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Die Gartenlaube (1899)/Heft 11

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1899
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[324 c]

11. Heft. Preis 10 cents. 30. Mai 1899.



Max Weil & Co., cor. 12 th & Vine Street, Cincinnati, Ohio.

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Inhalt.
Seite
Nur ein Mensch. Roman von Ida Boy-Ed (2. Fortsetzung) 325
Der Spreetunnel zwischen Stralau und Treptow. Von W. Berdrow. Mit Abbildungen 333
König Ludwig II und die Kunst. Von R. Artaria 334
Der Palmengarten zu Leipzig. Von Max Hartung. Mit Illustrationen von Ernst Kiesling 340
Das Schweigen im Walde. Roman von Ludwig Ganghofer (10. Fortsetzung) 342
Blätter und Blüten: Die Bismarck-Feuersäule. (Zu dem Bilde S. 325.) S. 353. – Lotsenfamilie. (Mit Abbildung.) S. 353. – Ein Jugendbildnis Alexander von Humboldts. (Zu dem Bilde S. 329.) S. 353. – Das neue Bayrische Nationalmuseum in München. (Mit Abbildung.) S. 354. – Der Dichter der „Heinzelmännchen“. (Mit Bildnis.) S. 354. – Die neue Steig- und Rettungsleiter der Berliner Feuerwehr. (Mit Abbildungen.) S. 355. – Der Preisträger. (Zu dem Bilde S. 336 und 337.) S. 355. – Unkraut und Eisenbahn. S.355. – Abgeschlagen. Von Karl Brandt. (Zu dem Bilde S. 345.) S. 356. – Für deutsche Erzieherinnen in England. S. 356. – IV. Quittung für das Rittershaus-Denkmal. S. 356.
Illustrationen: Die Bismarck-Feuersäule der deutschen Studentenschaft. Von W. Kreis. S. 325. – Alexander von Humboldt. Von Georg Friedrich Weitsch. S. 329. – Abbildungen zu dem Artikel „Der Spreetunnel zwischen Stralau und Treptow“. Der westliche Eingang des Tunnels. Das Innere des Tunnels. S. 333. – Der Preisträger. Von Otto Kirberg. S. 336 und 337. – Abbildungen zu dem Artikel „Der Palmengarten zu Leipzig“. Von Ernst Kiesling. Das Gesellschafts- und Palmenhaus. S. 340. Das Innere des Tunnels. Quelle im Palmenhaus. S. 341. – Abgeschlagen. Von I. Schmitzberger. S. 345. – „Juhui!“ Von L. Blume-Siebert. S. 349. – Lotsenfamilie. Von F. Fleury. S. 353. – August Kopisch. Von Wilhelm Hensel. S. 354. – Das neue Bayrische Nationalmuseum in München, erbaut von Gabriel Seidl. S. 354. – Die neue Steig- und Rettungsleiter der Berliner Feuerwehr. Von Ewald Thiel. S. 355. – „Maikäfer flieg I“ Von F. Reiß.


Hierzu Kunstbeilage XI: „Mühle bei Mondenschein". Von J. F. Hennings.




Kleine Mitteilungen.


Eduard v. Simson. In einem Alter, das zu erreichen nur wenigen vergönnt ist, im neunundachtzigsten Lebensjahr, ist am 2. Mai in Berlin der langjährige erste Präsident des Deutschen Reichsgerichts, Eduard v. Simson, gestorben. Bis in sein einundachtzigstes Jahr hatte er sein letztes hohes Amt bekleidet, das er bei Eröffnung des Reichsgerichts in Leipzig, am 1. Oktober 1879, angetreten hatte. Die Berufung an diese höchste und unabhängigste Stelle, welche ein deutscher Richter erreichen kann, krönte die öffentliche Wirksamkeit eines Mannes, der an der Wiederherstellung des Deutschen Reichs und der Herbeiführung der Justizeinheit in demselben einen großen unvergeßlichen Anteil gehabt hat. Eduard Simson war am 10. November 1810 in Königsberg geboren. Seine geistige Begabung entfaltete sich so früh, daß er mit fünfzehn Jahren die Universität beziehen, mit achtzehn die Doktorwürde erwerben konnte. 1831 wurde er in seiner Vaterstadt Privatdocent, 1836, mit sechsundzwanzig Jahren, ordentlicher Professor des römischen Rechts. Als Königsberg im Beginn der vierziger Jahre ein Herd der liberalen Bewegung ward, welche die Durchführung eines Verfassungslebens in Preußen und eine Reform des Deutschen Bundes auf freiheitlicher Grundlage anstrebte, schloß auch Simson sich derselben an; im April 1848 nahm er teil am Frankfurter Vorparlament, und nach seiner Rückkehr wurde er von seinen Mitbürgern in die Deutsche Nationalversammlung gewählt. Wie er in der Paulskirche sich der Gagernschen Partei anschloß, erst Vicepräsident, dann, als Gagern das Reichsministerium übernahm, unter dem Beifall aller Parteien Präsident der Versammlung wurde, darüber ist erst vor einem Jahre gelegentlich des Jubiläums des Frankfurter Parlaments in der „Gartenlaube“ (vgl. „Die Veteranen der Paulskirche“, S. 300) berichtet worden. Seine Redegewandtheit, die maßvolle Würde seines Wesens, die Klarheit seines Denkens und seine Gerechtigkeitsliebe machten ihn zum Muster eines parlamentarischen Präsidenten; im Unionsparlament zu Erfurt 1850, im preußischen Abgeordnetenhaus 1858 bis 1861, im Reichstag des Norddeutschen Bundes 1867 bis 1870, im ersten Deutschen Reichstag 1871 bis 1873 hat Simson als solcher aufs glänzendste diese Eigenschaften bewährt. 1849 und 1870 hat er als Führer und Sprecher von Deputationen – erst der Frankfurter Nationalversammlung, dann des Norddeutschen Reichstags – an den Träger der preußischen Krone die Bitte gerichtet, die Wahl zum Deutschen Kaiser anzunehmen; was 1849 sich gegenüber Friedrich Wilhelm IV als verfrüht erwies, fand am 18. Januar 1871 in Versailles durch König Wilhelm glorreiche Erfüllung. Durch diese zwei Missionen ist Eduard Simsons Name unvergänglich mit der Geschichte der Wiedererrichtung des Deutschen Reiches verknüpft. Seine Laufbahn als Jurist führte ihn 1860 nach Frankfurt a. O., wo er Vicepräsident des Appellationsgerichts wurde; 1869 ward er Präsident desselben, was er bis zu seiner Berufung an die Spitze des Reichsgerichts blieb. Ein Präsidium hat „Präsident“ Simson auch nach seiner Pensionierung bekleidet; bis zu seinem Tode war er Vorsitzender der „Goethe-Gesellschaft“, und dem Ruhme des großen Dichters, dessen ausgeglichenes Wesen, dessen universelle Bildung ihm von Jugend auf als Vorbild vorangeleuchtet, hat sein letztes Wirken gegolten.

„Rad-Rundfahrten in Deutschland“ ist der Titel eines Unternehmens, das gewiß in allen Kreisen, wo der Gruß „All Heil“ ein fröhliches Echo weckt, herzlich willkommen geheißen wird. Nach dem Muster anderer „Reiseführer“ für bestimmte Gegenden geben E. Wegener und J. Grüß im Verlag von Franz Ebhardt & Co. in Berlin handliche Bändchen in rotleinenem Einband heraus, von denen jedes einen anderen deutschen Landschaftsbezirk, der sich zur Bereisung durch den Radfahrer eignet, für dessen besondere Bedürfnisse schildert. Jeder Band enthält ein erklärendes Vorwort über Anlage und Plan des Unternehmens, dann kurze Kapitel mit praktischen Ratschlägen für die Reisevorbereitungen, die passendste Kleidung auf Wanderfahrten, „das Verhalten des Wanderfahrers gegen sich selbst“, „das Radfahren der Damen“, „erste Hilfe in Unglücksfällen“ etc. Dann folgt eine geographische Karte des Rundfahrtgebiets, eine Uebersichtskarte der Touren, eine Reihe von Spezialkarten für die einzelnen Wegstrecken. Daran schließt sich als Hauptteil der eigentliche Reiseführer, dessen Angaben sorgfältige Rücksicht auf die Interessen des Radfahrers nehmen. Diesem beschreibenden Text sind Abbildungen und noch zahlreiche kleinere Wegkarten eingestreut. Von diesen "Rad-Rundfahrten in Deutschland" liegen bisher zehn Hefte vor. In denselben finden sich Thüringen (I. südöstlicher Teil, II. nordwestlicher Teil), der Harz, die sächsisch-böhmische Schweiz, die mecklenburgische Schweiz, die holsteinische Schweiz, Rügen, Weser und Teutoburger Wald, Rhein-Mosel-Eifel und Rhein-Taunus behandelt. Gegenüber verwandten Unternehmungen, welche den Radfahrer nur über das rein Technische einer Wanderfahrt durch bestimmte Landschaften aufklären, ist es das besondere Verdienst dieser „Rad-Rundfahrten“, daß der Text auch Rücksicht auf das Bedürfnis des gebildeten Touristen nimmt, auf einer Reise den Charakter der Landschaft und ihre Schönheit zu würdigen, Land und Leute kennenzulernen, auch wenn er die Straßen auf blankem Stahlroß durcheilt.

Reiseführer durch Skandinavien. Immer größer wird die Zahl der Touristen, welche im Sommer gegen den Norden aufbrechen und die skandinavischen Länder, Dänemark, Schweden und Norwegen, aufsuchen. Je weiter nordwärts sie vordringen, desto großartiger und anziehender werden die Landschaftsansichten, die sich ihrem Auge bieten. Den Glanzpunkt einer nordischen Reise bildet in dieser Hinsicht das westliche Norwegen: hier vereinigen sich Wasser und Berge in glücklichster Weise zu schönsten Landschaftsbildern. Tief in das Hochgebirge einschneidende große Meeresarme, Felsenmauern, die unmittelbar vom Meeresspiegel bis zur Grenze des ewigen Schnees emporsteigen, Gletschermassen, welche fast bis in die See hinabgehen, wird man im übrigen Europa vergeblich suchen. Einen besonderen Reiz bieten im Sommer die hellen nordischen Nächte, sowie das eigenartige Schauspiel der Mitternachtssonne. Die letztere sieht man in Bodö vom 31. Mai bis 12. Juli, in Hammerfest vom 13. Mai bis 29. Juli, am Nordkap vom 11. Mai bis 11. August, während auf Spitzbergen die Sonne vom 18. April bis 24. August ununterbrochen über dem Horizonte steht.

Als ein trefflicher Ratgeber auf Reisen in Skandinavien gilt seit Jahren Meyers Reisebuch „Norwegen, Schweden und Dänemark“ (Bibliographisches Institut, Leipzig), das soeben in einer neuen, siebenten, reich vermehrten Auflage erschienen ist. Dasselbe ist von Dr. Ingvar Nielsen, Professor an der Universität Christiania, herausgegeben. Die Abteilung Norwegen hat Professor Dr. Nielsen selbst bearbeitet, während Dänemark und Schweden von ortsangesessenen Kennern des Landes in Kopenhagen und Stockholm sorgfältig revidiert wurden. Eine Erweiterung hat das Buch diesmal durch Aufnahme der Reise nach Spitzbergen und darüber hinaus ins Eismeer erfahren, da dieselbe in neuerer Zeit gern mit einer Nordlandsreise verbunden wird.

Drei Dampferlinien befördern die Reiselustigen nach diesem nördlichsten Ziel der Touristen.

[324 e]

Photographie im Verlag von Franz Hanfstaengl in München

MÜHLE BEI MONDENSCHEIN
Nach dem Gemälde von J. F. Hennings

Die Gartenlaube 1899.0 Kunstbeilage 11 [325]

Halbheft 11.   1899.


Die Bismarck-Feuersäule der deutschen Studentenschaft.
Mit dem ersten Preise gekrönter Entwurf von W. Kreis.


Nur ein Mensch.

Roman von Ida Boy-Ed.
(2. Fortsetzung.)


Jeden Tag ging Sabine nun nach dem Kaffee allein vor den Thoren von Mühlau spazieren.

Südlich aus dem Oderthore führte eine mit Obstbäumen bestandene Chaussee durch grünende Felder schier endlos gegen einen Horizont, den das langsam steigende Gelände bildete. – Da war kein Reiz als die Weite und keine Schönheit als der große Himmel im Glanz seiner Bläue oder im geheimnisvollen Leben ziehender Wolken.

Aber westlich, aus dem Berliner Thor, zogen zwei Landwege, rechts und links von der Chaussee, ihre ausgefahrenen Spuren durch eine mannigfaltige Landschaft. Die Chaussee durchschnitt bald einen Kiefernwald und führte nach Heinsdorf. Der Landweg rechts ging über ein sandiges Heidegebiet zu trockenen Hügeln, die von jungen Kiefern bestanden waren. Der Weg links führte zum Mühlauer Kirchhof, und vom Thore bis dahin hatten wohlhabende Bürger, angeregt vom Bürgermeister Dorsten, auf dem Sande einen Park angelegt. Mühsam kämpften Gebüsche und Platanen um ihr Leben. Der ganze Park mit seinen Wegen und seinem Mittelplatz war durchsichtig und dürftig zum Erbarmen. Wenn ihn nicht gerade einmal ein Leichenzug durchquerte, oder einer von den spärlichen Kirchhofsbesuchern, lag er verlassen. Hier streifte Sabine umher und saß auch wohl lange auf einer der drei Bänke, die der „Verschönerungsverein“ auf dem Rundplatz aufgestellt hatte.

Die karg begrünten Fliederbüsche blühten nicht mehr, kräftiger strebten die Akazien auf dem Sandboden empor, zwischen ihren langen Federblättern hingen die weißen Blütentrauben.

Von Düften war die Luft gesättigt. Leuchtend stand ein blauer Himmel über der Erde.

Durch das ruhevolle Schweigen der Frühlingsschönheit drang manchmal das feine Gezwitscher steigender Lerchen.

Die Sehnsucht zersprengte fast Sabinens Herz. Die unnennbare, unbestimmte, [326] grenzenlose Sehnsucht, die nicht weiß, woher sie kommt und wohin sie will.

Mit geschlossenen Augen gab Sabine sich ihrer schmerzlich schönen Empfindung hin, horchte auf die fernen Lerchenstimmen und fühlte den wehenden Blütenduft auf ihrem Angesicht.

Da nahte ein Schritt. Dumpf nur klang er vom weichen Sandboden, dennoch hörte ihn Sabine. Sie riß die Augen auf. Was sie seit Tagen angestrebt hatte, was sich ihr naturgemäß deshalb erfüllen mußte, begab sich nun: Achim von Körlegg kam heran.

Und dennoch, obgleich sie sich immer gesagt hatte, daß sie ihn notwendig so eines Tages treffen müsse, obgleich ja dies ihr einziger Zweck gewesen, dennoch erschrak sie wie vor einer nie geahnten Zufälligkeit. Ein schamhaftes Empfinden trieb ihr alles Blut ins Gesicht. Wenn er ahnte, daß ich eigentlich getrachtet habe, ihm in den Weg zu kommen! dachte sie zitternd.

Er hatte sie erkannt, auch er errötete stark.

Daß er mit einem höflichen Gruß vorübergehen könne, fiel ihr gar nicht ein. Auch ihm schien das gar nicht einzufallen.

Grüßend trat er heran. „Darf ich fragen, gnädige Frau, wie es Ihnen und Ihren Kindern geht? Darf ich es?“ fragte er mit etwas heiserer Stimme.

„Ich habe getrachtet, gehofft, Ihnen einmal zu begegnen,“ sprach Sabine, unfähig sich zu bezwingen, ihre Gedanken zu verbergen. Sie deutete mit der Hand auf den Platz, den die lange Bank reichlich für mehr als noch eine Person neben Sabine ließ.

Er verbeugte sich ernst und setzte sich. Dann schwiegen sie.

Die Sonne brütete über der dürftigen Anpflanzung. Die Düfte stiegen. Alles war still. Weit und breit kein Mensch.

„Er sieht wohl aus,“ dachte Sabine, „frischer als damals. Die Reise hat ihm gut gethan.“

„Demnach,“ begann Achim endlich das Gespräch, an ihre Worte anknüpfend, „haben gnädige Frau mir irgend etwas zu sagen? Oder kann ich Ihnen einen Dienst leisten? Es giebt keinen, für den ich nicht mit Gut und Leben zur Verfügung stände!“

Sabine war von dem brennenden Verlangen beherrscht, zu wissen, alles zu wissen, was er denke und empfinde.

Sie sah ihn begierig an. „Hatten Sie schon erfahren, daß ich hier lebe? Sie schienen gar nicht überrascht – neulich, als wir uns auf dem Markt begegneten.“

„Ja!“

„Wann? Wie?“ fragte sie drängend.

Sie hatte den linken Arm, er den rechten auf die Banklehne gestützt. So saßen sie, einander zugewandt, von weitem anzusehen wie zwei gute Freunde, die miteinander plaudern.

„Gleich am dritten Tag, durch Kameraden,“ erzählte er. „Ich that die übliche Frage nach den Familien, bei denen man verkehren kann, nach den Besuchen, die ratsam sind zu machen. Man zählte neben den Mühlauer Honoratioren auch die Gutsbesitzer der Gegend auf, darunter Herrn Reinald Deuben auf Heinsdorf. Noch ehe mein Gedächtnis mir klargestellt, wo ich den Namen schon einmal gehört habe – denn Ihr Familienname, meine gnädige Frau, hatte mich nicht besonders beschäftigt, doch las ich ihn einmal, ich glaube bei der Todesanzeige in den Blättern – ehe ich noch recht nachdenken konnte, stritten schon die Kameraden, ob ein Verkehr zwischen mir und Deuben möglich sei, über den militärisch unumgänglichen hinaus, der daraus resultiert, daß Ihr Herr Bruder Reserveoffizier unseres Regiments ist. Aus diesem Streit erfuhr ich, daß Sie hier leben.“

Mit gesenkten Lidern hatte sie zugehört. Nun schlug sie plötzlich die Augen auf. Eine sonderbare Empfindung durchzuckte ihn; ihm war, als erschrecke er vor diesen brennenden Blicken.

Und während der langen Zeit, die er in der großen, freien Welt gelebt, hatte er geglaubt, mit diesen Augen innerlich ganz fertig geworden zu sein.

„Und da war Ihnen Ihr neues Kommando und Mühlau und alles vergällt?“ fragte sie.

Sie wollte hören, daß er litt. Sie wollte eine Mission an ihm haben, die, ihm seine Ruhe wiederzugeben, seine Gedanken zu erheitern.

„Nein,“ sprach er und sah sie frei und fest an. „Schließen Sie aus diesem Nein nicht, daß ich leichter über alles Vergangene denke als vor einem Jahr, wo wir uns am Grabe Ihres Gatten begegneten. Aber ich habe zehn Monate lang in Amerika gelebt. Das will was heißen. Zumal will es heißen, daß es keinen Menschen giebt, der so starr, so glatt, so unzugänglich ist, daß die Ansichten und Einflüsse seiner Umgebung nicht an ihm abfärbten. Ich bin frischer und unbefangener geworden. Oder ich komme mir wenigstens so vor. Ich bilde mir ein, den Ueberschuß von Schwere und Gefühl, an dem wir alle leiden, doch ein bißchen beschnitten zu haben. Ja, es ist und bleibt so: ich habe einen Mann, der Gatte und Vater war, im Duell erschossen. Aber ebenso ist und bleibt es wahr, daß ich hierfür nicht der Verantwortliche bin. Weder im allgemeinen noch im speziellen. Mit Ernst, mit Trauer darf ich an das Geschehene denken. Nicht aber mit grüblerischen Empfindungen, die meine Kraft zerstören müßten. Ich bin ein Mann und ein Soldat. Die Zähne zusammen! Weiter! Und nicht zurückgesehen. Das ist mein Vorsatz!“

„Und mit solchem brauchte es Sie allerdings nicht weiter aufzuregen, daß Sie mich hier finden, daß mein Bruder Ihr Kamerad ist“, rief sie bitter. Er sah sie in schmerzlichem Staunen an.

„So wünschten Sie, daß ich in Erinnerung an das Ereignis für immer ein bedrückter Mann und innerlich unfrei bliebe?“ fragte er leise.

Sie erglühte. Sie wußte nicht klar, was sie wollte und wünschte. Nur beschäftigen sollte er sich in seinen Gedanken mit ihr und ihrem Geschick! Und wenn er unglücklich, gequält des Geschehenen gedachte, so war das doch immer eine Beschäftigung mit ihr – – Aber dennoch sprach sie reuevoll: „Vergeben Sie mir.“

„Die Lage,“ fuhr er fort, „ist immerhin seltsam, wenn sie mich auch nicht aufregt und nicht unsicher machen darf. Ihre Eltern, gnädige Frau, höre ich, leben ziemlich zurückgezogen, ebenso Sie selbst. Ihr Bruder und ich werden keine Intimität miteinander suchen, bei den unvermeidlichen Begegnungen wird ihm und mir der Takt nicht fehlen – dieser alles vermittelnde, alles ausgleichende, alles zudeckende Takt, der in uns Offizieren sozusagen schon mechanisch funktioniert. Und sollten Sie, meine gnädige Frau, im Winter, wie ich herzlich hoffe, wieder in der Gesellschaft erscheinen, so dürfen Sie sicher sein, daß ich immer einen Grund finden werde, abzusagen und Ihnen eine Begegnung mit mir zu ersparen.“

Sie hörte aus seiner Rede vor allen Dingen dies eine heraus, daß er nicht daran dachte, sich versetzen zu lassen. Sie atmete befriedigt und erleichtert auf. Als sie sinnend schwieg, fragte er, der ihre ersten Worte nicht vergessen hatte: „Sie hatten danach getrachtet, gnädige Frau, mich einmal zu treffen. Darf ich nun erfahren, was Sie von mir wünschen?“

Eine plötzliche Verlegenheit überfiel sie. Mit einem Male begriff sie, daß ihr Vorsatz, diesem Manne so schlankweg gestehen zu wollen, ihre Ehe sei unglücklich gewesen, ein Unsinn, eine unweibliche Thorheit war. Wie hatte sie überhaupt nur eine Sekunde lang dergleichen denken können!

Nach einer kurzen Pause sagte sie hastig: „Alles, was Sie eben zu mir sprachen, – das war’s, was ich zu wissen, zu besprechen wünschte. Ich war sehr beunruhigt, in dem fortwährenden Gedanken, daß Ihnen die Situation lästig sei. Ich glaubte, sie werde klarer, ruhiger, wenn wir …. wenn wir einmal ….“

„Sie haben recht gehabt, meine gnädige Frau,“ gab er herzlich zu. „Es ist mir in der That eine Beruhigung gewesen, Ihnen mitteilen zu dürfen, wie ich denke und daß ich meinen hiesigen Aufenthalt nicht als ein so tragisches Mißgeschick ansehe, das mir jede Minute des Daseins vergällt. Ich hatte in der That gefürchtet, daß Sie mit dieser Vorstellung an mich denken könnten.“

„Sie haben nachgedacht, was ich ….“ rief Sabine und verstummte erschreckt. Etwas ganz Unbedachtes, sehr Impulsives hatte von ihren Lippen gewollt.

Auch er erschrak. Sie vermieden es, sich anzusehen. Sie begriffen, daß sie sich eigentlich gestanden hatten, wie ihre Gedanken unausgesetzt miteinander beschäftigt gewesen.

Mit veränderter Stimme, hörbar tief bewegt, auf den sandigen Weg niederschauend, in den er mit seiner Säbelscheidenspitze Striche grub, fragte Achim: „Und darf ich wissen, wie sich Ihr Leben gestaltet hat?“

Sie schwieg, mit sich kämpfend. Antworten hieß hier gleich: zu viel sagen!

„Halten Sie mich nicht für zudringlich,“ fuhr er fort, „aber [327] ich meine, Ihr Leben geht mich doch sehr viel an. Ein verhängnisvolles Geschick entfernt uns ganz und gar voneinander. Und eben dieses Geschick verbindet uns in seltsamer Weise. Gleichgültig kann mir Ihr Leben, das Ihrer Kinder nicht sein, niemals!“

Sie nickte vor sich hin und murmelte: „Nein, nein – Gleichgültigkeit – – das ist unmöglich.“

„Sie leben bei Ihren Eltern,“ sprach er, „wenn es denn sein mußte, daß Sie Ihre Selbständigkeit aufzugeben gezwungen waren, so war die Rückkehr in das Elternhaus gewiß die beste, die glücklichste Form.“

„Glauben Sie?“ rief sie bitter. „Ich meine, selbständige, redliche Arbeit, eine Existenz, darin ich Herrin meines Willens blieb – das wäre die beste, die glücklichste Form gewesen.“

„Ihr Verhältnis zu Ihren Eltern ist kein gutes?“ fragte er entsetzt.

„O ja – das beste,“ sprach sie mit steigender Leidenschaft, „mißverstehen Sie mich nicht! Mein Vater ist die Güte und Treue in Person, meine Mutter quält sich, wenn sie denkt, ich sei nicht zufrieden, beide beten meine Kinder an. Ich habe nur den einen Wunsch, das friedliche Alter meines Vaters, meiner Mutter nicht zu trüben.“

Es riß sie fort zu sprechen. Endlich, endlich konnte all das verschwiegene Leid herausgeschrieen werden. Was sie keinem Menschen auf der Welt sagen durfte, was ihr Stolz gegen jedermann geleugnet haben würde, diesem einen Mann, der ihr so wunderlich nahe und so unerreichbar fern stand, diesem konnte sie sich offenbaren. Wie von selbst lag es wie tiefes Geheimnis über allem, was sich zwischen ihnen begab.

„Sie hören es, wir lieben uns innig, meine Eltern und ich. Und dennoch! Ich lebe ihr Leben – nicht mein eigenes! Und ich bin ein Mensch, der nur in aufbäumender Qual erträgt, was seiner Individualität widerstrebt. Ich beneide die Weiber, die sich duldend fügen und schmiegen können. Ich kann es nicht. Lebe ich hier denn überhaupt? Alles giebt es nur in meiner Erinnerung oder in meiner Phantasie: Glück, Ereignisse, Leben. Und wie mich diese kleine, enge Stille rund um mich her drückt! Da kommt man auf verrückte Ideen. Man träumt in Unwahrscheinlichkeiten, anstatt mutig die Wirklichkeit anzusehen. Meine Eltern – ja die sitzen still am Winterherd – da kann man Seelenfrieden haben und vergißt vielleicht, wie es war, da man noch im Sturm stand. Ich soll mit an diesem Herde sitzen. Ich! Schon – – schon, und soll begreifen, daß alles aus ist, die ich kaum anfing! O nein, es wäre besser gewesen, sie hätten mich, wie ich wollte, um mein Brot kämpfen lassen. Wenn es auch nur dürftig gewesen wäre – ich hätte einen Inhalt für meine Tage gehabt!“

Achim war sehr erschüttert. Das flammende Wesen der Frau riß ihn fort. Sie war also doch unglücklich! Sie litt und bäumte sich vergebens auf. „Ihre Kinder!“ rief er eindringlich und faßte nach ihrer Hand, sie beruhigend zwischen seine beiden Hände nehmend.

Ein melancholisches Lächeln verklärte ihr Angesicht.

„Ja, Milly und Leo,“ sprach sie, „aber sehen Sie – ich muß es sagen, ich weiß, Sie verstehen mich gewiß nicht falsch: was kleine Kinder für eine Mutter sind, ja, was große Kinder sind, das wird nie richtig gemessen. Darüber giebt es so viel schöne Redensarten, daß keiner mehr den Mut hat, die nüchterne Wahrheit zu sagen. Wenn mir meine Kinder stürben, ich glaube, ich stürbe vor Verzweiflung ihnen nach. Und so empfindet jede echte Mutter. Aber Kindern giebt man. Die Kinder ernährt man; mit den besten Kräften der eigenen Seele nährt man gewissenhaft ihre Seele. Sie stehen nie, niemals auf einer Stufe mit uns. Erst sind sie wie holde Pflanzen, die man hegt und pflegt. Dann süßes Spielzeug, erheiternder Sonnenschein. Dann Gegenstand der Liebe und Sorge, und das bleiben sie immer! Sie lohnen mit Dankbarkeit – sie geben Liebe wieder. Ja – aber die aufschauende Liebe der Ehrfurcht! Die Dankbarkeit der Pflicht. Es ist keine Freiheit und keine Gleichheit und keine Wahl in dieser Liebe. Und jeder Mensch und jedes Weib braucht ein gleichgeordnetes Wesen, von dem man zurückempfängt, was man nach anderer Richtung ausgiebt. Ohne diesen Ausgleich verzehren wir unsere besten Kräfte mehr und rascher, als das Gemüt erträgt, ohne Schaden zu leiden. Oh, darüber habe ich schon so viel nachgedacht – sehr viel!“

Er fühlte, daß sie Wahrheiten sprach, die sie in schwersten Kämpfen erworben hatte. Er hörte, daß ihre Seele darbte, daß eine laute, gewaltige Stimme in ihr nach Liebe, Glück, nach einem verstehenden Gefährten, nach Selbständigkeit schrie. Er ließ ihre Hand fahren. Sein Gesicht war bleich, seine Stimme tonlos.

„Und ich habe Ihnen alles geraubt,“ sprach er. Sie sprang auf. Das lodernde Feuer in ihren Augen erlosch. Sie atmete schwer und griff, um sich zu stützen, nach der Banklehne. Geängstigt stand er vor ihr und sah, daß sie nach Worten suchte.

Jetzt war der Augenblick gekommen – jetzt durfte, mußte sie ihm sagen: Du hast mir nichts geraubt. So arm war ich schon in meiner Ehe. Nur die Form meines Unglücks hat sich geändert.

Aber sie konnte nicht. Sie suchte sich zu fassen, es dauerte lange.

„Hören Sie nicht auf mich,“ sagte sie endlich mit Anstrengung und einem erkünstelten Lächeln. „Mein Temperament riß mich einmal wieder fort. Ich habe es ja gut vor Tausenden. Ich habe keine Not mit meinen Kindern. Das ist viel. Alle Menschen sagen es – dafür muß man dankbar sein.“

Nun aber war es mit seiner Selbstbeherrschung vorbei. Er griff nach ihrer Hand und preßte sie heftig.

„Sie leiden!“ rief er, „ich habe es begriffen. Sie, die für strahlendes Glück geboren scheinen. Von diesem Augenblicke an werde ich keine Ruhe mehr haben, bis ich höre, die Wunden sind geheilt, ein neues Glück erfüllt Sie ganz!“

Sie ließ ihm ihre Hand und lächelte ihn schmerzlich an.

„Sorgen Sie sich nicht um mich,“ bat sie, „ich bin allein schuld, wenn es mir nicht gelingt, zufrieden zu werden. Ich klage mich an, ganz einzig nur mich. Ich bin so unglücklich veranlagt, das ist alles! Egoisten haben es gut. Die ganz Selbstlosen auch. Beide befinden sich in einem zweifellosen Zustand. Aber ich schwanke so hin und her: bald verlange ich Unerhörtes an Glück und Gunst vom Schicksal für mich. Bald habe ich nur das eine Verlangen, mich für die Meinen aufzuopfern. So komme ich aus den Kämpfen nicht heraus. Bald bin ich unglücklich für mich, bald für andere. Ob ich mit solcher Veranlagung nun in Berlin oder in Mühlau lebe – nicht wahr, das ist gleich.“

Sie wollte mit einem Scherz schließen. Aber ihre Stimme brach dabei und sie wandte schnell das Haupt ab.

„Gehen Sie,“ flüsterte sie, „es ist besser.“

„Ich gehe,“ sprach er, „ich gehe unglücklicher als ich kam und doch reicher. Sie haben mir Anteil gegeben an Ihrem Leiden. Und wenn uns der Zufall wieder einmal zusammenführt, fern von rohen und unverständigen Beobachtern – darf ich mir dann die Freiheit nehmen, Sie zu fragen, wie es Ihnen und Ihren Kindern geht?“

Sabine nickte stumm. Er nahm ihre Hand und küßte sie dankbar und ehrfurchtsvoll. Dann ging er.

Sabine setzte sich wieder auf die Bank und brach in Thränen aus.

Rings um sie blieb alles still. Allmählich trocknete sie die Thränen und sah ängstlich umher, ob kein Neugieriger ihr Weinen beobachtet habe. Kein Mensch weit und breit.

Durch die karg belaubten Büsche der kümmerlichen Anlagen schimmerten gradeaus die Häuser von Mühlau. Eine Nebenstraße wandte ihre Rückseite dem „Bürgerpark“ zu, da lehnten sich an rote Wände hölzerne kleine Stallanbauten und schmale Nutzgärten zogen sich bis an die Grenze des Parkes. Aus stumpfen kleinen Schornsteinen, die aus Ziegeldächern aufragten, wölkte sich feiner, grauweißer Rauch in die trockene Luft. Unveränderlich, in lachendem Blau stand der Himmel und gab, wo er als Wand hinter Mühlau prangte, dem rotgrauen Kirchturm und seinem grünen Kupferspitzdach den farbenprächtigsten Hintergrund.

Sabine stand auf und ging raschen Schrittes stadtwärts. Ihr war, nachdem sie die letzte Thräne getrocknet hatte, unaussprechlich leicht, fast glücklich zu Mut.

Ihr war, als habe sie die letzten zehn Monate mit Warten zugebracht. Der heutige Tag hatte es ihr erfüllt.

Die Stille war vergangen und das Leben war gekommen.

Endlich ein Erlebnis! Endlich eine Stunde, die durchkostet zu haben sich lohnte, die man im Geist wieder und wieder durchdenken konnte. Endlich ein Mensch, der von ihr wußte, sie verstand, um sie litt, dessen Herz mit heißen Wünschen Glück in ihr Dasein ersehnte, der alles, alles für sie thun würde, der für sie die Sterne vom Himmel herunterholen möchte, um sie ihr zu bringen. Ein Mensch, der sich innerlich gezwungen fühlte, an sie zu denken, aber nicht in jenem Zwang, den die Pflicht aufdrängt! [328] Ein Mensch, dem ihre Persönlichkeit Inhalt des Lebens gab, dessen Persönlichkeit ihren Tagen neuen Inhalt brachte.

Ihre Schritte waren beschwingt, ihre Augen glänzten.

Und doch war keine Unklarheit und eigentlich auch kein Ueberschwang in ihren Gedanken. Sie wußte, daß Achim von Körlegg und sie niemals einen freundschaftlichen, offenkundigen Verkehr miteinander unterhalten könnten, daß die Vorurteile der ganzen Welt, zum wenigsten der Mühlauer Welt sich dagegen auflehnen würden. Eine Witwe befreundet sich nicht mit dem Mann, der ihr den Gatten erschossen hat, wenn auch noch so unfreiwillig, noch so bereut erschossen.

Aber vor ihrem eigenen Richterstuhl fand sie sich nicht anklagbar dafür, daß ihr Achim von Körlegg sympathisch war, daß sie keinen Mann gesehen hatte bisher, der ihr gleich bedeutend, gleich ernst, gleich männlich erschienen wäre.

Wie sehr hatte sie sonst gelitten, wenn sie morgens erwachte, aus vielleicht inhaltreichsten Träumen zum inhaltleersten Tag. Der Gegensatz der Wirklichkeit zu ihren Glücksbedürfnissen marterte sie dann mit immer neuer Kraft.

Das war nun vorbei. Das Glück war nicht gekommen. Aber es gab nun ein Interesse – ein großes, brennendes Interesse. Und gerade das Ungewöhnliche der ganzen Schicksalsverknüpfung zwischen ihr und Körlegg hatte einen phantastischen Reiz. –

Dicht vor dem Thor begegnete Sabine ihren Kindern, die Hand in Hand der beaufsichtigenden Lisbeth voranliefen. Mit einem Jubelruf öffnete Sabine, im Staube der Straße niederhockend, ihre Arme und die Kinder liefen hinein.

Wie schön sie waren! Wie unsäglich sie sie liebte! Welches Glück, sie zu besitzen! Lachend und in ihrem drolligen Kinderdeutsch mit ihnen plaudernd, ging Sabine weiter.

Die Mühlauer sahen aus den Fenstern und sprachen davon, daß die schöne Witwe sich doch getröstet zu haben scheine, denn sie lache so lustig und graue Kleider trage sie auch schon.

Und in ihrem grauen Kleide, den schwarzen Hut mit steilragenden Fittichen auf dem Haupt, dem belebten Gesicht und den dunklen Augen darin, sah Sabine auch so schön aus, so jugendmutig, so lebenglühend, daß Hauptmann von Hallendorf am Fenster die Zähne auf die Unterlippe biß.

„Morgen wird zum zweitenmal drüben Besuch gemacht,“ beschloß er bei sich, „und bei Reinald Deuben auf Heinsdorf werd’ ich mal auf den Busch klopfen.“

Die Kinder sahen zu dem Fenster empor. Herr von Hallendorf war ihr Freund, sein Bursche ließ Leo manchmal auf dem Pferd sitzen und der Hauptmann redete sie stets an auf der Straße, wobei er immer mit einem „Gruß an die Mama“ die Unterredung schloß.

Hallendorf verneigte sich gegen Sabine und warf Milly ein Kußhändchen zu. Er bekam Herzklopfen, er war berauscht, kein Zweifel, die schöne Frau hatte mit einem strahlenden Lächeln wieder gegrüßt. Also doch! also endlich! Hoffentlich, hatte sie nicht bemerkt, daß er grade eine ganz alte fleckige Litewka trug.

Nein, Sabine hatte es nicht bemerkt, sie wußte auch nicht einmal, daß sie so strahlend gegrüßt hatte. Leuchtenden Angesichts, unter Scherzreden ließ sie Leo und Milly treppan hopsen.

Oben auf dem Flur, der nicht ganz hell war, weil man die kleine Küche vor das Fenster hingebaut hatte, stand Guste und putzte den Thürklopfer an der Eßstubenthür. Die Klopfer der andern beiden Thüren, die in die ebenfalls nach vorn gelegenen Schlaf- und Eßstube führten, blitzten schon im blanken Messingglanz. Hierdurch wurde Sabine daran erinnert, daß Sonnabend war.

„Der junge Herr ist da!“ meldete Guste. „Heute?“ rief Sabine. An einem Sonnabend – das war sehr ungewöhnlich. Sonnabend abends hatte doch Reinald Löhne auszuzahlen und mit dem Inspektor den Arbeitsplan der kommenden Woche festzulegen, aber es war ihr gerade recht, den geliebten Bruder zu umarmen.

„Nehmen Sie die Kinder nach hinten, Lisbeth,“ befahl Sabine und setzte gleich tröstend hinzu: „Ihr könnt Onkel Reinald nachher noch Guten Tag sagen!“

Vorn im Wohnzimmer fand sie eine ganz wunderbare Gruppe. An Reinalds Brust weinte die Mutter; der Oberamtmann stand abgewandt und tupfte sich mit seinem türkischen Taschentuch die Augen.

„Ein Unglück?!“ rief Sabine. Schon wallte es bitter in ihr auf; eben war ein bißchen Mut und ein bißchen Zufriedenheit in ihre Seele gekommen, da gab es schon wieder einen Rückschlag; als ob es anders sein könne! Aber diesmal hatte ihr Mißtrauen gegen das Schicksal sie doch getäuscht.

„Im Gegenteil,“ sprach der Oberamtmann tief ergriffen, „dein Bruder hat sich verlobt. Und so recht nach unserm Herzen.“

Mit einem Jubelschrei flog Sabine dem Bruder an den Hals und verdrängte geradezu die Mutter. Beinahe schien es exaltiert, wie sie lachte und weinte und sich freute und den Bruder küßte. Reinald war es fast etwas zu viel, aber er war doch sehr gerührt, denn er hatte sich im Grunde ein wenig geängstigt, wie Sabine es aufnehmen würde.

Als sie sich ausgetobt hatte, war ihr leicht und friedlich und erlöst ums Herz. Ach, das Leben konnte doch noch wieder reich und schön werden!

„Nun erzähle!“ bat sie, „wer ist es? wie heißt sie? Ist es Martha Voigtstedt?“

„Ja,“ sagte er, „die Aelteste von dem Wendessener Voigtstedt.“

Er begann, etwas unbeholfen im Vortrage, zu erzählen, was für Vorzüge Martha habe, und wie er sie um dieser willen lieb gewonnen und wie reichlich Aussteuer und Mitgift bemessen sein würden. Er war ein großer, schöner Mensch, dunkel wie Sabine, aber nicht bleich wie sie, sondern seine Farben hatten von der Luft rotbraune Töne angenommen, die das Gesicht derb erscheinen ließen, während die unverbrannte Stirn weiß schimmerte. Seine Arbeit hatte seinem Wesen etwas robustes, seinen Bewegungen etwas schwerfälliges gegeben. Er sah alles in allem aus wie ein Mann, der weiß, was er will und kann, aber nicht wie einer, der viel denkt. „Zu gern möcht’ ich, Sabine,“ schloß er, „daß du und meine Martha – daß ihr zwei so recht wie Schwestern euch lieb hättet! Meine Martha hat es auch gelobt.“

Inzwischen hatte Sabinens Erregung sich mehr und mehr verflüchtigt. Sie hörte etwas zerstreut zu. Es war so harmlos, so unaussprechlich wenig aufregend für die Welt, wenn Herr Voigtstedt-Wendessen seine brave Tochter Martha mit Herrn Deuben-Heinsdorf verlobte. Und man konnte ein wenig nervös davon werden, wie Reinald alle zwei Minuten sagte: „Meine Martha“. Aber als zum Schluß seine Stimme vor Rührung bebte und die Mutter dazu wieder von neuem zu weinen begann, kam Sabine sich herzlos, gleichgültig, strafwürdig vor.

Sie stand auf, umarmte ihren Bruder und versprach, seiner Martha mit offenen Armen und offenem Herzen entgegenzukommen.

Man besprach dann für morgen eine Fahrt nach Wendessen, wo im kleinen Kreise die Verlobung gefeiert werden sollte. Heiraten wollte man erst im Winter, vielleicht gleich nach Weihnacht, jedenfalls zu einer Zeit, die dem Landmann Muße gab, mehr an sich, als an seine Aecker zu denken.

Sabine machte eine sonderbare Beobachtung. Immer hatte der Oberamtmann in dem zweiunddreißigjährigen Sohn doch noch ein wenig den kleinen Jungen gesehen, der unter väterlicher Zucht und Oberaufsicht stand und dem Kontrolle jedenfalls nur nutzte. Plötzlich war Reinald ein Mensch, dessen eigene Wünsche und Ansichten ausschlaggebend waren. Der alte Herr war mit allem zufrieden und ließ keine andern Antworten hören als: „Gern“ – „wie ihr wollt“ – „ach, uns Alten ist ja alles recht“.

Reinald war ein Bräutigam, er stand gleichsam in festlichem Glanz vor den Eltern; er hatte verständig gefreit und bekam ein vom Vater unabhängiges Vermögen durch die Heirat. Hob ihn das mit einemmal so sehr?

„Wie menschlich ist alles – selbst Elternliebe,“ dachte Sabine.

War sie auch aus ihrem Rausch zu dem gewohnten Zustand des Beobachtens und Grübelns zurückgekehrt, so blieb ihre Stimmung doch eine gehobene.

Alles schien verändert; es würde mehr Bewegung in das Leben und in die Gedanken der Eltern kommen. Das lenkte diese dann ein wenig von ihr selbst ab. Sie brauchte nicht mehr jede Miene zu bewachen, jeden Schritt zu erklären.

„Wie Sabine sich über Reinalds Glück freut,“ sagten die Eltern zu einander, „es ist ordentlich rührend.“

„Ja, sie ist ein gutes Kind. Manche Schwester wäre eifersüchtig geworden.“

[329]

Alexander von Humboldt.
Nach dem Gemälde von Georg Friedrich Weitsch.
Aus dem Werk „Das neunzehnte Jahrhundert in Bildnissen“. Verlag der Photographischen Gesellschaft in Berlin.

[330] Nein, eifersüchtig war Sabine nicht. Eigentlich zu ihrer eigenen Ueberraschung, denn sie hatte sich immer eingebildet, es würde für sie einen inneren Konflikt schaffen, wenn der Bruder ohne ihren Rat sich verlobe. Für ihn war ihr früher die Beste nicht gut genug gewesen. Beinah’ war sie darüber traurig. Sie wünschte, sich seelisch tief erregen zu können. Aber es war ihr beim besten oder beim bösesten Willen nicht möglich, für Martha Voigtstedt, als man sich dann am Sonntag sah, etwas anderes aufzubringen als herzlichstes Wohlwollen.

Man fuhr schon um zehn Uhr ab. Es war eine ganze Expedition. Mit niedergeschlagenem Verdeck fuhr die große Kutsche vom „Hotel zum Kronprinzen“ pünktlich vor; alle Nachbarn waren an den Fenstern, nur Hauptmann von Hallendorf nicht, der noch schlief und so nachher bei seinem Besuch nur die Köchin Guste fand. Leo und Milly tobten schon im Wagen umher, ehe noch Lisbeth den Platz neben dem Kutscher eingenommen hatte und die Großen erschienen.

Der Oberamtmann und seine Frau strahlten und grüßten zu Küps hinüber und zur Frau Rechnungsrat Müller hinauf.

„Ich will auf Opa sein Schoß,“ schrie Milly jauchzend.

„Ich auch!“ kreischte Leo.

Und der alte Mann nahm auf jedes Knie ein Kind. Die Oberamtmännin schüttelte lächelnd den Kopf zu der Schwäche, hätte aber auch ihrerseits beide Kinder auf den Schoß genommen, wenn sie es verlangt haben würden.

Sabine im weißen Kleid und schwarzen Hut, schön und schlank anzusehen wie ein Mädchen, saß auf dem Rücksitz.

Die Fahrt war lang. Zwei und eine halbe Stunde brauchte man bis Wendessen. Die Kinder waren sehr unruhig. Endlich zog der Oberamtmann eine Tüte aus seiner hinteren Rocktasche.

Gegen diese Tüte, die sich immer ergänzte und eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Oelkrüglein der Witwe zu haben schien, hatte Sabine ein stetes Mißtrauen. Ja, sie war ihr ein stilles Aergernis. Die Schokoladenbonbons von Herrn Küps schmeckten verdächtig nach gebranntem Mehl. Auch war die Tüte in der hinteren Rocktasche manchen Püffen ausgesetzt, und nicht immer war der Anblick der zerkrümelten Plätzchen und der zerquetschten Pralinees sehr appetitlich, was Leo und Milly natürlich nicht weiter anfocht.

Die Kinder jubelten beim Anblick der Tüte.

„Bitte, Papa, gieb den Kindern keine Bonbons! Auf Wendessen werden sie ohnehin mehr Kuchen bekommen, als ihnen gut ist,“ bat Sabine dringend.

„ih – – so ein kleiner Bonbon schad’t keinem Kind was. Nich, Leo?“ fragte der Alte. Leo schrie: „Nein, nein!“

„Aber wirklich, Papa! Ich bitte dich! Leo zumal gefällt mir nicht ganz heute. Sein Kopf scheint heiß.“

Ungeduldig sprach der Oberamtmann: „Ich werd’ meinen Enkeln doch wohl noch einen Bonbon geben können!“

„Wirklich, Sabine, du bist zu ängstlich. Wir verstehen doch auch was von Kindern,“ bemerkte die Mutter ärgerlich.

Sabine schwieg. Eine kleine Verstimmung legte sich über die Wageninsassen. Leo und Milly aßen, zwischen des Großvaters Knien stehend, aus der Tüte, die er in beiden Händen hielt.

In ziemlicher Entfernung hinter dem Wagen her trabte ein Reiter. Sabine bemerkte es erst jetzt, da sie von der sie beängstigenden Beschäftigung der Kinder lieber den Blick fort und ins Weite richtete.

Es war einer der Herren vom Regiment. Reinald hatte von Herrn Voigtstedt die Erlaubnis bekommen, zwei derselben, die ihm besonders nahe standen, auch für heute nach Wendessen zu laden.

„Hinter uns reitet Bläser oder Langhans,“ sagte sie, froh, ein gleichgültiges Gespräch zu haben.

Aber die Alten waren noch beleidigt und sagten bloß: „So“, ohne ihre Aufmerksamkeit von den schmausenden Kindern zu wenden.

Der schwere, altmodische Landauer kam auf dem Landweg nur langsam weiter, der Reiter näherte sich schnell. Und da sah Sabine, daß es weder Leutnant Bläser noch Herr von Langhans war – –

Und auch der Reiter erkannte die Wageninsassen; Sabine auf dem Rücksitz zeigte ihm ja voll ihr Angesicht.

Er blieb nun so dicht hinter dem Landauer, daß er dieses Frauenangesicht fest im Auge behalten konnte. Sein Pferd ging im Schritt. Er dachte gar nicht daran, daß Sabinens Eltern sich umwenden und ihn, Achim von Körlegg, erkennen und sein langsames Hinterdreinreiten verwunderlich finden könnten.

Sabine glaubte ohnmächtig zu werden vor Angst und Schreck. Sie war leichenblaß. Aber mit großen Augen sah sie unverwandt hinüber.

Die Kinder krabbelten mit ihren Fingerchen schon auf dem Grunde der Tüte und sagten: „Dleich alle – dleich darteine mehr!“

Die Situation im Wagen konnte sich jede Sekunde ändern.

Die brennenden Blicke unverwandt auf des Reiters Gesicht geheftet, schüttelte Sabine langsam das Haupt.

Er hatte verstanden – er wandte auf der Stelle sein Pferd und jagte zurück. Da kletterte auch gerade schon Leo auf den Sitz zwischen den Großeltern und schrie: „Da reitet ein Soldat!“

Der Oberamtmann wandte sich um und sah dem Reiter nach.

„Dann ist es doch wohl nicht Bläser oder Langhans gewesen. Kanntest du ihn?“

Sabine schüttelte den Kopf. Ihr Herz klopfte. Nun war der Tag doch nicht so leer und lang!

Der Rest der Fahrt schien ihr unglaublich kurz, und mit hinreißender Liebenswürdigkeit bezaubcrte sie nachher alle Wendessener.

Martha, die Braut, hatte sich vor der schönen Schwägerin geängstigt, von der die Mühlauer und die Offiziere sagten, sie sei unnahbar stolz und unheimlich klug. Nun hielt Sabine das blonde, frische Mädchen in den Armen und küßte ihr die Wangen und sagte ihr dann den ganzen Tag noch viele liebe, gute Worte. Martha war selig und trieb von Stund’ an einen förmlichen Kultus mit des Verlobten Schwester. Mit dem Vater Voigtstedt, einem derbfröhlichen Mann von sechsundvierzig Jahren, kokettierte Sabine förmlich, so daß der mehr als ein stilles, anerkennendes „Donnerwetter, da steckt Rasse drin“ dachte. Frau Voigtstedt war das frühgealterte Ebenbild ihrer Martha, doch glich die untersetzte, üppige Gestalt derjenigen der Tochter noch fast vollkommen. Nur um die hellblauen Augen saßen schon viel Krähenfüße, und ein herber Zug ging vom Stumpfnäschen zum schwellenden Mund herab. Man sagte, Herr Voigtstedt gäbe seiner Frau viel Grund zur Eifersucht. Jedenfalls hatte er eine plumpe Art, darüber zu scherzen, daß Weiber nichts mehr taugten, wenn’s mit der Jugend erst bergab gehe. Sabine fand nun wiederholt und laut eine geradezu zum Verwechseln auffordernde Aehnlichkeit zwischen der jugendlichen Mutter und der schon merkwürdig gereift aussehenden Tochter, was Frau Voigtstedt sehr wohlthat.

Mit Marthas kleiner halbwüchsigen Schwester und dem Bruder, einem langen Bengel, der vor Tappsigkeit sich und andere immer stieß und trat, plauderte sie ermutigend.

Sie heuchelte nicht. Es war ihr ein Herzensbedürfnis, den Bruder glücklich zu machen, rings Behagen zu erwecken.

Ihre Seele war wie beschwingt. Und während sie mit diesen fremden, ach, ihr so wildfremden Menschen intim lachte und sprach, sah sie immer jenen langen, stummen, beredten Blick vor sich – –

Der Tag ging zu Ende, und man fuhr heim. Leo und Milly weinten, waren übermüde und schliefen endlich, ihre Köpfchen an Sabinens und Lisbeths Schultern, denn nun saß Lisbeth mit im Wagen. Und das war auch nur gut, denn Milly wurde es sehr übel, sie erbrach sich über den Wagenrand hinaus. Der Oberamtmann schalt, daß man auf Wendessen die Kinder überfüttert habe und daß er selbst von dem Bordeaux Voigtstedts einen Brummschädel kriegen werde und daß Reinald da reformierend eingreifen müsse. Es schien, daß die vielen Freuden des Tages alle sehr übellaunig gemacht hatten und daß alles, was man an Liebenswürdigkeit besaß, verausgabt und ausgeschöpft war.

In den Mühlauer Straßen brannten schon die Gaslaternen, als man endlich vor dem Hause hielt und die ermüdeten Kinder, die bleischwere Körper hatten, hinauftrug.

Sabine fühlte sich wie zerschlagen, als sie endlich im Bett lag. Es war ein anstrengender Tag gewesen. So aufreibend. Ein Kräfteverbrauch eigentlich ohne Zweck und Grund. Denn wurde dadurch Reinalds Glück gehoben, daß die beiden Familien sich einen ganzen Tag lang in plötzlicher Intimität gegenseitig krampfhaft füreinander zu interessieren trachteten? Hatte sie den ganzen Tag ein Wort gehört, das ihr Anregung oder gar Erleuchtung gebracht? –

[331] Und wie reich war gestern die eine kurze Stunde gewesen – –

Sie gönnte dem Bruder das Glück, das er gefunden hatte, wenn es denn eben sein Glück so war. Susanne Osterroth – die wäre freilich mehr gewesen. Die war auch ein gesunder und einfacher Mensch wie Martha. Und dabei war Susanne hochgebildet. Neben ihr wäre Reinald kein Bauer geworden. Neben Martha aber – –

Ich habe dennoch meinen Bruder mit heute verloren, dachte Sabine noch. Aber sie fühlte sich trotzdem nicht ärmer als vorher.


5.

Herr von Hallendorf war mit sich einig geworden. Wie das so bei Verlobungen, Sterbefällen und anderen Familienereignissen geht, hatte man in Mühlau und auch im Offizierskasino die Voigtstedtschen und die Deubenschen Vermögensverhältnisse durchgesprochen. Hallendorf hielt den Oberamtmann bisher für einen Agrarier a. D. mit eben auskömmlicher Rente, die vielleicht der Sohn mühsam genug den Erträgnissen von Heinsdorf abzwacken müsse. Dies hatte er immer sehr beklagt, weil seine Verliebtheit in die schöne Sabine nie mehr als in einer kleinen Kokettage sich äußern durfte. Bei der kalten Haltung der jungen Frau war seine Flamme immer stärker geworden und er hatte oft Momente, wo er sich sogar für einen unglücklich Liebenden hielt und sich sehr beklagte.

Nun vernahm er, daß der Oberamtmann ein sehr vermögender Herr war; die Ziffern, die genannt wurden, und welche ihm der Bürgermeister, der es wissen mußte, bestätigte, klangen sehr lieblich in sein Ohr. Besonders gefiel ihm auch wohl, daß der Oberamtmann nur die Hälfte seines Vermögens, jene, welche der Sohn erbte, in Heinsdorf hatte stecken lassen. Auch brauchten die fast geizigen alten Herrschaften kaum die Hälfte ihrer Zinsen auf und vermehrten so ihr Kapital fortwährend.

Hallendorf rechnete mit Umständen und Zahlen und kam zu diesem Schluß: früher würde der Oberamtmann mit seiner Anlage zur Knauserigkeit ohne Zweifel jeden vermögenslosen Offizier als Freier abgelehnt haben; indes, wenn eine Tochter schon ein unglückliches Schicksal hinter sich hat, sind auch geizige Eltern zu einem Opfer bereit; von einer großen Summe, einem Kommißvermögen, brauchte der Alte sich so wie so nicht zu trennen; es genügte, wenn er der Tochter 6-–8000 Mark jährliche Zuschüsse gewährte; die gute Stimmung, in welche der Vater durch die Verlobung des Sohnes versetzt worden war, mußte benutzt werden; Reinald Deuben konnte seinem Alten vorstellen, daß ein Hauptmann erster Klasse immerhin keine schlechte Partie sei und daß man doch eventuell Sabinen, die so viel gelitten hatte, auch einem armen Leutnant nicht verweigern würde, wogegen ein Hauptmann ohne Vermögen doch das kleinere Uebel sei. Außerdem steckt Verloben immer an, das ist ein Erfahrungssatz – der alte Deuben war sozusagen mit dem Segnen im Zuge!

So dachte Hallendorf. Daß Sabine und er sich bei näherer Bekanntschaft nicht zusagen könnten, dachte er nicht. Seine Gedanken eilten schon soweit vorwärts, daß er daran dachte, für ein Kommando in einer großen Garnison zu „bohren“. Mit so einer Frau mußte man in die Welt. Die half Carriere machen.

Er vertraute sich Deuben als „Kamerad“ an, nahm ihm aber den Schwur ab, weder Sabinen noch ihren Eltern vorerst eine Silbe zu verraten. Reinald wollte gern die Hand dazu bieten, daß Hallendorf und Sabine einigemal bei ihm wie auf Wendessen zusammen eingeladen würden; er war selbst so glücklich als Verlobter, daß er die Schwester auch gern glücklich gewußt hätte. Er besprach den Fall mit seiner Martha, und Martha war entzückt, eine solche Verbindung protegieren und zustande zu bringen helfen zu dürfen.

Hallendorf, der mager und groß war und etwas stelzbeinig einherschritt, was ihm mit seinem langflatternden weißblonden Schnurrbart etwas sehr Charakteristisches gab, nahm zunächst einen Kredit bei der Kleiderkasse des Regiments in Anspruch und wandte etwas an seinen Anzug.

Er erhielt eine Ermutigung durch den Gegenbesuch, den der Oberamtmann ihm machte, wozu der alte Herr eine Zeit benutzte, wo die als Wache am Fenster postierte Oberamtmännin den Ausgang Hallendorfs beobachtet hatte, was natürlich dieser nicht ahnen konnte. Er fand die Karte und dachte: Aha!

Im Laufe der Woche aber ereignete sich etwas, das Hallendorfs Schlachtplan vorerst zu einem theoretischen Entwurf herabdrückte. Der kleine Leo erkrankte sehr heftig an den Masern, obschon Doktor Sebold die Epidemie für erloschen erklärt hatte und sich darüber ausließ, daß es gegen alle Berechnung und Erwartung sei, Leo davon ergriffen zu sehen; daß es geradezu gegen die Statistik gehe.

Das machte nun Sabine sehr ungeduldig: ob innerhalb einer oder gegen eine medizinalbehördliche Statistik, ihr angebeteter Knabe war krank und das kam für sie als Mutter auf dasselbe heraus, als wenn er während der Epidemie erkrankt wäre!

Sie zog sogleich mit dem kleinen Patienten in das Giebelzimmer hinauf; dort standen an der einen Wand drei mächtige Schränke, hellgelb und gemasert angemalt, an der andern Wand deren zwei und dazwischen ein Bett. Straßenwärts gingen zwei Fenster; am Pfeiler, unter einem schmalen Spiegel, stand ein Waschtisch. In diesem öden Raum hauste jetzt Sabine. Leos Bettchen stand mitten darin. Und weil ihm die Augen wehthaten, waren die Rouleaus stets herabgelassen.

Viele Tage hatte er starkes Fieber, und Sabine verzehrte sich vor Angst. Sie wachte Tag und Nacht, und Doktor Sebold wurde ein bißchen still.

Er hatte Sabine für unpraktisch gehalten, auch für nicht sonderlich aufopferungsfähig und zuverlässig und am ersten Tag der Erkrankung auf Annahme einer Wärterin gedrungen, was Sabine schroff abwies. Nun sah er, daß die Pflege so war, daß er selbst sie als „ideal“ bezeichnete. Anerkennend sprach er zu den Eltern davon, die mit Stolz und Rührung sagten, das verstehe sich bei ihrer Sabine von selbst. Aber zugleich seufzten sie oft und schwer über all die Unbequemlichkeiten, welche die Krankheit für sie mitbringe. Der impertinenten Lisbeth konnte man Milly weder Nacht noch Tag anvertrauen. Sebold drückte ihnen teilnehmend die Hand.

Für Sabine rannen die Tage so still. Sie meinte, es müßten schon hundert sein. Und doch waren es nur erst acht. Draußen zog eine kleine Regenzeit vorüber, Sabine hörte die Tropfen gegen die Scheiben schlagen. Sie sah nicht den grauen, tristen Himmel, denn das blasse Papierrouleau mit der großen Gruppe sepiafarbener Tropenpflanzen darauf verbarg ihr die Welt.

Drüben trat oft Hallendorf an sein Fenster und sah nach oben, hinüber zum Giebelstübchen. Immer noch verhangene Fenster! Aber dies war die Gelegenheit, sich wohlthuend bemerkbar zu machen. Jeden Morgen schickte er seinen Burschen mit der Anfrage nach Leos Befinden. Manchmal brachte der Bursche auch ein Paar Rosen mit „vom Herrn Hauptmann für seinen kleinen Freund“. Sabine war ganz gerührt. So viel Gemüt hatte sie Hallendorf gar nicht zugetraut. Sie schämte sich, daß sie sich manchmal über seinen Gang mokiert hatte, und sann darüber nach, wie man ihm nach Leos Genesung danken und sich revanchieren könne.

Die Seelenbewegungen, denen sie in dieser Zeit ausgesetzt war, erreichten in einer bangen Nacht ihren Höhepunkt.

Ein Gewitter ging mit grellen Lichtzuckungen und krachendem Gelärm nieder. Der blasse Schein der Nachtlampe ward alle Augenblicke übergrellt. Unten im Hause war es laut, denn der Oberamtmann, als einstiger Landwirt, wäre um die Welt nicht beim Gewitter im Bett geblieben.

Sabine kniete mit gefalteten Händen neben dem Bettchen des Kleinen; ihre ängstlichen Augen waren groß und in fast übernatürlicher Sammlung all ihrer Kräfte auf das Kind gerichtet. Sie bewachte seine Mienen, seine Farbe, seinen Atem, seine Bewegungen. Er phantasierte. Kindische und ganz verworrene Worte kamen von seinen Lippen. Und darunter eines, das Sabine bis ins tiefste erbeben machte. Er rief nach seinem Papa!

„Sieh mal, Papa!“ – Und dann, zwischen Stöhnen, Flüstern, Unruhe wieder: „Papa, Papa, ein Löwe!“

Aus dem Untergrund der Seele hatte sich die Erinnerung wieder aufgereckt, und was das Kind in der lebhaften Regsamkeit seines kleinen Geistes über alle Ereignisse des Tages schon vergessen zu haben schien, war nun wieder gegenwärtig geworden.

Offenbar beschäftigten sich seine Phantasien mit dem ersten [332] und zugleich einzigen Besuch des Zoologischen Gartens, den Zeuthern mit dem kleinen Sohn unternommen hatte.

Sabine zitterte und fror. Ueber ihre Wangen rannen Thränen. Sie beachtete es nicht. –

Am andern Morgen sagte Sebold, daß man nun über den Berg sei und „die Geschichte mit mehr Pomade ansehen könne“. Er befahl Sabinen einen täglichen Gang ins Freie von mindestens einer halben Stunde. Als sie sich sträubte, ihren Knaben auch nur für Minuten zu verlassen und der wenig mitfühlenden Lisbeth anzuvertrauen, stellte Doktor Sebold ihr vor, daß sie auch Pflichten gegen die kleine Milly habe, die sehr nach der Mama verlange und mit der eine Begegnung nur ratsam sei nach vorheriger „Auslüftung gründlichster Art“ im Freien. Das sah die junge Frau ein.

Am zehnten Tage nach Leos Erkrankung unternahm sie den ersten Spaziergang. Sie schlug den Weg nach dem Heidegelände ein, wo auf trockenen, niederen Hügeln ein junger Kiefernstand die Luft mit harzigen Gerüchen füllte. Noch stand geballtes Gewölk in phantastischen Gruppen vor dem Himmel und ließ die Fragmente der blauen Luft, die sichtbar waren, um so tiefer blau erscheinen. Die Frische des leisen Windes wehte Sabinen angenehm ins Gesicht. Sie freute sich, als sie erst aus dem Thore war, denn auf der Straße redeten sie nacheinander der Bürgermeister Dorsten, Frau Rechnungsrat Müller und der Leutnant von Langhans auf das Befinden ihres Kindes an.

Draußen war es einsam. Die Mühlauer gingen Werktags nicht spazieren und erst recht nicht, wenn das Wetter unsicher schien. Auf dem Fahrwege rannen die Furchen zusammen, wie im Sand von Meeresufern; an der einen Seite war auf der grauen Rasennarbe des Bodens ein Fußpfad niedergetreten, da ging Sabine, ihren geschlossenen Regenschirm wie einen Stock benutzend.

Lautlos war ihr Schritt.

Lautlos auch der des Mannes, der hinter ihr her hastete. Um sie nicht zu erschrecken, rief er schon von weitem:

„Gnädige Frau – gnädige Frau!“

Sie drehte sich um und errötete. „Herr von Körlegg,“ sagte sie.

„Ich sah Sie an meiner Wohnung vorbeigehen – ich bin aus dem ‚Kronprinzen‘ nun in eine Privatwohnung gezogen – in der Berliner Straße,“ erzählte er hastig. „Ich sah Sie – und wartete einige Minuten, um Ihnen unauffällig folgen zu können … ich muß es wissen, von Ihnen selbst … wie geht es Ihrem Knaben?“

Ihre Augen leuchteten, ihr ganzes Gesicht strahlte in Dankbarkeit. „Befriedigend,“ sagte sie, „Gott sei Lob und Dank, sehr befriedigend, sonst hätte ich Sebold nicht gehorcht und wäre nicht fortgegangen!“

„Gottlob!“ sagte auch er aus tiefstem Herzen und drückte ihr heftig die Hand. „Gewiß, niemand auf der Welt, selbst Ihre Eltern nicht, haben diese Tage mit Ihnen gebangt und gelitten wie ich! Und welche Pein, nur unbestimmte Nachrichten zu hören – jede direkte Frage vermeiden zu müssen! Bei Tisch, im Kasino sprach das eine und andere Mal Hallendorf sehr besorgt, sehr schmerzlich davon. Er, als Intimus Ihres Hauses, schien genau vom Stand der Dinge unterrichtet – aber wenn er nicht von selbst etwas erzählte – fragen mochte ich ihn nicht.“

„Herr von Hallendorf der Intimus unseres Hauses?“ fragte Sabine erstaunt, „wie kommen Sie darauf? Er verkehrt häufiger bei meinem Bruder auf Heinsdorf – so werden Sie das verwechselt haben! Herr von Hallendorf hat aber in so rührender Weise sich täglich nach Leos Befinden erkundigen lassen, dafür bin ich ihm sehr dankbar.“

Achim schwieg etwas verlegen. Er mochte und wollte nicht sagen, daß Hallendorf in geradezu prahlerischer Weise seine Beziehungen zur Familie Deuben zu betonen pflegte und auch zugleich in so eigenartiger Weise, daß er voll Staunen und Schreck schon die Frage bei sich erwogen hatte, ob es denn menschenmöglich sei: Sabine und Hallendorf? Und gerade für ihn, der einen Einblick in ihre hungernde Seele gethan, lag die Furcht so nahe, daß Sabine, nur um eine Veränderung ihrer Daseinsform herbeizuführen, den ersten Besten trotzig nehmen werde. Doch Hallendorf? – Nein, das war nicht der Mann, der Achim wertvoll genug für solches Glück däuchte!

Sie gingen nebeneinander her, Achim im Sande des Fahrweges watend. Vor ihnen war der Blick verschränkt durch die ansteigende Bodenwelle, auf der die rötlich schilfrigen Kiefernstämmchen in regelmäßigen Reihen sich hinanzogen. Oben stand die willkürlich ausgebogene Linie der graugrünen Kiefernwipfel vor einer silberweißen Wolkenmauer.

„Wenn ich Ihnen meine schlaflosen Nächte schildern könnte,“ hob er an, „ich sah im Geist das fiebernde Kind – irgend jemand sagte eines Tags, es müsse wohl sterben – ich sah Sie verzweifelt um das teure Leben kämpfen. Und ich zitterte, daß Sie, deren ganzes, deren letztes Glück diese Kinder sind, eines verlieren müßten! In diesen Tagen erst sah ich es völlig ein, wie sehr Ihr ganzes Leben heimlich mit dem meinen verbunden ist.“

„Ich danke Ihnen,“ murmelte Sabine, „ich danke Ihnen sehr.“

„Sie sehen angegriffen aus. Sie haben gelitten! Das war zu denken. Und Leo? Erzählen Sie mir …“

Das war keine gemachte Teilnahme, sie fühlte, daß sein ganzes Wesen sich in Ergriffenheit befand.

Gilt mir das – mir, um meiner selbst willen? dachte sie mit Herzklopfen, oder ist das alles nur Aeußerung des tiefen Ernstes, mit welchem er des von ihm Getöteten denkt?

„Ja, Leo ist sehr krank gewesen. Seine Aermchen sind mager zum Erbarmen und sein ganzes Gesicht ist Auge. Aber diese großen Wunderaugen thun ihm weh. Wir müssen noch lange vorsichtig bleiben und im halbdunklen Zimmer sitzen. Und phantasiert hat der arme kleine Mann … oh, es war schrecklich!“

Plötzlich war ihr es ganz deutlich, so daß sie erschrak und ihre Stirn sich vor Entsetzen feuchtete, als dringe durch die raunend bewegten Kiefernkronen eine klägliche Kinderstimme, die rief: Sieh mal, Papa – Papa, wo bist du?

„Arme Sabine – arme Sabine,“ murmelte er.

Sie hörte es nicht.

„Ich muß zurück,“ brachte sie heraus, „ich bekomme plötzlich solche Angst … Das Mädchen ist nicht zuverlässig …“

„Aber morgen darf ich Sie wieder selbst fragen, wie es Ihrem Knaben geht?“ sprach er und sah sie bittend an. Sie aber hielt die Lider gesenkt.

„Ich weiß nicht, ob ich morgen ….“

„Jedenfalls bin ich um dieselbe Zeit hier am Saum der Schonung“, sagte er bestimmt, „auch auf die Gefahr hin, vergebens warten zu müssen.“ –

Er brauchte nicht vergebens zu warten. Am andern Tag war sie ruhelos und verzehrte sich in Kämpfen und suchte sich in Vorsätzen zu stärken. Aber einem übermächtigen innern Zwang gehorchend, fand sie sich zu einem hastigen Stelldichein rechtzeitig zur Stelle. Und hastig blieben auch die Begegnungen an allen folgenden Tagen. Frage und Antwort wurde schnell gewechselt. Sabine fühlte sich dabei gehetzt wie ein Schuldiger auf der Flucht. Aber fortbleiben, sich die namenlose Aufregung dieses knappen Zusammentreffens ersparen – nein, das konnte sie nicht, das wollte sie nicht.

Achim bat einmal um die Erlaubnis, den kleinen Rekonvalescenten, von dessen Langerweile Sabine erzählte, ein Spielzeug mitbringen zu dürfen.

„Nein, nein!“ sagte sie. „Und ich könnte es auch gar nicht ins Haus schmuggeln. Wo sollte ich es her haben? Sie sehen, ich bin so unfrei, daß ich nicht einmal meinem Jungen ein Pferdchen mitbringen könnte, ohne zu erklären, wo ich es kaufte und wie viel es kostete.“

Drei Tage danach bekam Leo eine an ihn selbst adressierte Kiste mit allerlei Spielzeug. Die Absenderin war eine große Berliner Spielwarenhandlung, die nur dabei bemerkt hatte: „im Auftrage“.

„Natürlich vom lieben Onkel Benno,“ sagte Sabine und wußte doch genau, daß der Leutnant von Zeuthern sich nicht einmal an Weihnachten zu einer so reichen Gabe aufraffte. Sie packte die Kiste fast mit Andacht aus und zeigte jedes Stück dem vor Freude jubelnden Kind mit selbst vor Freude glänzenden Augen.

Als Achim sie am andern Tage fragte: „Langweilt Leo sich noch so sehr?“ sah sie ihn nur mit lachenden, leuchtenden Augen an und sagte: „Sie wissen, daß er beschäftigt ist!“

„Ich – woher sollte ich?“ Er that unschuldig und lachte auch.

(Fortsetzung folgt.)


[333]
Der Spreetunnel zwischen Stralau und Treptow.
Mit Abbildungen nach photographischen Aufnahmen von L. Schuster in Berlin.

Nach dreijährigem Kampfe mit vielen Hindernissen ist der Tunnel unter der Oberspree im Osten Berlins zwischen Stralau und Treptow glücklich, ohne einen einzigen schweren Unfall, vollendet worden. Die Gründe, welche hier eine Untertunnelung der etwa 200 m breiten Spree ihrer Ueberbrückung vorziehen ließen, waren wie in London und in den amerikanischen Städten, wo bisher unterirdische Flußkreuzungen ausgeführt sind, hauptsächlich Rücksichten auf die ungestörte Schiffahrt, daneben auch wohl solche auf den unzuverlässigen, zum Tragen größerer Brückenpfeiler gänzlich ungeeigneten Baugrund. Der letzte Umstand mußte allerdings auch der Ausführung des Tunnels große Schwierigkeiten machen. Nicht nur das Spreebett, sondern auch der Boden an beiden Ufern des Flusses besteht an der betreffenden Stelle aus sehr lockerem mit Wasser vollgesogenen Schwimmsand. Außerdem kam man an einigen Stellen der Flußsohle bis auf wenige Meter nahe; infolgedessen stürzte der lockere Triebsand bei den Erdarbeiten unter Wasser in großen Mengen nach, so daß das vordere Tunnelende zu mehreren Malen gleichsam ins offene Wasser auslief und die Ersäufung des ganzen Tunnels zu befürchten war. In dem Artikel „Der neue Themsetunnel in London“ (vgl. Jahrgang 1897, S. 410) wurden die beim Bau derartiger Tunnel gebräuchlichen Hilfsmittel ausführlich beschrieben. Von der Stelle an, wo das Eindringen von Grundwasser möglich ist, werden die Tunnel als Rohre aus Eisen oder Stahl ausgebildet. Der vordere Teil derselben ist der sogenannte „Schild“. Das Rohr ist hier in einige Kammern abgeteilt, die nach hinten durch luftdicht schließende Thüren abgegrenzt sind. In diesen Kammern verrichten die Arbeiter das Ausgraben des Erdreichs. Damit sie vom Eindringen des Grundwassers gesichert bleiben, wird in die Kammern komprimierte Luft eingetrieben, die alles Wasser der Umgebung fortdrängt. Das gelockerte Erdreich räumt man durch die dem Schilde zunächst liegende Kammer bergmännisch fort. Nachdem dies geschehen ist, wird das Tunnelrohr durch hydraulische Maschinen vorwärts geschoben. Bei der Konstruktion des Schildes für den Spreetunnel mußte allerdings von den früher bekannten Systemen wegen der größeren hier vorliegenden Bodenschwierigkeiten, zum Teil auch weil ein Stück des Tunnels in der Kurve liegt, etwas abgewichen werden, doch führt es zu weit, auf diese beiläufig deutsche Erfindung des verbesserten Bohrschildes im einzelnen einzugehen.

Der westliche Eingang des Tunnels.

Die Ausführung der Arbeiten geschah nun, was den 200 m langen unter der Spree liegenden Teil des Tunnels und die zunächst angrenzenden, noch dem vollen Wasserdruck ausgesetzten Strecken der Rampe betrifft, ausschließlich durch bergmännischen Betrieb mit Hilfe des Schildes und der komprimierten Luft. Es wurde nicht nur der jeweilig in Arbeit befindliche Kopf des Tunnels mit der Arbeitskammer und dem Schilde, sondern auch ein längeres dahinter liegendes Stück der fertigen bereits mit Eisenplatten verkleideten Röhre unter starkem Luftüberdruck gehalten und von der Außenwelt durch einen eisernen Verschluß, später sogar durch eine starke, von Zeit zu Zeit weiter vorgerückte Backsteinwand luftdicht abgesperrt. Der Eintritt der Arbeiter erfolgte durch sogenannte Luftschleusen, in denen sich der Organismus bei jedem Schichtwechsel während eines Aufenthalts von einigen Minuten unter allmählicher Drucksteigerung an den Luftüberdruck der Arbeitsstelle gewöhnen mußte. Außer einem dumpfen Druck- und Wärmegefühl und einem nur anfangs verdächtigen Knacken im Trommelfell sind mit diesem Aufenthalt in der auf 11/4 Atmosphären komprimierten Luft, wie Verfasser während der Bauzeit an sich selbst erproben konnte, keinerlei Uebelstände verbunden, und in der That hat der Aufenthalt in der komprimierten Luft auch bei längerer Dauer keinerlei Krankheitserscheinungen unter den Arbeitern hervorgerufen. Die mechanischen Wirkungen des Luftüberdrucks in dieser langen, unter dem Wasser liegenden Röhre waren freilich auffallend genug. Soweit das aus einzelnen Platten zusammengeschraubte Tunnelrohr noch nicht mit Cement gedichtet oder der letztere noch nicht erhärtet war, zeigte eine lange Kette aufquellender Luftblasen an der Wasseroberfläche genau die Lage der Tunnelröhre an, und am Ende der letzteren entwichen andauernd so gewaltige Luftmengen, daß der Spiegel des Flusses sich an dieser Stelle beständig in der heftigsten Aufregung befand. Ja mehrmals brachte der Luftüberdruck von unten her die dünne, über dem Bohrschild liegende Sand- und Schlammschicht vollständig zum Bersten, so daß der Luftinhalt des Tunnels in vollen Strömen entwich, und das zerstörte Spreebett künstlich wieder zugeschüttet werden mußte.

Das Innere des Tunnels.

Auch sonst hat die Ausführung des Spreetunnels noch manche interessante Neuerungen gezeitigt. Zum erstenmal wurde hier anstatt der früher üblichen Ausmauerung der Röhre oder ihrer Herstellung aus gußeisernen Ringen ein Mantel aus verhältnismäßig dünnen Flußeisenplatten zusammengesetzt, die in den Kruppschen Werken gepreßt wurden und von denen im ganzen 6 bis 7000 Stück erforderlich gewesen sind. Je neun solcher Platten wurden zu einem kreisförmigen Ring von 65 cm Breite zusammengeschraubt, und je nach dem durch hydraulische Pressen bewirkten Vorrücken des Bohrschildes war es möglich, täglich ein bis zwei, ja zuletzt sogar drei solcher Ringe einzubauen und damit die Tunnelröhre um 1 bis 2 m zu verlängern. Am schwierigsten gestaltete sich der Bau auf der an der Stralauer Seite in der Kurve liegenden und gleichzeitig stark ansteigenden Strecke des Tunnels.

Das anfangs auch hier geplante bergmännische Verfahren durch Vortreiben des Schildes ließ man, vermutlich wegen der Schwierigkeit, den Schild durch die Kurve zu bringen, bald fallen und entschied sich für die Fortsetzung des Baues in großen, wasserleer gepumpten Baugruben. Bald aber erwies sich, daß dies auf der Treptower Seite in geringeren Tiefen gut gelungene Verfahren sich hier nicht ohne weiteres ausführen ließ, weil der Wasserandrang so ungeheuer stark war, als ob man mitten in der Spree arbeitete. Man brachte nun ein anderes, hier wohl zum erstenmal zur Ausführung gekommenes Arbeitsverfahren in Anwendung. Die künftige Baugrube [334] wurde durch tiefe, nahezu luftdicht gemachte Spundwände markiert, die obere Oeffnung durch einen Deckel, wie der Caisson eines unterseeischen Brückenpfeilers, abgeschlossen und alsdann diese Kammer ebenso wie früher der Tunnel selbst unter Luftdruck gesetzt. So gelang die Ausräumung des Bodens, die Cementierung der Grubensohle, und nun konnte man unbesorgt das Dach der Baugrube entfernen und die Tunnelröhre im Trockenen und bei Tageslicht verlegen. Mit Hilfe des Schildes wurde dann endlich die ältere Tunnelstrecke an die neue angeschlossen. Der Spreetunnel hat bei weitem nicht die Dimensionen des zuletzt gebauten Themsetunnels, da er anstatt des Fußgänger- und Straßenverkehrs nur eine eingleisige elektrische Untergrundbahn aufzunehmen haben wird. Während der englische Tunnel bei 8 m Durchmesser eine Länge von 2 km besitzt, hat der Spreetunnel einen Durchmesser von 4 m und eine Länge von etwa 500 m, wozu noch beiderseits die geneigten, den Uebergang in die volle Tunnelröhre vermittelnden Rampen kommen. Das unter der Spree liegende Stück ist 200 m lang und liegt mit der Tunnelsohle 10 bis 11 m unter dem Wasserspiegel. Die beiderseits anschließenden Endstrecken haben eine Steigung von 1 zu 20, um den Uebergang aus diesem tiefen Niveau in das der angrenzenden Straßen zu vermitteln. Unsere Abbildung zeigt das Innere des vollendeten Spreetunnels mit den seitlich liegenden elektrischen Leitungen und Entwässerungsröhren, der elektrischen Beleuchtung durch eine lange Kette von Glühlampen und der betonierten, aber noch nicht mit den Straßenbahnschienen versehenen Tunnelsohle. Die architektonische und dekorative Ausstattung der Tunnelportale zeigt unsere Abbildung des westlichen Ausganges.

Die Vollendung des Spreetunnels hat, vom Beginn der Arbeiten an gerechnet, einen mehr als dreijährigen Zeitraum in Anspruch genommen; aber dabei ist zu berücksichtigen, daß die Arbeiten mehrmals monatelange, ja halbjährige Unterbrechungen erlitten, die nicht auf technische Hindernisse, sondern auf den langsamen Fortschritt der Verhandlungen mit den in Frage kommenden Verwaltungen zurückzuführen waren. In einem Zuge durchgeführt, hätten sich die Arbeiten in etwa anderthalb bis höchstens zwei Jahren vollständig bewältigen lassen. Leider ist die sofortige Ausnutzung des Tunnels für eine elektrische Verbindung zwischen beiden Spreeufern für den Augenblick noch nicht möglich, da eine Einigung der Unternehmer mit einem Teil der Verwaltungsbehörden nicht erzielt werden konnte. W. Berdrow.     




König Ludwig II und die Kunst.

Von R. Artaria.


So lange der in seinen Schlössern von der Welt abgeschiedene Bayernkönig lebte, lief nur dunkle Kunde um von deren künstlerischer Pracht und den dafür verausgabten Riesensummen. Nach seinem Tode freilich stehen die so eifersüchtig gehüteten Säle und Grotten dem allgemeinen Besuch offen; Tausende haben sie gesehen und bewundert, aber niemand wußte von ihrem Gründer mehr als die von München ausgehenden Gerüchte über seine Absonderlichkeiten und den Bericht von seinem tragischen Ende. Wie Ludwigs Schöpfungen aus seinem Charakter und Gedankengang zu erklären sind, das erfährt die Welt zum erstenmal durch das Buch von Luise v. Kobell, der hochbegabten Tochter Franz von Kobells, die als Gattin von Ludwigs II langjährigem Kabinettssekretär v. Eisenhart alles miterlebte und wußte, was der großen Welt draußen verborgen blieb. Treu und gewissenhaft, in lebhafter, sehr interessanter Darstellung giebt sie ein Charakterbild des Königs mit der Geschichte seiner Schöpfungen, fügt auch ihrer eingehenden Schilderung der Königsschlösser eine Fülle zum Teil bisher unveröffentlichter Illustrationen bei und führt so den Leser direkt in den früher unnahbaren Lebenskreis Ludwigs II ein.

Sicher war schon die Anlage des träumerischen, reizbaren, zur Ueberschwenglichkeit geneigten Knaben verhängnisvoll, aber Erziehung und Schicksal haben ihr mächtig Vorschub gethan. Königin Marie war eine gütige, aber ziemlich prosaische Mutter, ohne Verständnis für Ludwigs Besonderheiten. Sie wie König Max II sahen die strenge pedantische Erziehung der von ihnen bestellten Lehrer und den einförmigen Tageslauf der Prinzen Ludwig und Otto für das Richtige an. Auch bei den langen Aufenthalten in dem herrlichen Hohenschwangau war diesen keine größere Freiheit gewährt. So wuchs denn der Kronprinz fern von jugendlichen Körperübungen und Spielen zu einem verschlossenen, wortkargen Jüngling empor, dessen Seele ein schwärmerisches Phantasieleben führte, während sein langaufgeschossener Körper den täglich gleichen Familienspaziergang in Hohenschwangau mitmachte oder im „Schweizerhaus“ den Kaffeepartien der Königin und ihrer Hofdamen anwohnen mußte. Die Tischserviette war eigenes Erzeugnis – das Garn dazu hatte Königin Marie selbst in langen Nachmittagen mit diesen Damen gesponnen – schwerlich zu deren großem Entzücken!

Aus so enger Beschränkung wurde der Achtzehnjährige plötzlich auf den Thron gehoben. Ohne je nur eine größere Reise gemacht zu haben, ohne Menschenkenntnis und Erfahrung, ohne Verständnis der Staatsangelegenheiten, nicht einmal durch ein Universitätsstudium vorgebildet, fühlte er sich plötzlich als Inhaber der höchsten Gewalt und gedachte vor allem, in seiner Person das Herrscherideal zu verwirklichen, das er sich in seinen langen wachen Träumen ausgesonnen hatte.

Hierzu war Prachtentfaltung vor allem nötig. Er ging gleich daran, die von ihm bewohnten Zimmer der Residenz aufs reichste im französischen Barockstil einzurichten, und studierte selbst eifrig Stillehre, um seinen vielen Malern, Bildhauern, Gold- und Silberarbeitern auf die Finger sehen zu können. Alle Entwürfe mußten ihm vorgelegt werden, und häufig verfügte er Aenderungen, auch auf den Bildern der Künstler, welche die von ihm sehr bevorzugten französischen Hofscenen darzustellen hatten. Einem derselben ließ er das bestellte Bild „Lever[1] der Marie Antoinette“ zurückgeben mit der Weisung, es abzuändern: „Hofdamen fächelten sich nicht vor Marie Antoinette und hielten keinen Dialog mit Hofkavalieren, weil ihnen die Ehrfurcht geböte, stillzuschweigen und ihren Fächer gefaltet nach unten zu kehren.“ Der Maler nahm die gewünschten Aenderungen vor und stellte den König damit so zufrieden, daß dieser ihm einen herrlichen Blumenstrauß zusandte, dessen eiliger Ueberbringer freilich den Künstler mitten in der Nacht aus dem Bett klingelte. Am andern Morgen folgte noch ein kostbarer Diamantring nach.

Diese stete königliche Großartigkeit im Schenken machte bald in den bisher sehr knapp gehaltenen Hofkreisen stark von sich reden, aber es folgten nicht die erhofften prachtvollen Feste; der junge König hielt sich einsam in seinen Gemächern und in dem einzig schönen Wintergarten, dessen Palmengänge und Blumenfelder einen kleinen See umgaben, hinter welchem sich eine weite Perspektive auf den Himalaja zu öffnen schien. Ein nach allen Seiten zu schließender Pavillon nahm den König auf, wenn er manchmal eine Liederstimme in dem künstlichen Mondlicht dieses Zauberwaldes zu hören wünschte. Wenig Auserwählte nur bekamen den Wintergarten zu sehen, unter ihnen Frau von Eisenhart, die der König speziell dazu einlud, so daß sie aus eigener Anschauung sprechen kann. Andere, minder Bevorzugte und doch sehr Neugierige aus der Hofgesellschaft sollen sich als Gärtnergehilfen verkleidet den Eintritt verschafft haben!

Der Hang zur Einsamkeit und die krankhafte Scheu vor Menschenansammlungen machte sich schon in Ludwigs ersten Regierungsjahren geltend, doch erfüllte er noch die ihm obliegenden Repräsentationspflichten und schritt voll königlicher Würde hinter dem Altarsakrament der Fronleichnamsprozession, wie im Zuge der Georgiritter, deren alljährliches Ordensfest er als Großmeister abhielt. Kopf an Kopf stand dann die Menge in den Residenzhöfen und war entzückt über die herrliche schlanke Jünglingsgestalt in der hermelinverbrämten altspanischen Ordenstracht, über die ideale Schönheit des blassen Angesichts mit den großen dunklen Augen.

Bekannt ist Ludwigs Ruf an Richard Wagner, bekannt auch der mächtige Einfluß, den dieser als einziger unter allen auf ihn ausübte. In schwärmerischer Ekstase sah der junge König zu dem „Meister“ auf; als seine Mission betrachtete er es, das Festspielhaus für dessen „Nibelungen“ zu bauen. Semper erhielt den Auftrag, einen Plan zu machen, und zeichnete einen Prachtbau, der als Krönung einer neuen Straße auf der Isarhöhe sich erheben sollte. Als das Projekt bekannt wurde, erscholl ein Ruf der Entrüstung vom Schloß ab durch die ganze Stadt mit ihrer damals noch sehr spießbürgerlich denkenden Einwohnerschaft. Auch die Kassenbeamten wollten an die erforderlichen fünf Millionen nicht heran – so mußte Ludwig, wenn auch mit heißem [335] Ingrimm, auf das Projekt verzichten. Als ihm dann kurz darauf die von den Hofkreisen geschickt benutzte „öffentliche Meinung“ Wagners völlige Entfernung gebot, da faßte er die Abneigung gegen München und seine Bewohner, die ihn zeitlebens nicht mehr verlassen hat.

Seiner Verlobung mit Herzogin Sophie in Bayern im Frühjahr 1865 (der nachmaligen, im Jahre 1897 in Paris so schrecklich verunglückten Herzogin v. Alençon) folgte bald als ein in fürstlichen Kreisen unerhörtes Ereignis die Entlobung, deren Gründe bis heute unbekannt sind. Von da an nahm die Vereinsamung des Königs immer stärker zu.

Hatte er früher noch in seinem Thronzimmer, als neuer Ludwig XIV, zwischen Hermelinvorhängen sitzend, mit seinen Ministern konferiert, so bekamen ihn diese bald gar nicht mehr zu sehen, es mußte alles schriftlich ihm nachgesendet werden in die Berge, deren tiefe Einsamkeit ihn schon als Knaben in Hohenschwangau mächtig angezogen hatte. Das Reiten war dort die einzige den Prinzen gestattete Erholung, sie hatten es beide darin zur Meisterschaft gebracht, und bald sollten die weltfremden Gebirgsbewohner den Anblick des im Flug vorübersausenden jungen Königs zu ihren täglichen Erlebnissen zählen.

Auf einer 1867 inkognito unternommenen Reise nach Paris hatte er die Bauten seines Idealkönigs Ludwig XIV eingehend studiert, auch Trianon, den Lieblingsaufenthalt der Marie Antoinette, besucht und dort die bestimmte Vorstellung seiner eigenen künftigen Schöpfungen gewonnen. Im gleichen Jahre reiste er mit seinem Bruder Otto nach Eisenach und versenkte sich in die mittelalterlichen Herrlichkeiten der Wartburg, auck hier mit dem stillen Vorsatz, einst Aehnliches im eigenen Lande erstehen zu lassen. Denn ebenso vertraut als die Zeit Ludwigs XIV waren seinem Gemüt die Sagen deutscher Vergangenheit, und zwar nicht erst durch Wagners Werke. Schon während er als Knabe in Hohenschwangau weilte, haben ihm die von Schwind, Lindenschmit u. a. herstammenden Fresken der Burggemächer, die Geschichte des Schwanenritters, Bertha in der Reismühle, der Abschied Konradins u. a. tiefen Eindruck gemacht, und man wird nicht fehlgehen in der Annahme, daß es vor allem Wagners Stoffe waren, die ihn unwiderstehlich anzogen. Er selbst war nicht musikalisch, sein ehemaliger Klavierlehrer hatte es als Erlösung gepriesen, als die Stunden des Kronprinzen aufhörten; dennoch mag Ludwig in den Wogen der „unendlichen Melodien“, die freilich stets bei Nacht im Opernhaus für ihn allein entfesselt werden mußten, ein tiefgehendes beseligendes Mitströmen seines Innersten empfunden haben. Als das Wagnertheater 1876 in Bayreuth statt in München eröffnet wurde, wohnte der junge König dort der „Trilogie“ an und gab seinem Entzücken durch reiche Geschenke an den Meister Ausdruck. Aber nach der Aufführung setzte er sich nicht, wie andere, zum Abendessen, sondern wandelte allein im Mondschein des Parkes, inmitten dessen die von ihm bewohnte Eremitage lag.

Die Leidenschaft fürs Bauen hat Ludwig II von dem Großvater Ludwig I geerbt, sie äußerte sich sehr bald in großem Stil. Im Jahre 1869 begann er den Bau des Schlosses Linderhof in der grünen Einsamkeit des Graswangthals. Von seinem Vater her stand dort ein Jagdhaus, einfach wie alles, was König Max II gebrauchte. Die Hofbeamten erachteten es auch für den jungen König ausreichend, wenn man es blau und weiß tapezierte und ein hübsches Gärtchen anlegte. Aber sie mußten bald erfahren, daß diese Mühe umsonst war; Ludwig wollte hier, in der stillen Bergwelt, ein neues Trianon erbauen, und bald dröhnte das Thal vom Lärm der Bauleute. 1878 war das Schloß vollendet und steht heute in der hohen Bergumgebung als Beweis, wie gut die Fürsten des vorigen Jahrhunderts daran thaten, ihre Schlösser in die Ebene zu stellen, welche den Bau zur vollen Geltung kommen ließ. Dieses hier wird von dunklen Waldbergen zur Unbedeutendheit herabgedrückt.

„Linderhof“ nannten es Bauleute und Thalbewohner; der König pflegte es im engeren Kreise: „Meicost-Ettal“ zu heißen, Anagramm von „1’état c’e8s moi“, dem bekannten Ausspruch Ludwigs XIV: „Der Staat bin ich.“

Im Inneren ist dieses so wenig in die deutsche Alpenlandschaft passende „Klein-Trianon“ ein Schmuckkästchen von reizender Innendekoration in vergoldeten Rokoko-Ornamenten, Stickereien, prachtvollen Wandbekleidungen, Lüstern und Malereien. Aber überall Kultus der französischen Könige Ludwig XIV und XV in Decken- und Wandgemälden, im Treppenhaus die Reiterfigur des ersteren als römischer Imperator! Nur der Gedanke, daß man hier, wie in Herrenchiemsee, sich im Bannkreis eines bereits geistig Erkrankten befindet, kann ein Gefühl der Entrüstung niederhalten über den Kultus mit diesem Ludwig XIV im Jahr 1870, wo die andern deutschen Fürsten sich um Wilhelm I scharten, und über des Königs hartnäckiges Fernbleiben vom deutschen Hauptquartier. Seine Phantasienwelt war ihm anziehender als jedes noch so große wirkliche Ereignis; Ludwig II lag offenbar wie der Verzauberte im Märchenwald, an dessen Ohr das Geräusch der Welt nur undeutlich dringt, und es brauchte, wie alle Eingeweihte wissen, die ganze Klugheit und Charakterstärke des durch und durch deutsch gesinnten Staatsrats von Eisenhart, den weltabgewandten, nur seinen Phantasien lebenden König, dessen nationale Gesinnung doch gelegentlich lebhaft aufflammen konnte, in die Stimmung zu versetzen, aus welcher dann sein hochsinniger Entschluß, König Wilhelm die deutsche Kaiserkrone anzubieten, plötzlich geboren wurde. Dies Verdienst und der ewige Dank des deutschen Volkes dafür sind so groß, daß des Königs Fehlen bei der Kaiserproklamation in Versailles und sein gleichzeitiger Kultus der Bourbonen-Autokraten doch dagegen leicht ins Gewicht fällt.

Ganz so begeistert wie für den „großen Sonnenkönig“ war Ludwig übrigens nicht für dessen Nachfolger Ludwig XV, denn er las mit Vergnügen außer seinen Lobrednern auch Scherrs und anderer heftige Ausfälle gegen diesen innerlich verfaulten, elenden Monarchen. Aber die Dekoration seiner Zimmer machte er eifrig nach, ja sogar die Einrichtung der „versenkbaren Tische“, welche Ludwig XV aus guten Gründen bei seinen ausschweifenden Festen eingeführt hatte, „um eine unbescheidene und geschwätzige Dienerschaft zu vermeiden.“ Jeder Gast legte das Verzeichnis der von ihm gewünschten Speisen und Getränke auf das Tischchen, drückte auf eine Feder, und es verschwand, um sofort mit dem Gewünschten wieder aufzutauchen. An solchem Tischchen speiste der König recht unbequem und allein in seinem von Gold und Krystall funkelnden Speisezimmer. Auch die neugierigste Dienerschaft hätte dabei keinen Stoff für ihre Schwatzhaftigkeit gefunden, aber Ludwig wollte von ihrem Anblick befreit sein.

Der geringste seiner Unterthanen würde über ein so einsames, so ganz ohne Vergnügungen verlaufendes Leben außer sich gewesen sein. Reiten und Lesen, Erledigung der nötigen Unterschriften und Besprechungen über Staatsangelegenheiten mit seinem Kabinettschef, das waren seine Hauptthätigkeiten. Dem Spiel war er grundsätzlich und von Jugend an abgeneigt. Er mußte zwar früher den Spielpartien seiner Mutter anwohnen, hatte aber weder Sinn noch Freude dafür und rührte als König nie mehr eine Karte an. „Hierbei“, sagt Luise v. Kobell, „mag wohl der Gedanke nicht einflußlos gewesen sein, daß beim Spiel auch Könige verlieren und unterliegen können.“

Auch die Zerstreuung durch eigenes Musikmachen war ihm versagt. Ein prachtvolles vergoldetes Klavier in Linderhof hat er niemals geöffnet, es steht noch heute, ohne je einen Ton von sich gegeben zu haben. Regte sich doch einmal in dem jungen Herrscher das Bedürfnis nach lebendiger Umgebung, so ließ er seine vielen Wagen-, Reit- und Lastpferde auf einer großen Wiese sich frei umhertummeln und sah mit Vergnügen ihren Sprüngen zu.

Auf einem seiner abendlichen Spaziergänge im Graswangthal begegnete dem König ein Hüterbub, der, ohne ihn zu kennen, fragte: „Woaßt net, wieviel Uhr ’s is? I soll meine Küah heimtreiben!“

„Hast du denn keine Uhr?“

„Wie werd’ denn i a Uhr hab’n?“

Der König gab ihm lächelnd Bescheid und schickte ihm tags darauf eine silberne Uhr, die den Kleinen hoch entzückte.

Eine besondere Leidenschaft hatte Ludwig für künstlerisch geschmückte Standuhren in Bronze, Lapis Lazuli etc. und bestellte stets neue bei seinen Münchner Künstlern, die trotz aller Freude, für ihn zu arbeiten, doch das Verbot des Ausstellens und das spurlose Verschwinden ihrer Arbeit nach der Ablieferung schwer ertrugen. Es war nur Geld bei diesen Aufträgen zu erwerben, kein Ruhm, da niemand das Geschaffene sehen durfte. Sehr vieles von den Nachahmungen berühmter Vorbilder mußte auch in unedlem, sehr vergänglichem Material ausgeführt werden

[336]

Der Preisträger.
Nach dem Gemälde von Otto Kirberg.

[337] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [338] und ist, trotz der dafür bezahlten respektablen Summen, heute wertlos.

Den Gipfel dieser traurigen Nachahmung bezeichnet die in Linderhof konstruierte „blaue Grotte“. Mit künstlichen Tropfsteinen und präparierter Leinwand wurde die Form hergestellt, Spießglanz und farbige Gläser mußten unter den Händen geschickter Theatermechaniker die Bedingungen zum Lichteffekt liefern, und dieser selbst wurde durch elektrische Bogenlampen bewerkstelligt, deren Glocken mit Blau, Rot, Grün und Gelb überzogen waren. Aber Blau war des Königs Lieblingsfarbe, es kostete den mit der Illumination betrauten Maler O. Stöger unendliche Mühe, sie ganz nach seinem Wunsch herzustellen. In dieser theatralischen Zauberwelt saß Ludwig dann nach Mitternacht auf dem „Königssitz“ unter künstlichen Rosenguirlanden, bestieg dann den goldenen Nachen und ließ sich auf dem künstlichen See herumrudern, während die Grotte abwechselnd in rotem, grünem, gelbem und rosa Licht erglühte. Die Riesenkosten, die schwere Arbeit der Ofenheizer und Elektrotechniker bekümmerten ihn nicht. „Ich will nicht wissen, wie es gemacht wird, ich will nur die Wirkung sehen,“ pflegte er zu sagen, wenn irgend eine Bemerkung sich hervorwagte. Einmal nach einer solch anstrengenden Sonntagnacht, wo Stöger, der geschickte und unermüdliche Direktor des ganzen Zaubers und der vielen dabei mitwirkenden Arbeiter, sich ein paar Ausgehestunden erlaubte, kam Ludwig II an dem Laboratorium vorüber und fragte einen Wegmacher: „Wo ist Stöger?“

„Der macht blau, Majestät.“

„Ah, das ist recht, er soll nur so fortfahren!“ erwiderte der König, ahnungslos über den wahren Sinn der Rede, nur in Gedanken an seine blaue Grotte. Später bei dem Schlafzimmer in Herrenchiemsee sollte Stöger wieder eine blaue Beleuchtung liefern. Er nahm eine blaue Glaskugel und steckte das Licht hinein. Aber am nächsten Morgen war der König höchst unzufrieden: die Flamme schimmere weiß durch das blaue Glas durch. Stöger probierte und probierte, ohne besseren Erfolg. „An der Kugel werde ich noch verzweifeln,“ stöhnte der sonst so lustige Künstler gegen die Lakaien, die ihm die allerhöchste Unzufriedenheit meldeten. Aber der König ließ ihm dagegen sagen, zu verzweifeln brauche er nicht, er werde es schon herausbringen. Nach 11/2 Jahren endlich gelang das Gewünschte und der arme Stöger war erlöst.

Man denkt bei Ludwigs ausschließlicher Neigung für blaues Licht unwillkürlich an die „blauen Zimmer“ der Irrenanstalten, die eine so merkwürdig besänftigende Wirkung auf die Kranken ausüben! Im übrigen war ihm die blaue Farbe von seiner Mutter schon im Knabenalter verliehen, alle seine Besitztümer trugen sie, während Prinz Otto rot als Abzeichen bekam.

Der Linderhof war vollendet, aber des Königs Baulust noch nicht befriedigt. Ein Zufall richtete seine Augen auf das stille Eiland Herrenwörth im Chiemsee, dessen uralter Hochwald mit der Abholzung durch eine Aktiengesellschaft bedroht war. Ludwig II kaufte die Insel ihrem Besitzer ab, weilte mehrere Male dort und faßte bald den Entschluß, durch seinen Architekten Dollmann, der auch Linderhof geschaffen hatte, hier ein großes Schloß zu bauen, ein zweites Versailles, welches ebenso der Verherrlichung des „Sonnenkönigs“ gewidmet sein sollte wie das französische Original, und er besaß einheimische Kräfte genug, um den Plan glänzend auszuführen. Auf der Münchner Ausstellung von 1876 hatte das bayrische Kunstgewerbe den großen neuen Zug nach Stilreinheit und mustergültiger Arbeit zum erstenmal in vortrefflichen Werken verkörpert. Damals herrschten die Renaissanceformen, es wurde aber den Künstlern nicht schwer, sich in den von dem König gewünschten pomphaften Barockstil einzuarbeiten und für das neue Versailles die prachtvollen vergoldeten Decken, und Wandskulpturen, Stickereien, Lüster, Möbelbezüge, Holzschnitzereien, Trophäen und Spiegel anzufertigen, deren vortreffliche Nachbildungen das Buch L. v. Kobells in reicher Fülle ihren Lesern bietet. Auch die Maler mußten die Siege Ludwigs XIV zum Gegenstand der vielen Bilder nehmen, welche die Wände der goldstrotzenden Säle und Galerien schmücken.

Es gelang ihnen nicht nur, die verschiedensten Hof- und Staatsaktionen, Friedensschlüsse und olympische Scenen im Geiste jenes Zeitalters darzustellen, sondern sich auch in die Atmosphäre des absoluten Königtums soweit einzuleben, daß z. B. einer von ihnen dem auf dem Sonnenwagen emporsteigenden Phöbus Apollo Ludwigs Züge lieh! Sechs Jahre lang betrachtete der neue Sonnenkönig die gemalte Schmeichelei mit Wohlgefallen, dann siegte aber doch die historische Passion und er befahl, daß Ludwigs XIV Gesicht dem Apollo aufgemalt werde!

Die sämtlichen großen und kleinen Säle waren nur prunkvolle Coulissen für eine Schattenwelt. Nie hat in der Salle du Conseil[2] ein Ministerrat getagt, nie die goldene Chambre de Parade[3] ein königliches „Lever“ gesehen, nie wurde in dem prunkvollen Speisesaal eine Tafel für die Hofgesellschaft gedeckt: einsam saß der König in seinem großen, bildergeschmückten Arbeitszimmer oder ging des Nachts, wenn die berühmte Spiegelgalerie im Glanz unzähliger Kerzen strahlte, darin auf und ab. Im Geiste sah er alle, die einst die große Galerie in Versailles belebt hatten, Prinzen, Feldherren und Künstler, schöne Damen, die sich tief vor den eintretenden Majestäten verneigten. „Das ist mir die liebste Gesellschaft,“ sagte er, „sie kommt und verschwindet, wann ich will!“

Auf des Königs Wunsch standen fruchtbeladene Orangenbäume in prachtvollen großen Vasen in den Fensternischen der Galerie. Als er einstmals die Hand ausstreckte, eine Orange aus dem dunklen Laub herauszupflücken, bekam er statt des Stieles einen Metalldraht zu fassen, der die Frucht an dem Ast befestigte. „Schwindel!“ rief er entrüstet und warf die Orange an die Wand. Er ahnte nicht, wie oft sein herrisches Gebot derartige Surrogate hervorrief, deren Anblick ihm die Illusion gab, das Unmögliche sei für ihn möglich gemacht! Wo es aber galt, die Konsequenz seiner nur auf Pracht ausgehenden Schöpfungen, also den völligen Mangel an Behaglichkeit zu ertragen, da zeigte er sich ganz geduldig. „Nur ungern,“ sagt Frau v. Kobell, „senkte sich der Schlaf auf seine Augen in dem mit Schmuck beladenen Bett, unsanft lag der Körper auf den zollhohen Stickereien des Kanapees; setzte sich der König an den Tisch, so kamen seine Knie in empfindliche Berührung mit den Goldornamenten, die Schreibmappe war wegen ihrer Porzellan- und Metallbelastung schwer zu benutzen, der Federhalter derart mit benvenutischen[4] Ciselierungen übersät, daß ihn die Hand nur auf kurze Zeit zu ergreifen vermochte. Aber dank seiner Liebe zur Kunst setzte sich Ludwig II über diese Mängel und Schattenseiten gern hinweg.“ Sein Schreibzeug wenigstens, ein kleines Meisterwerk von Goldbronze, durch Münchner Künstler hergestellt, machte ihm ein außerordentliches Vergnügen. Es zeigte neben reichem Figurenschmuck ein von der Krone überragtes Medaillon mit dem Brustbild Ludwigs XIV. Drückte man auf eine Rosette, so verschwand dieses und an seiner Stelle erschien das Ludwigs XV. Der König ergötzte sich an diesem Mechanismus so sehr, daß er die Bilder beständig hin und her schob. Am zweiten Tag versagte der Apparat schon und mußte sofort in Reparatur gehen!

Wie schon gesagt, war Ludwig freigebig mit Lob und Lohn, wenn seine Künstler ihn befriedigt hatten, aber er hetzte sie auch auf eine Weise, die nur mit seiner gänzlichen Unkenntnis der Arbeit und der dazu nötigen Zeit zu entschuldigen ist. „Ich wünsche sogleich“ … „Teilen Sie mir unverzüglich mit“ … „Setzen Sie sogleich alles Erforderliche ins Werk“ … „Ich wünsche bis morgen“ … sind die steten Anfänge seiner Billets, in denen er Kupferstiche aus entfernten Bibliotheken verlangt, oder den Hofphotographen nach Paris beordert, um einige Bilder in Versailles aufzunehmen, seltene Ausgaben von Büchern „unverzüglich“ haben will u. a. m. In anderthalb Tagen mußte die Einbanddecke eines großen Albums für die Kaiserin von Oesterreich mit Alpenrosen und Edelweiß gestickt werden. Als viele Hände bei Tag und Nacht dies fast Unmögliche vollendet hatten, schickte der König einen Riesenstrauß der schönsten Rosen an die kunstreiche Stickerin.

Aehnlich befahl er auch die Bilder und plastischen Arbeiten seiner Künstler (worunter die meistbeschäftigten: Spieß, Hauschild, Pixis, Schwoiser, F. Piloty, Heigel, Pechmann, Watter, Perron, Widnmann) in der kürzesten Zeit und korrigierte sehr häufig ihre Skizzen in Kostüm und Haltung, stieß aber auch dann und wann einmal auf einen ungeahnten Widerspruch. Moritz von Schwind, [339] der doch vor allem berufen war, die deutschen Sagen zu malen, bedankte sich in seiner unzweideutigen Manier dafür, „Wagnerische Opern zu illustrieren“, und Wilhelm von Kaulbach, der für den König einige Blätter gezeichnet hatte, nahm es gewaltig übel, daß auf einem derselben, welches Lohengrins Abschied vorstellte, auf Befehl des Königs der allerdings etwas unglaubwürdig geratene Schwan von einem Andern abgeändert wurde. Fortan war er zu keinem weiteren Bild für ihn zu vermögen. Auch Eduard Ille, der liebenswürdige Schilderer altdeutscher Sagen, von dessen Bildern der König entzückt war, verweigerte den neuen Auftrag, nun auch Episoden aus dem Leben Ludwigs XIV zu malen. Ehrerbietig, aber fest erklärte der patriotische Künstler, es sei ihm unmöglich, den Räuber Straßburgs und Zerstörer der Pfalz zu verewigen. Er glaubte hierdurch auf immer in Ungnade gesunken zu sein, aber einige Jahre später wurde er doch wieder berufen, bei dem Werke mitzuhelfen, welches Ludwigs II letzte Lebenszeit erfüllte und heute als sichtbarer Ausdruck seiner hochfliegenden Idealität in die Lande ragt: das Schloß Neuschwanstein.

Die alte Liebe zu dem herrlichen Waldparadies am Alp- und Schwansee führte den König, trotz Linderhof und Herrenchiemsee, oft genug in das Schloß seiner Jugend, jetzt als Herrn der sämtlichen, in der „Gotik“ der vierziger Jahre dekorierten Räume. Sie genügten ihm nicht lange, auch bestimmte er das Schloß zum Witwensitz der Königin-Mutter und sah sich nach einem Platz für seine „Schwanenburg“ um. Um jene Zeit mußte er das Reiten aufgeben und ließ sich nun die märchenhaften Prachtwagen bauen, welche, im tiefsten Geheimnis angefertigt, ihm in die Berge geschickt wurden und nun, besonders nachts im hellen Laternenglanz, durch die stillen Bergthäler flogen. Auch sie waren über und über mit Bildern aus dem Versailler Hofleben bedeckt. Der darinsitzende König trug einen breitkrempigen Hut mit blitzender Diamantagraffe, manchmal auch den großen blausamtnen Krönungsornat. Die Fahrten gingen, oft im tiefen Winterschnee, weit ins Land, bis zum Fernpaß, wo Ludwig in dem wundervoll gelegenen Wirtshaus eine verschwiegene Wohnung hatte. Keiner seiner zahlreichen Reitknechte und Lakaien wagte, von ihr zu erzählen: die Entlassung folgte einem unbedachten Wort auf dem Fuße.

In den langen, schweigsamen Stunden im Wagen oder Schlitten spann der König seine Gedanken und Projekte; die Möglichkeit weiter Reisen stieg in ihm auf, Indien, der Orient überhaupt leuchteten in seine Phantasien herein, sogar ein chinesisches Schloß wollte er gerne an dem stillen, tannendunklen Plansee bauen lassen. Und seine Umgebung sah mit Schrecken, wie er sich dem eingehenden Studium des chinesischen Hofceremoniells hingab. Dort war freilich sein Ideal des absoluten Königtums vollständig erfüllt!

Es ist ein mitleiderweckendes Bild: der kranke, nur noch in Phantasien lebende König, der dieses draußen in der Welt unerfüllbare Ideal in der Einsamkeit der schneebedeckten Hochthäler suchen muß, wo der Troß seiner Dienerschaft jedem Wink gehorcht und die seltenen Wanderer staunend am Wege stehen, wenn der aus der Dunkelheit auftauchende märchenhafte Goldschlitten lichtfunkelnd vorüberfliegt. Nur wenige außer seiner gewohnten Umgebung bekamen den König ausgangs der siebziger Jahre zu sprechen, sie waren alle stets entzückt von seiner geistvollen und huldreichen Ausdrucksweise, allein er selbst fühlte sich von jedem Widerspruch verletzt und äußerte sein Mißfallen nach solchen Audienzen sehr unumwunden. Den fürstlichen Besuchen wich er von weitem aus und vergrub sich in tiefe Einsamkeit, bis sie München wieder verlassen hatten.

In diesen Zeiten wuchs das Schloß Neuschwanstein unter der Leitung der Architekten Dollmann und Hofmann mächtig empor. Seine Lage auf steilem Fels über der tiefen Pöllatschlucht und angesichts der Seen und Waldberge war die Wahl des Königs. Er hätte keine glücklichere treffen können, und diesmal paßte das Bauwerk ganz und gar zu seiner Umgebung. Man kann für die wunderbare Waldespracht von Hohenschwangau, für die verträumte Lieblichkeit der Seen und den zwischen ihnen aus dunklen Wipfeln emporstrebenden alten Schloßbau keine andere Bezeichnung finden als das heute gänzlich in Mißkredit geratene Wort „romantisch“. Und in diese Landschaft baute nun Ludwig seine „Schwanenburg“ im „romanisch-romantischen Stil“.

Wer, von Hohenschwangau durch den Wald heraufkommend, die hoch über die Schlucht schwingende „Marienbrücke“ betritt, hat plötzlich den Anblick der weißen Burg mit ihren starken aus dem Abgrund emporwachsenden Strebepfeilern, mit ihren Zinnen und Türmen, ein Architekturwerk von großer Schwierigkeit, aber auch von ganz außergewöhnlicher Wirkung. Man tritt durch den starken Thorturm ein und durchwandert die Galerien und Säle der drei Stockwerke, sieht des Königs gotisches Schlafgemach, sein Ankleide- und Arbeitszimmer, mit den romanischen Truhen und Schreibgeräten, dann die lange Folge der übrigen Gelasse bis zu dem großen Thronsaal und dem darüber liegenden Sängersaal. Ueberall Wandgemälde: Gudrun- und Sigfridsage, Lohengrin, Tannhäuser, Parzival und vieles andere, zum Teil künstlerisch schön anmutend, zum großen Teil aber die Spur der hastigen Arbeit tragend, die eben das Nächstbeste nimmt, um schnell fertig zu werden. Der König trieb auch hier unaufhaltsam. Als seine Künstler im Herbst 1885 an der Arbeit waren, erhielten sie plötzlich ein Schreiben des Hofsekretärs: „Seine Majestät kommt am ersten Weihnachtsfeiertag nachts 12 Uhr nach Neuschwanstein und will, daß bis dahin alle Bilder vollendet seien.“ Sprachloses Entsetzen aller Beteiligten, dann aber angestrengteste Arbeit, Tag und Nacht, mit schnell geworbenen Hilfskräften, und richtig, bis Mitternacht des Weihnachtstages war der letzte Pinselstrich gethan. Pünktlich zur selben Stunde traf der König ein und betrachtete im Glanz der großen romanischen Kreislüster die Gemälde. In der tiefen Nacht stand er dann wieder auf der Marienbrücke und weidete sich am Anblick des auf seinen Befehl glänzend erleuchteten Schlosses unter dem blitzenden Sternenhimmel.

Es ging rasch vorwärts mit der Geistesumnachtung des unglücklichen Monarchen. Zu oberst im Treppenhause von Neuschwanstein steht eine als Palme gestaltete Säule, an deren Fuß ein Drache grimmig faucht. Der letztere bedeutete die Verkörperung des bösen Prinzips, die Palme aber die des guten. Vor ihr stand der König täglich in ehrerbietiger Andacht und tiefem Schweigen. Niemand weiß, welche Gedanken dabei seinen kranken Geist bewegten.

Eine seltsame Zusendung beschäftigte ihn um jene Zeit lebhaft. Ein Kistchen kam an mit dem Vermerk: „Eigenhändig zu öffnen“. Der König übergab es seinem Kammerdiener und fragte später nach dem Inhalt. „Ein Bild, Majestät!“

Der König ließ es sich bringen und sah – ein Totenbild, einen vornehmen jungen Mann, leichenblaß, mit geschlossenen Augen, in schwarzer Ordensrittertracht mit goldener Kette und einem Band mit Vergißmeinnicht auf der Brust. Keine Erklärung dabei, keine Spur des Absenders. Der Aufgabestempel deutete auf Oesterreich, aber alle dorthin gerichteten Nachforschungen blieben ohne Resultat. Das Bild wurde bei Seite geschafft, aber Ludwig grübelte noch lange über dies rätselhafte Memento mori.

Seine letzte Zeit verbrachte er vielfach auf dem Schachen, wo er sich das einfache Jagdhaus im Innern zum orientalischen Pavillon hatte einrichten lassen. Dort lag er in türkischer Tracht lesend auf seinem Diwan, während seine Dienerschaft, ebenfalls als Moslems verkleidet, auf Teppichen und Kissen herumlungerte, Tabak rauchend und Mokka trinkend. Räucherpfannen dufteten, und große Pfauenwedel wurden in der schweren Atmosphäre bewegt. Draußen aber blaute der klare Herbsttag über der unermeßlichen Gebirgswelt voll Sonnenglanz und Himmelsluft! …

Es nahten die schweren Tage der Pfingstzeit 1886, wo der Irrsinn des unglücklichen Königs voll ausbrach und das Einschreiten seines Oheims, des jetzigen Prinzregenten Luitpold, nötig machte. In der ersten Aufregung wollte sich Ludwig II vom höchsten Turm von Neuschwanstein hinabstürzen, man verhinderte ihn daran, und als der Paroxismus vorüber war, willigte er in die Ueberführung nach Berg am Starnbergersee, jenem Lieblingsschloß seines Vaters, dessen ganz schlichte Einrichtung er unverändert beibehalten und nur durch zahlreiche Bilder bereichert hatte. Es ist noch in Aller Erinnerung, wie dort anfänglich alles gut zu gehen schien, der König sich willig den Anordnungen des Irrenarztes v. Gudden fügte, denselben dann am trüben Abend zu einem Spaziergang am See aufforderte – und wie man eine Stunde später Beider Leichen in dem seichten Wasser schwimmen fand … So lag denn am Pfingstmontag der tote König auf dem einfachen Bett in seinem Schlafzimmer und alle Anwohner des [340] unteren Sees drängten sich hinein, ihn noch einmal zu sehen, der schon bei Lebzeiten Gegenstand der Volkssage war und es mit seinem dunklen Tode für kommende Jahrhunderte geworden ist. –

Ueberblickt man nun sein Leben und Wirken, wie es das Kobellsche Buch so lebendig darstellt, so kann man sich der Wehmut nicht erwehren darüber, daß so viel Kunstsinn und Kunstbegeisterung sich nicht, wie bei Ludwig I, in den Dienst seiner Zeit und seines Volkes stellte. Ueber 20 Jahre lang entwickelte sich die eigentliche Münchner Kunst aus eigener Kraft, unbeachtet und ungefördert von einem Fürsten, der viele Millionen für seine eigenen Kunstzwecke verbrauchte und damit doch nur Kuriositäten geschaffen hat, die der Fremdenstrom alljährlich abpilgert, die aber unter ihren vielen Bildern und plastischen Figuren kein bedeutendes, in die Kunstgeschichte eingreifendes Meisterwerk aufweisen. Diese hatte man während Ludwigs Regierung in den großen Ausstellungen und der Galerie Schack zu suchen, denn die neue Pinakothek mußte jahrzehntelang in unverändertem Zustand verharren, fast ohne Zuwachs neuer Bilder.

Immerhin zählen die „Königsschlösser“ zu den großen bayrischen Sehenswürdigkeiten und enthalten eine Menge kunst- und wertvoller Arbeiten, deren vortreffliche Abbildungen den Text des Kobellschen Buches aufs beste erläutern. Es ist dasselbe die Frucht langer und mühsamer Arbeit und wird unter den Quellen zu Ludwigs II Geschichte einen hervorragenden Platz einnehmen, denn keine frühere Veröffentlichung brachte je eine solche Fülle authentischer Züge von dem schönen, schwärmerischen, unglücklichen Bayernkönig, dessen Figur bis auf den heutigen Tag nicht aufgehört hat, die Phantasie seines Volkes und vieler anderer Deutschen zu beschäftigen.

Bei dem bestimmten Programm: „Ludwig II und die Kunst“ hatte die dem bayrischen Königshaus warm und treu ergebene Verfasserin ein Recht, Ludwigs traurige letzte Zeiten mehr andeutungsweise als in ausführlicher Darlegung zu behandeln. Sie zeigt dafür sein früheres Wesen, die lebhafte Begeisterungsfähigkeit, die große Idealität und geistige Regsamkeit des jugendlichen Herrschers, den so wenige nur gekannt haben, während unzählige nach seinem furchtbaren Tode in Erschütterung standen vor diesem tragischen Menschen- und Königsschicksal!




Der Palmengarten zu Leipzig.

Von Max Hartung.0 Mit Illustrationen von Ernst Kiesling.

Das Gesellschafts- und Palmenhaus.
Erbaut von Schmidt und Johlige, Architekten in Leipzig.

Im Westen der alten Lindenstadt Leipzig, dicht vor den Stadtteilen Lindenau und Plagwitz, ist auf dem früheren Kuhturmgrundstück und dem angrenzenden Waldgebiet am 29. April d. J. der Leipziger Palmengarten eröffnet worden. Wenn wir durch den südlichen der beiden Zugänge, von der Plagwitzer Straße her, in die rund 200000 qm umfassende Anlage eintreten, befinden wir uns in schattigem Waldparke, aus dem wir auf einer Brücke über die Elster in den eigentlichen Palmengarten gelangen. Links führt der Weg auf einen Hügel hinauf, von dem wir einen überraschend schönen Anblick genießen. Unter weiser Ausnutzung der zu Gebote stehenden Mittel hat die Kunst des Gärtners ein Landschaftsbild hervorgezaubert, das mit allen Reizen der Natur ausgestattet ist.

Vor uns dehnt sich ein blinkender Weiher, über dessen schmale Ausläufer sich zierliche Brücken spannen und der von weiten samtenen Rasenplänen umrahmt ist, die mit buntem Gehölz und formschönen Koniferengruppen umsäumt sind. Hier und dort schiebt sich ein malerischer Pavillon dazwischen, und aus dem Hintergrund grüßt das hohe Gesellschafts- und Palmenhaus wie ein Schloß zu uns herüber.

Von dem Hügel, dessen Inneres eine Felsgrotte bildet, rauscht ein Wasserfall in den Weiher hinunter. Grotte und Wasserfall erglänzen bei Einbruch der Dunkelheit in elektrischem bunten Lichte. Ein anziehendes Schauspiel bietet die Leuchtfontäne dar, die aus der Mitte des Weihers ihre mächtigen Wassergarben emporschleudert, deren wechselvolles Spiel am Abend in märchenhafter Farbenpracht elektrisch erstrahlt. Im Sommer werden sich Gondeln mit fröhlichen Menschen auf dem Wasserspiegel schaukeln und im Winter, wenn „vom jungen Froste die Bahn ertönt“, werden der Jugend rotwangige Scharen auf sausendem Stahlschuh über die blanke Eisfläche dahingleiten.

Promenadenwege führen, wenn wir uns rechts halten, nach dem Rosengarten, in dem die Königin der Blumen in allen möglichen Spielarten durch Farbenpracht und Duft Sinne und Herz erfreuen wird. Wir gelangen an einem Turn- und Spielplatze für die Jugend vorüber zu den Frühbeetanlagen und Gewächshäusern für Palmen- und Warmhauspflanzen sowie zur Vermehrung und Anzucht von Teppichbeet- und Gruppenpflanzen. In eine dieser stillen Werkstätten des Gärtners schauen wir beim Vorüberschreiten hinein. Da drinnen geht es ziemlich bunt zu. Tausenden farbiger Pflänzchen wird hier im warmen feuchten Sande auf die Wurzeln geholfen. Es ist das Atelier, in dem der Gartenkünstler seine Farben mischt, mit denen er die herrlichsten Teppichgemälde ausführt.

Doch nun wieder weiter! Indem wir Verwaltungs- und Restaurationsgebäude rechts liegen lassen, gelangen wir durch den Konzertpark hinüber zum Glanzpunkt der ganzen Anlage, dem von breiten Terrassen umgebenen und mit vier Türmen geschmückten Gesellschafts- und

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 Quelle im Palmenhaus.
Der Palmengarten zu Leipzig: das Innere des Palmenhauses.
Nach der Natur gezeichnet von Ernst Kiesling.

[342] Palmenhaus. Wenn wir es von Osten, Norden oder Westen betreten, gelangen wir in kleinere geschmackvoll dekorierte Säle für Restaurations- und Gesellschaftszwecke, deren Ausgänge nach innen zum großen Konzertsaal führen. Dieser wird durch drei mächtige mit Glasmalereien versehene Bogenfenster erhellt, unter denen breite Galerien hinlaufen. Die Wände ziert reicher plastischer und malerischer Schmuck, welcher die Tages- und Jahreszeiten versinnbildlicht, und von der bronzefarbenen Decke hängen vier mächtige Kronleuchter herab.

Im Süden grenzt an den Saal das Palmenhaus an, das auf einer Fläche von 1276 qm aus Eisen und Glas erbaut ist und in der Höhe 22 m mißt. Beide sind nur durch eine Glaswand voneinander getrennt, durch welche man diese Wunderschöpfung betrachten kann. Wir treten durch eine der seitlichen Pforten, die uns hineinführt in die mit Ueppigkeit emporschießende südliche Pflanzenwelt.

Ein heilig ernstes Gefühl überkommt uns, und mit Bewunderung schauen wir zu den „Königinnen des tropischen Urwaldes“ auf. Die Fächerpalmen – Chamaerops, Latania, Corypha u. a. – breiten ihre mächtigen Wedel wie ein undurchdringliches tiefgrünes Schutzdach über uns aus und erinnern daran, daß aus der Aehnlichkeit ihrer Blätter mit der flachen menschlichen Hand (palma) der Name für die gesamte Pflanzenfamilie hergeleitet ist. Die Gattung Rhapis, eine Bewohnerin Ostasiens, bildet mit ihren rohrähnlichen Stengeln undurchsichtige Dickichte, und die schlanke Kokospalme, „deren nützliche Anwendungen zahlreicher sein sollen als die Tage im Jahre“, strebt kerzengerade zur Höhe empor. Mitten am Stamme einer Areca sind soeben die zwei kahnförmigen Hüllblätter aufgesprungen und der dicht mit lila rötlichen Blüten besetzte vielverzweigte Kolben ist zum Vorschein gekommen. Leichtblättrige Bambusse und baumartige Farren mischen sich unter die hohe Gesellschaft, die dadurch nicht an Ansehen verliert.

Der sanft geneigte Boden ist mit Lycopodium dicht bepflanzt, und von diesem leuchtend grünen Moosteppich heben sich unter Gruppen schöner Blattpflanzen verschiedene Musa-Arten wirkungsvoll ab. Eine Quelle plätschert von Stein zu Stein, und aus einem Bassin, auf dem allerlei Wasserpflanzen schwimmen, steigt ein Springbrunnen lustig empor.

Von einer malerisch dekorierten Felsgrotte an der südlichen Wand, durch die eine Thür ins Freie führt, grüßt die Sagopalme (Cycas) herab, aus deren gedrungenem schuppigen Stamm sich eine dichte Krone erhebt. Einen großartigen Anblick gewährt die majestätische Dattelpalme, Phoenix genannt, die allen feindlichen Einflüssen zum Trotz sich stets von neuem verjüngt. Sie genoß schon frühzeitig bei den Arabern göttliche Verehrung. Ihre gefiederten Blätter sollen Jesus Christus bei seinem Einzug in Jerusalem zum Zeichen der Huldigung auf den Weg gestreut worden sein, und heute noch werden sie in südlichen Ländern am Palmonntag in diesem Sinne zu religiösen Feierlichkeiten gebraucht. Dort fällt auch eine Sabal durch ihre großen mattglänzenden fächerförmigen Blätter auf, hier die im Lande der Antipoden heimische gefiederte Kentia durch eleganten Wuchs, und noch viele andere herrliche Gewächse der heißen Zone entzücken das Auge durch ihre Schönheit und Eigenart.

Wir haben uns so in den Anblick dieser prachtvollen Naturgebilde vertieft, daß wir uns nur schwer von demselben losreißen. Und so wird es auch anderen Besuchern ergehen und damit die hohe Aufgabe der schönen Schöpfung erfüllt werden: des Menschen Liebe zur Natur zu stärken, seinen Sinn für das Erhabene, Schöne empfänglicher zu machen, sein Wissen zu bereichern und ihm Erholung an Leib und Seele zu verschaffen!


Das Schweigen im Walde.

Roman von Ludwig Ganghofer.

     (10. Fortsetzung.)

18.

Mitternacht war vorüber. Dunkel und schweigsam, mit matt flimmernden Sternen, um die sich dünne Nebelschleier zu ziehen begannen, lag die Nacht über dem Tillfußer Almfeld, über Haus und Hütten. Nur manchmal hörte man leis die Glocke eines Rindes – und wie ein schwermütiges Lied in weiter Ferne, so sang der Wildbach im Thal.

Am Jagdhaus waren zwei Fenster noch erleuchtet, und eines von ihnen stand offen – es waren die Fenster am Wohnzimmer des Fürsten.

Zwei spähende Augen blickten durch die Nacht zu diesen hellen Fenstern auf. Doch sie sahen nichts, diese Augen, als den ruhigen Schein der Lampe. Angedrückt an die schwarze Holzwand der Jägerhütte, saß Mazegger auf der Erde und hielt mit den Armen die Kniee umschlungen.

Einmal hörte er Schritte dort oben, als ginge der Fürst im Zimmer auf und nieder. Dann war’s wieder still.

Nun flackerte an einem dritten Fenster ein Schein auf, nur matt, als würde ein Licht vorübergetragen.

Mazegger sprang auf, stieß die Schuhe von den Füßen, huschte über den Weg hinauf und duckte sich hinter den Hofzaun, dicht unter dem offenen Fenster.

Droben war eine Thür gegangen.

Und jetzt die Stimme des Fürsten, kalt und ruhig. „Baronin? … Wollen Sie wieder zur Bühne gehen? Und studieren Sie die Rolle der Lady Macbeth?“

Ein perlendes Lachen. „Sie noch auf? Das ist eine Ueberraschung! Hätt’ ich das ahnen können, dann würd’ ich meine schlaflose Langweile geduldig ertragen haben … ohne Sie zu stören. Aber der Band Maupassant, den Martin für mich aussuchte, war zu Ende gelesen, ich wollte einen neuen haben … wollte mein geplagtes Mädchen nicht wecken, und da der Bücherschrank in diesem Zimmer steht … was blieb mir übrig?“

„Ich bitte, Baronin …“

„Nein!“ Wieder jenes helle, schöne Lachen. „Jetzt kein Buch! Da Sie noch auf sind, sollen Sie mir Gesellschaft leisten, bis mir der Schlaf kommt. Sie sind ohnehin der Schuldige, dem ich diese schlaflose Nacht verdanke. Ja! … Aber wollen Sie mir nicht eine Cigarette geben? Da plaudert sich’s besser.“

Eine kleine Weile war Stille.

„Danke! … Aber Sie sind müde, Fürst?“

„Ich? Nein!“

„Ich meinte nur … weil Ihre Hand zitterte, als Sie mir Feuer gaben?“

„Sie irren sich, Baronin.“

„Wirklich? … Merkwürdig! Denn ich beobachte doch sonst so gut! … Aber wie können Sie nur in dieser kühlen Nacht bei offenem Fenster sitzen! Wie unvorsichtig!“

Baronin Pranckha erschien am Fenster. Ihre Büste war dunkel im Schatten, doch die halb entblößten Schultern und die von durchsichtigen Spitzen kaum verhüllten Arme waren im Lampenschein von roten Lichtlinien umzogen.

Leis klirrten die Scheiben, als sie das Fenster schloß. Und dann verschwand sie wieder. Jetzt hörte man wohl die Stimmen noch, aber es war kein Wort mehr verständlich.

Lautlos, geschmeidig wie eine Katze kletterte Mazegger am Flaggenmast hinauf und kam so hoch, daß er einen Blick in das Fenster werfen konnte. Da sah er ein ruhiges Bild – einen Teil des Zimmers mit dem Schreibtisch, auf dem die Lampe stand. Ettingen kehrte dem Fenster den Rücken, und ihm gegenüber ruhte die schöne Frau in einem Fauteuil, von weißen Spitzen umflossen; ihr Haar, das im Schein der Lampe flimmerte wie rotes Metall, umringelte den Hals und die schneeigen Schultern und zitterte wie Goldgespinst bei jeder leisen Bewegung des Hauptes; die eine Hand lag mit nervösem Spiel auf der Kante des Schreibtisches, in der anderen hielt sie die brennende Cigarette; so plauderte sie, bald ernst, bald wieder lächelnd; doch plötzlich legte sie die Cigarette fort, und halb sich aufrichtend, sah sie dem Fürsten mit flammenden Augen ins Gesicht. Sie sagte nur ein Wort, ein einziges kurzes Wort … ob es sein Name war? Der Fürst erhob sich – und nun konnte Mazegger sein Gesicht sehen – es war bleich, hart und ernst.

Hastig ließ sich Mazegger über die Stange hinuntergleiten, huschte über den Hof zum Haus hinüber und legte das Ohr an die Mauer. Doch er hörte nichts anderes als nur ein verworrenes Geräusch der Stimmen. Aber wie erregt diese beiden Stimmen klangen! Wie Rede und Gegenrede aufeinander folgten, kurz und heftig! Nun lautlose Stille. Und dann sprach der Fürst allein, immer allein, und nur selten unterbrach ihn die andere Stimme erregt mit einigen Worten. Jetzt wieder Schweigen, dem ein perlendes Lachen folgte – ein Lachen, welches zu sagen schien: das alles glaub’ ich dir nicht! – Der Fürst war stumm geworden, und nur noch diese Frauenstimme klang, kein anderer Laut sonst. Wie viel sie zu erzählen und zu erklären hatte! Das währte wohl eine Stunde und länger noch! Und wie diese Stimme wechselte im Ton! Bald klang sie wie in ersticktem Zorn, bald wieder flog sie in leidenschaftlicher Hast, die Worte überstürzend, dann stockte sie und verwirrte sich, wurde leise, schmeichelnd und süß. Fast hörte man keinen Laut mehr. Jetzt sprach der Fürst, ganz ruhig, nur wenige Worte, die ein [343] gepreßter Schrei übertönte. Ein Stuhl wurde gerückt, hastige Schritte klangen, durch den Lichtschein des Fensters glitt ein Schatten – und nun ein Stammeln und Flehen, halb wie Lachen und halb wie Schluchzen, ein Ton, der dem lauschenden Jäger alle Sinne schauern machte. Dumpfe Stille – dann ein jähes Auflachen, herb und mißtönig, das Geräusch einer Thür – und wieder Schweigen. Aber das währte nicht lang – klirrend wurde droben das Fenster aufgerissen.

Mazegger drückte sich regungslos an die Mauer. Im Lichtschein, der übers Almfeld hinausfiel, sah er den Schatten des Fürsten – und deutlich hörte er den tiefen Atemzug, mit dem der Einsame dort oben die frische Bergluft trank wie eine köstliche Erquickung.

Der Schatten im Fensterlicht verschwand, und man hörte den Schritt des Fürsten, der im Zimmer auf und nieder ging. Ein Stuhl wurde gerückt – und dann war’s still.

Noch lange stand Mazegger in der Nacht und spähte zu dem hellen Fenster hinauf. Kein Laut mehr, dort oben – aber auch die Lampe erlosch nicht. Wie gebrochen an allen Gliedern taumelte der Jäger zu seiner Hütte hinunter, nahm die Schuhe vom Boden auf und trat in die Stube. Er machte Licht und zog die Uhr. Drei Uhr vorüber – in einer halben Stunde mußte der Tag beginnen.

Immer mit der Uhr in der Hand, stand Mazegger am Tisch und starrte brütend vor sich nieder. Sein Gesicht war grau wie Asche, und die Augen brannten ihm wie im Fieber.

Schwankend ging er zum Bett, warf sich auf die Matratze und brütete mit starrem Lächeln vor sich hin.

Draußen begann es zu dämmern. Da huschte ein Schritt an der Hütte vorüber, vorsichtig und leis, als möchte er nicht gehört werden. Das erleuchtete Fenster der Jägerhütte war ihm offenbar nicht ganz willkommen, denn er duckte sich, um ungesehen vorüberzuschlüpfen. Schon wollte er auf den Fußspitzen in das Försterhäuschen schleichen, als ihn eine Stimme anrief: „Praxmaler?“

„Mar’ und Josef!“ stotterte Pepperl. „Der Herr Fürst!“ Scheu trat er seinem Herrn entgegen, der über den Weg herunterkam. „Ja Duhrlaucht! Was machen denn Sie schon auf? In aller Fruh?“

Ettingen lachte. „Das begreifen Sie nicht? Ein Jäger? Sie sind ja doch auch schon munter!“

„Ja mein, ich … das is ganz was anders!“

„Wo waren Sie denn heute schon?“

„Ich? Nirgends! Na, na! Gott bewahr’! Ich bin nirgends g’wesen!“ stammelte Pepperl. „Bloß da drunten … ein bißl da drunten halt … weil ich ein bißl ausschauen hab’ wollen, wie sich der Tag heut’ anlaßt, ja … weil ich befohlen bin … mit’m Herrn von Sensburg, zur Gamsbirsch. Den muß ich wecken jetzt! Gleich!“

„Lassen Sie den nur schlafen und gehen Sie lieber mit mir!“

„Mit Ihnen, Duhrlaucht? Gott sei Dank! Das is mir freilich lieber! Und der ander Herr, mein’ ich, thut sich eh viel leichter im Bett als wie auf der Gamsbirsch! … Aber wohin denn, Duhrlaucht?“

„Wohin Sie wollen. Nur hinauf! Hoch hinauf! Ich möchte eine Stunde früher die Sonne sehen.“

„Da steigen wir zum Steinernen Hüttl ’nauf … das is der nächste Weg in d’ Höh. Und gleich bin ich fertig!“

„Noch eines … hier ist ein Brief. Der soll an Graf Sternfeldt übergeben werden, sobald er aufsteht. Ich bitte, besorgen Sie das. Und bis Sie sich fertigmachen, geh ich langsam voraus.“

Ettingen folgte dem Steig, der sich in das matte Zwielicht des Waldes verlor.

Als Praxmaler in seine Hütte treten wollte, wurde er von einer zischelnden Stimme angerufen: „Peppi!“

Mazegger kam auf ihn zugesprungen.

„Was is?“

„Ich hab’ dich reden hören mit dem Herrn Fürsten … kannst ja mir den Brief geben. Ich besorg’ ihn.“

Hätte Pepperl nicht Kopf und Herz mit anderen Dingen voll gehabt, so hätte ihm der seltsame Klang dieser Stimme auffallen müssen. So aber sagte er: „Ja, is recht … und is mir lieber, als daß ich den Herrn Förstner aus’m besten Schlaf wecken muß! Aber gelt, ich kann mich verlassen auf dich?“

„Ja! Gieb her …“

„No, no, no? Was hast denn? Geh, du bist einer! Reißt er mir den Brief aus der Hand als wie … ich weiß net, wie!“

Ohne zu antworten ging Mazegger zu seiner Hütte. Auf der Schwelle blieb er lauschend stehen, bis er die davoneilenden Schritte des Jägers hörte, der seinem Herrn folgte. Dann schloß er am Fenster die Läden, trat in die Stube und verriegelte die Thür. Schwer atmend, mit starren Augen und klaffenden Lippen stand er und lauschte – rings um die Hütte war alles still. Nun untersuchte er den Brief und drehte ihn hin und her, langsam, als wäre das leichte Papier so schwer wie Blei. Der Brief war nicht gesiegelt, nur leicht verklebt.

Mazegger öffnete ihn – und damit kein Lichtschein durch die Ritzen der Läden hinausfallen möchte, schraubte er an der Petroleumlampe die Flamme ganz klein herunter. Bei diesem trüben Zwielicht las er:
„Drei Uhr Morgens.  

  Lieber Goni!
Du hast recht gehabt! Ich sollte nicht erlöst werden ohne ,Gewaltstreich‘. Aber sie war es, die ihn versuchte – mit einer plumpen Reminiscenz an die französische Komödie, deren Heldinnen sie ja verkörperte, bevor sie den adeligen Hochstapler fand, der ihr seinen Namen gab und dann auf Reisen ging, damit sie ungestört die ‚schöne Witwe‘ spielen und ihre Netze stellen konnte. Aber was mich in meinem Wahnsinn damals, als ich allen Zusammenhang erfuhr, vor Ekel krank machte, krank auf den Tod fast – daran kann ich heute denken, als wär’ es nie gewesen, als hätt’ es mich nie berührt, als läge für mich eine ganze Welt zwischen damals und heute, ein Feuer, das mich reinigte, als ich seine Flammen durchschritt. Und denk nur, Goni, sie kam, um die Flitterwochen ihrer Freiheit mit mir zu verleben! Denn sie hat sich scheiden lassen – das war der Grund ihrer langen, Dir so unbegreiflichen Reserve – sie wollte frei sein, um mir sagen zu können: ich habe mich frei gemacht, für dich! Daß sie mir das nicht einen Monat früher sagte – das ist für mich ein Glück, das ich meinem Gott und meinem guten Engel danke. Ich glaube, ich wäre bei meiner falschen Vorstellung von dem, was ‚Verpflichtung‘ heißt, noch vor wenigen Wochen zu jeder Thorheit fähig gewesen, auch auf die Gefahr hin, mit Bewußtsein mein Leben zu vernichten. Aber daß sie für das Bekenntnis ihres ‚Opfers‘ gerade diese Stunde wählte und dazu ein Kostüm, wie für die Rolle der ,Iza‘ im ‚Fall Clemenceau‘ geschnitten – das war ein schlechtes Spiel, mit dem sie gegen meine gute Karte nicht aufkam. Das hat mir die Bilanz meiner Vergangenheit und Zukunft leicht gemacht. Nun ist alles vorüber und abgethan! Gründlich! Wie ich aufatme! Und nun brauch’ ich Dir gar nicht mehr zu schreiben: Mache mein Haus rein, Goni, und ich will es Dir danken! Denn ich bin überzeugt, sie wird den Wagen schon befohlen haben, noch ehe Du am Morgen munter wirst. Daß ich nach einem solchen Auftritt keine Stunde mehr mit ihr unter dem gleichen Dach verbringe, wirst Du begreiflich finden. Nur diese Zeilen schreib’ ich Dir. Dann weck’ ich den Jäger und steige mit ihm hinauf – hoch, hoch hinauf, wo ich Sonne und reine Luft finde. Am Abend komm’ ich heim – und ich bitte Dich, Goni, laß im Jagdhaus alle Fenster öffnen! Weit!

Und doch – eigentlich muß ich ihr dankbar sein. Denn sie verhalf mir zu einer Erkenntnis, die ich gestern noch nicht besaß – zur Erkenntnis meines Glückes, das gestern noch unbewußt in mir blühte wie ein Gefühl wunschloser Freude, ruhig, heiter und schön. Doch als ich diese Frau so vor mir stehen sah, mit ihrer blendenden Schönheit und all ihrem innerlichen Unwert, da zwang sie mich zu einem Vergleich, da sah ich neben ihr eine andere stehen – wie neben einer faulen Frucht der Großstadt eine reine, schöne Blume der Berge. Ach, Goni, wie wurde mir da die Wahl so leicht! Wenn ich Dir nur sagen könnte, wie mir zu Mute war, als es so plötzlich Licht wurde in mir, als ich so jählings das Glück erkannte, das mich erwartet wie ein blühender Frühlingstag, so plötzlich fühlte, daß ich liebe! Ja, Goni, ich liebe, liebe, liebe! Mit meiner Seele! Tief und heilig! Ein Glück, das ich gefunden habe auf reinem Weg! Erinnerst Du Dich an dieses Wort meines ersten Briefes? Nun ist es zur Wahrheit an mir geworden. Aber nun hab’ ich mein Glück erkannt, nun will ich es auch gewinnen und wahren an meiner Brust! Mit starken Armen. Mehr kann und will ich Dir jetzt nicht [344] sagen. Ihren Namen herschreiben auf dieses gleiche Blatt, auf dem ich von jener anderen schrieb? Nein! Das wäre Entweihung. Am Abend, wenn ich heimkomme, sollst Du alles wissen. Und morgen, Goni, morgen hol’ ich mein Glück! Küsse mir das Bild meiner Mutter, Du Guter und Treuer, und freue Dich mit dem glücklichsten der Menschen. Das ist Dein Heinz.“ 

Mazegger hatte schon längst zu Ende gelesen, und noch immer saß er über das Blatt gebeugt, das in seinen Händen zitterte. Sein fahles Gesicht war verzerrt, und mit einem Lächeln, das alle Zähne sehen ließ, als wären ihm die Lippen eingetrocknet, raunte er nur immer das eine Wort des Briefes vor sich hin: „Morgen hol’ ich mein Glück … morgen hol’ ich mein Glück …“

Plötzlich fuhr er auf, als hätte ihn eine Stimme geweckt. Erschrocken sah er um sich, schob den Brief in den Umschlag und verschloß ihn. Hastig blies er die Lampe aus und stieß am Fenster die Läden auf. Draußen war es Tag geworden.

Als wüßte er nicht, was er that, so verloren ging er zum Tisch zurück und betrachtete wieder den Brief.

„So? … Morgen? … Morgen? …“

Er lachte heiser, und seine Augen glühten. Dazu machte er eine Bewegung, als wollte er den Brief in Fetzen reißen.

Da trat der Förster in die Stube. „Guten Morgen, Toni! Und gut, daß d’ noch daheim bist. Heut’ mußt mit mir … Aber was hast denn da?“ Er nahm dem Jäger den Brief aus der Hand. „An Herrn Grafen? Und die Schrift von der Duhrlaucht? Ja, von wem hast denn den Brief?“

„Vom Peppi.“ Mehr zu erklären, hielt Mazegger nicht für nötig.

„Der Brief muß ja b’sorgt werden! Gleich auf der Stell’!“ Mit diesen Worten eilte Kluibenschädl davon.

Finsteren Blickes sah ihm Mazegger nach. Daß er heute den Förster begleiten sollte, gerade heute, das schien ihm nicht zu passen. In aller Hast machte er sich fertig, warf die Büchse hinter den Rücken, steckte mit zitternder Hand ein paar Patronen zu sich und schritt über das Almfeld hinunter. Doch bevor er den Wald noch erreichen konnte, klang hinter ihm die Stimme des Försters: „He! Toni! Was is denn? Warten, sag’ ich!“

An der Lippe nagend, blieb Mazegger stehen, bis der Förster ihn eingeholt hatte.

„Wo rennst denn hin? Ich hab’ dir doch g’sagt, daß ich dich brauch’! Oder hast schon wieder dein’ eigenen Kopf? Was? Und ausschauen thust wieder! Hast am End’ ein’ Ausflug g’macht in der Nacht … Gott weiß wohin?“

Mazegger wandte sich wortlos ab.

„Heut’ bleibst bei mir! Wir müssen die neuen Steig’ vermessen. Da haben wir Arbeit den ganzen Tag.“

„So?“ Mazegger lächelte. „Aber die Nacht? Die gehört doch mein?“

Der Förster sah ihn von der Seite an. „Was das jetzt wieder für eine Red’ is! D’ Nacht, natürlich, die g’hört freilich dein.“

„Gut! Mehr brauch’ ich nicht.“

„Zu was?“

„Zum schlafen.“

„Geh, du!“ brummte der Förster und schüttelte den Kopf.

Sie verschwanden im Wald. –

Eine stille Morgenstunde, und dann kam die Sonne. Heute flog sie die Berge nicht mit jenem reinen Schimmer an, der all die hohen Felsen wie in durchsichtiges Flammengebilde verwandelt. Es war etwas Trübes in ihrem Feuer. Und die dünnen Nebel, die mit zerrissenen Formen hoch in den Lüften schwammen, glühten so rot, als wären Blutbäche über den mattblauen Himmel ausgegossen. Auch die Sonne selbst, als sie hinter den östlichen Bergen hervortauchte, hatte einen roten Schleier umgehangen – man konnte sie ansehen, ohne geblendet zu werden. –

Hoch droben über dem Bergwald, auf einem steilen, von Almrosen überwucherten Gehäng’, das die Sonne mit ihrem roten Feuer schon überleuchtete, ruhten Ettingen und Praxmaler zu Füßen einer einsamen Zirbe.

Pepperl saß mit dem Rücken gegen den Stamm gelehnt, so schwer, als hätte er eine Stütze recht nötig. Und er machte kein lustiges Gesicht. Die zehn „Viertelen“ rumorten wohl in seinen Haaren, denn er sah übernächtig aus und hatte Ringe um die Augen. In seinen Blicken, die das Thal suchten, leuchtete es wohl manchmal auf wie Glück und Freude, aber das erlosch immer wieder in trüber Kümmernis wie droben das Sonnenlicht in Nebelschleiern. Dazu wurde er, je länger er saß, immer schläfriger; ein um das andere Mal fielen ihm die Augen zu für einen kurzen „Sumser“, aus dem er mit erschrockenem Nicker wieder auffuhr.

Im Gesicht des Fürsten aber hatte die durchwachte Nacht keine Spur von Ermüdung zurückgelassen. Ettingen lag behaglich ausgestreckt in den Almrosenbüschen, über die der Wettermantel gebreitet war. Mit dem Blick des Glücklichen, für den alle Rätsel seines Lebens sich aus schwüler Nacht zu schönem Tage lösten, sah er träumend und lächelnd über den Bergwald in ziellose Ferne hinaus und empor zum glühenden Himmel.

Wieder einmal fuhr Pepperl aus kurzem Schlummer auf.

„Was meinen S’, Duhrlaucht … heut’ macht’s ein Lüfterl, da könnt’ man rein einschlafen dabei … sollten wir net ein bißl weiterbirschen?“

„Nein. Ich will nicht jagen heut’. Nur ruhen … so wie jetzt. Das alles zu sehen, wie das leuchtet, der Wald, die Berge, der Himmel … wie schön das ist! Bleiben wir nur!“

Pepperl seufzte. Um sich wach zu erhalten, mußte er wenigstens versuchen, einen „Dischkurs“ in Gang zu bringen.

„So ein Himmel wie der heut’? Der g’fallt Ihnen? Mir net! Na!“

„Ich habe noch keinen gesehen, der mir besser gefiel.“

„Aber ich bitt’ Ihnen, schauen S’ doch die verzupften Wölkerln an! Das is ein grauslichs Wetterzeichen. Morgen kriegen wir schlechte Birsch und ein’ trüben Tag.“

„Meinen Sie? … Nein! Wie morgen der Tag auch sein mag, er wird helle, reine und schöne Sonne haben!“

„Da täuschen S’ Ihnen. Herr Fürst … da möcht’ ich gleich wetten drauf.“

Als Ettingen nicht antwortete, machte Pepperl noch ein paar Versuche, den abgerissenen Gesprächsfaden wieder anzuknüpfen. Umsonst. Schließlich ergab er sich in stummer Geduld, und dann fielen ihm wieder die Augen zu.

Eine schweigsame Weile verging. Da machte ein Rascheln den Fürsten aufblicken. Praxmaler war mit dem Rücken halb über den Stamm hinuntergeglitten und fing schüchtern zu schnarchen an.

„Gute Nacht, Pepperl!“

Nun streckte sich auch Ettingen bequemer aus und verschränkte die Hände unter dem Nacken. So blickte er träumend zu den ziehenden Wolken auf, deren Rot immer blässer wurde, bis sie weißlichen Glanz bekamen.

Als hätte, was er fühlte und sann, nicht Raum in seinem Innern, als wäre die Brust zu enge dafür und als müßt’ es heraus an den Tag, so flüsterte er lächelnd vor sich hin:

„Lo’! … Meine Lo’!“

Tief atmend, mit diesem Lächeln auf den Lippen, schloß er die Augen, weil ihn der silberne Glanz der Wolken blendete.

Stille. Träumende Sonnenstille.

Kaum hörbar fächelte der laue Wind um die Almrosenbüsche mit ihren halb verwelkten Blüten, machte die Blätter zittern und rollte wie spielend die abgefallenen Blütenkelche über das kurze Gras.

Langsam zogen die weißen Wolken im Blau, sammelten sich immer dichter und hüllten schon die höchsten Spitzen ein. Doch immer noch fand die Sonne zwischen Nebel und Gewölk eine Gasse für ihre Strahlen. –

Es war schon Mittag vorüber, als die beiden aus diesem wohligen Sonnenschlaf erwachten. Sie stiegen über den Berghang hin und hielten Einkehr im „Steinernen Hüttl“ – in einer aus groben Felsblöcken gefügten Sennhütte. Da gab es freilich nichts besseres als Milch und grobes Brot mit frischer Butter – aber die beiden verspürten nach diesem Schlaf einen Hunger, der mit allem zufrieden war.

Während sie neben der Sennhütte auf dem Rasen kauerten, jeder mit der Milchschüssel auf den Knieen, fragte Ettingen: „Sagen Sie mir, Praxmaler … Sie sind heute nicht wie sonst … was ist denn los mit Ihnen?“

„Nix! Na, na! Gar nix!“ Pepperl wurde rot bis über die Ohren. „G’wiß wahr! Nix, nix, nix!“

„Doch, Pepperl! Sie kommen mir heute so gedrückt vor, so unruhig? Haben Sie Unannehmlichkeiten in Ihrer Familie?“

[345]

Abgeschlagen.
Nach einer Originalzeichnung von J. Schmitzberger.

[346] „Ah na! Gott bewahr’! No ja, wissen S’, Duhrlaucht … freilich, in der Familli, da giebt’s allweil ein bißl was … ja, ja, es wird schon so was sein … wie mit der Familli.“

Ettingen stellte die Schüssel beiseite. „Na also, was ist denn los? Mir dürfen Sie alles sagen. Ich bin Ihnen doch ein guter Herr, nicht wahr? Sie können wirklich ganz offen mit mir reden. Was drückt Sie?“

Pepperl schluckte. „Schauen S’, Duhrlaucht … weil S’ so freundschaftlich mit mir reden, da kann ich auch net z’ruckhälterisch sein … da muß ich schon gleich alles ’raussagen.“ Er seufzte schwer, guckte tiefsinnig in die Milch und drehte die Schüssel zwischen den Knieen. „Ein bißl was dummes hab’ ich halt ang’stellt.“

„Im Dienst?“

„Gott bewahr’!“ wehrte Pepperl ganz erschrocken ab. „Auf der Jagd, da hab’ ich mein Köpfl allweil bei ’nand’!“ Jetzt Wurde er wieder kleinlaut. „Aber in der Lieb’ halt … in der Lieb’ hab’ ich ein Dalken g’macht.“

Ettingen lachte.

Dem Praxmaler-Pepperl aber war bitter ernst zu Mute. „Wissen S’, Duhrlaucht, da hab’ ich mich jetzt in so ein Madl verschaut. Z’erst haben wir allweil g’stritten und g’hachelt miteinander, und auf einmal … no ja!“ Pepperl seufzte. „Aber is ein lieb’s Madl, das muß ich sagen. Recht ein lieb’s und ein bravs Madl! Die Burgi drunten, wissen S’!“

„Unsere Sennerin? Brav, Pepperl! Zu dieser Wahl gratulier’ ich Ihnen. Das ist wirklich ein nettes Mädl.“

Diese Zustimmung schien Pepperls Herz ein wenig zu erleichtern. „Gelten S’, die g’fallt Ihnen? Gelten S’, ja? Is ein liebs Madl! Und so viel gern hat’s mich, so viel gern! No ja … und jetzt muß g’heirat’ werden, geh’s wie’s mag, jetzt hab’ ich die Verantwortigung!“ Mit beiden Händen fuhr sich Pepperl kummervoll in die Kreuzerschneckerln. „Ich hab’ schon ’s Pech … ich komm’ aus der Verantwortigung gleich gar nimmer ’raus! Jetzt muß halt g’heirat’ werden, in Gott’snamen! Aber d’ Mutter! Mar’ und Josef! Die wird ein’ schönen Spittakel machen! Teufi, Teufi, Teufi … da g’freu’ ich mich drauf!“

„Ihre Mutter?“

„No ja, wissen S’, wie d’ Mütter halt sind! Das wär’ so ihr Gusto g’wesen, daß ich einmal g’scheid heiraten thät’. Und jetzt bin ich so ang’rumpelt! Ein lieb’s Madl, freilich, und gern hab’ ich’s! Aber haben thut’s halt nix, rein gar nix, wissen S’, nixer wie nix … und d’ Mutter und ich, wir haben vom Vater her noch Schulden aufm Häusl … und nachher, ’s Madl hat ein’ Vater, so ein’ alten Krackler … den muß ich natürlich ins Haus nehmen und muß ihn derhalten. D’ Mutter wird ihn freilich ordentlich kuranzen, da sieht er ’s ganze Jahr kein Wirtshäusl nimmer außer auf Ostern und Weihnächten … aber no, sein G’wand und sein richtig’s Essen muß er ja dengerst kriegen … und so wird’s halt Sorgen über Sorgen geben … in der Familli! Aber hab’ ich A g’sagt, muß ich Be sagen, in Gott’snamen! Und da wär’s mir schon lieb, Herr Fürst, wenn S’ mir als Jagdherr d’ Heiratsverlaubnis geben thäten. Ich thät’ schon recht schön bitten, ja!“ Er hatte nasse Augen, als er das sagte.

„Die geb’ ich Ihnen von Herzen gerne.“

„Gott sei Dank!“ Pepperl atmete auf. „Da is mir schon der ärgste Stein von der Seel’!“

Ettingen lächelte und sah dem Jäger mit herzlichem Blick in die Augen. Was wäre ihm in der Stimmung dieses Tages willkommener gewesen, als die Freude und das Glück zweier Menschen schaffen zu dürfen. „Wie viel Schulden haben Sie denn auf Ihrem Häuschen?“

Das ging hart heraus: „Dreihundert Gulden!“

„Die wird Ihre Braut schon bezahlen können.“

„Aber!“ Pepperl machte schiefe Augen zu diesem Witz. „Der muß ich ja zur Hochzeit die Pomeranzen kaufen … so viel hat die!“

„Nein, Pepperl! So viel ich weiß, hat Ihre Braut fünfhundert Gulden zur Aussteuer.“

„Ja, wär’ schon recht! Da müßt’s ihr rein einer schenken! Aber ein’ solchenen Narren giebt’s ja doch net auf der Welt!“

„Doch!“ Ettingen lachte. „So ein Narr bin ich!“

„Was?“ Pepperl verfärbte sich, und seine Hände zitterten, daß aus der Milchschüssel ein weißer Taufguß über die Kurzlederne niederging. „Was haben S’ g’sagt?“

„Daß ich der Burgi das zur Aussteuer gebe.“

„Mar’ und Josef … “

„Und der Förster hat viel Arbeit mit der Jagdverwaltung, er wird eine Hilfe brauchen … das haben Sie mir ja neulich bei der Jagd im Gaisthal drunten selbst gesagt … da will ich ihm vorschlagen, daß er Sie zum Oberjäger macht, mit entsprechendem Gehalt natürlich.“

„Was?“

„Haben Sie nicht verstanden?“

Die Milchschüssel kollerte über Pepperls Kniee hinunter. Mit starren Augen sah er den Fürsten an, schlug die Hände ineinander und stotterte: „Ich bitt’ Ihnen, Duhrlaucht, thun S’ mich net für ’n Narren halten!“

„Nein, Pepperl. Was ich sage, das gilt!“

In Zweifel studierte der Jäger noch eine Sekunde lang das Gesicht seines Herrn. Aber dann stieg ihm der Glaube und die Freude zu Kopf, wie ein elftes und zwölftes „Viertele“ vom roten Spezial. Wie ein Verrückter sprang er auf und schrie einen Jauchzer zum Himmel, daß der Senn vor die Thür gelaufen kam – einen Jauchzer, daß ihm die Sehnen am Hals hervortraten wie rote Striemen.

Und Ettingen bekam zu merken, daß es Menschen giebt, denen man ein Glück nicht minder vorsichtig mitteilen soll als eine Trauerbotschaft. Denn Pepperl drückte im ersten Sturm seinem Herrn die Hand, daß Ettingen noch eine Stunde später die Finger kaum bewegen konnte.

Aber mitten in dieser Freude kam dem Jäger gleich wieder eine Sorge. „Um Gottswillen, Duhrlaucht, wenn’s mit der Aussteuer wirklich wahr is, sagen S’ nur ja kei’m Menschen ein Wörtl davon!“

„Nein, Pepperl, das bleibt unter uns.“ Doch Ettingen hatte diese Bitte anders verstanden, als sie gemeint war.

„Denn wissen S’, wenn das unter d’ Leut’ käm’, da hätten S’ kein’ Ruh’ nimmer, Tag und Nacht. Da thät’ ja die ganz’ Gegend heiraten auf Ihnen ’nauf … und jeder, der ’was brauchen könnt’, thät’ sich denken: Ah was, der gute Kerl, der giebt mir schon auch was … hat er’s dem Pepperl ’geben, giebt er’s mir auch! … Nimmer schlafen könnten S’ vor lauter Brautleut’!“

Ettingen lachte. „Ja, Pepperl, da wollen wir lieber reinen Mund halten!“ –

Als sie den Heimweg antraten, hatte der Jäger solche Eile in den Beinen, daß er alle Augenblicke ein paar hundert Schritte voraus war und wieder stehen bleiben mußte, um auf seinen Herrn zu warten.

Ehe der Pfad sich in den Wald verlor, klomm er über eine vorspringende Bergrippe hinweg, von welcher aus man über die Wipfel frei hinunter sehen konnte ins Thal. Wie ein zierliches Spielzeug lag die Tillfußer Alm mit den Jagdhäusern und der Sennhütte da drunten.

Pepperl zog in seiner freudigen Ungeduld das Fernrohr auf. „Muß doch schauen, ob ich ’s Madl net sieh’!“

Das sah er nun freilich nicht – dafür aber etwas anderes: eine vierspännige Equipage und einen Zweispänner, die im Hof des Jagdhauses standen.

„Duhrlaucht! Da fahren ja Ihre Gäst’ davon! Die Herrschaften sitzen schon im Wagen und g’rad’ steigt der Herr Martin auf’n Bock … und jetzt fahren s’ ’naus zum Hof!“

Ettingen antwortete nicht; er machte nur lächelnd mit der Hand eine Bewegung, die jedes Wort ersetzte.

Pepperl aber war ganz aufgeregt. „Ja kommt denn der Herr Martin fort? Für ganz?“

„Ja. Und Sie werden seinen Dienst bei mir übernehmen müssen …“

Da machte Pepperl ein Gesicht, als hätte sich in seinem Freudenkelch der letzte Tropfen Wermut in Zucker verwandelt.

„ … und bei der Tafel servieren.“

Nun erschrak er. „Teufi, Teufi, Teufi, das wird sich hart machen!“ Mißtrauisch sah er seine klobigen Hände an. Dann aber lachte er. „Duhrlaucht … wann S’ heut’ zu mir sagen, ich soll ein’ Heuwagen auflupfen mit ein’ Zwirnsfaden, nachher probier’ ich’s auch!“

Und da ging es nun thalwärts ohne Aufenthalt. So flinke Beine Pepperl auch machte – Ettingen blieb nicht zurück hinter ihm. Bei diesem ungeduldigen Abstieg plauderten sie nur wenig. Der Fürst war in Gedanken versunken, und auch Pepperl hatte [347] zu „sinnieren“ – er studierte sich’s aus, wie er’s der Burgi sagen wollte. Was die für Augen machen würde! „Teufi, Teufi, Teufi!“ Und selig lachte er vor sich hin.

Eine Stunde, und sie hatten die Tillfußer Alm erreicht. Als sie aus dem Wald traten, kam gerade der Förster mit Mazegger von der anderen Seite übers Almfeld heraufgestiegen. Schon von weitem winkte Kluibenschädl seinem Herrn zu und eilte ihm atemlos entgegen. „O mein Gott, mein Gott, Duhrlaucht, wenn S’ nur heut’ bei mir g’wesen wären. Da hätten S’ ein’ Hirsch g’schossen … ein’ Kapitalkerl!“

„So?“ Ettingen schien über den Entgang dieser Weidmannsfreude nicht sonderlich schmerzlich berührt.

„Ja, denken S’ … wie ich gegen Zehne vormittags beim Steigvermessen ’runterkomm’ aufs Straßl, schau ich so zufällig ’nunter zum Bach. Was steht drunten? Ein Kapitalhirsch! Gar net ’kümmert hat er sich um uns … und wer weiß, wie lang’ er noch g’halten hätt’, wenn ’s Malerfräul’n net daher’kommen wär’ …“

„Fräulein Petri?“

„Ja, die is auf ihrem Hansi ’nausg’ritten zum Sebensee. Natürlich, da hat sich der Hirsch davong’macht. Aber ganz g’mütlich is er ang’stiegen … zwei-, dreimal hätt’ man ihn noch derglangen können mit der Kugel … und d’ Haar’ hätt’ ich mir schier ausg’rissen, weil ich mir allweil hab’ denken müssen: Ja wenn nur der Herr Fürst da wär’, um Gottswillen, wenn nur der Herr Fürst da wär’!“

„Ja, Herr Förster,“ Ettingen lächelte, „ich weiß nicht, was ich darum gäbe, wenn ich bei Ihnen gewesen wäre.“

„Gelten S’, ja? Aber morgen müssen S’ ’nunter auf den Hirsch … der kommt schon wieder!“

„Nein, lieber Förster! Für morgen hab’ ich andere Pläne. Praxmaler!“

Pepperl, der zur Sennhütte hinuntergeschielt hatte, fuhr auf: „Ja, Herr Fürst?“

„Morgen machen wir einen Birschgang zum Sebensee. Früh um fünf Uhr … da sind wir draußen, bis die Sonne kommt.“

Ettingen nickte dem Jäger zu und ging zum Fürstenhaus hinauf, in dessen Thüre Graf Sternfeldt erschienen war.

Pepperl, um seine Büchse los zu werden, eilte ins Försterhäuschen. Kluibenschädl wollte ihm folgen. Aber da sah er Mazegger stehen und sagte freundlich zu ihm: „Jetzt leg’ dich aber schlafen, Toni! Du mußt ein’ ja erbarmen, wenn man dich anschaut … und seit Mittag hast dich ja schier nimmer auf die Füß’ derhalten können. Wenn mir gleich hundertmal sagst, es fehlt dir nix … so kann doch ein Mensch net ausschauen, wenn er richtig bei ’nander is! Sei g’scheid und schlaf dich ordentlich aus … und wenn dir morgen net besser is, gieb’ ich dir dienstfrei.“

„Morgen?“ Mazegger nickte und ging seiner Hütte zu.

Droben im Hof des Fürstenhauses war Sternfeldt dem Freunde lachend entgegengekommen.

„Schau hinauf, Heinz, wie wir gelüftet haben!“

Am Jagdhaus standen alle Fenster offen.

„Aber damit du das Ende der Komödie entsprechend heiter nimmst, hab’ ich eine Ueberraschung für dich. Baronin Pranckha und Mucki, der Edle von Sensburg, empfehlen sich als Verlobte.“

„Nein?“

„Wahrhaftig!“ Da lachte Ettingen hell hinaus.

„Ich war sogar Zeuge dieses weltgeschichtlichen Aktes. Dem kleinen süßen Mucki schien’s „ainigermaaasen“ überraschend zu kommen, als sie ihm vor meinen Augen feierlich die Hand reichte … um jedes Mißverständnis auszuschließen, wie sie sagte. Du hättest sein Gesicht sehen sollen! Im ersten Moment war er so verblüfft, daß er richtiges Hochdeutsch sprach … und das will viel sagen. Aber dann wurde er wieder ganz „Fiaker“, stellte sich möglichst empört über dich – was er sich dabei dachte, will ich nicht näher untersuchen – ärgerte sich, daß er „ohne Gams“ fort sollte, und gab dem drolligen Lied seiner Wut und Verlegenheit den klassischen Refrain: „,So eine Benehmitätt, großoatig!‘“ Sternfeldt lachte. „Er brauchte zehn Minuten, um sich in die Glücksstimmung hineinzuzappeln. Aber dann … ah! Als er mit ihr abdampfte, benahm er sich in der Rolle des Glücklichen so musterhaft, daß ich ihn fast um seine Dummheit beneidete! Na also …“ lachend winkte er gegen den Wald, „fort mit Schaden! Sie wird ihm ehrlich helfen, die zwei dunklen Millionen seines Vaters ins Rollen zu bringen.“ Nun wurde er ernst. „Aber du, Heinz? Dein Brief? Ich stand vor diesem lyrischen Bekenntnis wie der Prophet vor dem Berg! Aus der einen Todesangst um dich errettest du mich und wirfst mich in die andere. Du schriebst mir doch in jenem ersten Brief, daß du dich fühlst wie ein gebranntes Kind, das nach neuem Feuer nicht lüstern ist? Und jetzt? … Heinz?“

Ettingen legte den Arm um die Schulter des Freundes.

„Komm!“

Sie traten ins Haus.

Drüben bei der Försterhütte rumpelte Pepperl aus der Thür und eilte über das Almfeld hinunter, mit langen Sprüngen, als könnte er den Augenblick nicht erwarten, den er sich auf dem Heimweg ausgemalt hatte wie der Hungrige die Mahlzeit.

Auf der Schwelle der Sennhütte stellte er sich breitspurig auf, mit den Daumen in den Hosenträgern und mit dem Hut im Genick. „Grüß Gott, Frau Oberjagerin!“

Burgi erhob sich von der Herdbank, machte scheue Augen an den Jäger hin und fuhr sich mit dem Schürzenzipfel über die Wangen, als hätte sie einen feuchten Tag hinter sich. „Geh, du!“ Mehr sagte sie nicht.

Pepperl schraubte die Stimme. „Grüß Gott, Frau Oberjagerin!“

„Ich bitt’ dich, Pepperl, mach’ mir kein’ Fasnacht her … mir is net z’ Mut danach … ich weiß schon, wie ich dran bin!“ Das war ein Ton, als wären die Thränen nicht weit.

Der Jäger aber lachte und rief es zum drittenmal: „Grüß Gott, Frau Oberjagerin!“ Dann sprang er mit ersticktem Jauchzer auf das Mädel zu wie der Fuchs auf die Ente, packte sie mit beiden Armen, wirbelte sie im Kreis und küßte sie ab, daß ihr der Atem verging.

„Wenn’s ebber sieht … Mar’ und Josef … wenn’s ebber sieht …“ stotterte sie wehrlos unter seinen Küssen.

„Soll’s sehen, wer mag! Meintwegen der Pfarrer!“ schrie er lachend. Und dann kam’s wie ein Wolkenbruch der Freude aus ihm heraus: Fünfhundert Gulden und Oberjäger!

Als sie begriffen hatte, brachte sie keinen Laut hervor, rührte nur wortlos die Lippen, und in Schluchzen ausbrechend, drückte sie das Gesicht an seine Brust.

Er schmiegte gerührt seine Wange an ihren Kopf, tätschelte sie auf den Rücken und tröstete schluckend: „Geh, Schatzerl, schau, was hast denn? Thu’ dich doch lieber freuen! Was thust denn jetzt weinen? Is ja doch eh’ alles gut! In drei Wochen wird g’heirat’!“

„Pepperl? … Is wahr?“

„Meiner See!’!“

Da legte sie ihm die Arme um den Hals, sah ihm unter Thränen lachend in die Augen und atmete auf. „Nachher is mir alles recht … alles!“

„Gelt, ja? Und unser Herr Fürst! Das is halt einer! Gleich hat er’s ’raus g’habt, daß ebbes in der Familli net in Ordnung is. Und wie er nachher g’redt hat mit mir … alles, alles verzähl’ ich dir auf’n Abend! Jetzt hab’ ich kein’ Zeit nimmer, weißt, jetzt muß ich ’nauf! Oder weißt es noch gar net? Der Schwarzlackierte is abg’schoben!“

„Ja! Gott sei Dank!“

„Und jetzt hab’ ich d’ Verantwortigung, daß ich sein’ Dienst übernimm … da muß ich sehrwieren beim Dineh.“

Was mußt?“

„Sehrwieren … aufwarten beim Essen.“

„Du, Pepperl, da mußt dir fein d’ Händ’ ordentlich waschen!“

„Ja freilich, das is g’wiß! Hast ein warm’s Wasser?“

„Ja, da geh her!“ In geschäftigem Eifer schöpfte sie aus dem Kupferkessel, der über dem Feuer hing, eine Schüssel voll dampfenden Wassers heraus und probierte mit der Hand, ob es nicht zu heiß wäre. „Es thut’s g’rad’.“ Dann holte sie einen Klumpen Seife und die Holzbürste.

Pepperl rieb und scheuerte aus Leibeskräften, zuerst mit der rechten Hand die linke, dann mit der linken die rechte. Als er die Hände an Burgis Schürze trocknen wollte, sagte sie: „Halt, laß mich z’erst anschauen!“ Und nach kurzer Musterung meinte sie: „Na, na, du, da muß schon ich noch ein bißl drüber!“ Es dauerte eine ziemliche Weile und viel Seife ging drauf, bis sie erklärte: „So, jetzt kannst doch eine fürstliche Schüssel anrühren mit Manier!“

„Du bist halt ein Madl! Mit dir bin ich aufg’richt’! Ja!“

Ein Kuß, der sich etwas in die Länge zog, und dann rannte Pepperl davon.

[348] Als er an der Jägerhütte vorüber kam, stand Mazegger am Fenster, mit den Händen hinter dem Rücken, regungslos wie eine Steinsäule. Er schloß nur manchmal die Lider, als hätte er brennenden Schmerz in den Augen. Dann blickte er wieder auf und stand und wartete. Nach einer Weile sah er den Förster zum Jagdhaus hinaufwandern und in der Thür verschwinden. Mazegger streckte sich und dehnte die Arme wie einer, den die Arbeit ruft. Er zog die Läden zu und schloß das Fenster. Dann nahm er die Büchse auf den Rücken, verließ die Stube, sperrte die Hüttenthür ab und schleuderte den Schlüssel weit hinaus in das Almfeld.

Mit starrem Lächeln blickte er noch einmal hinauf zum Fürstenhaus und eilte hastigen Schrittes davon, in der Richtung gegen den Sebenwald.


19.

Der Abend wurde trüb.

Tiefer und tiefer senkte sich das Gewölk über die Berge nieder, nur hie und da noch angeflogen von einem letzten mattroten Schein der Sonne. Aus den Waldsümpfen und von allen kahlen Flächen in der Nähe des Baches begann es aufzudampfen, und wie graues Spinngewebe, das immer dichter wurde, zog sich der Nebel über die moorigen Almen hin. Unruhig hauchte der Abendwind und trieb die grauen Dünste bergan und gegen den Sebenwald hinauf.

Bei Anbruch der Dämmerung, als die Sennleute der Sebenalm unter Geschrei und Schelten das Milchvieh von allen Gehängen zusammentrieben gegen den Stall, war der Nebel schon so dicht geworden, daß man kaum mehr auf hundert Schritte sehen konnte.

Der Senn und sein Weib blieben im Stall, um die Kühe zu melken, während der alte Hüter, der nun Feierabend hatte, mit seinen Holzschuhen in die Sennstube schlorpte, um sich ans Feuer zu setzen – ein krummgebeugter, weißhaariger Mann mit stumpfen Augen in dem müden Runzelgesicht. Mit gähnendem Behagen suchte er seinen Platz am Herd und rückte die Beine möglichst nah’ an die Glut – sein abgewerkeltes Leben hatte keinen anderen Wunsch mehr, als Abend für Abend diese schläfrige Rast am Feuer genießen und die kalten Füße wärmen zu können.

Als er draußen vor der Hütte einen Schritt körte – den Schritt eines Fremden – blickte er gar nicht auf. Gähnend legte er einen dürren Ast nach dem anderen über die Glut und nickte zufrieden, so oft er ein neues Flämmchen aufzucken sah.

Mazegger trat in die Hütte und stellte das Gewehr an die Mauer. „Guten Abend!“

Ein gähnender Laut war die Antwort des Alten, der sich beim Feuerschüren nicht stören ließ.

Der Blick des Jägers huschte durch die Sennstube und blieb an den beiden Holznägeln haften, die über dem Herd in die Mauer geschlagen waren und ein Bündel langer Kienfackeln trugen.

Höher und höher, mit Knistern und Geprassel, flammte in der Herdgrube das Feuer auf.

Mazegger setzte sich auf die Steine nieder und legte die Arme über die Kniee. So saßen sich die beiden eine Weile schweigend gegenüber. Als der Alte die nackten Füße aus den Holzpantoffeln hob und in die heiße Asche hineinwühlte, sagte Mazegger:

„Narr! Verbrennst dir ja die Füß’!“

„Narr? Hihihihi!“ kicherte der Hüter mit seiner dünnen hohen Stimme. „Der is gut! Narr sagt’r … weil ich mir was Gut’s vergunn!“ Er gähnte wieder und legte ein paar neue Aeste in die Flammen. „Wann ich net mit halb’bratene Füß’ ins Heu komm’, kann ich net schlafen … na, gar net schlafen … so viel kalt hab’ ich allweil … so viel kalt!“ Mit zittrigen Händen öffnete er an der Brust das Hemd, beugte sich näher gegen das Feuer, und wie ein Kater schnurrend, blinzelte er mit den roten Lidern. „Is was Schön’s, so ein Fuierl, gelt? Was Schön’s?“

Heiser lachte Mazegger.

„So, so, so? Lachen thust übers Fuierl? Hast halt noch Hitzen im Blut und brauchst kein Fuierl, gelt? Wart’ nur ein bißl, wart … wird dich schon auch noch frieren, dich! ’s kommt für ein’ jeden, ja … ’s Frieren! Bist halt noch jung … und jung sein heißt dumm sein! Und wann er g’scheid wird, der Mensch, nachher fangt ’s Frieren an … ’s kalte Frieren, weißt. Da kann er nimmer warm g’nug haben, ja … da merkt er’s, weißt, daß ’s Fuierl ’s einzig is, was bleibt! Hihihihi! Weiberleut’ und Lieb’ und Haß … Gut und Geld und Bürgermeister sein … alles is Wasser und g’friert in der Kält’! ’s Fuierl is ’s einzig’, was bleibt … so viel schön warm macht ’s Fuierl … so viel schön warm! Da kann er schlafen, der Mensch … gut schlafen … hihihihi!“ Kichernd griff der Alte mit seinen dürren Händen nach den Flammen, während draußen im Stall der Senn über die Kühe fluchte, die beim Melken nicht ruhig hielten. „Ein bißl spat, Jager … ein bißl spat bist auf’m Marsch? Wohin denn heut’ noch, sag?“

„Nach Ehrwald. Und dürsten thut mich. Kannst mir einen Trunk vom Brunnen holen!“

„So? Frisch vom Brunnen? So viel g’näschig bist? Hihihihi! Aus’m Ganterl taugt’s dir net? Gleich vom Brunnen mußt es haben … und thust mich furthetzen vom Fuierl?“ Seufzend und gähnend erhob sich der Alte, nahm eine Blechkanne und verließ die Hütte.

Mazegger sprang auf, riß zwei Kienfackeln von der Mauer herunter und schob sie zu einem Rauchloch hinaus. Sie fielen draußen mit dumpfem Klatsch in die Kräuter.

Der Alte brachte die gefüllte Kanne. „So, du G’näschiger, da hast dein’ Trunk, dein’ kalten!“ Gähnend setzte er sich wieder zum Feuer und wühlte die Füße in die Asche. „Jetzt laß mich aber in Ruh’, gelt!“

„Ja. Jetzt hab’ ich, was ich brauch’!“ Mazegger that einen langen Trunk aus der Kanne. „Gut’ Nacht!“ Er nahm seine Büchse und ging.

Draußen raffte er die beiden Fackeln auf, barg sie unter dem Wettermantel und eilte über das Almfeld hinaus. Als er den Waldsaum erreichte, blieb er stehen und blickte sich um. Der Nebel war so dicht, daß die Sennhütte völlig im Grau verschwand und daß von dem Lichtschein, den das Herdfeuer zur Thüre hinaus warf, kaum noch ein fahler Schimmer zu erkennen war. Aber deutlich hörte man noch die Stimme des Sennen, der mit seinem Weib und mit den Kühen schalt.

Mazegger wartete. Als mit Einbruch der Nacht in der Sennhütte drüben alles ruhig wurde, steckte er eine Fackel in Brand und stieg durch den Wald empor. Der Nebel umgab ihn so dicht, daß die Fackelflamme nur einen Umkreis von wenigen Schritten erhellte. Verschwommen tauchte, als er die Lichtung erreichte, der hohe Reisigwall vor ihm auf wie eine dunkle Mauer, in die eine Bresche gebrochen ist. Diese Lücke – das war der Weg, den er gehen mußte; nur dünne Stangen versperrten ihn.

Mazegger streckte die Hand, um das Gitter zu öffnen – aber da zögerte er. Hatte ihn das Grauen vor der That befallen, die er verüben wollte? War der rechnende Gedanke in ihm erwacht: Wenn ich es thue – was hilft es mir? Und erkannte er, daß bei dem wahnwitzigen Spiel, das er im Durst seiner Leidenschaft als ein letztes, gewaltsames Mittel versuchen wollte, der Einsatz sein eigenes Leben war?

Er stand und sann – und schüttelte sich, wie um ein letztes Bedenken von sich abzuwerfen.

„Soll’s kommen, wie’s mag! Ob ich gewinn’ oder hin bin … der ander’, der soll sie auch nicht haben!“

Mit einem Fußtritt warf er das Gitter auf und durchschritt den Reisigwall. Knarrend fielen die Stangen hinter ihm an den Pfosten zurück.

Er warf den Mantel zu Boden und die Büchse dazu. An der Flamme des schon halbverbrannten Kienholzes entzündete er das zweite Scheit und hob die beiden Fackeln über den Kopf empor, um den Wind zu prüfen. Der machte die Flammen lodern und trieb ihren Rauch waldaufwärts – – brannte der Reisigwall, so hatte das Feuer nur einen Weg: hinauf zum See!

Mazegger senkte die Fackeln und wollte werfen. Doch wieder zögerte er. Aber das währte nur einen Augenblick. Mit kreischender Stimme, als bedürfte er zu seiner That noch eines letzten Spornes, schrie er jene Worte aus dem Brief des Fürsten vor sich hin: „Morgen hol’ ich mein Glück!“ Dann schwang er die Arme zum Wurf und schleuderte die eine Fackel zur rechten, die andere zur linken des Thores in den Reisigwall.

„So, du … jetzt komm und hol’ dein Glück!“

Sein heiseres Lachen hallte im stillen, nächtigen Wald wie der Schrei eines Tieres.

[349]

Photographie im Verlag von Franz Hanfstaengl in München.
„Juhui!“
Nach dem Gemälde von L. Blume-Siebert.

[350] Die Fäuste hinter dem Rücken, das Gesicht verzerrt und mit funkelnden Augen, so stand er und sah, daß aus dem dürren Reisig das Feuer aufflog wie aus verpuffendem Pulver, und daß es mit Prasseln und Geknister zu beiden Seiten des Thores über den Wall dahinlief, so flink, als hätt’ es hundert flammende Füße.

„So! Jetzt komm!“

Den Mantel und die Büchse vergessend, schritt er in den Wald hinein. Hinter ihm erlosch die matte Feuerhelle, die den dichten Nebel durchglomm, und je tiefer er in den Wald kam, desto finsterer wurde es um ihn her. Schritt für Schritt mußte er den Weg suchen, sich forttasten von Baum zu Baum.

In diesem Dunkel verlor er den Pfad und wußte nicht mehr, wohin seine stolpernden Schritte ihn führten. Und plötzlich wich der Grund unter seinen Füßen. Er stürzte und kollerte über eine steile Lehne hinunter. Stöhnend richtete er sich auf und kletterte wieder über den Hang empor. Als er den Grat erreichte, wehte ihm dicker Rauch entgegen – und jählings war es im Nebel, als ginge die Sonne auf, rot, blutig rot, wie sie am letzten Morgen aufgegangen war. Das wurde heller und immer heller, dazu ein Knistern und Geprassel, ein Rauschen und Krachen, als wäre ein Sturm über den Wald gefallen, um alle Bäume zu brechen. Wie brennende Bäche schlängelte sich das Feuer über den Waldboden hin, faßte das dürre Zeug, das in Haufen überall umherlag, und geschürt vom Winde, klomm es mit Zucken und Geflacker an den hundertjährigen Stämmen hinauf und entzündete das Harz der blutenden Baumwunden. Die morschen Aeste brannten mit weißer Flamme, die dürren Nadeln gingen glitzernd in Feuer auf und warfen im Winde den Brand mit Funkengesprüh von einem Stamm auf den andern.

Ein keuchender Laut rang sich aus Mazeggers Kehle. Jählings aus allem träumenden Wahnwitz seiner Leidenschaft ernüchtert und von Entsetzen erfaßt, stand er wie gelähmt und starrte mit glasigen Augen in dieses Brennen und Glosten, in dieses Gewirbel von schwarzem Rauch und leuchtenden Dämpfen. Statt der Richtung gegen den See zu folgen, war er im Kreis gegangen, die äffende Finsternis hatte ihn zurückgeführt an den Ausgang seines Weges. Und beim Anblick des grauenvollen Flammenbildes, zu dem die That seiner Eifersucht sich ausgewachsen, erlosch ihm alles Denken und Verlangen, so daß in ihm nur noch ein einziges war: die jäh erwachte Angst um das eigene Leben!

Mit heiserem Schrei begann er zu rennen, immer am Rande des Feuers hin, verfolgt von den züngelnden Flammen und überschüttet vom Regen der Funken. Er kam bis zur kahlen Felswand und sah das Feuer hinaufschlagen über die Steinmauer, turmhoch, halb verschleiert von Rauch und Nebel. Keuchend rannte er zurück, quer durch das ganze Thal, bis wieder die Felsen vor ihm aufstiegen. Feuer, Feuer und überall Feuer. Nirgends ein Ausweg mehr – das ganze Thal verriegelt von Rauch und Flammen.

Schreiend rannte er zurück in den finsteren Wald, rannte wie sinnlos, strauchelte und fiel, schlug mit dem Gesicht an die Bäume und schrie vor Entsetzen, wenn flüchtendes Hochwild mit Brechen und Gepolter an ihm vorüberjagte. Schon sah er, daß der Wald sich lichtete, aber seine Kräfte begannen zu schwinden, sein Atem erlosch. Taumelnd brach er in die Knie, mit gellendem Schrei, der im Nebel zerschwamm und nur noch wie ein matter Ruf hinauftönte zum See.

Dort oben, am Ufer, klangen in Unruh’ die Glocken der Almtiere, als hätte das Vieh sich erhoben aus der Ruh’ und zu weiden begonnen, mitten in der Nacht.

Dieses Klingen und wirre Läuten tönte hinauf zum kleinen Seehaus, dessen Fenster noch erleuchtet waren. Die Thür stand offen, und trüb’ zerfloß die ins Freie fallende Lampenhelle in Nebel und Nacht.

In der Stube war Lo’ damit beschäftigt, alles Grün und alle Blumen von den Wänden zu nehmen und das kleine Haus für die lange Zeit in Ordnung zu bringen, in der es nun unbewohnt und verschlossen stehen sollte. Still und ruhig that sie diese Arbeit, aber der verlorene Blick ihrer feucht umflorten Augen verriet, daß sie mit den Gedanken nicht bei dem Werk ihrer Hände war. Manchmal wurden ihr die Arme müd, und dann stand sie eine Weile unbeweglich, und während sie mit schmerzvollem Lächeln ziellos vor sich hinblickte, löste sich Thräne um Thräne von ihren Wimpern und perlte über die bleichen Wangen nieder. Wenn sie mit stockendem Atemzug aus solcher Versunkenheit erwachte, streifte ihr Blick alles Gerät der Stube, das ihr so lieb und durch Erinnerung so heilig war. Dann redete aus ihren Augen eine Wehmut, als wäre in ihr die Ahnung, daß sie diese trauliche Waldstube, in der sie so viele glücklich schöne Stunden und Tage verlebt hatte, niemals wieder sehen würde.

Wieder begann sie die Arbeit. Und da blickte sie lauschend auf. Was sie gehört hatte, draußen in Nacht und Nebel – war das ein Ruf?

Sie legte die Blumen nieder, die sie aus einer Rindenvase genommen hatte, und trat vor die Thüre. Nur den Nebel sah sie, der in der Dunkelheit das Haus umlagerte, und einen trüben Umriß der nächsten Beete. Horchend stand sie eine Weile und rief dann mit lauter Stimme in die Nacht hinaus: „Ist jemand hier?“

Keine Antwort kam. Aber mit fauchenden Stößen fuhr der immer stärker werdende Wind über das Dach der Hütte hin, es rauschte in den Zweigen des Harfenbaumes, und mit wirrer Unruh’ tönten in seinen Wipfeln die kleinen Glocken.

Und was nur die Almtiere haben mochten? Jetzt, in der Nacht? Drunten am See, auf den höheren Latschenfeldern, überall klangen ihre Schellen. Ein Rind begann zu brüllen, ein anderes gab Antwort, kurz und dumpf – wie das Jungvieh brüllt, wenn es sich in den Felsen verstiegen hat und hilflos auf den Sennen wartet. Und die Tiere befanden sich doch auf gefahrlosem Weidegrund! Oder hatten sie das Vorgefühl eines bösen Wettertages, den dieser Nebel bringen würde? Wohl schien der Wind, der über den See heraufblies, noch unbedenklich, aber dort unten, im tieferen Thal, da schien er stärker zu wehen, fast wie Sturm, denn ein dumpfes Krachen und Rauschen tönte verworren mit dem Winde über den Wald herauf. Und dieser Nebel – wie seltsam! Er hatte einen Geruch wie Rauch. Oder war’s der Herdrauch, den der Wind herauftrieb von der Sebenalpe? Sollten sie dort unten so spät noch beim Feuer wachen? Oder waren Holzknechte untertags im Sebenwald bei der Arbeit gewesen? Hatten sie das Gezweig und die Rinden der Windbrüche auf einer Blöße verbrannt – und diese Feuerstätten rauchten noch?

Schon wollte Lo’ in die Stube zurückkehren. Da hörte sie ein Gepolter, das Krachen von Aesten und den Sprung eines Tieres, das den Gartenzaun durchbrochen hatte.

„Hansi!“

Mitten durch die Blumenbeete kam der Esel zur Thüre gestürmt. Schnaubend und zitternd blieb er neben dem Mädchen stehen und windete mit vorgestrecktem Halse gegen den Wald hinunter.

Was hatte das Tier? War es durch Raubwild erschreckt worden? Oder durch einen Steinschlag unter den Wänden?

„Hansi? Geh, du Närrchen, was hast du denn?“

Beruhigend wollte sie ihm den Rücken streicheln und fühlte, daß seine Haare gesträubt waren wie Stacheln. Das Tier mußte eine ernste Gefahr überstanden haben – oder sah es eine Gefahr, welche kam?

„Hansi?“

In grober Zärtlichkeit fuhr der Esel mit der Schnauze an ihr hinauf und drückte gegen sie, als wollte er das Mädchen von der Stelle drängen. Schnaubend schüttelte er das Fell und machte, den Hals immer länger streckend, ein paar zögernde Schritte. Plötzlich setzte er mit tollem Sprung über den Zaun, und ein schmetterndes Gewieher ausstoßend, verschwand er im Dunkel.

Im gleichen Augenblick jagte im stärker ziehenden Wind eine dicke Rauchwolke an der Hütte vorüber. Ein Schein durchglomm den wirbelnden Nebel, nur matt, doch er wurde breiter und breiter. Ueberall im Thal begannen die Glocken der Almtiere zu läuten, überall dröhnte und röhrte ihr Gebrüll, überall hörte man das Rollen der Steine, die der Schritt der Rinder auf den steilen Gehängen löste – jählings war das ganze Thal erfüllt von unheimlichem Leben – und da erkannte Lo’, was die Tiere fürchten und flüchten machte.

„Feuer im Wald! … Die armen Tiere!“

Daß auch ihr eigenes Leben bedroht sein könnte, daran schien sie nicht zu denken. Denn ohne Erregung, wenn auch mit [351] fliegender Hast, eilte sie in die Stube und holte eine schon halb verbrauchte Pechfackel. Damals, als diese Fackel gebrannt hatte, das war auch eine ernste Nacht gewesen, eine Nebelnacht im Juni – sie hatte die Rufe eines verstiegenen Touristen gehört und hatte den Verirrten aus der Tejawand heruntergeholt und zur Sebener Almhütte geführt.

Die brennende Fackel senkend, damit das Harz sich heller entzünden möchte, trat sie aus der Hütte. Was den Nebel so durchscheinend erleuchtete – war es die Flamme der Fackel oder das wachsende Feuer dort unten, das man rauschen hörte wie heranziehenden Sturm?

Sie wollte zur Gartenthüre, aber da taumelte ihr ein Mensch entgegen. Erst als er vor ihr stand, mit rasselndem Atem, das verzerrte und erschöpfte Gesicht von Schweiß überronnen, erkannte sie ihn. „Mazegger!“

Lallend stürzte er vor ihr nieder und klammerte sich an ihr Kleid. Auch ihr Anblick konnte in ihm nicht mehr erwecken, was ihn zum Wahnsinn dieser That getrieben hatte. Seine Eifersucht und seine Liebe, alles, was er erwartet hatte von dem Gewaltstreich dieser Nacht, das alles war erloschen in ihm. In ratloser Angst und in der Verstörtheit seiner Sinne umklammerte er die Knie des Mädchens und keuchte:

„Der Sebenwald brennt … der Sebenwald … wir müssen verbrennen … du und ich … ersticken im Rauch!“ Mit Zittern und Grauen drückte er das Gesicht in die Falten ihres Kleides.

Lo’ war bleich geworden. Aber sie wich nicht zurück vor ihm. Was zwischen ihr und diesem Menschen lag, das war vergessen beim Anblick dieser lallenden Angst, die sich zu ihren Füßen krümmte.

„Aber Mazegger! Sind Sie denn ein Mann? Wie können Sie sich vom Schreck nur so verstören lassen!“ Sie versuchte ihn aufzurichten.

Doch er war wie Blei und blieb auf den Knien liegen, immer nur mit dem einen Wort: „Verbrennen … verbrennen …“

„Aber seien Sie doch vernünftig! Man verbrennt nicht gleich, weil Feuer im Wald ist. Und stehen Sie auf!“

Er wollte sich erheben, aber die Knie brachen ihm wieder, und er taumelte auf die Schwelle hin.

Da lief auch ihr ein Zittern über die Hände. Doch ihre Stimme klang ruhig: „Ich sehe, daß Sie sich übermüdet haben bei dieser sinnlosen Flucht. Aber wenn Sie schon flohen vor dem Feuer … wie kommen Sie hierher? Zu mir? Wollten Sie mich warnen?“

Er schwieg und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

„Aber Mazegger! So geben Sie mir doch Antwort! Und sagen Sie mir: in welcher Richtung des Waldes ist das Feuer?“

„Ueberall … überall … es giebt keinen Ausweg nimmer!“

„Das ist ja Thorheit! Wenn es aus dem Feuer keinen Ausweg gäbe … wie wären Sie denn hereingekommen in den brennenden Wald?“

„Ich … ich weiß nicht.“

„Wissen Sie denn, wie das Feuer ausgekommen ist?“

„Nein … nein … nichts weiß ich … nichts …“

„Aber wie kamen Sie denn in den Sebenwald? Jetzt? In der Nacht?“

„Ich … ich …“ es fiel ihm wohl die Lüge ein, die er dem alten Hüter gesagt hatte, „ich hab’ nach Ehrwald wollen … nach Ehrwald … und hab’ mich verirrt … im Nebel … und … da war das Feuer da … überall Feuer … überall!“ Das Grauen schüttelte ihn. „Wir müssen verbrennen … es giebt keinen Ausweg nimmer!“

„Ich will ihn suchen! Kommen Sie, Mazegger!“ Sie nahm seine Hand und zog ihn von der Schwelle auf. „Ich kenne hier im Wald jeden Weg und Steg … und ich will Sie führen.“

„Führ’ mich, führ’ mich, ja, mit dir ist der liebe Herrgott!“ keuchte er und klammerte die Hände um ihren Arm. „Wenn’s noch einen Weg giebt … du … du mußt ihn finden … über den Paß hinüber … ins Prantlkar …“

Den Felsenpaß, den Ettingen und Praxmaler an jenem Gewittertag überstiegen hatten – ja, den kannte sie. Aber dort hinauf, über die steilen Wände? Jetzt, bei Nacht und Nebel? Nein, das war unmöglich – das wäre der sichere Tod! Es mußte einen anderen Ausweg geben, thalwärts durch den Wald. Der Zufall dieses Brandes konnte so unselig nicht gespielt haben, daß schon das ganze Thal vom Feuer verschlossen war.

„Kommen Sie, Mazegger!“

Er ließ sich ziehen von ihrer Hand. Als sie über das Latschenfeld gegen den See hinunterkamen, mischte sich der Rauch immer dichter in den Nebel, immer lauter tönte auf allen Seiten das Brüllen der Rinder. Ein paarmal tauchte der Esel in ihrer Nähe auf, mit Schnauben und Gewieher, begleitete sie eine Strecke und verschwand wieder. Schwüle Hitze wehte ihnen vom brennenden Wald entgegen, und rauschend zog der Wind, der die Rauchwolken über die Berge hinausjagte. Als die beiden den See erreichten, kamen von allen Seiten die Rinder auf sie zugerannt und folgten ihnen Schritt um Schritt unter angstvollem Gebrüll. Ein sausender Windstoß teilte den von Rauch durchflossenen Nebel, und nur noch matt verschleiert lag der brennende Wald vor ihnen, eine näher rückende Flammenmauer, welche die ganze Breite des Thales füllte, von Wand zu Wand.

„Wir laufen ins Feuer,“ schrie Mazegger wie ein Wahnsinniger, „wir müssen hinauf! Ueber die Wänd’ hinauf!“

„Nein! Das ist unmöglich!“

Mazegger bedeckte mit dem Arm die Augen, und die Zähne begannen ihm zu klappern.

Das bleiche Gesicht vom Ruß der Fackel angeflogen, stand Lo’ auf einem Felsblock und spähte über den brennenden Wald hinunter, aus dem die Flammen schon herauszüngelten gegen die Latschenfelder. Nur an einer einzigen Stelle des Waldes, dort, wo der Seebach seinen Weg hinunter nahm gegen Ehrwald, dort war es noch dunkel. Aber auch dort schon quoll es mit rötlichen Dämpfen hinter den Bäumen herauf. Es gab durch den brennenden Wald keinen Ausweg mehr – und wollten diese beiden Menschen ihr Leben retten, so mußten sie das Unmögliche versuchen: den Weg über die Berge.

Das erkannte Lo’, und schon wollte sie dem Jäger sagen: ja, wir müssen hinauf, wir haben keinen anderen Weg mehr – als jählings die Rinder, welche brüllend um sie herstanden, ein tolles Rennen begannen. Hatte eines der Tiere jene dunkle Stelle im Wald gewahrt? Ahnte es dort noch einen Weg der Rettung? Es begann zu rennen, und alle die anderen Rinder jagten ihm nach im blinden Herdentrieb, schnaubend und mit gestreckten Schweifen.

„Das Vieh … das Vieh weiß einen Ausweg!“ kreischte Mazegger, und nur an die Rettung des eigenen Lebens denkend, riß er dem Mädchen die Fackel aus der Hand und rannte mit verzweifelten Sprüngen den Tieren nach. Rauch und Nebel verschlangen ihn, und das Gerassel der Steine, die sich auf seinem Wege lösten, ging unter im Sausen des Windes, im Geprassel und Krachen des brennenden Waldes.

„Mazegger! Mazegger!“ schrie Lo’ in der Todesangst, die sie erfüllte um diesen verlorenen Menschen. Sie schrie und schrie, doch keine Stimme gab Antwort – und das Brüllen der Rinder war verstummt dort unten. Nur über den See herüber klang noch das Röhren einzelner Tiere, welche bergaufwärts flüchteten, den Felsen zu. „Mazegger!“

Sie wollte ihm folgen, hoffte, ihn noch hindern zu können, den Weg der toll gewordenen Tiere zu nehmen. Aber dichter Rauch umwirbelte sie, der sie fast zu ersticken drohte, und wohin sie auch ihren Weg nahm, überall loderte ihr das wachsende Feuer entgegen, das den Waldsaum schon übersprungen hatte und die Latschen ergriff.

„Mazegger! Mazegger!“ schrie sie noch immer, bis ihr die Stimme versagte.

Rauch und Flammen trieben sie weiter und weiter zurück. In Qualm und Nebel wußte sie nicht, wohin sie kam – sie merkte nur plötzlich, daß ihre Füße in Wasser traten. Der See! Da ihre Kräfte zu erlöschen drohten, bückte sie sich, schöpfte Wasser mit den Händen und trank und kühlte das Gesicht. Im jagenden Winde flogen schon die glühenden Funken über sie her, als sie die seichte Bucht durchwatete und wieder das Ufer gewann. Während sie hineilte über den ebenen Rasen, kam es mit Keuchen und Schnauben hinter ihr nachgerannt.

„Hansi!“

Zitternd drängte sich das Grautier an seine Herrin, als wäre Hilfe bei ihr.

[352] Noch einmal schrie sie den Namen des Jägers in den wallenden Rauch, und als sie keine Antwort hörte, klammerte sie sich an die Hoffnung, daß er den rettenden Weg gefunden hätte, den ihr das wachsende Feuer verschloß. Ihr selbst blieb jetzt nur dieser einzige Weg noch, dieser unmögliche: über die Berge hinauf, um den Paß in das andere Thal zu gewinnen. Ein Weg, auf dem in der Finsternis der tödliche Sturz sie erwartete bei jedem Schritt – aber sie mußte ihn versuchen, es blieb ihr kein anderer. Wohl dachte sie einen Augenblick daran, im höheren Felsenthal eine geschützte Stelle zwischen kahlem Gestein zu finden – aber der Rauch, der sich dichter und dichter herwälzte über den See, mußte, wenn die grünen Latschenfelder bis hoch hinauf ins Glühen kamen, das ganze Thal erfüllen und alles atmende Leben ersticken.

Sie faßte den Halsriemen des Esels, um das Tier mit sich fortzuführen. Aber es sträubte sich und wollte nicht von der Stelle – immer wieder, unter Zittern und Schnauben, drehte es den Kopf nach dem brennenden Wald zurück. Lo’ redete ihm zu mit schmeichelnden Worten und zerrte am Riemen – ein paar Schritte folgte das Tier mit Zögern, dann jählings, als hätt’ es die Absicht seiner Herrin verstanden, als hätt’ es begriffen, welchen rettenden Weg es zu suchen galt, begann es zu traben, immer rascher und rascher, das Mädchen mit sich fortreißend, das an den Riemen geklammert hing. Den auch bei Tage nur schwer erkennbaren Steig, der über die steilen Latschengehänge emporführte zu den öden Felsenkaren – Lo’ hätte ihn wohl nie gefunden bei diesem unruhigen Wechsel zwischen trüber Feuerhelle und rauchschwarzer Finsternis – aber die nachtsehenden Augen des Tieres fanden ihn. Schnaubend zerrte es seine Herrin mit sich hinauf, eine Latschenhöhe nach der anderen überwindend, bis sie das kahle Gestein erreichten. Da blieb es stehen, erschöpft und mit vorhängender Zunge, von welcher der Geifer niedertropfte – es wollte nicht weiter, legte sich auf die Steine nieder und begann an seinen Knien zu lecken.

Auch Lo’ war atemlos zu Boden gesunken. Mit dem Rücken an das Tier gelehnt und halb erstickt vom Gewirbel des Rauches, hielt sie die Hände auf ihre kämpfende Brust gedrückt. Ein brausender Windstoß jagte den Rauch, und vor den Augen des Mädchens lag es dort unten wie eine lodernde Hölle. Der ganze Sebenwald eine einzige ungeheure Flamme! Rings um den See her brannten schon alle Latschenfelder, bald in rote Glut versinkend, bald wieder aufleuchtend mit weißem Feuerglanz, wenn der Wind darüber hinfuhr. Aus diesem Glutfeld ragte eine dunkel qualmende Säule hervor: der Harfenbaum, der den Flammen noch widerstand – und daneben loderte eine hohe Feuergarbe: das brennende Seehaus.

Als Lo’ diese Flamme sah, sprang sie auf mit schluchzendem Schrei.

„Vater! Vater! Unser Haus … deine Blumen!“

Thränen stürzten aus ihren Augen, und in der ersten Marter dieses Anblicks wollte sie ins Thal hinunter und dem Feuer entgegen, als könnte sie noch retten, diesen Flammen noch wehren. Doch wehender Rauch quoll ihr entgegen, schwarz und schwer, das Bild des Brandes verhüllend.

Sie rang nach Atem, einer Ohnmacht nahe. Schon wollte sie mit taumelnden Sinnen zu Boden sinken – doch wie von einem Strom neu quellenden Lebens durchflosscn, richtete sie sich wieder auf und streckte mit zitterndem Laut die Arme in das Dunkel. Ihr war, als stünde der Vater vor ihr, in heller Sonne, ruhig und lächelnd – und seine Stimme hörte sie, mit jenem gleichen, von Liebe durchwärmten Klange, wie einst: „Komm, Lo’! Meine liebe, gute kleine Lo’! So komm doch!“ Er reichte ihr die Hand, als ob er sie führen wollte – sie meinte diese Hand zu fassen, sie fühlte ihren Druck – aber da war es nicht mehr ihr Vater, es war ein anderer, der vor ihr stand, lächelnd und leuchtenden Auges, mit der gleichen Liebe im Ton der Stimme: „Lo’! So komm doch!“

„Heinz!“

In Schmerz und Freude schrie sie diesen Namen – und da war alles dunkel vor ihr, alles verschwunden, was ihr fieberndes Blut und ihre erregten Sinne gesehen hatten.

Doch in ihren Gliedern war neue Kraft, neuer Wille zum Leben. Bei dem matten Feuerschein, der das zerfahrende Gewölk durchschimmerte, erkannte sie deutlich im Felsenkar den Steig, den sie gehen mußte. Mit starker Hand riß sie das ruhende Tier von der Erde auf – und als es ein paar Schritte mit Gewalt gezogen war, folgte es wieder willig seiner Herrin und ihrem lockenden Ruf. Hastenden Schrittes eilte sie, solange der Feuerschein noch währte, durch das öde Felsenkar. Dann umhüllten sie wieder die jagenden Rauchwolken und das Dunkel der Nacht. Tastenden Fußes mußte sie den Weg suchen. Immer wieder verlor sie ihn und fand ihn immer wieder. Felsen sperrten den Pfad – das mußte die Wand sein, die sie zu übersteigen hatte – und dieses Felsenband, auf das ihre Füße traten, das war der Weg, der über die Wand hinaufklomm bis zur Höhe des Passes. Sie stieg und stieg, doch immer schmäler wurde das Steinband unter ihren Füßen. Weit hinter sich vernahm sie das Schnauben des Tieres, das ihr folgen wollte, das Rollen der Steine, die seine Hufe lösten, und jetzt den Fall eines schweren Körpers, welcher tiefer und tiefer stürzte. Eine Weile noch rasselten die nachrollenden Steine – dann war es still dort unten.

Sie wollte schreien, doch die Stimme versagte ihr.

Jetzt hörte sie in schwarzer Tiefe das Aechzen des sterbenden Tieres, und da schlich auch ihr das kalte Todesgrauen in die Seele.

Zitternd hing sie an die Felsen angeklammert, während fern das dumpfe Brüllen der letzten, noch irrenden Rinder klang und stickender Rauch immer dichter die finsteren Lüfte füllte.

Kein Laut mehr in der Tiefe zu ihren Füßen, kein Aechzen und Stöhnen mehr – das Tier war erlöst von seiner Qual.

Da atmete sie auf, ihre Schwäche und das Todesgrauen überwindend, das sie befallen hatte. Leise sprach sie ein Wort ihres Vaters vor sich hin: „Tod? Das ist nur ein Wort, nur das letzte Lächeln eines guten Menschen, der mit seinem Leben zufrieden war … wann und wie es auch endet.“ Und sollte ihr Leben auch erlöschen in dieser Nacht, dort unten in dieser schwarzen Tiefe, ferne von Mutter und Bruder – wie war es doch reich gewesen, reich und schön ohnegleichen, vom ersten, fröhlichen Lachen des Kindes an, bis zum letzten Händedruck jenes Einen, der ihre Seele und ihr Herz in seine Hand genommen hatte wie einen Besitz, der ihm zu eigen war über Tod und Leben hinaus!

Sie flüsterte seinen Namen – und das war ihr wie ein Abschied, den sie nahm von dem geliebten Manne, nicht für den Tod – fürs Leben nur!

Denn sie fühlte, daß sie leben würde – jetzt, da die Furcht des Todes von ihr abgefallen war, jetzt konnte sie an den Tod auch nicht mehr glauben.

„Mutter! Bruder!“

Der Gedanke an diese beiden richtete sie auf – um dieser beiden willen mußte sie ringen um ihr Leben, stark und mutig, bis zum Erlöschen ihrer Kräfte. Sie rastete, an die Felsen gelehnt, um ihren Atem in Ruhe zu bringen, und preßte ihr Tuch vor die Lippen, um sich gegen den Rauch zu schützen, der emporquoll über die Felsen. Und während sie hinausblickte in die von dunklem Gewirbel erfüllten Lüfte, sah sie nicht das wogende Gewölk und nicht die schwarzen Felsen um sie her – sie sah die Stube der Mutter und das Kämmerchen des Bruders. Die waren still und dunkel – und dennoch erkannte sie jedes Bild an den Wänden, jedes Gerät, sah den schlummernden Knaben und die wachende Mutter, die sich in ihrer schlaflosen Immersorge aus den Kissen aufrichtete, um auf die Atemzüge des Buben zu lauschen – und hörte, wie die alte Frau vor sich hinflüsterte: Gott sei Dank, er schläft, da kann er doch keine Schmerzen haben! Morgen wird sein Fuß wieder gut sein … und Lo’ wird kommen! Ach ja!

„Morgen!“ Wie ein heißer Strom der Freude und Sehnsucht rann es ihr durch Blut und Seele. Morgen! Die beiden wiedersehen! Morgen im Frühlicht! In Sonne!

Sie erhob sich, und in ruhiger Vorsicht begann sie sich mit Händen und Füßen an den Felsen hinzutasten, höher und höher klimmend.

„Mutter! Bruder!“

Sie stieg und stieg, bei jedem Schritt um ihr Leben kämpfend, an das sie glaubte.

(Schluß folgt.)     

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Blätter und Blüten.



Die Bismarck-Feuersäule. (Zu dem Bilde S. 325.) Der flammenden Begeisterung der deutschen Universitätsjugend für das Vaterland und den Mann, der es einte und groß machte, für Otto von Bismarck, hat die Nation es zu danken, wenn in kommenden Jahrzehnten und in ferne Zukunft hinein alljährlich die Feuerzeichen auf den Bergen unseres Vaterlandes gen Himmel leuchten werden, um das Gedenken an eine große, gewaltige Zeit wachzurufen und wachzuhalten.

In der Bonner Studentenschaft ward der schöne Gedanke geboren, und der Bildhauer Chr. Lehr der Jüngere in Aachen machte den Vorschlag, durch das ganze Reich schlichte Gedenksteine von gleicher Form aus dauerndem Material zu errichten, „von deren Spitzen an dem geplanten Denktage mächtige Feuerflammen weithin durch die Nacht lodern sollten, dem dahingeschiedenen Altreichskanzler zu ehrendem Gedächtnis“.

Der warmherzige Aufruf der Bonner Studentenschaft, von dem wir unseren Lesern auf Seite 66 dieses Jahrganges Kenntnis gaben, zündete sowohl in den Mitgliedschaften der Hochschulen als in weiten Kreisen des Volkes; die Mittel für ein Preisausschreiben zur Bismarck-Säule flassen dem Komitee reichlich zu, ein Preisgericht aus den hervorragendsten Architekten Deutschlands war bald zusammengesetzt und hatte in kurzem über 320 Bewerbungen mit mehr als 1000 Blatt Zeichnungen zu entscheiden.

In den altehrwürdigen Räumen der Wartburg fiel am 22. April die Entscheidung in dieser wohl einzig in Bezug auf die Menge der Eingänge als die Güte der meisten Entwürfe dastehenden Konkurrenz. Merkwürdig war es, daß alle drei Preise den drei Entwürfen eines einzigen Künstlers, des Architekten Kreis in Dresden, zuerkannt wurden. Der Kreis’sche erste Entwurf, den wir unsern Lesern auf Seite 325 vorführen, ist ein einfacher, würdiger monumentaler Aufbau von quadratischem Querschnitt, an den Kanten flankiert von vier Säulen, der einen Architrav trägt, in dem sich der Feuerbehälter befindet. Er genügt dem Anspruch auf eigenartige und wuchtige Form, sowie der Bedingung billiger Herstellung und der möglichen Anpassung an gegebene örtliche Verhältnisse.

In den Räumen zwischen zwei Säulen läßt sich Inschrift, Wappen oder Bildnis anbringen. Das Feuer erhält, wie der Künstler uns selber schreibt, seinen Platz in einer Aushöhlung des oberen Steines. Diese Mulde hat einen Asbestbelag uns nimmt einen Kessel auf, in dem das Feuer brennt. Das Material zur Feuerung wird durch einen Flaschenzug emporgewunden, den oben ein Mann von einer rückseitigen Oeffnung aus lenkt. Der Turm ist darum innen ersteigbar und hat auf der Rückseite einen Eingang, doch ist die Benutzung als Aussichtsturm, weil dem Zwecke des Denkzeichens widersprechend, ausgeschlossen. Vor dem Turm liegt eine große Steinplatte, auf welcher nach dem Festzuge die Fackeln zusammengeworfen werden, durch deren Glut der Bau selber seine stimmungsvolle nächtliche Beleuchtung erhält. In Friedrichsruh und Straßburg will die deutsche Studentenschaft die ersten Bismarck-Säulen nach diesem Entwurf errichten. Wo eine deutsche Hochschule ihren Sitz hat, sollen solche Säulen erstehen, und am 21. Juni – dem Bismarck-Gedenktage der Studenten, da diese der Ferienverhältnisse wegen den 1. April nicht wählen konnten – werden in Zukunft die Feuerzeichen weithin leuchten in die Lande. Aber auch in den Kreisen des Bürgertums hat der Gedanke dieser Ehrung Bismarcks weit und breit Wurzel geschlagen, und nicht lange wird es währen, bis jede bedeutendere deutsche Landmarke die Bismarck-Säule auf ihrem Gipfel trägt.

Lotsenfamilie.
Nach dem Gemälde von F. Fleury.

Lotsenfamilie. (Mit Abbildung.) Ein Stück Nordseeküste, von der stillen Flut bespült, auf welcher Fischerboote lustig kreuzen; am Strand spielen die Kinder eines Lotsen, der draußen auf hoher See seinem Berufe nachgeht. Das kräftige Mädel schlägt gerade vor, den Holzschuh als Schiff auszurüsten, der klug blickende Junge bedenkt sich die Sache noch. Dahinter, das Kleinste auf dem Arme, sitzt die schöne junge Mutter mit dem gelassenen Gesichtsausdruck einer echten Schifferfrau. Sie alle hat der Maler im Bild festgehalten und damit seinen braven Lotsen, der ihn oft hinaus in das Meer fuhr, wohl hoch beglückt. Aber auch andere werden diese einfach gesunden Menschengesichter auf dem Hintergrund des leuchtenden Meeresspiegels mit Vergnügen betrachten.

Ein Jugendbildnis Alexander von Humboldts. (Zu dem Bilde S. 329.) Am 5. Juni werden es hundert Jahre, daß Alexander von Humboldt sich im spanischen Hafen Coruña auf der Fregatte „Pizarro“ einschiffte und jene Forschungsreise nach Südamerika antrat, deren Ergebnisse von epochemachender Bedeutung für die Entwicklung aller Zweige der Naturwissenschaft in unserem Jahrhundert wurden. Der von hohen Zielen in weite Ferne gelockte junge Gelehrte war damals 29 Jahre alt; erst fünf Jahre später kehrte er zurück, nachdem er mit seinem Begleiter, dem französischen Botaniker Bonpland, die Gebiete des Orinoko und des Amazonenstroms durchforscht, den Chimborasso bis zu einer Höhe von 5810 m bestiegen, Peru und Mexiko durchkreuzt hatte. Dem Maler Georg Friedrich Weitsch, der von 1797 bis 1828 Professor der Berliner Kunstakademie war, verdanken wir das Gemälde, welches uns Humboldts Forscherthätigkeit in der Tropenwelt des amerikanischen Südens lebensvoll vergegenwärtigt und das unser Bild auf S. 329 wiedergiebt. Auf einem Felsblock unter dem Schatten von Palmen und im Schutze der Riesenblätter einer gewaltigen Banane sitzend, ist er im Begriff, die botanische Ausbeute eines Streifzugs dem Herbarium einzuverleiben. Sein großer Reisethermometer lehnt hinter ihm. Das Original des Bildes befindet sich in der Berliner Nationalgalerie; es war dort lange Zeit bei Seite gestellt und ist erst in der pietätvollen Neuordnung der Bilder, die der historischen Entwicklung der Kunst nachzugehen sucht, durch Professor von Tschudi wieder zu Ehren gelangt. So kam es, daß dies historisch so merkwürdige und künstlerisch reizvolle Humboldtporträt früher niemals eine Reproduktion erfahren [354] hat; für das große Porträtwerk „Das neunzehnte Jahrhundert in Bildnissen“, das Karl Werckmeister im Verlag der Photographischen Gesellschaft in Berlin jetzt herausgiebt und dessen Lieferungen im vorigen Jahr zu erscheinen begannen, ist es zum erstenmal reproduziert worden. Das große verdienstvolle Werckmeistersche Unternehmen kommt in Lieferungen heraus, die je 8 Bildnistafeln und 3 Bogen biographischen Text enthalten, in welchen kleinere Abbildungen eingestreut sind. Bis zum Schlusse des Jahres 1900 soll das Werk vollendet sein. Es wird dann gegen 75 Lieferungen oder 5 Bände umfassen. Sein Zweck, eine geistige Heerschau über die hervorragenden Persönlichkeiten des nun zur Rüste gehenden Jahrhunderts abzuhalten, deren äußere Erscheinung in verschiedenen Altersstufen vorzuführen und in kurzen Biographien ihr Wirken zu schildern, wird mit den vorzüglichsten Mitteln verfolgt. Eine Schar berufener Mitarbeiter hat sich zur Herstellung der biographischen Texte vereinigt. Wie sehr es der Herausgeber und der Verlag sich angelegen sein lassen, bisher noch wenig bekannte Bildnisse von wirklichem Wert an die Oeffentlichkeit zu ziehen, davon ist unser Humboldtporträt ein Beispiel. Für viele der Bilder sind Neuaufnahmen, z. B. in der National-Porträtgalerie in London, in den Sammlungen zu Weimar, veranstaltet worden.

August Kopisch.
Nach einer Zeichnung von Wilhelm Hensel.


Das neue Bayrische Nationalmuseum in München. (Mit Abbildung.) Binnen kurzem werden die weltberühmten Schätze des Münchener Nationalmuseums in das von Gabriel Seidl erbaute weitläufige Palastgebäude an der neuen Prinzregentenstraße übersiedeln und hiermit zum erstenmal eine sichere und künstlerisch prächtige Heimstätte finden. Die alten Münchener erinnern sich noch wohl, in welch elenden Zimmern der Herzog Max-Burg die damaligen „vereinigten Sammlungen“, Altertümer und Gerümpel, wie die meisten meinten, zusammengepfropft standen, von wenigen betrachtet und gewürdigt, außer den beiden hervorragenden Kunstkennern O. v. Hefner-Alteneck und Baron Aretin, welche beide nicht müde wurden, den Königen Ludwig I und Max II die Gründung eines Museums als dringend notwendig hinzustellen, und den Plan auch, allen Hindernissen zum Trotz, glücklich ins Werk setzten. Die Verdienste Hefners und Aretins um das von König Max II gegründete und im Jahre 1867 eröffnete Nationalmuseum in der Maximilianstraße können nicht hoch genug angeschlagen werden. Aretin starb nach kurzer Amtsführung, der ihm 1868 nachfolgende v. Hefner aber war entsetzt über die Mängel des Gebäudes. Alles Flicken half nicht viel – es war längst öffentliches Geheimnis, daß im Fall eines Brandes die unschätzbare Sammlung in höchster Gefahr schwebte – da endlich faßten im Anfang dieses Jahrzehnts Regierung und Landtag den Plan, ein neues Gebäude zu errichten, und heute steht der vollendete Bau, reich gegliedert und zweckmäßig eingerichtet, in den kräftigen Formen der deutschen Spätrenaissance vor aller Augen. Sein Erbauer wollte nicht eine prunkvolle Paiastfassade mit großen Sälen hinstellen, sondern jedem Teil der Sammlung ihr eigentümliches Gelaß anweisen, sozusagen das Gebäude als Kleid um ihren Leib zuschneiden. So entstanden große und kleine Säle, eine herrliche Kapelle, heute schon mit Skulpturen, Goldgrundbildern und Grabsteinen gefüllt, eine malerische Waffenhalle, altertümliche Wohn- und Schlafzimmer, deren getäfelte und geschnitzte Decken genau den für sie berechneten Raum ausfüllen: jedes Gelaß ist auf den künftigen Inhalt bemessen und das Ganze ein vollendetes Meisterwerk, das heitere Pracht und Traulichkeit vereinigt und mit dem Tag seiner Eröffnung einen ersten Rang unter den europäischen Museen einnehmen wird.

Der Dichter der „Heinzelmännchen“. (Mit Bildnis.) Als 1848 die Sturmflut der nationalen Freiheitsbewegung ihre höchsten Wellen schlug, ließ August Kopisch in Berlin einen Band Gedichte erscheinen, der den Titel „Allerlei Geister“ trug. Die hier beschworenen Geister waren aber keine Sturmgeister, wie sie um die gleiche Zeit Freiligraths Poesie entfesselte, die Gedichte Kopischs behandelten die Sagen von den kleinen Elementargeistern, Zwergen und Kobolden, die nach dem Volksglauben in früherer Zeit den Menschen hilfreich waren oder auch, je nach Verdienst, sie neckten und irreführten. Mit naivem Humor und lebensvoller Anschaulichkeit war darin das Treiben der kleinen Erdgeister geschildert; am köstlichsten in dem seither weltbekannt gewordenen Gedicht „Die Heinzelmännchen“, das mit dem Seufzer schließt:

„Ach, daß es noch wie damals wär!
Doch kommt die schöne Zeit nicht wieder her!“

Dieser Seufzer ist bezeichnend für die fröhlich beschauliche Grundstimmung des Dichters, der vor hundert Jahren am 26. Mai in Breslau zur Welt kam. Kopischs Dichtergemüt hielt sich abgewandt von den politischen Stürmen, die seine Zeit bewegten; es bedurfte des Sonnenscheins heiteren Glückes, um sich zu entfalten, aber das Lebensbehagen war ihm da am anziehendsten, wo es zugleich auch echt volkstümlich war.

In sorgenlosen Verhältnissen aufwachsend, in seinen künstlerischen Neigungen von der Familie gefördert, bezog er in seinem sechzehnten Jahre die Akademie zu Dresden, um Maler zu werden. Bereits hier, noch mehr in Prag und Wien, wo der Jüngling seine Studien als Maler fortsetzte, regte sich aber in ihm die „Lust zu fabulieren“ gar mächtig, und als ihn das Unglück traf, sich durch einen Sturz auf dem Eise die rechte Hand schwer zu verletzen, was ihn am Zeichnen und Malen behinderte, fand er Trost in der Pflege seiner poetischen Neigungen. Eine Reise nach Italien, die er 1822 antrat, sollte seiner Hand Heilung bringen; doch verschlimmerte sich nur sein Leiden, als er in Rom wieder zum Pinsel griff. Das Studium des damals noch so überaus urwüchsigen und malerischen italienischen Volkslebens bot ihm Ersatz. Ein mehrjähriger Aufenthalt in Neapel machte ihn mit demselben aufs innigste vertraut. Im Umgange mit Donizetti, im täglichen freundschaftlichen Verkehr mit dem Lustspieldichter Camerano, dem besten Kenner des süditalienischen Wesens, ging er selbst völlig in dem dortigen Volksleben auf. Seine farbenfrische Novelle „Ein Karnevalsfest auf Ischia“, seine Sammlung italienischer Volkspoesien „Agrumi“, wie gar manches eigene Gedicht spiegeln diese Vertrautheit wider. Der Verkehr mit dem Dichter August von Platen, welcher gleichfalls in Neapel lebte, war von geringerem Einfluß auf seine poetische Art. Mit dem aus Heidelberg stammenden Landschaftsmaler Ernst Fries wohnte er 1826 längere Zeit auf der Insel Capri, die sonst noch wenig von


Das neue Bayrische Nationalmuseum in München, erbaut von Gabriel Seidl.
Nach einer photographischen Aufnahme von Max Stuffler in München.

[355] Fremden besucht war. Von ihrem Wirt, Don Giuseppe Pagano, erfuhren sie, daß sich in einem felsigen Abhang des nördlichen Ufers der niedrige Eingang zu einer Höhle befinde, die übel berufen sei, so daß sich niemand hineinwage. Kopisch beredete seinen Freund und den Wirt, sich mit ihm dorthin rudern zu lassen, und drang dann schwimmend in die Grotte ein, gefolgt von den andern. So entdeckte er die seitdem vielbewunderte Grotte, die er nach dem zauberhaften blauen Schimmer, der Luft und Wasser in ihr durchleuchtet, die „blaue Grotte“, „la grotta azurra“ nannte. Erfüllt von dem Geschauten, schrieb er nach der Rückkehr in Paganos Fremdenbuch eine Schilderung der Entdeckung, die bald in der Welt von sich reden machte.

Ein Besuch des kunstsinnigen preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm in Neapel wurde dann für Kopischs weiteres Leben entscheidend. Der Dichter, der inzwischen selber eine populäre Persönlichkeit Neapels geworden war, den als solche unter dem Namen „Don Augusto Prussiano“ sein Freund Camerano auf die Bühne gebracht hatte, erhielt den Auftrag, zu Ehren des fürstlichen Gastes ein großes Fest zu arrangieren. Den Mittelpunkt desselben bildete ein Volkslustspiel, wozu Kopisch mit Camerano zusammen ein Vorspiel in neapolitanischem Dialekt schrieb, in welchem der Pulcinell deutsch sprach. Die ausgezeichnete Wirkung dieser Improvisation veranlaßte den Kronprinzen, den Dichter nach Berlin in seine Umgebung zu ziehen. Noch vor der Thronbesteigung betraute ihn Friedrich Wilhelm IV mit der Aufgabe, ein Werk über die Schlösser und Gärten bei Potsdam zu schreiben. In diese Stadt siedelte Kopisch dann über.

Er starb am 6. Februar 1853 ganz plötzlich, im zweiten Jahre seiner mit Marie von Sellin geschlossenen glücklichen Ehe.

Das daseinsfrohe, echt schlesische Naturell des Dichters, das sich im Freundeskreise beim Wein durch allerlei gesellige Talente hervorthat, spiegelt sich am anziehendsten in jenen schwankartigen volkstümlichen Gedichten wider, zu denen „Die Heinzelmännchen“ gehören, sowie in seinen humoristischen Trinkliedern. Von diesen erfreut sich ganz besonderer Beliebtheit jene Historie vom Noah, dem nach der Sündflut das Wasser gar nicht mehr schmecken will, „dieweil darin ersäufet sind all’ sündhaft Vieh und Menschenkind“, worauf ihm Gott der Herr aus dem Paradies einen Weinstock stiftet. Die erste Sammlung seiner „Gedichte“ erschien 1836; seine „Gesammelten Werke“ gab 1856 Karl Bötticher heraus.

Die neue Steig- und Rettungsleiter der Berliner Feuerwehr. (Mit Abbildungen.) Oft sind bei Bränden die Treppenhäuser derart von Qualm oder Feuer erfüllt, daß ein Vordringen auf ihnen zum Brandherd oder zu gefährdeten Personen nicht schnell genug möglich ist, oder das Feuer hat solche Ausdehnung erreicht, daß nur ein umfassender Angriff von außen zum Ziele führt. In solchen Fällen bieten große mechanische Leitern das geeignetste Mittel, einen fehlenden Angriffs- oder Rettungsweg schnell herzustellen. In der richtigen Erkenntnis dieses Wertes der mechanischen Leitern sind daher die größeren Feuerwehren bestrebt, mindestens auf jeder größeren Feuerwache eine solche Leiter zu stationieren, und in Berlin im besonderen wird in kurzer Zeit jede einzelne Wache mit einer Leiter ausgerüstet sein, welche dann bei jedem Alarm mit ausrückt. Unter den vielen vorhandenen Leitertypen dieser Gattung hat man sich in Berlin für die Drehturmleiter von August Hoenig in Köln a. Rh. entschieden, welche sich nach mehrjährigem Gebrauch bei anderen Wehren als zweckmäßig und praktisch erwiesen hat. Diese Drehturmleiter bildet ein vierräderiges, zweispänniges Gefährt, welches mit Besatzung und Ausrüstung etwa 75 bis 80 Centner wiegt, bis zur Deichselspitze etwa 8,50 m Länge mißt und durch eine Durchfahrt von 2,80 m lichter Höhe und 2,10 m lichter Breite geht. Die größte Ausschubhöhe beträgt 24 m vom Erdboden. Die letzten drei Größen sind bedingt durch die Baupolizeiordnung für den Stadtkreis Berlin, nach deren Vorschrift die Durchfahrten nach den hinteren Gebäuden mindestens 2,80 m hoch und 2,30 m breit sein müssen und kein Gebäude höher als 22 m sein soll. Trotz des bedeutenden Gewichts vermag die Leiter doch den anderen Fahrzeugen zu folgen. Der Leiterwagen führt außer der Bedienungsmannschaft noch so viel Lösch- und Rettungsgeräte mit, daß mit ihnen ein kleineres Feuer bewältigt und ein Rettungsmanöver ausgeführt werden kann. Die eigentliche Leiter besteht aus vier coulissenartig ineinander geschobenen Holzleitern und ruht auf einem eisernen Turm, welcher über der Hinterachse des Wagens auf der Plattform drehbar befestigt ist. Durch eine Winde wird die Leiter mit Drahtseilen zur senkrechten Stellung aufgewunden und darauf werden durch eine andere Winde die einzelnen Leiterenden mittels Drahtseilen so auseinandergezogen, daß sich gleichzeitig die zweite Leiter aus der ersten, die dritte aus der zweiten und die vierte aus der dritten um das gleiche Maß herausschieben. In der kurzen Zeit von 11/2 Minuten kann die Leiter durch vier Mann aufgerichtet und bis zur größten Höhe aufgeschoben werden. Die Standfestigkeit ist so groß, daß die ausgezogene Leiter freistehend bestiegen werden kann, jedoch wird sie im allgemeinen an die Häuser angelehnt, damit sie einen direkten Weg in die einzelnen Stockwerköffnungen bildet.

Die neue Steig- und Rettungsleiter der Berliner Feuerwehr.
Nach einer Originalzeichnung von Ewald Thiel.


Der Preisträger. (Zu dem Bilde S. 336 und 337.) Jede holländische Landschaft hat ihre besondere Art von öffentlichen Belustigungen beim Volksfest: Pferde- und Wagenrennen, Wettspiele der Geschicklichkeit, wie das Ringstechen, welches besonders in der Provinz Seeland mit großem Eifer geübt wird. Ueber die Rennbahn spannt sich ein Seil, in dessen Mitte der Ring herabhängt; ihn gilt es, vom Rücken des ungesattelt galoppierenden Pferdes aus herabzustechen, und zwar mehrmals hintereinander. Wer das fertig bringt, ist Sieger und zieht triumphierend mit seinen Kameraden zur Schenke, wo ein freudiges Halloh seinen Eintritt begrüßt. So schwenken auf unserem Bilde die Männer ihre Gläser dem Glücklichen entgegen, der seinen gewonnenen Preis, eine schöne Uhrkette mit Anhänger, stolz lachend vorweist, und oben vom hohen Sitz herunter fiedelt der Musikant aus Leibeskräften in das fröhliche Hochrufen hinein. Die Frauen verhalten sich stiller, doch auch ihre Blicke gelten dem Sieger, und triumphierend wendet sich die hübsche Dirne im Vordergrund nach dem Fenster zurück, wo eine neidische Freundin den Aerger über die Niederlage des eigenen Schatzes umsonst hinter einer spöttischen Miene zu verbergen sucht. Im übrigen aber waltet über der Versammlung jene gediegene behagliche Lebensfreude, welche schon aus den Bildern der alten Niederländer zu uns spricht und offenbar ein Erbteil ihres heimischen Stammes ist.

Unkraut und Eisenbahn. Auf ganz besonders fruchtbarem Boden muß die Strecke der amerikanischen Chicago-Milwaukee und St. Paul-Eisenbahn liegen, denn zwischen und neben ihren Schienen wächst beständig eine so gewaltige Menge von Unkraut, daß es dreimal in jedem Jahre beseitigt werden muß, um den Betrieb nicht zu hindern. Wie [356] bei dem starken Verkehr auf der Strecke sich ein solcher Pflanzenwuchs entfalten kann, ist freilich schwer begreiflich, aber es muß wohl wahr sein, da man einen eigenen Wagen zur Beseitigung des Unkrauts, und zwar durch Feuer, konstruiert hat. Derselbe besteht in seinem vorderen Teile aus einem Behälter für zwölf Faß Rohpetroleum, hinten aber aus einer nach unten gerichteten Vorrichtung von acht großen Petroleumgasbrennern, denen das feinverteilte Oel durch Preßluft zugeführt wird. Der Wagen sengt, von einer Lokomotive langsam über die Strecke gezogen, die Vegetation zwischen und neben den Schienen sehr gründlich ab, und zwar können täglich 12 bis 16 Kilometer der Strecke gereinigt werden. Ein Faß Rohöl soll hinreichen, um eine englische Meile von Unkraut zu säubern; um in trockenen Zeiten das Umsichgreifen des Feuers zu verhindern, folgt ein Mann dem Wagen, der nach den Seiten übergreifende Flammen sofort auszugießen hat. Bw.     


Abgeschlagen. (Zu dem Bilde S. 345.) Frühlingswald, Vogelgesang, Käfersurren und Abendsonnenschein. Ich stand an eine Buche gelehnt mit der Büchse in der Nähe eines Wechsels, auf welchem ein starker Bock zur Aesung zog. Auf der blumigen Waldblöße vor mir äste vertraut eine Ricke, und ihr buntgetupftes Kitzchen rannte im munteren Spiele sorglos im Kreise umher, zupfte auch wohl mal an einem saftigen Blatte oder kniete nieder, um mit dem weißen Lebenssaft der Mutter Hunger und Durst zu stillen. Liebkosend leckte die Alte ihr Kind.

Da lugte plötzlich sichernd das rote Spitzbubengesicht Meister Reinekes aus der Dickung hervor, und als es nichts Verdächtiges eräugte, trollte der Erzschelm heraus auf die Blöße und begann Mäuse zu fangen. Mit hoher Nase zog er an, dann schlich er einige Schritte vorwärts, wie der Vorstehhund es thut, wenn die Hühner weit vor ihm liegen oder laufen … ein hoher Sprung, die Lunte peitscht siegesgewiß die Luft – und Reineke verschluckt vergnügt den leckeren Bissen. Aber es schien doch für ihn noch begehrenswertere Gerichte zu geben als Mäusebraten – denn er reckt jetzt die Nase hoch in die Luft nach der Gegend hin, wo das Kitzchen eben noch lustig spielte, sich jetzt aber ermüdet in der Nähe der Mutter niedergethan hat. Reineke hat es gewittert … und wie ein Aal windet sich der rote Schelm, durch Kraut und Buschwerk gedeckt, näher und näher heran. Ich hätte ja leicht mit der Kugel dem räuberischen Gedanken ein Ende machen können – allein dazu war es immer noch früh genug – ich hatte guten Wind, stand ziemlich hoch und konnte jede Bewegung des beutegierigen Räubers durchs Glas genau beobachten. Jetzt war er nur noch 15 Schritt vom Kitz, das zufällig wieder hoch geworden war und im Begriff stand, nach der etwa 30 Schritt entfernten Mutter zu eilen. Da – wie ein Blitzstrahl sauste ein roter Streifen nach dem Kitzchen hin – der Fuchs packte zu – ein gellendes „Piä!“ – im selben Augenblick war aber auch die Ricke schon da und schnellte mit dem Vorderlaufe auf den roten Freibeuter los. Dieser mußte, wenn auch widerstrebend, seinen Raub fahren lassen und eilte, verfolgt von der laut schmälenden Ricke, öfters noch lüstern nach der ihm durch Mutterliebe abgerungenen Beute zurückäugend, dem wohlverdienten Lohn aus meiner Büchse schnurstracks entgegen.

„Maikäfer flieg!“
Nach einer Originalzeichnung von F. Reiß.


Nicht immer mißlingt dem roten Gauner die Jagd auf Rehkitzchen. Wenn sie noch zu jung sind, um der Mutter bei ihren Ausflügen folgen zu können, findet die scharfe Nase unseres Strauchdiebes die unter Buschwerk versteckten nur gar zu häufig und die vielen Rehläufe auf dem Bau, auf welchem Frau Fehe ihr Geheck aufzieht, geben dem Jäger Aufschluß darüber, weshalb auf dem Revier so viele Ricken ohne Kitzchen stehen, und belehren ihn, wie diesem Uebelstande abzuhelfen ist.

Aber auch im Winter, wenn durch Frost und tiefen Schnee das Rehwild matt geworden ist, folgt Reineke dem kraftlosen Stücke, fängt es und reißt es – ja, es sind Beispiele bekannt geworden, wo eine Anzahl Füchse im Winter gesunde Rehe par force jagten. – Deshalb kennt der Jäger für den frechen Räuber auch keine Gnade. Karl Brandt.     


Für deutsche Erzieherinnen in England. Wie schon einmal (Jahrgang 1896 der „Gartenlaube“, S. 882) erhebt die hochverdiente Vorsteherin des Deutschen Lehrerinnenvereins in London, Helene Adelmann, ihre Stimme zur Warnung für jene Mädchen, die durch Agenten von Deutschland aus Stellen in englischen Häusern annehmen und dann nach der Ueberfahrt wahllos antreten müssen. Solche Stellen sind in sehr zahlreichen Fällen schlecht, auf die Dauer unerträglich für gebildete deutsche Mädchen, welchen häufig genug Hausmädchendienste außer dem Unterricht zugemutet werden; in Institutsstellen kommt es vielfach vor, daß der „auf Gegenseitigkeit“ des Sprachunterrichts gegründete Kontrakt mit sehr schmalem Honorar ganz hinfällig ist, indem nur Deutsch und Französisch im Hause gesprochen werden. In den 13 Ferienwochen hat die Lehrerin für sich selbst zu sorgen, Gehalt und Verpflegung hören auf. Und für solche ganz unbefriedigende Stellungen, meist mit elender Ernährung, haben die Suchenden schwere Summen an die Agenten zu zahlen, die natürlich gerade die schlechten Stellen mit raschem Wechsel am liebsten vergeben. – Sie könnten ihr gewissenloses Treiben nicht so gewinnbringend führen, wüßten die jungen deutschen Lehrerinnen, daß keine gute englische Familie eine unbekannte Erzieherin in Deutschland engagiert, daß aber sehr viele von ihnen sich an den Deutschen Lehrerinnenverein in London wenden, in dessen schönem, gemütlichem Heim (W, 16 Wyndham Place, Bryanston Square) die Stellesuchenden billige Unterkunft finden, bis ein Abschluß erreicht ist.

Diese Thatsachen sind, trotz mehrfacher Veröffentlichung, noch nicht bekannt genug, wie die zahlreichen Opfer der Agenten beweisen, welche nach ausgestandener Leidenszeit schließlich in den Verein flüchten, dessen Verband sie von vornherein hätten angehören sollen. Um nun denen, welche künftig nach England gehen wollen, Aufschluß über die englischen Verhältnisse und den Verein zu bieten, sind in verschiedenen deutschen Städten Damen als Vertreterinnen des letzteren angestellt, welche Prospekte, Statuten und Jahresberichte kostenfrei abgeben. Wer in Briefwechsel mit ihnen tritt, zahlt 1 Mark für Porto. Diese Damen sind

in Berlin: Fräulein Hübner, Augsburgerstraße 22/3.
in Breslau: Fräulein Malberg, Schulvorsteherin, Teichstr. 22/23.
in Hannover: Fräulein Dröge, Krausenstraße 6.
in Stuttgart: Fräulein Hagmaier, Schulvorsteherin, Moserstr. 12.
in Mannheim: Fräulein Sammet, Vorst, des Großh. Instituts.
in Danzig: Fräulein Mellin, Mattenbuden 33.
in Saarburg: Fräulein Overbeck, Schulvorsteherin.
in Königsberg: Fräulein Sotteck, Tragheimerpulverstraße.
in Tilsit: Frau Hecht, geb. Behr, Rosenstraße 3.
in Köln: Fräulein Wegner, Maria Ablaßplatz 6.
in Dresden: Fräulein Anna Gaudian, Pension Simla.

Möchten recht viele Lehrerinnen von diesem wertvollen Anerbieten Gebrauch machen! Bn.     




IV. Quittung für das Rittershaus-Denkmal. 2 Mk. von Wilh. Böttner in Kassel; 20 Mk. von Dr. M. Rothfels in Kassel; 20 Mk. von F. Thomée in Kassel; 10 Mk. von A. Alsberg in Kassel; 10 Mk. von B. Mosbacher in Kassel; 10 Mk. von L. Mosbacher in Kassel; 25 Mk. von Herm. Hupfeld in Kassel; 50 Pf. von Pfarrer H. Jacobi in Eisenach; 5 Mk. von A. George in Altmorschen; 10 Mk. von J. Proelß in Stuttgart; 5 Mk. N. N.; 3 Mk. von Kaufmann Friedrich Auch in Stuttgart; 5 Mk. von Privatier Theodor Happel in Stuttgart; 5 Mk. von Dr. Louis Musculus in Stuttgart; 3 Mk. von Oberstaatsanwalt Herrschner in Stuttgart; 5 Mk. von Hofmaler X. von Riedmüller in Stuttgart; 1 Mk. von Regierungsrat Dr. Adam in Stuttgart; 10 Mk. vom Lehrer-Gesangverein Ruhrort und Umgegend; 86 Mk. gesammelt von der Bürgermeisterei Beeck; 10 Mk. von K. in Elberfeld; 30 Mk. von N. N. in Unter-Barmen; 10 Mk. vom Hörder Gewerbeverein in Hörde; 3 Mk. von Kappenberg in Frankfurt a. M.; 15 Mk. von der Stadt Dinslaken; 50 Mk. von Louis Tübben in Ruhrort; 404 Mk. gesammelt von Louis Tübben in Ruhrort; 50 Mk. von Carl Jäger in Barmen; 50 Mk. von Carl Tölle in Barmen; 10 Mk. von F. S. in Barmen; 900 Mk. von der Allg. Vers.-Gesellschaft für See-, Fluß- und Landtransporte und Transatlantische Güter-Vers.-Ges. in Berlin; 100 Mk. von Rud. Erbslöh in New York; 60 Mk. vom Gymnasium in Barmen; 1006 Mk. von G. Andriessen, gesammelt in Crefeld; 267 Mk. von den Männergesangvereinen „Arion“, „Harmonia“ und „Liedertafel“ in Bielefeld; 100 Mk. von Dr. Cläßen, Generalagent in Köln; 100 Mk. von Frau L. Cläßen in Köln; 20 Mk. vom Technischen Verein in Gelsenkirchen; 50 Mk. vom Allg. Bildungsverein in Elberfeld; 7,15 Mk. vom Kegelklub „Viertakt“ in Deutz; 50 Mk. von Prof. Ludw. Knaus in Berlin; 10 Mk. von Wilh. Raphaels in Barmen; 10 Mk. von L. de M. in Düsseldorf; 20 Mk. von Frau Dr. Herm. Presber in Frankfurt a. M.; 20 Mk. von W. Rocholl in Kassel; 3 Mk. vom Kegelklub „Victoria“ in Bochum; 20 Mk. von Clara Kalb in Frankfurt a. M.; 100 Mk. gesammelt von H. Landau in Koblenz; 5 Mk. von Referendar Dr. Max Döring in Elberfeld: 10 Mk. von Wilhelm Wandt in Barmen; 100 Mk. von R. E., 100 Mk. von H. G., 100 Mk. von G. B., 100 Mk. von E. K., 50 Mk. von R. D., 50 Mk. von R. S., 50 Mk. von A. E., 50 Mk. von C. A. J., 50 Mk. von A. v. d. H., 50 Mk. von A. M., 20 Mk. von A. S., sämtlich in Elberfeld; 20 Mk. von B. Amann in Barmen; 100 Mk. von M. Alb. Molineus in Barmen; 563 Mk. gesammelt von Dr. J. in Elberfeld; 200 Mk. von Heinr. Waldthausen in Essen; 400 Mk. gesammelt von Heinr. Waldthausen in Essen; 50 Mk. von Otto Hillmann sen. in Barmen; 100 Mk. von Carl Niggemann in Barmen; 50 Mk. von Rob. Rohleder in Manchester; 2000 Mk. vom Bochumer Gußstahlverein in Bochum; 1000 Mk. vom Verwaltungsrat des Bochumer Gußstahlvereins; 9 Mk. 40 Pf. vom Stammtisch im Hotel Drewes in Hagen; 300 Mk. von Kommerzienrat Emil Blanke in Barmen; 10 Mk. vom Gewerbeverein in Altendorf; 170 Mk. vom Männergesangverein „Liedertafel“-Soest; 40 Mk. von drei Verehrern in Barmen; 30 Mk. von D. B. Wiemann-Barmen; 5 Mk. von N. N. in Barmen; 2 Mk. von W. Holthausen in Barmen; 100 Mk. vom Verein Barmer Rektoren; 6 Mk. von N. N. in Barmen; 23 Mk. gesammelt in einem Lehrerkreise in Elberfeld; 5 Mk. gesammelt von Rheinländern, Westfalen und Hannoveranern in Bochum; 100 Mk. von J. Gauhe in Eitorf; 50 Mk. von A. Gauhe in Eitorf; 20 Mk. von Dr. Lehr in Berlin; 20 Mk. von Direktor F. W. Grund in Breslau; 20 Mk. von F. W. Lührmann, Ingenieur in Düsseldorf; 12 fl. = 20 Mk. 43 Pf. von der Loge zu den 3 Säulen, durch M. Günther in Kronstadt i. S.


Herausgegeben unter verantmortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart.0 Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Allerlei Winke für jung und alt.


Besatzbörtchen.

Besatzbörtchen. Die modernen schmalen Besatzbörtchen, welche meistens mehrreihig oder Figuren bildend, arrangiert werden, kann man sich für Waschkleider von Kindern und Erwachsenen, für Schürzen, Kragen und Manschetten u. s. w. sehr hübsch selbst anfertigen, indem man kräftige Spitzenbändchen, beliebig weiß oder getönt, mit farbigen Zierstichen benäht. Natürlich muß die hierfür verwendete Baumwolle durchaus waschecht sein. Als schnell fördernd empfiehlt sich Kreuznaht, die zur reicheren Wirkung mit einem abstechenden Faden durchwunden wird (siehe das erste der drei naturgroß abgebildeten Börtchen). Rote und blaue Stickbaumwolle ist auch für das zweite Börtchen verwendet, dessen kleine Maschen je aus zwei dicht nebeneinander ausgeführten Wickelstichen bestehen, von denen der eine rot, der andere blau ist; beide Farben sind aber stets zu versetzen, damit mehr Abwechselung entsteht. Das dritte Börtchen zieren einzelne Blättchenstiche, welche je durch einen zweiten geraden Stich, entgegengesetzt dem die Schlinge haltenden Stich ausgeführt, vervollständigt wurden. Dieses Börtchen zeigt auch noch reichere Ausstattung durch schmale, ebenfalls mit der farbigen Baumwolle ausgeführte Häkelarbeit, die sich den Picots des Spitzenbändchens direkt anschließt. Je zwei Stäbchenmaschen in jedes zweite Spitzenbandpicot trennt ein Picotzäckchen aus vier Luftmaschen und einer festen Masche in die erste Luftmasche zurück. Außer den genannten Stichen lassen sich noch mit Fischgräten- und Knötchenstichen, mit Kreuz- und Smyrnastichen u. s. w. allerlei Muster arbeiten; gerade das Selbsterfinden wird viele Freude machen.

Billiges und gutes Scheuermittel für blankes Küchengeschirr. Der überall mit Beginn der warmen Jahreszeit erscheinende Sauerampfer, den man nicht nur anbaut, sondern auch wildwachsend auf Wiesen und Feldern in üppiger Fülle findet, ist ein ganz prächtiges Putzmittel unserer blanken Küchengeschirre, welches nichts kostet als die kleine Mühe des Sammelns. Man feuchtet zum Putzen das betreffende Geschirrstück an, nimmt dann eine Handvoll Sauerampferblätter und drückt diese fest auf die blanken Flächen, reibt sie gleichmäßig überall mit den Blättern, die man dabei zerdrücken muß, ab und spült jedes Geschirrstück mit kaltem Wasser ab. Mit einem Wolltuch werden die Geräte danach trocken gerieben, sie strahlen in leuchtendem Glanze wie neu und selbst angerostete und dunkelgefärbte Stellen verschwinden bei der Behandlung mit Sauerampfer.

Visitenkartenschale in Achatimitation.

Visitenkartenschale in Achatimitation. Der Reiz dieses Verfahrens, welches den Charakter von Achat, Rauchtopas und anderen Halbedelsteinen nachahmt, ist leicht herauszubringen, wenn man einigermaßen mit Oelfarbe umgehen kann. Die abgebildete Visitenkartenschale besteht ursprünglich aus ganz dünnem, gewöhnlichem weißen Glas; sie wird umgestülpt auf den Tisch gelegt und nun auf der Außenseite mittels eines breiten weichen Pinsels in wellenförmigen, ungleich großen Streifen bemalt. Neben eine Linie von zartem Grau (gemischt aus Rabenschwarz, Kremserweiß und etwas Englischrot) setzt man eine breite Partie tiefes stumpfes Rot (Kremserweiß, gebrannte Terra di Siena, Zinnober) oder dazwischen ein ganz weißes Aederchen. Alle gelblichen, grünlichen, rötlichen und grauen Nuancen sind anzuwenden, wenn man dabei auf die streifige Maserung des betreffenden Steines achtet; auch muß man, des Glanzes halber, der Oelfarbe ziemlich viel Firnis beimischen. Ist die Bemalung trocken geworden, so läßt man sie, um das Verfahren unkenntlich zu machen, auf der Rückseite verzinnen oder mit einem dünnen, sammetartigen Stoff überkleben; auch Anstreichen mit Silber- oder Goldbronzepulver sieht gut aus. H. R.     


Im Haus- und Zimmergarten.

Gegen den Sperlingsschaden. Es giebt kein probateres Mittel, den Spatz von den Erbsen- und Salatbeeten, von den Knospen der Johannisbeeren und der Kirschen fernzuhalten, als unseren gewöhnlichen Zwirnsfaden, in jeglicher Farbe – am besten in der schwarzen. Für die Erbsen und den Salat spannt man ihn an Stäbchen kreuz und quer über die Beete oder zieht ihn die Reihen der Pflanzen entlang, doch in doppelter oder dreifacher Anzahl, damit die Zwischenräume nicht zu groß werden. Die Fäden dürfen nicht zu weit vom Beete entfernt sein – noch nicht handhoch; aber auch nicht zu tief liegen, sonst helfen sie nichts. Und das kommt einfach daher, daß der Spatz von ihnen dann nicht mehr gehindert wird. Er muß mit Kopf und Rücken an die Fäden stoßen – das bringt den pfiffigen Gesellen auf den Gedanken: er könne ins Garn gehen – er flieht und kommt nie wieder. – Bei den Johannisbeerbüschen werden die Fäden von Spitze zu Spitze gezogen. Für höhere Bäume steckt man die Garnrolle auf eine Stange und macht sich so die Arbeit leicht. – Auch von neu angesäetem Rasen sind die Spatzen durch Zwirnsfaden sicher und für wenige Groschen abzuhalten.

Rosen kann man auch im Frühjahr veredeln, man darf nur nicht auf die übliche Art und Weise veredeln wollen, sondern muß die sogenannte Forkertsche Methode anwenden. Bei derselben schneidet man aus dem Stamm oder dem Zweig des Wildlings einen Rindenteil heraus – von der Größe des Edelauges. Der Schnitt wird von oben nach unten geführt und der Streifen wird nur zur Hälfte entfernt – der andere Teil bleibt unten hängen und dient dem Edelauge als Stützpunkt. Soll die Veredlung gelingen, dann muß die Rinde des Edelauges genau auf der Rinde des Wildlings aufliegen: hat sie eine andere Lage, dann findet das Anwachsen nicht statt. Edelauge und Wildling werden durch Bast verbunden, und durch einen Baumwachsanstrich wird die Veredlung vor dem Luftzutritt bewahrt. – Der Wildling kann schon veredelt werden, wenn seine Knospen schwellen. Als Edelholz verwendet man die beim Schnitt der Edelrosen abfallenden Triebe. Im Frühjahr veredelte Rosen geben im Laufe des Sommers hübsche Krone und blühen noch reichlich.

Gartenthermometer.

Zur Berankung von kleinen Gestellen, Unterpartien des Laubengerüstes u. s. w. sind die wohlriechenden Wicken mit ihren prächtigen Blüten vorteilhaft verwendbar. Sie schmücken aber nicht bloß den Garten. Da sie ungemein reich blühen und um so mehr Blüten bringen, je mehr Blumen abgeschnitten werden, so soll man keine Gelegenheit versäumen, die Blüten büschelweis zusammenzustellen und in Blumengläser zu stecken. Eine neue, aus Amerika gekommene ganz niedrige Wicke, die nicht rankt, sondern kompakte Büsche bildet, wird lediglich zur Gewinnung von Blumen für Bouquets und Gläser gezogen und sogar im Winter in Glashäusern getrieben. Diese Wicke heißt Lathrus odoratus Cupido. Von den rankenden Sorten sind besonders empfehlenswert Boreathon, kastanienbraun, Indigo King, dunkelpurpur, Ignea, leuchtend karmin. Die Wicken werden wie Erbsen ausgelegt. Gegen Spatzen muß man sie schützen.

Gartenthermometer mit Holzgehäuse. Ein hübsches Geschenk für Gartenbesitzer ist der nebenstehend abgebildete Gartenthermometer. Auf einer etwa 132 cm langen und 9 cm breiten Latte, deren zugespitztes unteres Ende tief in den Boden eingerammt wird, erhebt sich eine Holztafel im Längenviereck, die ungefähr 33 cm zu 23 cm mißt und von einem vorspringenden Holzgesims überdacht ist. Letzteres hält Schnee und Regen von dem auf die Holztafel angeschraubten Thermometer ab; man streicht das Holzgehäuse entweder mit Lackfarbe an, auf welche man ein paar Blumen im bäurischen Geschmack malt, oder giebt nur einen leichten Firnis und verziert es mit Holzbrandornament. H. R.     

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Allerlei Kurzweil.

Skataufgabe. 0 Von K. Buhle †.

Nach den ersten vier Stichen:

kann der Spieler keinen Stich mehr bekommen und verliert sein Spiel mit Schneider. Die beiden Gegner hatten gleichviel Augen in ihren Karten. – Welcher von den dreien ist der Spieler und was spielt er? Wie sind die Karten ursprünglich verteilt?


Rätsel.

Ich bin ein Mann, den die Geschichte kennt,
Den rühmend man in Vers und Prosa nennt,
Dem man ein Denkmal setzt in Stein und Erz,
Der weiter lebt in seines Volkes Herz.
Wenn du ein Zeichen tauschst, ein Ding von hohem Werte,
Um das gestritten wird im ganzen Kreis der Erde,
Das jeder sich ersehnt und mancher sich erringt,
Und das allein doch nie dem Menschen Segen bringt.
Und wiederum ein andres Zeichen nun:
In meinem Schoße reiche Schätze ruh’n;
Verbinde mich mit einem andern Wort:
Was hier gewonnen, wird zerstöret dort.       Th. Biedermann.


Verschiebungsaufgabe.

Die nachfolgenden acht Romandichtungen von Gutzkow, Spielhagen, Heyse (zweimal), Ebers, Freytag, Hackländer und Hauff sind untereinander zu schreiben und alsdann so lange seitlich hin und her zu schieben, bis zwei in gleichem Abstand voneinander befindliche senkrechte Buchstabenreihen den Vor- und Zunamen eines bekannten Erzählers nennen.

1) Basedow und seine Soehne, 2) Hammer und Amboss, 3) Kinder der Welt, 4) Die Schwestern, 6) Soll und Haben, 6) Europaeisches Sklavenleben, 7) Lichtenstein, 8) Das Maedchen von Treppi.


Charade.

Vom Seemann wird nach langer Fahrt
Die Erste freudig wahrgenommen,
Den Zecher echter deutscher Art
Heißt jede Zweite gern willkommen.

Die Dritte suche nur am Speer,
Am Spieß, sowie auch an der Lanze. –
Wo käme Milch und Brot wohl her,
Bestände nicht das liebe Ganze?       Oscar Leede.


Kryptogramm.


Auflösung der Damespielaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 10.

1. d 2 – e 3       f 2 × d 4
2. D d 8 – g 5       h 6 × f 4
3. c 7 – d 8 D       D b 8 × e 5
4. D f 8 – g 7       D h 8 × f 6
5. D d 8 × g 5 × e 3 × b 6!       a 7 × c 5
6. D a 3 × d 6 × f 4 × h 2.

Auflösung des Bilderrätsels „Die Taube“ auf dem Umschlag von Halbheft 10.

Liest man von oben links in der Runde nach rechts alle Buchstaben, auf welche die Blattspitzen zeigen, und dann die Buchstaben, durch welche die Strahlen führen, in gleicher Ordnung, so erhält man die Worte:
Fröhliche Pfingsten!“


Auflösung des Scherzrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 10.
Gondel, golden.


Auflösung des Buchstabenrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 10.
Sprosser, Sprosse, Sproß.


Auflösung des Rätsels auf dem Umschlag von Halbheft 10.

1. Pandora, 2. Feuerstein, 3. Zitteraal, 4. Seherin, 5. Bellerophon, 6. Hamster, 7. Wrangel, 8. Aristides, 9. Teheran, 10. Brandenburg, 11. Gurgel, 12. Gespenst, 13. Stolzenfels, 14. Seezunge, 15. Erdkugel, 16. Lehnsmann.

„An der Saale hellem Strande stehen Burgen stolz und kühn.“




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Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

  1. Das Vombettaufstehen der französischen Könige und Königinnen, welchem immer eine Menge von Höflingen anwohnen mußte.
  2. Beratungssaal.
  3. Paradezimmer.
  4. Benvenuto Cellini, der berühmte Goldschmied.