer. Papa hat mich erzogen zu seinem starken Kind … und was ich dir sein kann, Mutter, das sollst du haben an mir!“
„Ach ja!“
Lo’ küßte die Mutter auf beide Augen. Dann verließ sie die Stube. Erst ordnete sie noch in der Küche die Theeplatte und sagte zu dem Mädchen: „Trag nur alles gleich hinein, Mama hat schon so lange warten müssen.“
Als sie durch die Schlafstube der Mutter ging, fiel aus der offenen Thür des anstoßenden Zimmers der helle Schein einer Lampe und erleuchtete eine Bilderwand. Lolos Blick begegnete jener Leinwand mit dem Hermeskopf – mit der weißen Marmorsäule des jugendlich schönen Gottes, dem eine Natter auf die Schulter kriecht. Ekel und Grauen sprechen aus seinem Gesicht, doch seine Brust ist angewachsen an den unbeweglichen Stein, und er hat keine Arme, um die giftige Häßlichkeit von sich abzuwehren.
„Das! … Das soll er haben!“
Zitternd, in einem Sturm von Empfinden, nahm Lo’ das Bild von der Wand und küßte die Stirne des schönen Gottes.
Da klang die Stimme des Knaben: „Lo’? Was machst du denn da draußen? Geh, komm doch zu mir!“
„Ja, Bubi, ich komme schon!“ Sie hing das Bild wieder an die Wand und trat in die kleine Stube.
Mit seinem verpflasterten Gesichtchen saß Gustl aufrecht in den Kissen. „Du, Lo’, jetzt eben hab’ ich probiert, ob ich marschieren kann. Ich sag’ dir, es geht schon ganz famos. Morgen darfst du mich aufstehen lassen.“
Sie trat zum Bett und nahm die Hand des Bruders. „Morgen? Nein, Bubi, morgen mußt du noch liegen bleiben.“
„Na also, morgen noch! Aber dann, gelt? Dann darf ich aufstehen? Und darf ich dann auch bald hinauf ins Jagdhaus? Er hat mich doch eingeladen! Uebrigens, weißt du … ich hab’ so was wie eine Ahnung. Gieb acht, Lo’, morgen kommt er …“
Lo’ befreite ihre Hand, und damit der Bruder die Erregung nicht sehen möchte, die sie zittern machte, ging sie hastig zum Fenster, das noch offen stand.
Verwundert sah Gustl zu ihr auf. „Aber Lo’?“
„Ich will nur das Fenster schließen. Die Nacht wird kühl …“ Ihre Stimme erlosch – draußen über der Hecke sah sie einen Menschen stehen, regungslos in dem trüben Dunkel. Ruhig schloß sie das Fenster und zog die Gardinen vor. –
Der auf der Straße draußen lachte leis und schob den Hut aus der Stirne. Mit den Armen über den Lauf der Büchse gelehnt, deren Kolben auf der Erde ruhte, blieb er stehen, bis der Lichtschein am Fenster erlosch. Dann eilte er durch das finstere Dorf hinauf, dem Gaisthal entgegen. –
Es ging auf elf Uhr, als Mazegger die Tillfußer Alm erreichte. Zitherklang, Gesang und Lachen tönte aus der Sennhütte. Das Jagdhaus stand noch mit hell erleuchteten Fenstern – – nur das Speisezimmer war dunkel. Und im Försterhäuschen wurde just die Lampe ausgeblasen.
Während Mazegger an der Sennhütte vorüberging, warf er einen gleichgültigen Blick in die offene Thüre, durch die es herausquoll wie roter Feuerdampf.
Das war ein lustiger Trubel in der Wirtsstube zum „verloffenen Lampl“! Cigarrenrauch und Staub, den die tanzlustigen Paare aufgewirbelt hatten, erfüllten den großen Raum. Ein mächtiges Feuer flackerte auf dem Herd, und über dem dichtbesetzten Tisch, in einem Mauerring, brannte eine Kienfackel. Einer der jungen Touristen spielte mit wenig Kunst, aber mit vielem Eifer die Zither, die anderen sangen und tranken, schwatzten und lachten – und nur eine einzige hielt sich abseits von diesem fidelen Spektakel: mit rotem Gesicht und gerunzelten Brauen stand Burgi am Herd und warf ein Scheit um das andere ins Feuer, als gält' es, eine Höllenlohe für eine dem Bratspieß verfallene Sünderseele anzuschüren. Sie trat nur zum Tisch, wenn sie ein leer gewordenes Glas wieder zu füllen hatte. Und dann mußte sie in den Keller hinunter, wo das Fäßlein mit dem roten „Spezial“ schon bedenklich hohl erklang. Was ihre grimmige Laune am meisten zu reizen schien, das war, daß sie den Weg in den Keller besonders häufig für den Praxmaler-Pepperl machen mußte. Der schien den Schwur der Nüchternheit, den er draußen beim Sebensee seinem Jagdherrn geleistet hatte, völlig vergessen zu haben. Zwei Liter hatte er schon hinuntergebissen in seine durstig aufgeregte Seele, und jetzt eben schrie er zum neuntenmal:
„He, Sennerin? Noch ein Viertele!“
Abgewandten Gesichtes stellte ihm Burgi den frisch gefüllten Schoppen hin. Doch während sie zum Herd ging, warf sie einen Wutblick über die Schulter – und nicht nur auf den Praxmaler-Pepperl. Die schlimmste Glut dieses Blickes galt der kleinen Französin, deren lustiges Lachgezwitscher die Stimmen all der anderen übertönte.
Zwischen Pepperl und Mam’zelle Fifi hatte sich die ungenierteste Freundschaft im Verlauf einer Stunde so flink und heiß entwickelt wie Dampf aus kochendem Wasser. Als die kleine Französin am Arm des Leibjägers die Sennhütte betreten hatte, war Pepperl mit finster brütenden Augen in einem Winkel gesessen und hatte sich gegen Fifis ersten Annäherungsversuch so scheu und unzugänglich verhalten wie ein junges Fohlen, dem man zum erstenmal das Geschirr um den Hals legen will. Aber war es die Wirkung des Weines, den er als reichlichen Seelentrost in sich hineingoß, oder war’s ein spöttisches Lächeln der Sennerin, ein bissiges Wort, das Burgi einem der Touristen über die Französin gerade so laut noch zuflüsterte, daß es Pepperl hören mußte – irgend etwas hatte im Praxmaler-Pepperl plötzlich einen psychologischen Wettersturz hervorgerufen und hatte ihn aus einem griesgrämigen Leimsieder in einen krakehlenden Don Juan verwandelt, dessen Schmeicheleien die kleine Französin in um so größere Begeisterung versetzten, je derber sie ausfielen. Dieser „echte Tiroler“, dieser „Typus der Rasse“ gefiel ihr immer besser mit jeder Minute. Sie ließ es, um ihn in Feuer zu bringen, an Avancen nicht fehlen – und Pepperl war nicht dumm: wenn sie ihm einen kleinen Finger reichte, nahm er immer gleich die ganze Hand, zum Gaudium der Französin und der ganzen lustigen Gesellschaft – die Sennerin ausgenommen. An diesem „Flirt“ – wie Jean, der Verschnürte mit den grünen Achselklappen, die koketten Manöver Fifis mit Weltbildung bezeichnete – beteiligten sich alle Mitglieder der Tafelrunde und spielten mit, wie die Zuschauer bei einer Hanswurstiade. Da Fifi kaum ein paar deutsche Worte, geschweige den tiroler Dialekt, und Pepperl kein Wort Französisch verstand, mußte bald der Leibjäger und bald wieder einer der jungen Touristen den Dolmetscher abgeben, wobei die drastischen Komplimente, welche Pepperl der Französin machte, mit lautem Halloh bei der Uebersetzung noch übertrieben wurden. Als Pepperl in seiner schwehlenden Weinlaune beteuerte: „Die g’fallt mir, die mag ich, ja!“ – begnügte sich Fifi nicht mit der Uebersetzung.
„Moi, je veux, qu'il me dise cela en français!“
„Was hat s’ g’sagt?“ fragte Pepperl.
Einer der Touristen übersetzte: „Sie will, du sollst ihr auf Französisch sagen, daß sie dir gefällt.“
„So?“ Pepperl studierte eine Weile, und dann fragte er zögernd: „Wie thät’ denn das nachher heißen auf Franzeesisch, wann ich ebba sagen möcht: du bist eine saubere, du … dich hab’ ich gern!“
Unter Gelächter sagte man’s dem Praxmaler-Pepperl ein paarmal vor: „Vous êtes très belle! Je vous aime!“
Und Pepperl plapperte nach: „Wussed treppell, schö wussem!“
Fifi klatschte vor Wonne in die Hände und zwitscherte ihr höchstes Lachen. Die Bewunderung, die sie für diesen superbe [315] colosse empfand, fing an ins Bedenkliche zu wachsen. Alles an ihm gefiel ihr, aber ihr ganz besonderes Entzücken erregten seine „Kreuzerschneckerln“.
„Regardez, Jean, quels jolis cheveux il a! Ils ont l’air de s’amuser beaucoup!“
„Was hat s’ g’sagt?“ fragte Pepperl mit etwas gereizter Neugier. „Daß deine Schneckerln so lustig ausschauen … sie meint, die müssen sich gut unterhalten.“
Fifi kicherte vor Vergnügen über das sonderbar erstaunte Gesicht, das der Jäger zu dieser Verdeutschung machte – und als müßte sie dem Wohlgefallen, das sie an diesen „lustigen“ Haaren fand, noch deutlicheren Ausdruck geben, sprang sie auf, faßte den Praxmaler-Pepperl über den Tisch hinüber am Kopf und wühlte mit ihren winzigen Spinnenhänden in diesem Wust von blonden Locken wie ein Geiziger in seinem Gold.
Alles lachte – nur drüben am Herd empörte sich die Sennerin und zischelte vor sich hin: „So ein ausg’schaamts Frauenzimmer! Die erlaubt sich ein bißl gar z’ viel! Das muß ich schon sagen!“ Und ein Scheit flog ins Feuer, daß die Funken aufstoben.
„Comme il me plait! Ah! Ah! Qu'il me plait bien!“ zwitscherte Fifi. „Mais! Mais! Attention!“ Gestikulierend suchte sie das Gelächter der anderen zu beschwichtigen. „Je veux lui dire ça en allemand! Comment cela ce dit-il en tyrolien, tu me plais, tu es un joli garçon, toi?“
„Ruhe! Ruhe! Jetzt will sie deutsch mit ihm reden!“ verkündete der Dolmetsch. „Sie will wissen, wie das auf ‚tirolerisch‘ heißt: du gefällst mir, du bist ein hübscher Junge! … das muß ihr ganz echt gesagt werden! Also …“
Unter fideler Spannung der ganzen Tafelrunde sprach ihr einer der Touristen im breitesten Tirolerdialekt den Satz vor: „Du g’follscht ma, bischt a liaba Bua!“
Fifi versuchte die bleischweren Laute nachzuschwatzen, aber was auf ihrem leichten Zünglein daraus wurde, das hörte sich so drollig an, daß die ganze Gesellschaft in schallendes Gelächter ausbrach. Sogar die Sennerin lachte – aber das war ein Lachen, so grell und mißtönig wie der Klang einer springenden Saite.
Den Praxmaler-Pepperl schien diese Liebeserklärung der Französin – oder etwas anderes – um den letzten Rest seiner Zurückhaltung gebracht zu haben. Er stieß einen gellenden Jauchzer aus, griff mit beiden Armen zu, und wie man einen Knödel aus der Suppe sticht, hob er das kleine Persönchen über den Tisch herüber an seine Seite. „Sie, jetzt spielen S’ ein’ auf, ein’ rassigen!“ schrie er dem Zitherspieler zu. „Jetzt wird einer ’tanzt mit meiner Franzeesin! Ein g’sunder!“ Wieder jauchzte er und schwang seinen Hut dazu.
Mit schwirrenden Klängen fiel die Zither ein. Zwei der jungen Touristen faßten die beiden als Dirndln kostümierten Mädchen um die Hüfte, und Jean, der nicht leer ausgehen wollte, machte den Versuch, die Sennerin zum Tanz zu holen. Doch wortlos drehte ihm Burgi den Rücken, während Pepperl dem Verschnürten mit höhnischer Freude zurief: „Sie! Die lassen S’ in Ruh’! Die is der Rühr-mi-net-an! Die hat ein’ Heimlichen, wissen S’! Wann die ein’ andern anschaut, wird er wild, der Heimliche, und sie darf ihm die schecketen Jagdküh’ nimmer melchen … juhuuu!“ Das war ein Jauchzer, dessen scharfer Klang wie ein Dolch in alle Ohren fuhr – und mit einem Luftsprung, wie ein Tollgewordener, trat Pepperl an der Hand „seiner Franzeesin“ zum Schuhplattler an.
Burgi stand bleich am Herd und starrte ins Feuer.
Aber auch Fifis Gezwitscher war verstummt, und einen Augenblick schien es, als bekäme sie Angst vor diesem superbe colosse, der ihre Hand umklammert hielt wie mit eisernem Schraubstock und das kleine Persönchen im Kreise wirbelte, daß ihre Röcke flogen wie ein sausendes Rad. Dann aber lachte sie wieder, blitzte ihn mit ihren schwarzen Augen an, und flink hatte sie es den beiden anderen Mädchen abgeguckt, wie sie sich, mit beiden Händen die Röcke niederhaltend, vor ihrem Tänzer drehen, wiegen und wenden mußte, um den Sinn dieses urwüchsigen Naturtanzes zum Ausdruck zu bringen: dieses Entfliehen und Sich-haschen-lassen, dieses Versagen und Gewähren einer Gunst, um die der Tänzer wirbt.
Mit einem Jauchzer, daß die Stubendecke dröhnte, umkreiste Pepperl die sich wirbelnde Tänzerin und begann ein Schlagen und Springen, ein Blasen und „Schnackeln“ wie ein liebes- und frühlingstrunkener Spielhahn. Er „plattelte“, als wollte er seine Schuhe und Kniee zu Scherben klopfen, schlug Räder und Purzelbäume, schnellte im Aufsprung die Fußspitze bis zur Stubendecke und schwang, als die Zither schwieg, mit gellendem Juhschrei seine Tänzerin durch die Luft wie eine Feder.
Die beiden anderen Paare, auch Jean und der Zitherspieler, schrieen Bravo und applaudierten. Und Fifi, als sie mit den zappelnden Füßchen wieder zu Boden kam, schaute glühend und staunend an ihrem Tänzer hinauf und pisperte mit ihrem atemlosen Stimmchen: „Bigre, tu as de la race, toi!“ Mit beiden Händen haschte sie ihn am Schnurrbart, zog ihn zu sich nieder, hob sich auf die Fußspitzen und drückte ihm einen Kuß auf die Lippen. Dann huschte sie kichernd zur Stube hinaus.
Die Touristen machten dazu einen fidelen Spektakel und klatschten Beifall, während Jean der kleinen Französin ein wenig indigniert und mit der Bemerkung folgte: „Die ist ja rein wie verrückt, die kleine Katze!“ Er fand sie draußen, wie sie vor Lachen kaum Atem und Worte hatte. Und als sie sich in seinen Arm einhängte, um sich zum Jagdhaus hinaufführen zu lassen, meinte sie, das wäre die richtige Hetz’ gewesen, wie sich’s gehört für die Sommerfrische … „la vraie bêtise de campagne!“
Auch Pepperl lachte. Aber es schien, als wäre ihm dabei nicht besonders wohl zu Mut. Sein Gesicht brannte wie Feuer. Er mußte sich abkühlen und schrie der Wirtin zum „verloffenen Lampl“ mit heiserer Stimme zu: „He, Sennerin, noch ein Viertele!“
Wortlos, mit zitternder Hand, nahm Burgi das Glas vom Tisch und ging in den Keller. Schwer seufzend öffnete sie den Hahn am Faß, und während das dünne rote Brünnlein niederplätscherte in das Glas, tröpfelten ihr die dicken Zähren über die Wangen – und eine dieser Thränen fiel in den Rotwein. Wie in Wut über sich selbst fuhr sie mit der Faust über die Augen und biß die Zähne übereinander.
Als sie hinaufkam in die Stube, packte der Zitherspieler sein Instrument in den Rucksack, und die jungen Leute, denen der Wein ein wenig in den Köpfen wirbelte, schickten sich an, ihr Nachtlager auf dem Heu zu suchen. Unter Späßen, die der späten Stunde entsprachen, sagten sie der schweigsamen Sennerin Gute Nacht, stiegen mit Schwatzen und Gekicher über eine Leiter zum Heuboden hinauf und ließen an der Stubendecke die Klappe hinter sich zufallen.
Burgi und Pepperl waren allein. Ueber ihren Köpfen pumperte die Decke, und man hörte gedämpft die lachenden Stimmen der Heugäste, die es mit Schlaf und Ruhe nicht eilig hatten.
Unter schwülem Schweigen räumte Burgi den Tisch ab, so daß nur das letzte „Viertele“ des Praxmaler-Pepperl noch stehen blieb. Der suchte mit zitternden Händen aus seinem schweinsledernen Ziehbeutel das Geld für die zehn Schoppen heraus und legte die Münzen schön geordnet in Reih’ und Glied auf den Tisch. „So! … Da is mein’ Schuldigkeit!“
Er packte das Glas und stürzte den Wein hinunter – das ganze „Viertele“ mitsamt der bitteren Thräne, die hineingefallen, das war nur ein einziger Schluck. Dann stülpte er den Hut über die Kreuzerschneckerln, blies die heißen Backen auf, und ohne die Sennerin noch eines Blickes zu würdigen, wollte er zur Thüre.
Aber wie die strafende Gerechtigkeit den Verbrecher faßt, mit so jähem Sprung verlegte ihm Burgi den Weg.
Pepperl wurde bleich, und während sie so voreinander standen, sich messend mit finsteren Blicken, schienen sie alle beide zu ahnen, daß es jetzt ein Unglück geben würde.
Vor Aufregung klang die Stimme des Mädchens ganz verändert: „Wart’ ein bißl, du Moralischer, du! Mit dir muß ich noch was reden!“
„Du? Mit mir?“
„Ja! Ich! Mit dir!“
„Haha!“ Pepperl versuchte so von oben herab einen Ton anzuschlagen, der ihm nicht ganz gelang. „Wir zwei haben ausg’red’t miteinander! Und wenn schon meinst, du mußt mir was sagen, so such’ dir ein’ andere Zeit dafür aus! Heut’ weiß ich mir was bessers!“
Stolz machte er einen Schritt zur Thüre; doch Burgi war flinker, stieß den Riegel vor und nahm eine so kühne Fechterstellung ein, als wollte sie sagen: „Jetzt probier’, ob d’ ’nauskommst!“
[316] Das ging dem Praxmaler-Pepperl über die geduldige Leber, und er fuhr auf, mit zornrotem Gesicht: „Du! Solchene Sachen verbitt’ ich mir fein!“ Er fand auch gleich für diesen Gewaltstreich das richtige Advokatenwort: „Die berseenliche Freiheit laß ich mir net beschränken!“
„G’hören thät’s dir aber, daß man dich einsperren thät’!“ fiel Burgi mit heißer Erregung ein. „So ein’, wie du bist, sollt’ man ja doch net freilings laufen lassen! Dir g’höret ein Halsbandl, dir!“
„Natürlich, mit ein’ Schnürl dran … daß du mich führen könnt’st! Aber gelt! Mich laß in Ruh’! Führ’du dein’ Schwarzlackierten spazieren … den mit die seidenen Höserln!“
„Du … du …“ Sie ballte die Fäuste und brachte nur mühsam die Worte heraus. „Ueber den … da sag’ mir fein nix mehr … du!“
„Dir sag’ ich noch viel!“
„Mein’twegen, ja! Aber gelt? Mit deiner Tugendhäftigkeit, da kannst mich auslassen, du! Und mit die Gomorringer! Denn die wann ausrucken, bist du als Korporal dabei.“
„Wer weiß, ’leicht awanzier’ ich gar noch zum Leutnant!“
„Ja, da hast recht! Du bringst es noch weit! Heut’ hab’ ich dich ausstudiert, du scheinheilig's Brüderl, du! Jetzt kenn’ ich dich, weißt! Denn so, wie du heut’, hat sich ja doch net bald einer aufg’führt!“
„Natürlich, ich hab’ halt was g’lernt von dir!“ erklärte Pepperl mit höhnischem Gelächter. „Schlechte Beispieler, weißt, verderben halt gute Sitten!“
„Verderben? So? Verderben?“ keuchte Burgi, als hätte ihr dieses Argument einen Stoß ins Leben versetzt. „An dir is noch was zum verderben? Meinst? Ja, kann schon sein … aber da bist in der richtigen Schul’ … bei der! So eine, freilich … die wachst net bei uns … die muß extra aus’m Frankreich kommen! Wie’s die versteht! Ah! Ah! Pfui Teufel! Und net einmal Deutsch kann s’, die!“
„Macht nix! Ihr Bussel, das hab’ ich schon gut verstanden!“
„So? Hast es verstanden?“ höhnte Burgi, während ihr die Thränen in die Augen sprangen. „Gut verstanden? So?“
„Ja! Und sie haben was Extrigs, die franzeesischen Busseln … da muß ich schon schauen heut’, daß ich noch eins derwisch …. drum geh’ von der Thür weg, sag’ ich, und laß mich ’naus!“
„So? ’Naus thätst mögen? ’Naus?“ Sie retirierte einen Schritt und machte die Ellbogen breit, um den Riegel zu decken. „Fensterln? Bei der? Das thät’ dir halt taugen, dir? Gelt?“
„Und wie! Es taugt ja dir auch net schlecht, wenn der ander kommt: Main scheenes Gindd!“
„Und du: Schö wussem, schö wussem …“
„Schö wussem, ja,“ schrie Pepperl mit erloschener Stimme, „schö wussem … noch tausendmal sag’ ich’s ihr heut’!“ Er machte einen drohenden Schritt. „Von der Thür geh’ weg!“
„Ich mag net! Na!“ Und während ihre Augen immer größer wurden, stemmte sie sich mit dem Rücken gegen die Bretter.
„Gehst weg oder net?“
Sie starrte ihn an, regungslos, mit einem Gesicht, das wie versteinert schien. Je bleicher sie wurde, desto dunkler stieg dem Praxmaler-Pepperl das Blut in die Stirn. „Geh weg, sag’ ich … zum letztenmal!“ Aber sie rührte sich nicht.
Da riß ihm die Geduld. Er machte einen Sprung zur Thür und versuchte Burgi mit dem Ellbogen beiseite zu schieben. Aber sie klammerte sich an den Riegel, als hinge ihre Seligkeit an diesem Stücklein Holz. Pepperl tauchte mit der Schulter an und schob und drückte, bis er den Riegel zur Hälfte frei bekam. Nun riß er ihn auf, und schon klaffte die Thür um einen handbreiten Spalt – aber als gält’ es jetzt einen Kampf auf Leben und Tod, so warf sich Burgi dem Feind entgegen, packte ihn mit der einen Hand an der Brust, mit der anderen an der Kehle, und suchte ihn mit verzweifelter Kraft von der Thüre wegzureißen. Und wirklich, Pepperl war von diesem jähen Ueberfall so völlig überrascht, daß er schon bis in die Mitte der Stube gezogen war, bevor er noch recht an Widerstand denken konnte. Aber jetzt erwachte die Wut in ihm. Mit Zucken und Zerren versuchte er sich freizumachen und wurde grob dabei. Doch Burgi hielt ihn mit den Armen umklammert, ihre letzte Kraft erschöpfend, und ließ ihn nicht los. Da begannen sie ein Ringen, wortlos und keuchend. Als wären ihre Körper festgewachsen aneinander, so bogen und krümmten sie sich – –
Dann plötzlich – als hätte ein Zauber ihre Kräfte gelähmt – standen sie regungslos, alle beide. Sie hielten sich mit den Armen noch umschlungen wie im Ringen – aber sie sahen sich an, bleich und erschrocken, Aug’ in Auge, mit einem Blick, der in die Herzen tauchte. Sie wollten sprechen, aber sie lallten nur – und eines schloß dem anderen die Lippen mit brennendem Kuß.
Die Stubendecke pumperte über ihren Köpfen, und eine Lachsalve nach der anderen prasselte dort oben im Heu.
Aber die beiden hörten es nicht. Sie waren auf die Herdbank niedergesunken, hielten sich mit den Armen umschlossen und wurden nicht satt an ihren Küssen. Nur einmal, scheu, hob Burgi das Gesicht und flüsterte: „Pepperl …“
„Ja, mein Schatzerl?“
„Neulich, weißt … da hat er mich busseln wollen … und … da hab’ ich ihm eine ’runterliniert!“
„Geh? Is wahr?“ Dieses Bekenntnis rührte ihn fast zu Thränen, als hätte sie ihm ihre Liebe besser nicht beweisen können als durch das „Zähntweh“ des Kammerdieners. „Geh? Is wahr! Na! So ein guts Madl wie du bist – so ein gut’s giebt’s nimmer auf der Welt! … Aber gelt? Das einschichtig Bussel von der andern da … das thust mir schon auch net verübeln?“
„Aber g’wiß net! G’wiß! Wir müssen noch froh sein, daß ’s bloß ein einzig’s war! Und sie hat’s ja dir ’geben … da kannst ja du nix dafür!“
„Ja, da hast recht!“ Dankbar zog er sie an seine Brust, und nun saßen sie wieder schweigsam und hielten sich fest umschlungen.
Droben auf dem Heuboden schien der übermütigen Gesellschaft allmählich der Schlaf zu kommen. Nur ein paarmal hörte man noch ein leises Gekicher, das sich in lautlose Stille löste.
Die Kienfackel an der Wand war schon erloschen; der Stumpf aber glühte noch und winzige Funken fielen von ihm zu Boden. Kleiner und kleiner wurde das Feuer auf dem Herd. Doch bevor es in stille Glut versank, züngelte knisternd noch ein letztes bläuliches Flämmlein auf.
(Fortsetzung folgt.)
Die Ursachen der Bergkrankheit.
In unserm Jahrhundert wurde das früher gemiedene Hochgebirge für die Menschheit erschlossen. Alljährlich wandern Tausende und aber Tausende zu ihm hinauf, um in der frischen Bergluft zu gesunden, beim Erklimmen der Höhen ihre Kraft zu stählen und Eindrücke, die den Geist erheben, zu genießen. Wie schön und nützlich aber der Alpinismus auch ist, er bringt dennoch Gefahren mit sich; alljährlich hört man von Unfällen im Hochgebirge, die zur Vorsicht mahnen, und auch über den Einfluß des Aufenthalts in den höchsten uns zugänglichen Bergregionen auf die Gesundheit des Menschen ist noch keineswegs eine klare Anschauung erlangt worden.
Wer 3000 m über den Meeresspiegel und höher hinaufsteigt, der versetzt sich allmählich in ungewöhnliche Lebensbedingungen. In diesen Höhen atmet er eine dünnere Luft und bemerkt je nach seiner Veranlagung früher oder später, daß seine Muskeln, seine Lungen und sein Herz anders arbeiten als in den tiefer gelegenen, von Menschen ständig bewohnten Gegenden. Unter Umständen nehmen die Störungen in den Lebensfunktionen des Bergsteigers zu und beeinträchtigen sein Wohlbefinden. Es stellt sich bei ihm die sogenannte Bergkrankheit ein, die zumeist in Herzklopfen und Atemnot, Uebelkeit und Erbrechen, Verfall der Körperkräfte bis zur Unfähigkeit, sich zu bewegen, bläulicher Färbung der Haut, Ohrensausen, Verdunkelung des Sehens und in Ohnmachtsanfällen besteht. Das eigenartige Leiden befällt nicht gleichmäßig alle Menschen; Kälte, Ermüdung, Aufregung und Furcht beschleunigen seinen Ausbruch; manche Bergsteiger erholen sich leicht und rasch von dem Anfall, andere wieder leiden dauernd in einer bestimmten Höhe. Alle diese Erscheinungen weisen darauf hin, daß die Bergsteiger sich der Grenze nähern, welche nach der Höhe hin dem menschlichen Leben gezogen ist. Die Bergkrankheit hat schon vor hundert Jahren Naturforscher wie Saussure und Alexander von Humboldt lebhaft beschäftigt, es ist aber bis heute nicht gelungen, ihre Ursachen völlig zu ergründen und Mittel zur wirksamen Bekämpfung des Leidens zu finden.
Einen sehr beachtenswerten Beitrag zur Erforschung der so rätselhaften Einwirkung der Höhenluft auf den Menschen hat neuerdings Angelo Mosso, Professor der Physiologie an der Universität in Turin, geliefert. Im Jahre 1894 unternahm er in Begleitung von zwei Aerzten und zehn Soldaten sowie den nötigen Führern eine Expedition auf den
[317][318] Monte Rosa, um in der Hütte „Königin Margherita“ auf der Spitze Gnifetti, in der Höhe von 4560 m über dem Meere, mit Hilfe der nötigen Apparate physiologische Beobachtungen anzustellen. Die reichen Ergebnisse dieser Arbeiten hat er in dem Werke „Der Mensch auf den Hochalpen“ niedergelegt, das vor kurzem in deutscher Uebersetzung von Dr. F. Kiesow (Verlag von Veit u. Co., Leipzig) erschienen ist. Das mit zahlreichen Figuren, Ansichten und Tabellen ausgestattete Buch verdient nicht nur das Interesse der Alpinisten, sondern bietet auch jedem, der sich für die Lebenserscheinungen des menschlichen Körpers interessiert, eine Fülle neuer Mitteilungen. Mosso giebt uns Auskunft über die Bethätigung der Muskelkraft auf großen Höhen, über den Kreislauf des Blutes und die Ermüdung des Herzens in der verdünnten Luft. Sehr eingehend prüft er die Wirkung der Bergluft auf das Nervensystem, untersucht die Beschaffenheit des Schlafes bei Bergbesteigungen und den Einfluß des Lichtes auf den Menschen in bedeutenden Höhen der Alpen. Er gedenkt auch der Unfälle, welche durch eine hochgradige Ermüdung und durch nervöse Erschöpfung herbeigeführt werden, vor allem aber sucht er für die Erscheinungen der Bergkrankheit eine befriedigende Erklärung zu finden. Auf Grund seiner Beobachtungen sieht er sich berechtigt, an Stelle der früheren eine neue Anschauung zu setzen.
Die meisten Forscher haben bis jetzt angenommen, daß der Mangel an Sauerstoff in der verdünnten Luft die lästigen und mit zunehmender Höhe lebensgefährlichen Erscheinungen hervorrufe. Mosso behauptet dagegen, daß die Abnahme der Sauerstoffmenge nicht allein entscheidend sei, daß vielmehr unser Blut in der verdünnten Luft zu viel Kohlensäure verliere und dieser Umstand die Hauptursache der Bergkrankheit bilde. Seiner Ansicht nach muß das menschliche Blut einen gewissen Gehalt an Kohlensäure besitzen, damit der Körper normal funktioniere, vor allem die Atmung und der Herzschlag sich kräftig entwickeln. Tritt eine übermäßige Anhäufung dieses Gases im Blute ein, so wirkt dieselbe schädlich und lebensgefährlich; es handelt sich dann um den Zustand, den man längst als Erstickung kennt. Aehnlich soll auch eine übermäßige Verminderung des Kohlensäuregehaltes im Blute die Lebensfunktionen stören; die Folgen dieser Verminderung beobachtet man nun bei Bergsteigern und Luftschiffern in großen Höhen und bei Leuten, die in eigens dazu gebauten pneumatischen Kammern der Einwirkung einer durch Luftpumpen verdünnten Luft ausgesetzt werden.
Für die Richtigkeit der Auffassung Mossos sprechen verschiedene Thatsachen. Es ist zunächst bekannt, daß Stoffe, die Kohlensäure enthalten, durch Verminderung des Luftdruckes zersetzt werden. Legt man z. B. in eine gesättigte Lösung von doppeltkohlensaurem Natron einige Krystalle dieser Substanz und setzt das Ganze alsdann unter die Glocke einer Luftpumpe, so sieht man auch bei einem der Höhe des Monte Rosa oder dem des Montblanc entsprechenden Luftdruck, wie sich Kohlensäure entwickelt. Die Gasbläschen lösen sich in Menge von den Krystallen ab und steigen auf, solange die Herabsetzung des Barometerdruckes andauert. Es können also durch einen niedrigen Luftdruck kohlensaure Verbindungen auch in unseren Körpersäften zersetzt werden.
Ferner wissen wir, daß unser Blut flüchtige Stoffe in der verdünnten Luft leichter ausscheidet als in der normalen. Seit längerer Zeit kennt man die Thatsache, daß der Wein aus den Alpen an Berauschungskraft verliert. Das hat darin seinen Grund, daß ein Teil des genossenen Alkohols durch die Lunge ausgeschieden wird. Versuche im Laboratorium haben nun gezeigt, daß die Lunge in verdünnter Luft reichlicher Alkohol ausscheidet als beim gewöhnlichen Luftdrucke. Schon eine Luftverdünnung, die einer Höhe von nur 2000 m entspricht, ist auf diesen Vorgang von wesentlichem Einfluß. In derselben Weise ändert sich die Wirkung des Chloroforms bei Abnahme des Luftdruckes. So ist es auch wohl möglich, daß in der verdünnten Luft der Hochalpen ein übermäßiges Entweichen der Kohlensäure aus dem Blute stattfindet.
Unter den weiteren Beweisen für die Richtigkeit seiner Anschauung führt Mosso noch folgende an:
Die Bergkrankheit tritt auch in der Nacht während des Ruhezustandes auf. Es kommt auf hohen Bergen häufig vor, daß jemand, der sich beim Zubettgehen noch ganz wohl befunden, in der Nacht plötzlich mit Unwohlsein oder mit einem Druck auf der Brust und mit Atembeschwerden aus dem Schlafe erwacht. Bergreisende in allen Weltgegenden haben darüber geklagt. So schrieb Frau Hervey, die auf ihrer berühmten Reise durch Centralasien eine Höhe von 5700 m erreicht hatte: „Der Kopfschmerz war stärker als gewöhnlich, ich litt an einem schrecklichen Druck auf der Brust. Vor allem war die Nacht wegen schmerzhafter Atembeschwerden und Herzklopfen peinlich. Ich konnte kaum eine Stunde lang ununterbrochen schlafen, dann mußte ich mich auf das Bett setzen, weil ich liegend nicht atmen konnte.“ Aehnlich berichtet Poeppig über den Zustand, in dem er sich zu Cerro de Pasco in Südamerika (4350 m hoch) befand, daß die Nacht ein wahres Martyrium sei, weil man das Liegen nicht vertragen könne. Diese Beschwerden können nicht ohne weiteres durch den Mangel an Sauerstoff in der verdünnten Luft erklärt werden; denn das Sauerstoffbedürfnis wird im ruhenden Zustande und während des Schlafes vermindert. Auch der Bruder Angelo Mossos, Professor der Pharmakologie in Genua, litt während des Aufenthaltes in der Hütte „Margherita“ an diesen nächtlichen Anfällen, und bei dieser Gelegenheit fand Mosso, daß die Beschwerden sich linderten, sobald der Bergkranke aufstand und einige Bewegungen ausführte. Durch diese Thätigkeit wurde aber von den Muskeln Kohlensäure erzeugt und dem Blute zugeführt.
Schließlich hat Mosso im Laboratorium an sich selbst und an anderen in einer pneumatischen Kammer Versuche angestellt und gefunden, daß man sich in der verdünnten Luft wohler befinde, wenn dieselbe nicht allein verhältnismäßig reicher an Sauerstoff, sondern auch an Kohlensäure sei. So vertrug er selbst ohne Beschwerden einen Luftdruck von nur 192 mm, der einer Höhe von 11650 m über dem Meere entspricht, in einer Luft, die 29,18% Sauerstoff und 2,1% Kohlensäure enthielt, während in der normalen Luft etwa 20% Sauerstoff und nur 0,04% Kohlensäure enthalten sind.
Für den Mangel an Kohlensäure im Blute hat Mosso als wissenschaftliche Bezeichnung das aus dem Griechischen hergeleitete Wort „Akapnie“ gewählt. Sie wird sicher noch den Gegenstand weiterer Forschungen bilden, so daß in naher Zukunft über die wahren Ursachen der Bergkrankheit ein immer klareres Licht verbreitet werden wird. M. Hagenau.
Emilie Uhland.
Am 13. November 1862 ist Ludwig Uhland in Tübingen, wo er geboren war und seit 1830 wieder gelebt hatte, im sechsundsiebzigsten Lebensjahre gestorben. Seine Witwe zog 1871 nach Stuttgart, der Stätte ihrer Jugend, und folgte dem Gatten, 82 Jahre alt, am 5. Juni 1881 im Tode nach.
Emilie Vischer war in dem gewerbsamen Schwarzwaldstädtchen Calw am 15. Mai 1799 geboren als die Tochter des wohlhabenden Vorstehers der dortigen Floßhandelsgesellschaft, Johann Martin Vischer, und der Emilie, geborenen Feuerlein, die einer angesehenen württembergischen Beamtenfamilie angehörte. Der Vater starb frühe und die Mutter schloß einen zweiten Ehebund mit dem Hofrat Pistorius in Stuttgart, in dessen Haus „Emma“ – wie für die Familie, hernach auch für Uhland, Emilie stets geheißen hat – mit zahlreichen Geschwistern eine glückliche Kindheit verlebte. Schon 1816 schied auch die vortreffliche Mutter, deren Gedächtnis Friedrich Rückert (damals Redakteur des Cottaschen Morgenblattes in Stuttgart) seinen schönen Sonettenkranz „Rosen auf das Grab einer edlen Frau“ gewidmet hat. Bereits war durch den Juristen Roser, der Emmas ältere Schwester 1814 geheiratet, der junge Advokat Ludwig Uhland in das Pistorius’sche Haus eingeführt und hatte die lieblich aufblühende jüngere Tochter ins Herz geschlossen; er glaubte aber, in den politischen Kämpfen der unruhigen Zeit und dem lange erfolglosen Ringen um eine befriedigende Stellung im Leben, seine tiefe Neigung in sich verschließen zu müssen, das geliebte Wesen erst an ihrem zwanzigsten Geburtstag, 15. Mai 1819, von ihrer „schwebenden Pein“ befreien zu dürfen durch jenes Lied mit den seitdem viel tausendmal von Unzähligen wiederholten Worten:
„Auf eines Berges Gipfel,
Da möcht’ ich mit dir stehn,
Auf Thäler, Waldeswipfel
Mit dir herniedersehn;
Da möcht’ ich rings dir zeigen
Die Welt im Frühlingsschein,
Und sprechen: wär’s mein eigen,
So wär’ es mein und dein!“
Endlich am 16. Januar 1820 wurde der stille Bund der Herzen öffentlich ausgesprochen und am 29. Mai desselben Jahres in Stuttgart Hochzeit gehalten, der Beginn einer vollkommen glücklichen, durch nichts als das Fehlen eigener Kinder getrübten Ehe von 42jährigem Bestand. Es sind wenige mehr, die noch aus der guten Zeit der edlen Frau, den Tübinger Jahren – denn die Stuttgarter waren bald durch Abnahme der Kräfte getrübt –, deutliche Erinnerungen an sie haben. Das Bild, das sie in sich tragen, ist das der ernsten, würdevollen Hausherrin, die man zu den wenig nahbaren Verstandesnaturen zu zählen geneigt sein mochte, die man aber mit ihrer tiefgründigen Bildung und ersichtlichen aufopfernden Hingebung an den Gatten als die des allverehrten Mannes vollkommen würdige Frau hochschätzen mußte.
Als wenige Jahre nach des Dichters Tod die Schrift „Ludwig Uhland. Eine Gabe für Freunde. Zum 26. April 1865. Als Handschrift gedruckt (Stuttgart, Cotta)“ verteilt wurde und dann im Buchhandel als „Ludwig Uhlands Leben. Aus dessen Nachlaß und aus eigener Erinnerung zusammengestellt von seiner Witwe [319] (Stuttgart, Cotta 1874)“ erschien, hat mancher gefragt, ob denn die Frau dieses vortrefflich geschriebene, nach Inhalt, Anordnung und Form ausgezeichnete Buch allein, ohne die Beihilfe eines im Bücherschreiben Geübten, verfaßt habe. Die ihre Briefe kannten, hatten keinen Grund es zu bezweifeln. Heute können wir es öffentlich beweisen, da uns vergönnt ist, aus einem von Emilie Uhland durch dreißig Jahre geführten Tagebuch Mitteilungen zu machen, die gleich sehr die verehrungswürdige Schreiberin, wie ihren Gatten und eine mit ihm durchlebte, von ihr beschriebene bedeutsame Zeit, die Jahre 1848 und 1849, zu kennzeichnen geeignet sind. –
1848. März 6. Welche Zeit der Aufregung! Wenn mein Uhland in der Adresse, zu der er aufgefordert wurde, sagt: ein Sturm ist in unsere Zeit gefahren, so ist dies wahr bis in das Innerste unseres stillen Hauswesens. Wie ist er, der sonst so gerne sich in seine Studien vertieft, nun hingenommen durch die gewaltigen Zeitverhältnisse! Menschen und Dinge dringen auf ihn ein und ziehen ihn aufs neue in die Kreise des öffentlichen Lebens. Geht es doch auch mir kaum anders, freilich leisten kann ich nichts, aber erregt und hingenommen durch die sich stündlich drängenden Ereignisse bin auch ich.
8. Freund Pfizer (Paul Pfizer, 1801–67) war heute bei uns, um sich mit Uhland darüber zu berathen, ob sie in die Kammer treten müssen. Staffette, daß er mit Duvernoy (1802 bis 1890) ins Ministerium treten soll. (Märzministerium: Römer, Duvernoy, Goppelt etc. – abgetreten 28. Oktober 1849.)
19. Der König hat meinen Mann zu sich beschieden und ihn beauftragt, in Frankfurt beim Bundestage mit zu berathen. Das hätte er sich nicht gedacht, als er ihn vor 15 Jahren in Ungnade entlassen hat, daß er ihm einst noch danken werde, daß er eine Sendung von ihm übernehmen wolle. Mein guter Mann, der sich so gern in seine Studien vertieft hat, wird nun so ganz gegen seine Neigung wieder in die politische Laufbahn gezogen. Er dauert mich, ich bin aber auch überzeugt, daß er sich nicht entziehen darf …
1. April. Trotz der jungen Gäste, die mir die Trennung von Uhland (der am 27. März nach Frankfurt abgereist ist) erleichtern, ist mir doch oft recht schwer zu Muthe. Kann es ihnen gelingen, den vereinten Männern in Frankfurt, ein freies einiges Deutschland aufzubauen … ? Ich fürchte mehr als ich hoffe.
19. Seit 8 Tagen bin auch ich in Frankfurt. Ich war recht innig froh, als Uhland mich zu sich beschied, denn so schwer wie diesmal wurde mir die Trennung von ihm noch nie. Wenn er sonst allein auf Reisen war, wußte ich ihn zufrieden im Verfolgen seiner friedlichen litterarischen Zwecke, und das tröstete mich; dießmal aber wußte ich ihn im Streit und Drang des öffentlichen Lebens, da verlangte mich bei ihm zu sein. Nachdem wir hier in Frankfurt noch einige Tage bei Frau Mappes gewohnt hatten, haben wir eine kleine Mietswohnung (Kleine Hochstraße 6) bezogen. Es ist dabei nicht ganz ohne Selbstüberwindung von meiner Seite abgegangen. Ich hätte eine in einer lebhafteren Straße und mit etwas eleganterer Einrichtung vorgezogen, Uhland dagegen wünschte mehr die jetzt bezogene, da er sich nach Stille sehnte; auch ist ihm der Mangel aller Eleganz nicht fühlbar, da er für den äußeren Schein gar keinen Sinn hat. So geht es auch mit dem Mittagstisch. In der Regel essen wir bei einem Restaurateur, nun ist es wahr, alles ist gut und auch anständig dort, doch regt sich immer wieder der Hochmuthsgeist in mir, ob auch der Ort für mich passe? Im Gasthof essen mag Uhland nicht, zu Hause allein essen mag ich nicht, so gehe ich denn eben mit ihm in die Restauration und dämpfe die Menschenfurcht in mir, die immer fragen will: Qu’en dira-t-on? Den Verhandlungen der Fünfziger anzuwohnen ist mir sehr interessant. Ich sähe meinen Mann lieber unter ihnen sitzen, als im Bundespalais, obgleich Uhland immer mehr den Muth gewinnt, daß sein Dortsein nicht ohne Einfluß sei. Wie sich alles noch gestalten wird? Die neue Zeit will mir immer noch wie ein Traum erscheinen. Daß Männer aus dem Volk und nicht die alten Machthaber die Staatszügel führen sollen, ist für uns lenksame Deutsche eine so neue Erscheinung!
28. April. Badische Revolution. Ich habe dießmal den Geburtstag meines Mannes mit banger Seele gefeiert, wie wird das nächste Jahr uns finden? In den letzten Tagen waren die Parlamentswahlen, ist wohl Uhland gewählt? (Er war es, für Tübingen und die Nachbarbezirke, fast einstimmig.) Welche ernste Aufgabe liegt vor ihm, und doch darf er sich ihr nicht entziehen, das weiß ich wohl.
19. Mai. Gestern war die Eröffnung des Parlaments. Es war mir recht feierlich zu Muthe, als ich die Männer unter dem Geläute der Glocken vom Römer in die Paulskirche ziehen sah, meinen Uhland unter ihnen. Dann aber gleich das kleinliche Gezänke um Geschäftsformen. Tief sank da mein Muth. Arme Männer, denen es ein heiliger Ernst ist, wie viele Geduld werdet ihr üben müssen all dem vorlauten Geschwätze gegenüber!
3. Juni. Unser Freund Pfizer ist in schweren Tiefsinn versunken. (Mußte aus dem Parlament und Ministerium austreten.)
22. Juni. Ich werde durch die verschiedenen Reden – Wahl eines Reichsverwesers – hin und her gezogen in meinem Sinn und kann mir keine feste Ansicht bilden. Oft möchte ich Uhland und mich hinwegwünschen in unseren friedlichen Garten, in anderen Augenblicken bin ich wieder freudig und stolz, daß er in der Versammlung sitzt, ja ich bin zufrieden, daß er dort nicht mehr an der Spitze der Berathung steht, daß sein bescheidener Sinn sich zurückzieht und keinen Einfluß auf andere sucht.
29. Erzherzog Johann gewählt. Es war mir schmerzlich, daß Uhland nicht für ihn gestimmt hat. Doch weiß ich ja, daß die redlichste Ueberzeugung ihn bei seiner Abstimmung geleitet hat. –
4. September. Schmählicher Waffenstillstand mit Dänemark.… Armes Deutschland, deine Einheit war nur ein schöner Traum, von allen Seiten und aus deinem eigenen Innern steigen die Feinde auf! Werden die Beschlüsse, die das Parlament faßt, anerkannt werden und wenn nicht, was wird dann geschehen? Wie viel muthiger sind doch die Männer als ich!
Septemberunruhen.… Lichnowsky und Auerswald.… Wie wird dieser Tag ausgebeutet werden von der Majorität der Versammlung! Und welch Unglück für Männer wie Uhland, der Ueberzeugung zuliebe mit dieser äußersten Linken oft zusammenstehen und stimmen zu müssen!
…. Um Goethes Denkmal stehen die Pferde unseres württembergischen Reiterregiments geschart, die Reiter werden das Bildniß für einen alten König halten. Was würde Er zu allem denken?
29. Oktober. Seit 3 Tagen Berathung, ob Oesterreich Theil des Deutschen Bundes bleiben soll. …. Bei dieser Berathung habe ich auch zum ersten Male meinen Uhland im Parlament sprechen hören; seine Worte haben als Ausdruck seiner Ueberzeugung auch Eindruck auf die Gemüter gemacht.
1849. Januar 16. Immer noch in Frankfurt! Und die Hoffnung, daß all das Mühen und Ringen einen glücklichen Erfolg haben werde, wird immer geringer. …. Oesterreich nun doch ausgeschlossen. …. So wird nun wohl auch das erbliche Oberhaupt angenommen werden. Armer Uhland, wie hast du vergeblich zu kämpfen und dabei die Unlust, daß so viele deiner Mitstreiter deiner nicht werth sind! Es betrübt mich oft ganz, daß er und die äußerste Linke, die mir ihrem Wesen nach so ganz mißfällt, weil sie mir so oft roh und knabenhaft, ohne Wahrhaftigkeit und ohne echte Vaterlandsliebe erscheint, zusammen genannt werden. Wohl sind auch viele wohlmeinende und brave Männer unter dieser Partei, da sie sich aber eben deshalb nicht so breit machen wie die Herren …., so werden sie nicht genannt. Doch auch dieses Zusammensein mit manchem Unkraut, manchem weniger lauteren Charakter, ist ein Opfer, das nun einmal Uhlands politische Ueberzeugung von ihm fordert. Wäre er auf der rechten Seite, so würden mir ja auch vieler Namen nicht gefallen, mit denen er gehen müßte. Sein lieber Name wird doch nicht befleckt, er folgt ja nicht der Partei, er folgt dem Panier, dem er sein Leben lang gedient. „Der Dienst der Freiheit ist ein strenger Dienst“ ist immer noch wahr!
19. Jan. Beschluß, daß einer der regierenden Fürsten zum Oberhaupt gewählt werden soll. Am 22. begann der Kampf aufs neue, über die Erblichkeit. Auch Uhland sprach dießmal, was mir erwünscht war, nicht sowohl, weil ich eine Hoffnung gehegt, er werde jemand für seine Ansicht gewinnen, das ist kaum mehr zu erwarten, aber es war mir von Werth, daß er in einer so hochwichtigen, folgeschweren Sache die Gründe seines Abstimmens öffentlich aussprechen könne um der Freunde und um der Zukunft willen.. Während der Abstimmungen wurde es mir oft auch bange, ob Uhland wohl auch die richtige Ansicht habe, ob nicht die Erwählung des Königs von Preußen doch der einzige Weg zum Heile für Deutschland sei? Uhland aber ist [320] getrost und fest in seiner Ansicht. Ach, ich wäre ein schlechter Abgeordneter, hin und her geweht von jedem Winde der Meinung! ..
In der ersten Hälfte des Februars war ich auf Besuch in der Heimath. Wie hat es mich geschmerzt zu sehen, daß Uhlands politische Ansicht und Thätigkeit so wenig Billigung bei Verwandten und Freunden findet! Das ist ein bitteres Erkennen für mich, ungeachtet ich von früher her daran gewöhnt sein könnte. Das zwar kann ich mir nicht verbergen, daß die Zeitereignisse, die so manchen Mann zur Rechten hinübergeführt, meinen Uhland einen Schritt weiter links gebracht haben; er hat den Glauben an die constitutionelle Regierungsform verloren und steht damit den Republikanern näher als früher. Dadurch wird er auch in seinen Abstimmungen geleitet; ob die Erweiterung der Volksfreiheit, die er und seine Genossen anstreben, ob das allgemeine Wahlrecht besonders, zum Heile Deutschlands gereichen wird, wer kann es sagen? Daß Uhland es auf das Beste meint, das allein weiß ich. Gäbe es viele Männer wie er, rein und ohne Selbstsucht, unbestechlich und wahrhaftig, dann könnte auch ich an ein Gedeihen einer Republik glauben.
20. März. Ich bin den Debatten mit Aufmerksamkeit gefolgt, oft wollte mich die Aengstlichkeit befallen über Uhlands Standpunkt, aber immer wieder tröstet mich die ruhige Bestimmtheit seines Wesens. Als ich gestern meiner Bedenklichkeit, ob er nicht der Richtigkeit der Idee doch gegenüber der Wirklichkeit zu viel Recht einräume, Ausdruck gab, da sagte er mir: Ich glaube, ich könnte nicht ruhig sterben, wenn ich anders stimmen würde! So will ich denn jetzt auch getrost sein, was auch kommen mag!
27. März. Der Erbkaiser hat gesiegt.. Uhland sagte mir gestern, so peinlich sei ihm noch keine Sitzung gewesen, als die gestrige, wo die Rechte völlig gegen ihre Principien in das Suspensivvotum gewilligt, so sehr habe für ihn die Würde der Versammlung noch nie Abbruch gelitten, als dadurch. Armer Uhland! Heute ist es ein Jahr, daß er hier sich abmüht! ..
3. April. Die Kaiserdeputation ist Freitag von hier abgegangen .. Ach, daß Uhland hier bleiben muß, weil er keinen Ersatzmann hat! Es wird nun wohl ein klägliches Ende mit der Reichsversammlung nehmen .. Was Uhland bei der Württembergischen Kammer immer an dem Ende des Landtags zu beklagen hatte, das Rücknehmen aller energischen Beschlüsse, das wird er wohl hier aufs neue erfahren müssen. Die Oberpostamtszeitung bereitet uns schon darauf vor.
Wie kann X. die Partei, der Römer und Uhland und andere Ehrenmänner angehören, so mit Schimpf und Schmach überschütten? Ist denn alle Erinnerung an die alte Freundschaft und Achtung um seiner Parteileidenschaft untergegangen? Es wäre schon an der Trauer, daß Paul Pfizer und Uhland in verschiedenen Feldlagern kämpfen, genug gewesen .. Ebenso lauten die Zuschriften von Heidelberg und Braunschweig. Wie wechselt doch die Menschengunst!
8. April. Der König hat die Deputation kalt, fast schnöde empfangen. ..
18. Immer noch die gleiche Ungewißheit. Am Ende muß man sich noch freuen über den Kaiser, den man nicht gewollt, nur daß einmal eine Entscheidung eingetroffen. Sonntag waren wir in Aschaffenburg mit Römer und Sternenfels (Gesandter Württembergs in Frankfurt). Als wir am Morgen zum Frühstück hinabgingen, war Römer schon abgereist, von einem Expressen nach Stuttgart gerufen in den Ministerrath, der über die württembergische Antwort an das Parlament zu berathen hatte .. Nun muß Römer trotz seiner Abneigung gegen das Preußenthum doch dem König (Wilhelm I von Württemberg) zureden .. Ein großer Theil der Linken hat nun auch beigestimmt ohne Clausel wegen der Oberhauptsfrage. Uhland steht fest wie ein Fels, nächstens aber in wunderlicher Gesellschaft mit der extremen Rechten und mit der äußersten Linken. Armer, guter Mann, deine Geduld und Ausdauer wird hier auf harte Probe gestellt!
22. April. Unser König will sich der Reichsverfassung nicht unterordnen… Das Herz ist nun getheilt in mir: ich fürchte die Auflehnung und den Aufruhr im Lande und doch wünsche ich der deutschen Sache den Sieg. Aber ach! der Erbkaiser ist ja auch nicht die deutsche Sache.
28. Der König hat sich gefügt und in Bezug auf Württemberg atmet meine Brust leichter. Dagegen trübt sich der Himmel sonst nach allen Seiten .. Ich bin keine Heldin, das fühle ich wohl, ich zage, wenn die Versammlung energische Beschlüsse fassen sollte, aus Angst für das Allgemeine, aus Angst für meinen Uhland. Auf der anderen Seite fühle ich auch, daß die Versammlung bei ihrem Werke stehen bleiben muß...
3. Mai. Revolution in Dresden etc.
8. Mai. Ich gebe nun die Hoffnung auf, daß die Nationalversammlung ihr Werk zu Ende führen kann.
15. Mai. Heute bin ich 50 Jahre alt! Wie viel Güte und Barmherzigkeit hat mir Gott in diesem langen Leben erzeigt! Ich stehe beschämt und weiß mich nicht werth … Durch treue Liebe beglückt, im Besitz einer noch frischen Seelen- und Körperkraft, durch äußere Umstände nicht gedrückt, mit den Mitteln, mir und Andern Freude zu machen, gesegnet, fühle ich mich meines Looses so unwürdig .. Um mich her ist es desto sorgenvoller und trüber und oft will mir bange werden für das geliebte Haupt, in dem mein Glück beruht. Gott schütze den besten Mann und zeige ihm den richtigen Weg in den schweren Entscheidungen, die er mit zu beschließen hat!
18. Badische Revolution. .. Ein Bestehen und Gedeihen der Republik kann ich nicht glauben, mir fehlen die Bürger derselben. Welch schwerer Stand für Männer wie Uhland! Wohin sollen sie sich wenden? .. Den Aristokraten gegenüber muß Uhland mit den Republikanern stimmen, deren Bestrebungen er doch auch nicht traut. Wie soll dieser Kampf noch enden?
21. Austritt Gagerns, Dahlmanns etc. .. Die dennoch bleiben, werden freilich auch nichts mehr vermögen, und doch hält sie die Ehre fest.
24. Mein Mann ist aufgefordert worden, die Ansprache an das deutsche Volk zu machen, ungeachtet er nicht in dem Ausschusse ist, dem sie aufgegeben wurde. Wie gerne hätte ich gesagt: thue es nicht, Uhland, als Neuwerk kam, ihn darum zu bitten. Ich schwieg, denn ich hätte doch nur aus Feigheit abgerathen. Hätte er abgelehnt, so wäre es Neuwerk zugefallen und da wäre sie aufregender ausgefallen. Uhland wird aber gewiß von beiden Seiten Tadel erfahren.
27. Mai. Pfingstfest. Heute haben wir in der freien Natur wieder einmal frei aufgeathmet. Wir waren mit Mappes in Kronenberg und auf dem Altkönig. Wie ist es schön und friedlich in Gottes Schöpfung und wie zerstört der Menschen Selbstsucht und Schlechtheit, was Gott schön gemacht!
29. Nun sind auch die Hannoveraner abgerufen. Immer kleiner wird die Schaar und wie mißlich wird dadurch die Stellung der Gemäßigten unter ihnen! Ach, könnte ich meinen Mann daraus erlösen! Gestern wurden im Württembergischen Unruhen befürchtet. Auch hier hat Uhland beruhigend zu wirken gesucht. Ob seiner Warnung wohl Gehör gegeben wurde?
30. Beschluß, nach Stuttgart überzusiedeln. Uhland hat gethan, was er konnte, um dieses Resultat abzuwenden. Es könnte leicht der Funken zum Ausbruch eines verheerenden Brandes werden. Den 1. Juni sind wir von Frankfurt abgereist mit schwerem Herzen, wenn wir auf die Erfolglosigkeit so mühsamer Beratungen, so vieler gebrachter Opfer blicken; mit schwerem Herzen, wenn wir daran dachten, was die Uebersiedelung nach Stuttgart dem Heimatlande bringen könnte… Erst am 6. kamen wir in Stuttgart an, in das ich mit Schmerz einzog. Erste Sitzung, Beschluß, eine Regentschaft einzusetzen. Uhland bemühte sich vergebens, ein weniger gefährliches Amendement durchzubringen. Heute Abend nun soll gewählt werden. Gott schütze [321] mein Heimatland, er erleuchte auch meines lieben Mannes Geist, daß sein reiner Wille den besten Weg trifft! Wie gerne hätte ich ihm zugeredet, daß er aus der Sitzung bleiben und diese vielleicht dadurch unvollzählig machen solle! Aber ich durfte es mir nicht erlauben, ich habe so oft erfahren, daß er richtig geurtheilt, wenn die Mehrzahl gegen ihn sprach.
8. Regentschaft. Und mein Mann ist immer noch in dieser Versammlung, die diese Beschlüsse faßt! .. In der Nationalversammlung sind wenige Stimmen zur Beschlußfassung entscheidend. Ach! da nicht sagen zu dürfen: Uhland, gehe nicht hin! Gott, wie schwer!
15… Mein armer Mann unter diesen Männern, die er nicht achtet, die seiner engeren Heimat verderblich sind und die er doch nicht lassen kann, weil er das Parlament nicht lassen will!
18. Heute wurde nun doch der Schlag auf die Nationalversammlung geführt. Mein Uhland wollte diesem letzten tragischen Act sich nicht entziehen. .. So endete die erste Nationalversammlung der Deutschen. Sie fiel durch eigene und fremde Schuld, durch Mangel an Muth der einen Hälfte, durch Leichtsinn und Uebermuth der andern.
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Hier endet das handschriftliche Tagebuch der treuen Lebensgefährtin Uhlands. Er selbst hat, wie sie in der gedruckten Biographie berichtet, über seine Teilnahme am politischen Leben später einmal die den ganzen Mann kennzeichnenden Worte geäußert: „Es lag nie in meinem Wunsche, eine Stellung als Leiter einer Partei einzunehmen, überhaupt beteiligte ich mich an politischen Verhandlungen nur, weil ich es für Pflicht hielt, mich nicht zu entziehen, wenn ich dazu berufen wurde. Ich wollte aber immer nur als gemeiner Soldat dienen und ließ die hervorragenden Stellen gern den anderen, die sich dazu drängten. Ohne Rückhalt mich aussprechen, wie meine Ueberzeugung gebot, das wollte ich in der Ständeversammlung wie im Parlament. In letzterem hat es leider an den Offizieren gefehlt.“ J. Hartmann.
Die Brockenbahn.
Seit alten Zeiten bildet der Brocken einen Anziehungspunkt für wanderlustige Menschen, die von stolzer Bergeshöhe gern in die weiten Lande hinausschauen mögen. Noch wußte man nichts von einem alpinen Sport, da waren im Norden Deutschlands Brockenreisen bereits im Schwange. Fürsten zogen zum Brockenkulm hinauf mit großem Gefolge und Schüler unternahmen dorthin Ferienreisen. Davon berichten die Chroniken aus den Jahren 1591, 1634 und 1649. Vor etwa zweihundert Jahren besuchte Zar Peter der Große den Brocken, und im Jahre 1736 ließ Graf Christoph Ernst zu Stolberg-Wernigerode ein „Wolkenhäuschen“ aus Stein zum Schutze der Brockenbesteiger errichten – eine der ältesten Schutzhütten für Bergtouristen, die noch heute erhalten ist. Die Zahl der Brockengäste stieg von Jahr zu Jahr; von 1753 datiert das älteste Brockenstammbuch, und schon zu Anfang dieses Jahrhunderts besuchten den Brocken jährlich 1000 bis 2000 Personen. In den letzten Jahren konnte die Zahl der Brockengäste nur geschätzt werden – sie belief sich, wie Sachkundige behaupten, auf 40000 bis 50000.
Es geschah viel, um den Zugang zu dem höchsten Berggipfel Norddeutschlands zu erleichtern. Angenehme Fußwege und gute Fahrstraßen wurden angelegt; auf dem Kulm wurde ein Hotel erbaut und ein Aussichtsturm errichtet, aber es währte lange, bis man in unserm Zeitalter der Bergbahnen bis zur Spitze des Brockens den eisernen Schienenstrang legte. Nun ist auch das geschehen. Durch stille Tannenwälder, über wild romantische Felsgegenden und weite Torfmoore klimmt endlich das Dampfroß bis zur Zinne des Blocksberges empor. – Schon seit langen Jahren war die Schaffung einer Harz-Querbahn, welche den Nord- und Südharz miteinander verbände, ein sehnlicher Wunsch der Harzbewohner und – der deutschen Heerführer. Moltke hat aus strategischen Gründen eine solche Bahn befürwortet. Erst im Jahre 1896 kam aber eine Einigung der beteiligten Staaten und Gemeinden zu stande, eine Gesellschaft wurde gegründet, welche den Bau einer Harzbahn von Wernigerode nach Nordhausen übernahm und an diese als eine Seitenlinie die Brockenbahn anschloß. So steil wie auf den Rigi oder den Pilatus braucht hier das Dampfroß nicht emporzukeuchen, die größten Steigungen der Linie betragen nur 1 : 30; man konnte darum ohne eine Zahnradbahn auskommen und die Linie als eine einfache Adhäsionsbahn einrichten. Immerhin hatten die Ingenieure viele Terrainschwierigkeiten zu überwinden. Kehren, Schleifen, Brücken und Dämme mußten angebracht werden; besondere Schwierigkeiten bot die Durchquerung des Brockenmoores; man mußte gewaltige Massen Torf bis zu 5 m Tiefe ausheben, um dem Bahnkörper festen Grund zu schaffen. Der Bau gelang glücklich. Bereits zu Weihnachten vorigen Jahres dampfte der erste Zug nach der Brockenspitze und seitdem sind noch verschiedene Fahrten veranstaltet worden. Die Eröffnung des regelrechten Betriebs findet am 15. Mai statt.
Tausende und aber Tausende werden im kommenden Sommer die neue Bahn benutzen und den Ausflug zu der luftigen Höhe nicht bereuen; denn die Fahrt ist überaus reich an mannigfaltigen, stets wechselnden und überraschenden Aussichten. Es sei uns gestattet, ihren Verlauf zu schildern.
Wernigerode mit seinem herrlichen Schloß liegt bald hinter uns.
Die Bahnlinie geht hinter den Gärten des langgestreckten Hasserode hinauf in das Rennethal, wo sie an der Station „Steinerne Renne“ eine sehr scharfe Kurve beschreibt. Dann beginnt die eigentliche Steigung und der Zug fährt aus dem Renne- in das Drenge-, dann in das Thumkuhlen- und wiederum durch einen Tunnel in das Drengethal. Links sieht man über die Wipfel der Bäume auf die tief unten sich hinziehende Chaussee und auf die steilen, tannenstarrenden Berglehnen gegenüber, rechts blickt man in kleine, dunkelbeschattete Seitenthäler, aus denen murmelnd und plätschernd die Gebirgswasser fließen, welche die Bahn auf gewölbten Brücken überschreitet. Ab und zu öffnet sich auch ein [322] weiterer Ausblick. Besonders schön ist der, welcher beim Eintritt in das Drengethal sich bietet, wo man plötzlich auf einen Augenblick ganz Hasserode und als abschließenden Hintergrund die Türme und das hochragende Schloß von Wernigerode erblickt.
Wenn sich der Zug dieser Stelle nähert, so drängt sich das Publikum an den Fenstern und auf den Plattformen zusammen, um nichts von dieser entzückenden Aussicht zu verlieren.
Bei dem Wirtshaus „Dreiannen“ erreicht die Bahn die Höhe des Harzplateaus und teilt sich bald darauf bei der Station „Dreiannen-Hohne“. Die Hauptlinie geht quer über das Plateau weg nach Nordhausen. Die Seitenlinie, welche indessen den Hauptertrag abwerfen wird, führt zum Brocken. Bald sieht man das Thal der Bode vor sich und darüber hinaus die einsame, waldbedeckte Hochebene, welche die höheren Berge des Südrandes malerisch abschließen. Der mächtige Wurmberg mit den beiden Winterbergen erscheint. Unter ihnen zieht sich der lange Rücken des Barenberges mit den von Goethe im „Faust“ erwähnten Schnarcherklippen hin, und bald erblickt man im Thale die weißen Häuser und dunklen Dächer des Luftkurorts Schierke.
Hier befinden wir uns schon in der Gegend des Brockengranits, der in mächtigen Blöcken allenthalben umherliegt. Der Bahnhof von Schierke liegt hoch über dem Orte selbst. Den letzteren sieht man bei der Weiterfahrt plötzlich von der anderen Seite noch einmal. Der Zug fährt dann weiter auf das Eckerloch zu, passiert das Schluftwasser, und alsbald wird uns eine neue Ueberraschung geboten. Von rückwärts tritt nämlich der Gipfel des Brockens mit den ihn krönenden Gebäuden und dem Aussichtsturm plötzlich hervor, gleich einer ungeheuren Burg, welche sich der König des Gebirges in der Urzeit errichtete. Freilich nur für eine halbe Minute. Dann verschwindet er wieder wie eine Geistererscheinung.
Der Zug schwenkt nun scharf um die vorspringende Ecke des Königsbergs, und man hat dann mit einem Male den Oberharz vor sich. Der Achtermann und der lange, steile Rücken des Bruchberges, der Rehberg und Sonnenberg werden sichtbar; zu ihren Füßen sieht man, in dunkles Fichtengrün gebettet, die bekannten Gebirgswirtschaften und Sommerfrischen des Königskrugs, des Sonnenberger Weghauses und des Torfhauses, von dem aus einst Goethe den Aufstieg auf den winterlichen Brocken wagte. Jetzt führt ein bequemer Promenadensteig, der sogenannte Goetheweg, vom Torfhaus zum Gipfel. Wir passieren denselben, und dann beginnt die eigentliche Spirale. In anderthalbmaliger, schraubenförmiger Windung erreicht die Bahn den Gipfel. Man sieht rechts auf die Heinrichshöhe, den Renneckenberg und die Hohneklippen, die sämtlich doch schon ungefähr 1000 Meter hoch sind, hernieder, dann erblickt man den Nordrand des Gebirges mit den tief eingeschnittenen Thalspalten von Wernigerode, Darlingerode, Ilsenburg, Harzburg. Ueber den Rand hinweg schaut man auf die dunstige Ebene, die sich wie ein Meer unermeßlich ausdehnt. Dann taucht mit einem Male wieder der Bruchberg und Achtermann auf, denen man eben erst den Rücken zugekehrt hatte, und endlich wieder der Wurmberg, Schierke und die Heinrichshöhe. Es ist, als ob die ganze, erhabene Landschaft mit ihren Bergen, Thälern und Wäldern sich im Kreise um uns drehte, während wir gleichsam den festen Mittelpunkt der Welt bilden.
„Station Brocken, alles aussteigen!“ ruft der Schaffner. Wir halten in der Höhe von 1130 Metern über dem Meere vor einem kleinen Holzgebäude, wenige hundert Schritt nördlich von dem eigentlichen 1142 Meter hohen Gipfel. Es ist hier oben empfindlich kalt, ein schneidender Wind bläst uns entgegen. Wir eilen also dem erst kürzlich bedeutend vergrößerten Riesengasthof zu, sicherlich dem größten Berggasthof Deutschlands, und finden in dessen behaglich erwärmten Räumen freundliche Aufnahme und gute Verpflegung.
Die Brockenbahn gehört ganz sicher zu den schönsten Bahnen, die es in Deutschland giebt; eine Fahrt auf ihr, im Sommer wie im Winter, zählt zu den genußreichsten, die man machen kann. Freilich mit der erhabenen Einsamkeit des Geister- und Hexenberges ist es nun für immer vorbei! Friedrich Seiler.
Blätter und Blüten
Bartholomäus Ringwaldt. Am 9. Mai d. J. wird in dem neumärkischen Städtchen Zielenzig und dem benachbarten Dorfe Langenfeld der dreihundertjährige Sterbetag des hervorragenden geistlichen Liederdichters Bartholomäus Ringwaldt feierlich begangen. An den Kirchenliedern Ringwaldts rühmt Hoffmann von Fallersleben mit Recht die kräftige Sprache und Empfindung, und mehrere derselben, wie „Es ist gewißlich an der Zeit“, haben sich bis heute in ihrer Beliebtheit erhalten. Das Hauptwerk Ringwaldts aber ist das Lehrgedicht „Die lauter Wahrheit“, das 1585 erschien und danach viele Auflagen erlebte. Ohne Rücksicht deckte er in diesem Werke alle Fehler und Schwächen seiner Zeitgenossen auf und zeigte, indem er den Christen mit einem Kriegsmann verglich, einem jeden, wie er seine Lebenszeit „durchkämpfen“ müsse, um zur Seligkeit zu gelangen. Das Buch hat heute großen kulturhistorischen Wert; es bietet, in treuen Farben ausgeführt, ein lebensvolles Sittengemälde aus der damaligen deutschen Welt. Einige Stellen daraus errangen große Volkstümlichkeit, so die Strophen über die „fromme Magd“, welche noch Karl Maria von Weber in Musik gesetzt hat.
„Ein’ fromme Magd von gutem Stand
Geht ihrer Frauen fein zur Hand,
Hält Schüssel, Tisch und Teller weiß
Zu ihrem und der Frauen Preis;
Sie trägt und bringt kein neue Mär,
Geht still in ihrer Arbeit her,
Ist treu und eines keuschen Muts,
Und thut den Kindern alles Gut’s.“
So lauten die ersten Verse. Auch die beiden anderen großen Dichtungen Ringwaldts „Die christliche Warnung des trewen Eckarts“ und das „Speculum mundi“ („Der Weltspiegel“) gelangten zu großer Volkstümlichkeit. – Ringwaldt kam ums Jahr 1530 in Frankfurt a. O. zur Welt. Hier studierte er auch Theologie. 1556 trat er sein erstes geistliches Amt an. Zehn Jahre danach, während denen er bereits zwei Gemeinden in der Mark als Prediger vorgestanden hatte, berief ihn der Heermeister des Johanniterordens in die Pfarrei Langenfeld, welche zu dem Ordensamt Sonnenburg gehörte. Hier hat er bis zu seinem Tode gewirkt und seine Werke verfaßt. Noch wissen wir von ihm, daß er sich 1592 ein zweites Mal verheiratete, und zwar mit Dorothea, der jugendlichen Tochter des Stadtschreibers Joh. Krüger zu Krossen. Der Berliner Geschichtschreiber M. F. Seidel giebt in seinen Lebensbeschreibungen gelehrter Männer den 9. Mai 1599 als Ringwaldts Sterbetag an. F. K.
Die Windfahnen auf dem Berliner Dom. (Mit Abbildungen.) Als in der Mitte Dezember v. J. die Kreuze auf der Kuppel und den Vordertürmen des neuen Berliner Domes frei von Gerüsten sich den Blicken zeigten, sah man unterhalb der Kreuze sich drei Wetterfahnen lustig im Winde drehen. Die Fahne auf der Kuppel hat dadurch ein besonderes Interesse, daß sie die höchste ihresgleichen in Berlin ist und auch sonst nicht allzuviele noch höhere Geschwister haben dürfte – befindet sie sich doch in 105 m Höhe über dem Straßenpflaster.
Hinsichtlich ihrer Größe wird sie von noch weniger Wetterfahnen übertroffen, denn der mit dem Winde [323] fliegende und die Posaune blasende Engel hat von der Fußspitze an der Achse bis zur Mündung der Posaune eine Länge von 3,20 m und wiegt 7 Centner; er ist aus Kupferplatten genietet und stark vergoldet. Das natürlich gleichfalls 7 Centner schwere Gegengewicht besteht aus einem vergoldeten Stern an einem Balken. Die Windfahnen auf den Vordertürmen sind vollkommen gleich gestaltet und bestehen aus einem Reichsadler von 1,20 m Höhe und Breite, der 4 Centner wiegt, und einer Kugel als Gegengewicht. Eine dieser Windfahnen ist in der nebenstehenden Abbildung wiedergegeben nach einer Photographie, die ich von der Domkuppel aus aufgenommen habe.
Die Drehvorrichtung ist bei allen drei Fahnen genau gleich, sowohl in der Konstruktion, wie auch in der Größe. An den aus doppelten U-Eisenschienen gebildeten Kreuzträgern sind je zwei Konsolen angeschraubt, welche die Kugellager tragen, auf deren Kugeln sich die Fahnen drehen. Jedes dieser Kugellager enthält je 25 größere und kleinere Stahlkugeln und ist zum Wetterschutz von einem kupfernen Mantel umgeben. Die Empfindlichkeit der Windfahnen ist trotz der großen Massen, die zu bewegen sind, eine außerordentliche. Dr. C. Kaßner.
In den Maremmen. (Zu dem Bilde S. 293.) Maremma ist ein italienisches Wort, es bedeutet einen Landstrich nahe dem Meere von sumpfigem flachen Charakter. Mit dem Wort verbindet sich für den Italiener eine Vorstellung des Schreckens: die Maremmen sind die Heimat der Malaria. Wie sie entstanden? Mit dem Römerreiche hatte auch die alte Volksenergie geendet, niemand kämpfte mehr gegen die feindlichen Naturgewalten an. Die Wasserläufe wurden durch Schlamm und Geröll verstopft, so versumpften denn die Thäler und Küstengebiete.
Heute nennt man nun Maremmen im besondern die westlichen Küstenebenen von Toskana. Sie beginnen bei der Mündung der Magra und erstrecken sich bis ins Neapolitanische hinein. Ihr Anblick ist im höchsten Grade unerfreulich und trübselig, und der Reisende, der auf der Maremmenbahn, mit den Stationen Grosseto, Orbetello, Civitavecchia, dahinfährt, lehnt sich in seine Ecke und schließt die Augen, um diese „italienische Landschaft“ nicht zu sehen. Und doch hat auch sie ihre Reize, für den Maler und Poeten, noch mehr für den Historiker, denn dieser meilenweite Sumpfboden ist der Kirchhof vieler etruskischer Städte, deren Trümmer höchst interessant sind.
An Stelle der Städte sind die Macchie, die Buschwälder, getreten, und eine Bevölkerung von Büschen und Bäumen macht sich den Boden dienstbar. Da giebt es alle Arten von Eichen: Korkeiche, Zirn-, Stiel- und Steineichen, immergrüne Eichen, ferner Eschen, Hornbuchen, Erlen, Erdbeerbäume, baumartige Heiden und Ginster, und Baum und Gebüsch dient ausnahmslos zur Feuerung und zur Kohlenbereitung.
Es kommen die Männer, die Axt im Arm, bauen sich Reisighütten, schlagen die Büsche, die Bäume nieder und brennen sie in niedrigen Meilern zu Kohlen. Wie Eroberer kommen sie, doch ihr Leben hier ist elend und viele erliegen gar bald der Fieberluft. Kehren die Ueberlebenden im Herbst mit ihrer Ausbeute, den Holzkohlen, in Säcken auf elende Maultiere und Esel verladen, in die Dörfer zurück, so sehen sie mit ihren erdfarbenen Gesichtern wie auferstandene Tote aus und gleichen in ihrer sonstigen Verwilderung den Räubern …
Die Aufgabe der Regierung ist es, diese Maremmen auszutrocknen. Vieles ist bereits geschehen, und die Zeit wird kommen, wo dieses Land der Kultur zurückerobert sein wird. Woldemar Kaden.
Bei der Parade auf dem Tempelhofer Feld. (Zu dem Bilde S. 296 und 297.) Frühlingsparade – Herbstparade – das sind zwei festliche Tage für die Reichshauptstadt! Schon am frühen Morgen tönt klingendes Spiel, Trommelschlag und Pfeifenklang durch die Straßen. In langen Zügen ziehen die Truppen des Gardekorps zum Halleschen Thor hinaus, und Tausende von Zuschauern zu Fuß und zu Pferde, in
[324] Equipagen und Droschken schließen sich ihnen an. Es ist immer so eine Art kleinen Volksfestes mit „fliegenden“ Budikern und Wursthändlern dort draußen auf dem Tempelhofer Feld. Dieses ist seit Jahren der Paradeplatz der Berliner Garnison. In weiter Fläche dehnt es sich zwischen Schöneberg und „Am Urban“, zwischen Berlin SW und Rixdorf und Tempelhof aus. Die Anfahrt zum Halteplatz der Equipagen, von dem man das glänzende Schauspiel der Parade bequem überblicken kann, ist nur für Inhaber von Passierscheinen gestattet, die das Polizeipräsidium ausgiebt und welche die Kutscher sichtbar am Hut zu tragen haben. So kommen sie denn heran, die Glücklichen, die eine solche Karte erlangt haben, in Gefährten aller Art, in hocheleganten und talmifeinen aus den Remisen der Wagenverleiher, in Landauern und Viktorias, in Dogcarts und Mailcoaches. Berittene Schutzleute sorgen dafür, daß jedes seinen Platz erhält und daß Unglücksfälle möglichst vermieden werden. Dem alten Herrn im Mittelpunkt unseres Bildes laufen die beiden Schimmel, welche seine liebliche Tochter lenkt, augenscheinlich nicht schnell genug. Die hinter ihm sitzende Dame macht ihn darauf aufmerksam, daß soeben der Kaiser an der großen Pappel zu Pferde gestiegen ist und die Front seiner Truppen entlang sprengt, ihnen seinen „Guten Morgen“ entbietend. Der Herr im Wagen hat den Feldstecher herausgenommen und beobachtet mit gespannter Aufmerksamkeit das farbenprächtige Schauspiel. Gewöhnlich fährt der Kaiser, von Potsdam kommend, bis zum Bahnhof Groß-Görschenstraße. Hier verläßt er mit der Kaiserin den Zug und die Majestäten besteigen die Pferde. Ist die Parade dann zu Ende und die Kritik vorbei, so setzt sich der Kaiser an die Spitze der Fahnenkompagnie und führt unter den schmetternden Klängen altpreußischer Märsche und Fanfaren die alten ruhmbedeckten Feldzeichen seiner Garden selbst ins Schloß zurück.
Der Bismarckturm auf dem Zeigerheimer Berge bei Rudolstadt. (Mit Abbildung.) Die Anregung der deutschen Studentenschaft, überall im Reiche Feuersäulen zu Ehren Bismarcks zu errichten, wurde von den Mitgliedern des Vereines „Rudolstädter Abend“ in Rudolstadt (Thüringen) mit Begeisterung aufgenommen. Ende vorigen Jahres faßte der Verein den Beschluß, den Gedanken baldigst aus eigenen Mitteln zu verwirklichen. Man ging rüstig ans Werk und stellte auf dem Zeigerheimer Berge die erste Bismarckfeuersäule bis zum 1. April dieses Jahres fertig. Sie erhielt die Gestalt einer kleinen Ritterburg, die aus einem Turm von 9½ m Höhe und 3½ m Stärke und einem 4 m hohen und 3 m langen Anbau besteht. Das Ganze ist massiv aus Kalkstein nach einem Plane des Architekten Schinzel errichtet. Die Plattform des Turmes ist aus Beton gewölbt, mit Zement ausgelegt und zur Aufnahme des Brennmaterials bestimmt. In dem Anbau befindet sich ein heizbarer Raum, der von den Mitgliedern des Vereins als Schutzhütte auf ihren Ausflügen benutzt werden soll. An der Nordseite des Turmes prangt aus Sandstein gemeißelt das Wappen des Fürsten Bismarck. Von den Zinnen der Burg bietet sich ein prachtvoller Ausblick. Nach Osten zu breitet sich das liebliche Saalethal, während im Westen die waldgekrönten Höhen der Schwarza das Landschaftsbild abschließen. – Am 1. April, dem Geburtstag des Altreichskanzlers, fand die Einweihungsfeierlichkeit des Bismarckturms statt. Da der Beton noch nicht erhärtet war, mußte man davon absehen, das Feuer auf der Plattform des Turmes anzuzünden. Dafür wurde vor dem Bau ein mächtiger Scheiterhaufen errichtet und mit Anbruch der Dunkelheit in Brand gesetzt. Himmelan loderten die Flammen empor und leuchteten weit in das Thüringer Land hinein. Die erhebende Feier bestand in Absingen patriotischer Lieder, Festreden und Deklamationen, schließlich wurde der Turm bengalisch beleuchtet und ein Feuerwerk abgebrannt. Von dem „Ausschuß der deutschen Studentenschaft“ traf ein Glückwunschtelegramm ein.
Maienzeit. (Zu dem Bilde S. 301 und unsrer Kunstbeilage.) Von der beglückenden Macht des Maien erzählen die beiden Bilder, deren malerischer Reiz durch Blütenzweige erhöht wird. Auf dem einen derselben sehen wir den Genius des schönsten der Frühlingsmonde auf seinem leichten Wagen daherfahren durch die Lüfte, mit hochgehobner Hand von seinem Blumenreichtum der Erde spendend, während vorn auf dem Rande des Wagens Gott Amor thront, jubelnd einen seiner Pfeile hinab auf die Erde abschießend, wo unter einem blühenden Zweige auf Wiesengrün ein junges Paar in Unterhaltung begriffen ist. Einen prächtigen, eben frisch gepflückten Strauß von Fliederzweigen trägt auf der Kunstbeilage ein Mädchen. Die liebliche Anmut desselben hat selbst etwas von der Zartheit des Dufts und der Farben des Flieders. Die Augen der Holden verkünden uns, daß auch in ihrem Herzen der Mai eine zartduftige Blumenwelt zum Erblühen gebracht hat, die Blüten der ersten Liebe.
Die Entdeckung des Aluminiums. Die Geschichte der Chemie lehrt uns, daß das Aluminium in freiem Zustande zuerst von dem Chemiker Wöhler hergestellt wurde. Er erhielt es im Jahre 1827 als graues Pulver und im Jahre 1845 in Form kleiner glänzender Metallkugeln. Seit 1854 wird das Metall nach verschiedenen Methoden technisch gewonnen. Es ist aber alles schon einmal dagewesen, und vermutlich war das Aluminium in reinem Zustande bereits im Altertum bekannt. Daran erinnerte neuerdings die „Centralzeitung für Optik und Mechanik“. Wie Plinius berichtet, erschien einmal im Palaste des römischen Kaisers Tiberius ein Metallarbeiter. Er bot dem Imperator einen Gegenstand als Metall an, das äußerlich wie Silber aussah, aber auffallend leicht war. Auf die Frage des Kaisers, wo dieses Metall zu finden sei, erwiderte der Arbeiter, daß er es aus thonhaltiger Erde gewinnen könne. Nun forschte Tiberius weiter, ob der Arbeiter seine Kunst schon anderen mitgeteilt habe. Der Gefragte gab zur Antwort, daß außer ihm nur Jupiter das Geheimnis kenne. Diese Erklärung besiegelte das Schicksal des Unglücklichen. Tiberius fürchtete, das neue Metall könnte den Wert des Goldes und des Silbers beeinträchtigen, und ließ die Werkstatt des römischen Aluminiumerzeugers zerstören und ihn selbst enthaupten. So blieb das Verfahren unbekannt. Es liegt nahe, daß jener Metallarbeiter ein einfacheres und wohl auch billigeres Mittel zur Herstellung des Aluminiums als die uns geläufigen chemischen Verfahren kannte. Ein Nachentdecken und Nacherfinden könnte somit noch heute einem findigen Manne Nutzen bringen; um seinen Kopf brauchte er in unserer Zeit nicht zu fürchten.
Abschied des Verlobten. (Zu dem Bilde S. 313.) An der kleinen Fischerhütte, unter den windzerzausten Bäumen, haben sie als Kinder gespielt und sich später verlobt, aber eine Wartezeit ist ihnen bis zur Hochzeit beschieden. Das haben nicht nur die Eltern so bestimmt, auch Kaiser und Reich forderten von dem jungen Manne ihr Recht. Einen Seemann von Beruf nimmt man gern zur kaiserlichen Marine, und Karl Morgensen soll nun seine Dienstzeit antreten. Es wird ihm schwer, von der treuen Trinka Abschied zu nehmen, aber er fügt sich gern ins Unvermeidliche: ihn lockt die weite Ferne, und in der Brust spürt er den Thatendrang. Der Seemann scheut nicht Sturm und Gefahr und Seemannstöchter verstehen in Treue zu warten. Haben die Väter und Mütter es anders gethan? Das ist für beide ein Trost im Trennungsweh, und die Eltern meinen, es sei alles gut gekommen. Junge Liebe soll ja geprüft werden. *
Das Möskefest in Rheinsberg. (Zu dem Bilde S. 317.) Seit alten Zeiten zogen am Sonntag vor Pfingsten die Kinder von Rheinsberg hinaus in den Wald, um Möske, d. h. Waldmeister, zu pflücken und das duftende Kraut zum Schmuck der Kirche zu verwenden. Im Jahre 1757 war am 6. Mai die Schlacht bei Prag geschlagen, an welchem Siege Prinz Heinrich, der Bruder Friedrichs des Großen, hervorragenden Anteil hatte. Als nun am 20. Mai die Siegesnachricht in Rheinsberg, der Residenz des Prinzen Heinrich, eintraf, wurde aus dem kirchlichen Fest ein patriotisch-militärisches gemacht, welches bis zum heutigen Tage besteht. Des Morgens wird von den Knaben Reveille geschlagen, am Vormittag sammelt sich die junge Schar, um zunächst auf dem Schloßhof von Rheinsberg dem Kaiser ein Hoch und weiterhin im Umzuge durch die Straßen den Honoratioren des Städtchens Huldigungen darzubringen. Das Ganze leitet ein „General“, der vom Rektor der Schule bestimmt wird. Alles trägt preußische Uniform oder wenigstens Teile derselben. Nachmittags geht’s zum eigentlichen Festplatz im Schloßpark, voran die Musik, dann die Generalität, die Truppen und zum Schluß auch die Mädchen in hellen Kleidern und blumengeschmückten Reifen, welche bogenförmig über dem Kopf getragen werden. Allerlei Spiele, Scheibenschießen mit Armbrust und Luftgewehr unterhalten die Jugend, an deren heiterem Treiben auch die zahlreich versammelten Eltern und Verwandten sowie die nach dem reizenden Rheinsberg in stattlicher Zahl gekommenen Gäste von auswärts ihre Freude haben. Unsere Abbildung zeigt den Zug, wie er gerade durch eine offene Halle im Parke, dem sogenannten „Salon“, zum Festplatz marschiert. E. T.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
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Allerlei Winke für jung und alt.
Zwei Sommerhüte für kleine Mädchen. Hübscher, einfarbiger Batist oder Mull, nicht zu weich, dient als Material; zu Nr. 1 gebraucht man 120 cm und zu Nr. 2, der einfachen holländischen oder Helgoländer Haube, 80 cm im Quadrat.
Beide Hüte sind waschbar. Für den ersteren, eleganteren geben wir zunächst folgende Anleitung zur Herstellung: 15 cm vom Rande des Stoffes beginnt man eine Litze einzukräuseln und in Abständen von 3 bis 4 cm noch drei weitere Litzen, die man sämtlich ziehen kann, um den Stoff nach der Kopfgröße des Kindes zusammenzuschieben. Die zuerst übrig gelassenen 15 cm bilden vorn die große Rüsche, die man doppelt legt, wie einen Saum, auch kann man noch eine zweite Rüsche oder Spitze hineinsetzen, damit es besser steht. Den übrigen Stoff faltet man hinten wie einen Fächer, auf der punktierten Linie etwa, und schiebt den Stoff am Hinterköpf auf, so daß der Fächer hochsteht. Beim Waschen kann man die Rüschen vorn als Volants glätten, die Kräuseln lassen, wie sie sind, und nur die Fächerfalten im Nacken lösen zum leichteren Plätten. Diese Kapotte wird innen nicht gefüttert, damit sie kühler ist. – Der große Helgoländer ist nur ein Viereck von Stoff und ein Stück Steiftüll oder Gaze, über welches man den Mull hängt und innen bis zur Hälfte hinein heftet. Der Steiftüll wird noch rings am Rande mit einem feinen Hutdraht versehen. Hinten hält eine Schleife den Stoff zusammen. Diese große Haube schützt die kleinen Mädchen, welche ausgeschnittene Kleider tragen, zugleich vor Sonne und Insektenstichen, da der Steiftüll nur bis über die Ohren, der Mull oder Batist aber bis auf die Schultern reicht.
Ein neues Verfahren zum Uebertragen von Zeichnungen. Nicht nur zu Nadelarbeiten aller Art, sondern auch bei den meisten kunstgewerblichen Techniken wird eine Zeichnung erfordert, auf welcher oder nach welcher gearbeitet werden muß. Wenige sind im stande, sich die benötigten Entwürfe selbst herzustellen, die meisten kaufen die Gegenstände entweder vorgezeichnet, oder sie übertragen die Muster aus einem der zahlreichen Vorlagewerke oder aus einer Fachzeitschrift auf den betreffenden Stoff. Es giebt für diese Manipulation, die an sich schon eine sehr interessante Beschäftigung darstellt und als Erwerbsquelle namentlich für Damen in kleineren Städten beinahe noch ganz unverwertet ist, eine Menge Verfahren, denen allerdings noch mancherlei Mängel anhaften. Entweder sind sie nur für glatte Stoffe verwendbar, oder nur für helle Stoffe, oder sie sind zu zeitraubend und umständlich, teilweise auch unsauber, so daß es eigentlich nicht wundernehmen kann, wenn das Selbstübertragen von Zeichnungen auf dem Gebiete des Hausfleißes noch wenig Beachtung gefunden hat. Es mag daher für viele fleißige Hände, besonders auch den zahlreichen Liebhaberkünstlern, Lehrerinnen, Tapisseriegeschäften etc. ein neues, in großen Betrieben bereits erfolgreich eingeführtes und dort gewissermaßen als Geheimnis betrachtetes Verfahren von Interesse sein, welches in der That sämtliche nur irgend wünschenswerten Vorteile in sich birgt. Es besteht zunächst in der Herstellung einer Schablone auf besonders zubereitetem Papier. Dieses Papier ist durchsichtig, jedoch sehr dauerhaft und fest. Es wird auf die Vorlage gelegt oder die Zeichnung selbst darauf entworfen und nun alle Linien mittels einer Stecknadel durchlöchert. Eine solche Papierschablone ist mehr denn hundertmal anwendbar und bietet noch den großen Vorteil, daß man bei allen Zeichnungen, bei denen sich gewisse Teile wiederholen, wie Eckmuster und Kanten, Füllmnster, die auf mehrere Seiten eines Gegenstandes zu übertragen sind, Monogramme etc., nur eine Schablone anzufertigen und dann einfach zusammenzusetzen oder mehreremal aufzutragen braucht. Des ferneren wird die Schablone auf den Stoff, gleichviel ob Papier, Leinen, Tuch, Fries, Sammet, Plüsch, Atlas, Holz, Leder, Stein etc., gelegt, mit einigen Heftzwecken befestigt und schließlich das Muster mit einem ebenfalls besonders zubereiteten Pausepulver, dessen Farbe der des Stoffes entgegen zu wählen ist, mittels Filzreiber durchstäubt, so daß die Zeichnung in lauter kleinen Pünktchen auf dem Stoff erscheint. Diese werden dann mit Alkohol bespritzt, wozu ein Zerstäuber dient, und haften nunmehr fast augenblicklich und dauernd ganz fest. Ein Nachmalen oder Korrigieren ist also ganz ausgeschlossen. Die Materialien für dieses Momentpanseverfahren werden von der „Geschäftsstelle des Hausfleiß“ in Leipzig-Gohlis in den Handel gebracht.
Wichsetui für die Reise. Wer weise ist, wird auf Reisen seine feinen Lederschuhe niemals den rauhen Händen des Hotelhausknechtes anvertrauen, der alle Stiefel nach derselben Art behandelt und zarte und weiche Lederschuhe rettungslos verderben wird. Man thut weit vernünftiger, sich ein praktisches kleines Wichsetui anzufertigen und in diesem die zum Reinigen feinen Schuhwerks nötigen Sachen mitzunehmen und damit die Stiefel selbst zu säubern. Man stellt das Etui aus schwarzem Wachstuch in 38 cm Länge und 22 cm Breite her und füttert es mit schwarzem Satin. Auf der einen Breitseite des Etuis setzt man eine 26 cm lange, 12 cm breite Tasche für die Bürste auf, während man für eine zweite Tasche beim Zuschneiden des Etuis 12 cm zugiebt und umlegt. Auf der Langseite des Etuis werden einige kleine Taschen aufgesetzt. Der ganze Behälter, wie auch die Taschen werden mit dunkelroter Wolllitze eingefaßt, der Mittelteil des Etuis erhält ein Monogramm in leichter Seidenstickerei.
Man legt in die große Tasche die grobe Wichsbürste, in die kleinere Tasche eine Bürste zum Nachbürsten; die kleinen Taschen bergen die Ledercreme, den kleinen Pinsel znm Auftragen der Wichse und kleine dunkelfarbige, ausgezackte Flanellläppchen zum Einreiben. L.
Hauswirtschaftliches.
Serviertücher.
Um jede Schüssel hübsch, heiße aber gefahrlos servieren zu können, bedient man sich eines im Quadrat 48 cm großen Leinentuches, dem auf der Rückseite über Eck eine 22 om lange, 18 cm breite Tasche flach aufgesteppt wurde; die Entfernung von der Tuchecke bis zur Mitte des vorderen Taschenrandes beträgt in der Diagonale gemessen 19 cm. In die Tasche schiebt man, bevor die Hand eingeführt wird, ein genau passendes Stück Molton oder Barchent, oder auch Pappe, die feste Einlage läßt die Schüssel aber leichter abgleiten, eine Gefahr, die bei der Stoffeinlage vermieden wird, welche die Hand auch schon recht gut vor dem Verbrennen schützt. Unsere flach ausgebreitet abgebildete Vorlage zeigt als Verzierung die Mode des Tages – vom 2 cm breiten Hohlsaum aufwachsende Mohnblüten, die mit waschechter Seide in leichtem Plattstich getreu nach der Natur gestickt wurden. Sehr hübsch sieht auch Durchbruch oder Kreuzstichstickerei aus.
Treffliche Frühlingssuppe aus Spargeln und Morcheln. Man braucht zu dieser Suppe 300 g geschälte, in kleine Stücke geschnittene Spargel und zwei Handvoll frische, sorgsam gereinigte Morcheln. Die Spargelstückchen werden in Salzwasser gar gekocht, die Morcheln in etwas Butter mit Petersilie weich gedünstet. Zu den Pilzen giebt man noch 20 g Butter und rührt dann mit ihnen 50 g Mehl gar, hiebt dann das Spargelwasser daran, so daß man eine dünnsämige Suppe erhält, und kocht zuletzt 10 g Liebigs Fleischextrakt und zwei Löffel süße Sahne mit der Suppe durch. Man thut die Spargelstückchen hinein, würzt die Suppe mit etwas Pfeffer und giebt geröstete Semmelbröckchen dazu. L. H.
Pfingstkörbchen. Ein ganz wunderhübsches Körbchen für die Pfingsttafel vermag man aus einem nicht zu hohen, einfachen Spankorb mit Henkel herzustellen. Man bestreicht dieses innen und außen mit einer schwachen Gelatinelösung, läßt diese trocknen und wiederholt das Ueberziehen mit der Gelatine so oft, bis das Holz nichts mehr aufsaugt, worauf man das Körbchen zwei Tage an einen warmen Ort stellt.
Man überzieht alsdann den Korb mit gutem Kopallack und läßt diesen soweit trocknen, daß er nur noch eben klebt, stäubt nun Silberbronze ganz gleichmäßig und dicht darüber.
Das Körbchen sieht jetzt echten Silberkörbchen sehr ähnlich.
Man füllt es am Rande innen mit den zartgrünen Birkenzweigen, windet darauf von blauem Flieder eine schmale Guirlande und schlingt sie um den Außenrand des Korbes, sie hie und da mit einigen gleichfarbigen Seidenfäden befestigend. Der leere Raum des Korbes wird unten mit Moos bedeckt und darüber ein creme Kreppapier gedeckt, auf dem man allerhand Südfrüchte, Obst u. dgl. zierlich ordnet.
Der Henkel des Korbes wird mit lichtgrünem Seidenband umwunden und an einer Seite ein Rosenstrauß, den man mit einzelnen Maiglöckchen durchstellt, befestigt. Sehr hübsch sieht auch eine weiße ausgestopfte Taube aus, die man auf die Mitte des Henkels setzt. He.
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Allerlei Kurzweil.
Rätsel
Den nachfolgenden 16 Wörtern entnehme man je 3 nebeneinander befindliche Buchstaben:
- 1. Pandora, 2. Feuerstein, 3. Zitteraal, 4. Seherin. 5. Bellerophon, 6. Hamster, 7. Wrangel, 8. Aristides, 9. Teheran, 10. Brandenburg, 11. Gurgel, 12. Gespenst, 13. Stolzenfels, 14. Seezunge, 15. Erdkugel, 16. Lehnsmann.
Diese 48 Buchstaben ergeben alsdann in der Reihenfolge der Wörter gelesen die Anfangszeilen eines wohlbekannten Liedes.
Scherzrätsel.
Sag’, welches Fahrzeug ist gemeint,
Das, umgestellt, uns golden scheint.
Oscar Leede.
Buchstabenrätsel.
Es lebt ein Vogel im grünen Wald,
Sein Lied so frisch aus dem Buschwerk schallt.
Wenn ihm der Schwanz wird weggenommen –
Ein schmales Holz wird zum Vorschein kommen.
Macht’s nochmals so – was dann übrig bleibt,
Im Frühling saftig und kräftig treibt.
F. Müller-Saalfeld.
Auflösung des Verwandlungsrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 9.
Regen, Regel, Hegel, Hebel, Hebe, Rebe, Rabe, Rate, Raute, Raufe, Traufe.
Auflösung des Rösselsprungs auf dem Umschlag von Halbheft 9.
Lache gern ob guten Scherzen,
Lache, wo du lachen kannst;
Frohsinn scheuchet alle Schmerzen.
Frag’ dich, ob du nicht gewannst.
Als du manche Schicksalsschläge
Lachend räumtest aus dem Wege!
Schenck.
Auflösung des Scherzrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 9.
Koblenz.
Auflösung des Rätsels auf dem Umschlag von Halbheft 9. Schuld, Schild.
Auflösung des Bilderrätsels „Mondlandschaft“ auf dem Umschlag von Halbheft 9.
Von jeder Spitze der Schattenkegel zieht man eine senkrechte Linie zu den Buchstaben. Die davon betroffenen werden zeilenweise zuerst abgelesen, darauf die übrigen Buchstaben. Es ergiebt sich dann die Sentenz:
- 1) Große Ereignisse werfen
- 2) ihren Schatten voraus.
10 Bände. Preis geheftet 30 Mark. Elegant gebunden in feiner englischer Leinwand-Truhe 40 Mark.
(Auch in 75 Lieferungen à 40 Pfg. zu beziehen.
Inhalt der Bände: Bd. 1. Glück auf! Mit Illustrationen von Wilh. Claudius. – Bd. 2. Am Altar. Hermann. Mit Illustrationen von A. Zick. – Bd. 3. Gesprengte Fesseln. Verdächtig. Mit Illustrationen von Richard Gutschmidt. – Bd. 4. Frühlingsboten. Die Blume des Glückes. Mit Illustrationen von Erdmann Wagner. – Bd. 5. Gebannt und erlöst. Mit Illustrationen von C. Zopf. – Bd. 6. Ein Held der Feder. Heimatklang. Mit Illustrationen von R. Reinicke und Th. Rocholl. – Bd. 7. Um hohen Preis. Mit Illustrationen von Fritz Bergen. – Bd. 8. Vineta. Mit Illustrationen von Wilh. Claudius. – Bd. 9. Sankt Michael. Mit Illustrationen von Fritz Bergen. – Bd. 10. Die Alpenfee. Mit Illustrationen von Oskar Gräf.
E. Werner führt ihre Leser an der Hand eines packend und spannend aufgebauten Romans in die laute Welt des Ringens und Schaffens, in welcher nicht nur Menschen, sondern auch Geistesströmungen miteinander streiten. Die Tochter Berlins, in der Großstadt groß geworden, hatte das brausende Wehen des Zeitgeistes vernommen und ihn wohl begriffen, die Kämpfe mit Frauenherzen nachempfunden und mit der Wärme des Frauenherzens nacherzählt, so daß ihre Helden allen, auch Frauen und Jungfrauen, verständlich und sympathisch wurden.
Den reichen Bilderschmuck lieferten unsere besten deutschen Illustratoren; die elegante Ausstattung wird selbst den verwöhntesten Geschmack befriedigen.