Die Grenze zwischen Leben und Tod
[223] Die Grenze zwischen Leben und Tod. – In Bordeaux wurde vor einiger Zeit ein Zivilprozeß verhandelt, dem folgender Streitfall zugrunde lag. Der Fabrikbesitzer Belmond aus Bordeaux hatte inm Jahre 1910 eine Witwe geheiratet, die aus ihrer ersten Ehe ein Kind, ein vierjähriges Töchterchen, besaß. Der kleinen Mignon Vorilaux war, kurz bevor ihre Mutter zum zweiten Male heiratete, von ihrer Großmutter väterlicherseits ein Erbteil von rund einer halben Million zugefallen.
Am 14. Oktober 1911 kehrte die nunmehrige Frau Belmond mit ihrem Töchterchen Mignon von einem Ausfluge nach dem kleinen Solbade Bligny bei Bordeaux im Auto zurück. Infolge Versagens der Steuerung raste das Gefährt kurz vor der Stadt eine Böschung hinab und begrub die Insassen unter sich. Der Unfall war sofort bemerkt worden. Schnellstens wurde das Auto aufgerichtet und die Verunglückten – Frau Belmond, das Kind und der Chauffeur – hervorgezogen und, da sie sämtlich schwerverletzt schienen, in ein Krankenhaus geschafft.
Hier erkannten die Ärzte alsbald, daß die Dame, die schwere Kopfwunden davongetragen hatte, ebenso wie ihr Töchterchen, dem der Brustkorb gänzlich eingedrückt war, bereits tot seien. Der Chauffeur war mit einem Armbruch am besten weggekommen. Bei der kleinen Mignon waren noch einige Herzschläge beobachtet worden, und so lauteten die amtlichen Totenscheine dahin, daß Mignon Vorilaux ihre Mutter überlebt habe, wenn auch nur um kurze Zeit.
Diese amtliche Feststellung war nun von weitgehender Bedeutung. Wäre nämlich das Kind der Mutter im Tode vorangegangen, so würde diese die Erbin des Vermögens ihres Töchterchens geworden sein, und dann wäre wiederum der zweite Gatte der Dame, Herr Belmond, deren Erbe geworden. Die Verhältnisse lagen jetzt aber nach den Angaben der amtlichen Totenscheine gerade umgekehrt. Diese besagten, Mignon Vorilaux sei nach ihrer Mutter gestorben, und somit wäre die [224] Erbschaft der Kleinen, da nach den Bestimmungen des französischen Bürgerlichen Gesetzbuchs Erbe nur werden kann, wer zur Zeit des Todes des Erblassers selbst noch lebt, an entfernte Verwandte des verstorbenen Herrn Vorilaux als an die nächsten nach dem Ausscheiden der Mutter Erbberechtigten gefallen.
Belmond aber erhob nach Befragen mehrerer ärztlicher Autoritäten im Prozeßwege Anspruch auf die Hinterlassenschaft seines Stieftöchterchens mit der Behauptung, die Angabe der amtlichen Totenscheine über den Zeitpunkt des Todes von Mutter und Kind seien unrichtig. Die kleine Mignon müsse nach der ganzen Art ihrer Verletzungen sofort gestorben sein und nicht erst nach ihrer Einlieferung in das Krankenhaus, in jedem Falle aber vor ihrer Mutter.
Dieser Prozeß hat die Aufmerksamkeit der ganzen medizinischen Welt erregt, und die Gutachten, die im Laufe der Verhandlungen von den ersten Gelehrten Frankreichs abgegeben wurden, können als grundlegend für die Frage gelten, wann der Arzt erst mit Sicherheit zu sagen vermag, daß der Tod bei einem Menschen wirklich eingetreten ist.
Auf Antrag des Klägers Belmond waren die Leichen seiner Frau und seines Stieftöchterchens sofort von Gerichts wegen seziert worden, um die nähere Todesursache bei beiden einwandfrei festzustellen. Hierbei ergab sich, daß der Schwere der einzelnen Verletzungen nach tatsächlich die kleine Mignon fast augenblicklich gestorben sein mußte, während bei Frau Belmond immerhin die Möglichkeit vorlag, daß sie noch einige Minuten gelebt haben könnte. Im Gegensatz zu diesem Sektionsbefund stand, wenigstens was den Tod des Kindes anbetraf, die Aussage der beiden als Zeugen vernommenen Krankenhausärzte. Diese bekundeten übereinstimmend, daß sie bei dem kleinen Mädchen zwar keine Anzeichen für eine noch bestehende Tätigkeit der Lungen, dafür aber deutlich wahrnehmbare Herzschläge beobachtet hätten. Somit wäre das Kind also auch noch, als sie es untersuchten, am Leben gewesen.
Hier setzten nun die Gutachten der medizinischen Autoritäten ein. In diesen kam in der Hauptsache folgendes zum Ausdruck, wie die Pariser Zeitschrift für gerichtliche Medizin mitteilte: [225] Der Augenblick, in dem das Leben eines ganzen Organismus in den Tod übergeht, ist genau überhaupt nicht festzustellen. Weder das Aufhören der Atmung noch das der Herztätigkeit sind hierbei maßgebend. Bei künstlicher Atmung läßt sich das Herz noch stundenlang in Tätigkeit erhalten, und doch kann in solchen Fällen der Betreffende in Wahrheit längst tot sein. Ebensowenig sind die Trübung der Hornhaut und das Erkalten des Körpers sichere Zeichen des eingetretenen Todes. Ärzte haben schon wiederholt Leute, die diese Symptome aufwiesen, für tot erklärt, während es sich doch nur um schwere Fälle von Scheintod handelte. Erst die Leichenstarre und der Verwesungsgeruch geben ein untrügliches Merkmal, daß das Leben in einem Körper endgültig erloschen ist. Genau genommen kann der Arzt also erst nach Tagen mit Bestimmtheit den Tod einer Person feststellen. Freilich kommt es hier immer auf die Ursachen an, die das Ableben herbeigeführt haben, so daß der Arzt doch meistenteils früher schon in der Lage sein wird, in dieser Beziehung ein Urteil abgeben zu können. Eine Unmöglichkeit ist es jedoch, bei zwei Todesfällen, die auf dieselbe Katastrophe zurückzuführen sind und bei denen die Schwere der Verletzungen, wie in dem vorliegenden Fall, ungefähr die gleiche ist, mit Bestimmtheit zu sagen, welcher von ihnen innerhalb eines Zeitraumes von einer Stunde vorher erfolgt ist. Es kann bei solcher Sachlage stets nur aus der Schwere der Veletzungen „vermutet“ werden, in welchem Körper der Gesamtorganismus seine Tätigkeit früher eingestellt hat. Und eine solche Vermutung spreche hier dafür, daß Mignon Vorilaux, der der Brustkorb derart eingedrückt war, daß die Lunge sich bei der Sektion vollständig gequetscht und mehrfach zerrissen zeigte, vor ihrer Mutter gestorben ist. Wenn die Ärzte des Krankenhauses noch Herzschläge festgestellt hätten, so sei dies nicht ausschlaggebend, da in der Medizin Fälle bekannt seien, wo sogar die Herzen enthaupteter Mörder noch längere Zeit, einmal sogar noch eine Stunde nach der Hinrichtung geschlagen hätten, was Professor Brouardel unter Kontrolle mehrerer anderer Ärzte einwandfrei beobachtet habe. –
Die Entscheidung des Gerichts fiel denn auch zugunsten [226] des Klägers Belmond aus. Es wurde nach dem Gutachten der medizinischen Sachverständigen angenommen, daß Frau Belmond ihr Kind überlebt und es somit auch beerbt habe. Die verlierende Partei beruhigte sich bei dieser Entscheidung nicht, sondern trieb den Prozeß durch alle Instanzen, aber stets mit demselben negativen Erfolg. Belmond blieb im Besitze des Vermögens.