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Walther Kabel: Die Grenze zwischen Leben und Tod (Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Band 1)

Der Augenblick, in dem das Leben eines ganzen Organismus in den Tod übergeht, ist genau überhaupt nicht festzustellen. Weder das Aufhören der Atmung noch das der Herztätigkeit sind hierbei maßgebend. Bei künstlicher Atmung läßt sich das Herz noch stundenlang in Tätigkeit erhalten, und doch kann in solchen Fällen der Betreffende in Wahrheit längst tot sein. Ebensowenig sind die Trübung der Hornhaut und das Erkalten des Körpers sichere Zeichen des eingetretenen Todes. Ärzte haben schon wiederholt Leute, die diese Symptome aufwiesen, für tot erklärt, während es sich doch nur um schwere Fälle von Scheintod handelte. Erst die Leichenstarre und der Verwesungsgeruch geben ein untrügliches Merkmal, daß das Leben in einem Körper endgültig erloschen ist. Genau genommen kann der Arzt also erst nach Tagen mit Bestimmtheit den Tod einer Person feststellen. Freilich kommt es hier immer auf die Ursachen an, die das Ableben herbeigeführt haben, so daß der Arzt doch meistenteils früher schon in der Lage sein wird, in dieser Beziehung ein Urteil abgeben zu können. Eine Unmöglichkeit ist es jedoch, bei zwei Todesfällen, die auf dieselbe Katastrophe zurückzuführen sind und bei denen die Schwere der Verletzungen, wie in dem vorliegenden Fall, ungefähr die gleiche ist, mit Bestimmtheit zu sagen, welcher von ihnen innerhalb eines Zeitraumes von einer Stunde vorher erfolgt ist. Es kann bei solcher Sachlage stets nur aus der Schwere der Veletzungen „vermutet“ werden, in welchem Körper der Gesamtorganismus seine Tätigkeit früher eingestellt hat. Und eine solche Vermutung spreche hier dafür, daß Mignon Vorilaux, der der Brustkorb derart eingedrückt war, daß die Lunge sich bei der Sektion vollständig gequetscht und mehrfach zerrissen zeigte, vor ihrer Mutter gestorben ist. Wenn die Ärzte des Krankenhauses noch Herzschläge festgestellt hätten, so sei dies nicht ausschlaggebend, da in der Medizin Fälle bekannt seien, wo sogar die Herzen enthaupteter Mörder noch längere Zeit, einmal sogar noch eine Stunde nach der Hinrichtung geschlagen hätten, was Professor Brouardel unter Kontrolle mehrerer anderer Ärzte einwandfrei beobachtet habe. –

Die Entscheidung des Gerichts fiel denn auch zugunsten

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Walther Kabel: Die Grenze zwischen Leben und Tod (Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Band 1). Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1914, Seite 225. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Grenze_zwischen_Leben_und_Tod.pdf/4&oldid=- (Version vom 31.7.2018)