Die Heimath in der neuen Welt/Erster Band/Fünfter Brief
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Endlich, endlich erhielt ich Briefe von Haus, Briefe von Mama und Dir, meine gute Agatha! Ich küßte den Brief aus Freude, als er in meine Hand kam. Aber ach, wie betrübte es mich Dich wieder krank zu wissen, und zwar ohne allen Sinn und Verstand, so bald nach dem Marstrandbad, wo ich Dich so munter sah! Ich kann mich jetzt nur mit dem Gedanken zu trösten suchen, daß Du mit dieser Krankheit alle Kränklichkeit für das Jahr abgethan habest und im Winter desto gesünder sein werdest. Sollte dies nicht geschehen, ja dann müßten wir mit Dir im nächsten Winter nach irgend einem wärmeren Lande ziehen, nach Deinem schönen Italien, nach Rom oder Palermo, nachdem Du im nächsten Sommer in Marstrand tüchtige Salzbäder genommen hättest. Und ich werde bei Dir sein, mein Herzchen, und werde Dir schöne Sachen erzählen und schreiben, denn hier werde ich reich an solchen, und wir wollen dann zusammen ein neues schönes Leben einathmen. Deinen Brief nach London habe ich nicht erhalten, aber ich werde ihn noch erhalten, oder aber verdient Ed. L— — den Kopf zu verlieren, wenn er ihn nicht bereits verloren hat; denn er wurde beauftragt, den Brief in Empfang zu nehmen und mir ihn hieher zu schicken. Noch einmal Dank für die lieben Briefe!
Jetzt muß ich Dir von unserem Besuche im Phalanstère erzählen. Es war ein lieblicher Morgen, als wir uns fortbegaben. Die Luft empfand sich ganz jung — kaum 15 Jahre alt. Sie war kein Knabe, sie war ein Mädchen, lebhaft, aber schüchtern; — eine verschleierte Schönheit. Die Sonne war hinter leichten Wolken; der Wind schwieg stille. Als Markus, Rebekka und ich einen Augenblick am Landungsplatz bei Brooklyn warteten, um nach New-York hinüber zu fahren, stand da auch eine Quäckerin mit römischer Nase und ehrlichem, ernstem Gesichte. Ich sah sie an und sie sah mich an. Auf einmal erheiterte sich ihr Gesicht, wie von einem Sonnenschein beglänzt. „Du bist Miß B.“ sagte sie. — „Ja,“ sagte ich, „und Du?“ Sie nannte ihren Namen und wir drückten einander herzlich die Hände. Das innere Licht hatte sie auf mehr als eine Art erleuchtet, und an solchen Morgen fühle ich mich mit der ganzen Welt Du und Du.
Wir fuhren über den Strom, Markus, Rebekka und ich. Der Morgenwind begann zu wehen und die Wolken sich zu bewegen; Segel- und Dampfschiffe kreuzten sich im Hafen, und in kleinen Böten saßen junge Knaben, welche Stöcke und Breter auffischten, die der Strom mit sich ins Meer hinausführte. Die Ufer glänzten in grünem Gold. Eine Weile nachher waren wir am Bord des Dampfschiffes, das uns nach New-Jersey bringen sollte. Bergfalk kam voll von Leben und guter Laune, Channing kam mit einem diamantklaren Strahl in seinem reinen Blick, und mit ihm ein Mr. H., ein Freund von Blumen und von Channing. Wir fuhren bei Sonnenschein und unter Gesprächen über interessante Gegenstände, eigentlich mehr einem Dialog zwischen Channing und mir, wobei die Andern nur mit einstimmten, Alle ein wenig gegen mich, ich ein wenig gegen Alle, außer Markus S., dessen Verstand ganz besonders mit dem meinigen zusammenläuft. Später begannen Wolken sich über uns zusammenzuziehen und bald begann es zu regnen. Im Regen kamen wir nach New-Jersey und in das Städtchen New-Ark. Dort traf uns ein Fuhrwerk aus dem Phalanstère, für Menschen sowohl als für Kartoffeln bestimmt, und da hinein preßten wir uns unter einem gewölbten Dach von ölgelber Leinwand, das uns vor dem Regen schützte. Ein schöner junger Mann aus dem Phalanstère kutschirte uns mit ein paar angenehm fetten Pferden, und nachdem wir einige Stunden lang den Sand durchsucht, kamen wir beim Phalanstère an, ein paar großen Häusern mit mehreren kleineren umher, ohne etwas besonderes Auszeichnendes in der Architectur. Die Landschaft rundum sah parkartig, schön und freundlich aus, Boden und Bäume waren noch ganz grün. New-Jersey ist bekannt durch sein mildes Klima und seine guten Früchte. Wir wurden in einen Saal geführt und mit einem Mittagessen bewirthet, das in Arkadien nicht hätte besser sein können; unmöglich hätte man dort bessere Milch, Brod und Käse haben können. Hier hatte man auch Fleisch.
Hier fand ich die Familie aus dem Phalanstère wieder, die mich zuerst dorthin eingeladen hatte, und lernte in ihr Schwester und Schwager von Markus S. kennen, zwei ernste innige Menschen mit festem Glauben und tiefer Liebe zur Idee der Association; sie waren schon von Anfang an bei der Begründung der Anstalt da gewesen. Mr. A., der augenscheinlich außer Enthusiasmus auch einen guten und klaren Geschäftskopf mit organisatorischer Kraft besitzt, ist Geistlicher gewesen und hat lange Zeit wohlthätig als Missionär unter den armen Predigern in der Fremde, ministers at large, wie man sie hier zu Lande nennt, gewirkt; hernach hat er 10 Jahre lang als Farmer in einem der westlichen Staaten des Missisippithales gelebt, Mais und Früchte gepflanzt und sich in der reichen Natureinsamkeit wohl befunden; aber jetzt, nachdem seine Kinder herangewachsen, wurde dies zu einsam für sie, das Häuschen wurde zu eng, und um ihrer Entwicklung und Erziehung willen zog er wieder näher zu der großen Welt. Aber während er sich ihr näher anschmiegte, beschloß er zu gleicher Zeit für denjenigen Theil ihres Lebens zu leben, der ihm dem Ideal einer christlichen Gesellschaft am nächsten zu kommen schien. Er und seine Frau, sowie einige andere Ehepaare, sämmtlich Enthusiasten für diese Idee, schlossen sich zusammen und bildeten hier vor 8 Jahren den Verein, der sich jetzt neuamerikanisches Phalanstère nennt. Jedes Mitglied setzte 1000 Dollars ein, und nun kaufte man Land und begann nach den von der Gesellschaft entworfenen Gesetzen zu arbeiten. Im Anfang stießen sie auf große Mühseligkeiten, besonders weil es an den Mitteln fehlte Häuser zu bauen, Geräthschaften einzukaufen etc. etc. Es war schön und rührend zu hören, welchen Beschwerden und Arbeiten sich die Frauenzimmer unterworfen haben, die an dergleichen wenig gewöhnt waren, wie beharrlich und mit welch gutem Muth sie ausharrten und wie sie brüderlich von den Männern unterstützt wurden, die gleich den Weibern in jeder Art der Arbeit nur die Ehre und die Nothwendigkeit der Arbeit sahen und nicht danach fragten, ob es ein Männer- oder Weiber-Geschäft sei. Sie hatten viel Böses ausgestanden, waren aber dabei stark und geduldig geworden. Jetzt haben sie das Schlimmmste überwunden, die Anstalt war in bedeutender Zunahme begriffen; man war darauf bedacht, neue Häuser zu bauen, besonders einen großen Speise- und Gesellschaftssaal, wie auch in Küche und Waschhaus Maschinerien einzuführen, wodurch man vom schwersten Theil der Handarbeit erlöst werden sollte. Die Zahl der Mitglieder war bis auf etliche 70 gestiegen. Die Anstalt hat ihr eigentliches Einkommen von Mühlen, sowie vom Acker- und Obstbau; man pflanzt Pfirsiche, Melonen, Tomatos (eine sehr hübsche rothe Obstart, die man als Salat benützt und sehr liebt). In den Mühlen wird Homouny gemahlen, eine Art Maiskorn oder indianisches Korn, das man als Grütze kocht und allgemein ißt, besonders zum Frühstück.
Abends versammelte sich eine großer Theil des Phalanstère-Staates in einem Gesellschaftszimmer; verschiedene Personen wurden mir vorgestellt und ich sah eine ganze Menge recht hübscher Jugend, besonders waren Markus Springs älteste Nichte Abbie und ihr Bruder idealisch schön. Unter den Männern waren mehrere in groben Kleidern, aber alle waren sauber und hatten im Umgange etwas sehr Ernstes und Gutes.
Die Arbeit wurde hereingebracht und auf einen Tisch gelegt. Es sollten kleine Leinwandsäcke zu Homouny genäht werden, den man darin nach New-York auf den Markt schickte; den Säcken wurde der Namensstempel des Phalanstère aufgedrückt. Ich nähte einen Sack, Channing auch einen, und er behauptete, daß er flinker nähe als ich; aber ich meinte, daß ich besser nähe. Ich spielte sodann der Jugend schwedische Tänze und Melodien auf, die sie ungemein electrisirten, besonders der Nixentanz, und nun erzählte ich ihnen die Legende von dem Wassernix, von dem Pfarrer und dem grünen Bock, welche beweist, daß auch der Naturgott selig werden könne. Das Mährchen fand großen Anklang und in mehrere Augen kamen Thränen.
Ueber Nacht erhielt ich für mich allein ein Stübchen, das eines der jungen Mädchen meinetwegen räumte. Es war klein wie eine Gefängnißzelle, hatte vier kahle weiße Wände, war aber sauber, hatte ein großes Fenster mit freier schöner Aussicht, und ich befand mich wohl in der kleinen Zelle auf einem guten Sopha, und schlief gut bei dem Getöse des plätschernden Regens und bei der milden Luft, die durch das halboffene Fenster hereinkam. Die Schwestern der Bettmachungsgruppe, 2 schöne junge Mädchen, waren die Letzten, die ich in meinem Zimmer sah.
Am Morgen erwachte ich beim Getöse des Arbeitslebens rund umher im Hause; man kam, gieng und beschäftigte sich; Alles hatte ein eifriges und arbeitssames Aussehen. Aber ich dachte: „Die Essener und Pythagoräer begannen den Tag mit einem Gesang, einer Einweihung des Arbeitstages in den Dienst der heiligen Mächte.“ Und ich seufzte bei dem Gedanken, wie tief die Vereine des Westlandes unter denen des Morgenlandes stehen.
Ich kleidete mich an und ging hinab. Da es in meinem Charakter liegt, mit Seele und Herz auf das gegenwärtige Leben einzugeben, so wollte ich hier wie ein wahres Mitglied des Phalanstère leben und als Arbeiterin in eine seiner Gruppen eintreten. Ich wählte selbst die Küchengruppe, weil ich mir in dieser Beziehung am meisten Talent zutraute, und bald stand ich am Heerd neben der gemüthlichen Mrs. A. und buck eine ganze Menge Buchweizenkuchen (just wie wir sie in Schweden backen, aber auf einer größern Eisenplatte) zum Frühstück und hatte das Vergnügen Markus S., Channing und einigen Gesellschaftsgliedern mit ganz warmen Exemplaren am Frühstückstisch aufzuwarten. Ich fand selbst, daß meine Kuchen ausgezeichnet gelungen waren. Ich steckte auch in meinem Bürgereifer Hände und Arme bis an den Ellenbogen in einen großen Backtrog, wäre aber beinahe im Teig stecken geblieben. Er war zu schwer für mich; ich wollte es nicht gestehen, aber man war klug genug, mich auf die artigste Weise von dem Geschäft abzulösen und es bessern Händen zu übergeben.
Der Regen hatte aufgehört und die Sonne begann sich durch die Wolken Bahn zu brechen. Jetzt sollte ich hinaus, herumgehen und mich umsehen, begleitet von Mrs. A. und der Frau des Präsidenten, die einen kurzen Rock und Hosen trug, was ihrer hohen, schlanken Gestalt wohl anstand und überdieß für Gänge in dem nassen Wiesenland und im Walde vollkommen paßte. Zuerst besuchten wir die Mühlen; 2 schöne junge Mädchen, ebenfalls mit kurzen Röcken und Blousen, mit Ledergürteln und artigen Häubchen auf dem Kopf, giengen oder hüpften vielmehr leicht und fröhlich wie Vögel auf dem Fußsteig um uns her über Hügel und Thäler. Sie giengen, um in den Mühlen zu helfen; die Müller waren bereits dort an ihrer Arbeit. Von da gingen wir über das Feld und nach dem Kartoffelland, wo ich dem Präsidenten die Hand schüttelte, der Kartoffeln herausgrub und in weißen Hemdermeln mitten unter seinen Rathsherrn arbeitete. Sowohl der Präsident als die übrigen Bürger sahen wie tüchtige brave Leute aus, und die Kartoffelerndte versprach in diesem Jahr besonders ergiebig zu werden. Der Boden in New-Jersey soll sehr gut und fruchtbar sein. Die Sonne schien freundlich über das Kartoffelfeld, den Präsidenten und die Arbeiter, unter denen sich mehrere Männer von Bildung und Kenntnissen befanden.
Im Gespräch mit den 2 angenehmen Frauenzimmern, die mich begleiteten, erfuhr ich allerlei von den Gesetzen und dem Leben des Phalanstère. Jedes Mitglied kann bei der Gesellschaft so viel einlegen als es will und von seinem Vermögen so viel behalten als es will. Für seine Einlage wird ihm ein Zins berechnet. Die Arbeitszeit ist 10 Stunden des Tages; was man darüber arbeitet, wird in Berechnung gebracht und besonders bezahlt. Die Frauenzimmer haben gleiche Rechte wie die Männer, sie stimmen und betheiligen sich bei der Gesetzgebung und den Urtheilssprüchen. „Aber,“ sagte Mrs. A., „wir haben mit den häuslichen Geschäften so viel zu thun gehabt, daß wir uns bisher wenig darum bekümmerten, an diesen Angelegenheiten Theil zu nehmen. Wir haben sie den Männern überlassen.“
Jeder wer sich als Mitglied anmeldet, kann nach einjähriger Prüfungszeit im Phalanstère, wo er sich als beharrlich in der Arbeit, als fest in brüderlicher Liebe und Herzensgüte bewähren muß, angenommen werden. Nach seiner Religion, seinem Stand oder seinem früheren Leben wird nicht gefragt. Der Verein macht eine neue Probe mit dem socialen und ökonomischen Leben; er nimmt die werkthätige Menschenliebe als leitendes Princip an, und will alles Uebrige durch sie bestimmen lassen; er will so zu sagen das Leben aufs Neue beginnen und seine Gesetze auf experimentalem Wege erforschen. Gleich den Pflanzen, die man „exogens“ nennt, wächst es von Außen nach Innen, ist aber, wie mir scheint, in seinem Princip weit unbestimmter, als diese Pflanzen.
Abends wurde ich aufgefordert mich über diese Gesellschaftsbildung auszusprechen, und da sagte ich aufrichtig meine Ansicht über ihre Mängel, besonders darüber, daß ein Religionsbekenntniß, sowie ein öffentlicher Gottesdienst fehle, und daß sie blos auf einem moralischen Princip beruhe, dessen Gültigkeit leicht in Frage gestellt werden könne, da es seinen Zusammenhang mit einem ewig über der Erde und der Zeit bestehenden Leben, einem ewig geltenden Gesetze, und vor allen Dingen seiner Garantie bei einem persönlichen göttlichen Gesetzgeber nachzuweisen vermöge. Die Schlange wird einmal in euer Paradies eindringen, und dann — — womit wollt ihr sie bannen? Ich sagte auch, wie es mir diesen Morgen zu Muth gewesen, wie arm und öde mir ein Arbeitsleben erscheine, das nicht zugleich höheren Mächten diene, das nicht einen Raum für das Heilige und Schöne habe. Ein älterer Herr, der in meiner Nähe saß und ein gutes ehrliches Gesicht hatte, aber schrecklich spuckte, machte sichs besonders zur Aufgabe, meine Einwürfe zu beantworten. Aber sowohl seine Antworten, als auch die von einigen Andern bestärkten mich nur in meinem Eindruck über den nebelhaften Standpunkt, worauf ihre Intelligenz sich befand. Ich schwieg daher, nachdem ich meine Ansicht gesagt hatte. Aber ich und Mehrere andere hofften, daß Channing etwas sagen würde. Er that es jedoch nicht, sondern saß lauschend da, seinen schönen sprechenden Kopf, seinen denkenden Blick den Redenden zugewandt.
Bergfalk und ich wurden hierauf ersucht, mit einander schwedisch zu sprechen, damit man die wunderliche fremde Sprache hören könnte; wir setzten uns also mitten in der Versammlung einander gegenüber und plauderten schwedisch zur großen Erbauung unserer sehr aufmerksamen Zuhörer.
Hierauf mußte ich der Jugend wieder etwas vorspielen.
Tags darauf sollten wir um die Mittagszeit abreisen. Schon am Morgen nahmen ein halb Dutzend schöne junge Mädchen mich in ihre Mitte und führten mich aus einer Wohnung in die andere, um allen Großmüttern im Phalanstère und auf allen Klavieren, die sich da 6 oder 7 an der Zahl vorfanden, etwas vorzuspielen, bei welcher Gelegenheit die jungen Kinder von den Märschen, Polonaisen und Liedern, die ich ihnen zum Besten gab, so angeregt und ergriffen wurden, daß sie bald weinten, bald lachten. Notabene, die Musik ist im Phalanstère noch ein bloßes Wickelkind, und daraus kannst Du Dir die Wirkung meines Spieles erklären. Auch das ist wahr, daß die Kinder da ungewöhnlich lebhaft waren. Besonders die ganz kleinen waren allerliebst. Ein prächtiger Nachwuchs unter dieser Vereinsjugend und nicht die mindeste Blödigkeit vor Fremden! Man bemerkte den keimenden Bürgergeist. Aber ich wurde meiner Rolle als Bürgerin entsetzlich müde, und dankte dem Himmel, als ich aufhören durfte für das Phalanstère aufzuspielen, als ich alle Mädchen — es waren prächtige, warmherzige Dirnen — geküßt, Bürgern und Bürgerinnen die Hände geschüttelt hatte und nun das Phalanstère verlassen, mit meinen Freunden wieder ruhig auf das Dampfboot sitzen, und nach New-York zurückfahren durfte.
„Sie dankten sehr für seinen Segen
Und — blieben auf den alten Wegen.“
Es ging mir wie den Fischen des heiligen Antonius. Um kein Haar besser bekehrt. Denn obschon ich alles Interesse für mich selbst aufgeben müßte, wenn ich mich nicht in den größten, wie in den kleinsten Dingen meines Lebens in meinem Gebet, wie in meiner Arbeit innig mit den Interessen der Menschheit verknüpft glaubte, und mich nicht unter den Arbeitern im großen Phalanstère des Menschengeschlechts wüßte, so ist doch meine Natur einer solchen näheren Association im äußeren Leben gänzlich entgegen. Und lieber möchte ich in einem Kathen auf Schwedens kahlstem Grausteinberg ganz allein, bei Wasser und Brod (und Kartoffeln, die ich selbst kochen müßte), wohnen, als in einem Phalanstère im fettsten Erdreich und mitten unter Bürgern und Bürgerinnen, selbst wenn sie so hübsch und artig sind, wie diese da. Aber dieß gehört zu meiner Individualität. Ich kann nicht vollkommen leben, außer in der Einsamkeit. Indeß dürfte für die größere Menge von Menschen das Vereinsleben wohl das glücklichste und beste sein.
Der Verein in derjenigen Form, die er in diesem Phalanstère angenommen hat, ist offenbar auch ein Mittel Gerechtigkeit zu finden für manche Individuen, denen in dem großen gewöhnlichen Staat keine Gerechtigkeit wiederfahren würde. So zum Beispiel war jetzt da ein Mann, der gute Kenntnisse und feinere Bildung besaß, aber in Folge seiner schwachen Augen außer Stand gesetzt war, sich durch eine solche Arbeit zu ernähren, bei welcher das Gesicht sehr angestrengt werden muß. Er war arm und hatte keine nahe Angehörige. In der gewöhnlichen gesellschaftlichen Ordnung wäre er in Folge dessen entweder Versorgungsanstalten, und in ihnen einem Leben geistiger und leiblicher Dürftigkeit anheimgefallen, oder auch den gröbern Arbeitsklassen zugewiesen worden, die nur noch für ihren Körper leben. Als Mitglied des Phalanstère gab dieser Mann seine körperliche Arbeit 10 Stunden des Tags, und war dafür zu allen edleren Genüssen des feinern Lebens berechtigt, zum Umgang mit guten und gebildeten Menschen, zu einem guten Tisch in fröhlicher Gesellschaft, zu einer liebevollen Behandlung von allen Seiten und jeden Abend nach der Arbeit, wenn er will, zur Ruhe und Erfrischung in der Gesellschaft, in einem hellen, großen Zimmer bei angenehmen Damen, schönen Kindern, Musik, Büchern, Gelegenheit zum Gespräch über die höchsten Interessen des Lebens, die in so nahem Verhältniß zu den Interessen der Gesellschaft stehen. Im Grunde glaube ich, daß ich diese Anstalt zu lieben anfange, während ich von ihr schreibe, und wenn ich an ihr freundliches Benehmen gegen diesen Mann und gegen viele seines Gleichen denke. Ist es nicht etwas Schönes und Großes, wenn das höchste bürgerliche Leben der Gesellschaft auch den geringsten Menschen, der sich dessen nicht unwürdig macht, so aufnimmt, daß es ihn seines Lichtlebens theilhaftig macht, wenn er an seinem Arbeitsleben Theil nimmt? Aber dieß ist es just, was der christliche Socialismus beabsichtigt. Und wohl kann er im Bewußtsein dessen muthig den Spott und Hohn ertragen, welchen die große Gesellschaft noch oft auf ihn wirft, und sein Angesicht dem ewigen Lichte zugewandt, getrost sagen, wie Mr. A. (der Geistliche und Farmer) bei unserem Abschied zu mir sagte: Wir fühlen, daß wir hier auf keinen Menschen treten.
Aber meine Bedenklichkeiten gegen das Lose in dieser besondern Formation bleiben noch immer. Auf dem Dampfboot im stillen Gespräch mit meinen Freunden entwickelten wir die Fragen noch weiter. Ich wiederholte meine Einwürfe gegen dieses Gebäude ohne festen Grund. Channing hatte guten Glauben daran, denn er ist der Ansicht, daß die tieferen Gesetze des Denkens und Lebens sich nothwendig aus der Menschennatur entwickeln, wenn man es ihr überläßt, sich selbst zu prüfen und zu versuchen. Was ich verlange, sagte er, das wurde im Phalanstère noch kommen, und zwar auf einem neuen Wege und mit stärkerer Ueberzeugung kommen. Ich glaube wie Channing, daß es kommen muß, weil die Menschennatur diese Keime ewiger Ideen in sich trägt, und sie in allen Zeiten entwickelt hat. Alle geschichtliche Religionen und Philosophien, religiöse Vereine u. s. w. zeugen hiervon. Aber ich bleibe dabei, daß ich die Socialisten frage: warum nicht die bereits gethane Arbeit aufnehmen und fortsetzen? Warum nicht das Bewußtsein des Menschengeschlechtes, das allgemeine Bewußtsein von sich, von seinem Leben und seiner Bestimmung aufnehmen? warum sich bemühen eine bereits vollendete Arbeit noch einmal zu machen? Das heißt Zeit und Kräfte vergeuden, die besser angewandt werden könnten. Aber vielleicht ist hier etwas Neues, was ich noch nicht klar sehe, ein neues Anfangsprincip. Soviel ist mir indeß klar, daß die Andern es auch nicht recht klar sehen. Sie gehen tappend ihres Wegs. Möglicherweise werden sie von einem Instinkt geleitet, der hellsehend ist. Ich werde auf diese Anstalt und auf diese Zwecke zurückkommen.
Dieses Phalanstère ist für den Augenblick das einzige, das in den Vereinigten Staaten besteht. Es hat noch viele andere gegeben, aber sie sind alle gescheitert und untergegangen durch die Schwierigkeit, das Interesse der verschiedenen Mitglieder und ihr stetes Zusammenwirken für die Idee des allgemeinen Lebens der Anstalt rege zu halten. Die Enthusiasten haben arbeiten müssen, die dumpfen Geister haben von ihnen gelebt: die Ersteren haben Alles thun müssen, die letzteren thaten Nichts. Fouriers Theorie von der Anziehungskraft der Arbeit ist durch eine Menge fauler Naturen faktisch widerlegt worden. Die Freunde der Theorie behaupten zwar, sie sei nicht auf die volle Probe gesetzt worden, weil die Menschen noch nicht zu der Arbeit erzogen worden, die sie anziehe. Aber wir werden schon sehen.
Daheim in Rosenhütte, in dem stillliebenden Familienkreis ruht es sich lieblich nach der Expedition in’s Phalanstère. Auch hier bestehen meine schönsten Augenblicke im stillen Umgang mit den beiden Gatten, wenn wir miteinander sprechen und Amerikas Dichter zusammen lesen. Auch hier ist Lowell ein Günstling, und es ist ein Vergnügen Rebekka seine Gedichte lesen zu hören oder auch andere Gedichte, denn sie liest ausgezeichnet gut. Markus verläßt das Haus gewöhnlich unmittelbar nach dem Frühstück, aber während desselben nimmt er sich oft einen Augenblick, um uns etwas Bedeutungsvolles aus Zeitungen oder Büchern vorzulesen, meistens etwas, das gesellschaftliche Fragen und Verbesserungen betrifft. Er ist ungemein beschäftigt mit dem Unternehmen, ein Bad und Waschhaus im großen Styl zum Vortheil des armen Volks in New-York zu bauen, und eine Subscription dafür zu Stande zu bringen.
Jetzt muß ich Dir Einiges von H. W. Channing erzählen, denn er ist einer der besten Freunde des Hauses und hängt mit Springs sowie mit dem geistigen Leben des Landes auf eine eigenthümliche Weise zusammen. Er war vor einigen Jahren Prediger in einer unitarischen Gemeinde in Cincinnati; aber die Stube (die unitarische) wurde ihm zu eng, er konnte darin nicht frei an Seele und Herz athmen, und deßhalb entsagte er seinem Amt, das er nicht mehr mit gutem Gewissen verwalten zu können glaubte, obschon seine Gemeinde, die ihm sehr ergeben war, alles that, um ihn zum Bleiben zu bestimmen, und obschon er nicht wußte, wie er künftig sich, seine Frau und zwei Kinder versorgen sollte. Aber er dachte wohl wie der glaubenskräftige alte Patriarch, als er dem Ruf des Höchsten gehorchte: der Herr sorgt wohl für das Opfer. — Der liebe Gott that es durch seine Ausgesandten.
Markus S. und einige seiner Freunde versammelten sich und schrieben einen Brief an Channing, dessen Hauptinhalt war: Kommen Sie zu uns; seien Sie unser geistiger Lehrer und Leiter, aber in vollkommener Freiheit; folgen Sie Ihren Eingebungen; predigen, sprechen Sie, wann und wo es Ihnen gefällt; streuen Sie den Samen des ewigen Lebens aus, wie und wann Sie es für gut finden. Wir werden zusammen Ihr irdisches Auskommen zu sichern suchen. Leben Sie kummerlos und glücklich, wie und wo Sie wollen; lehren Sie uns bloß, wie wir leben und wirken sollen; unsere Häuser und unsere Herzen stehen Ihnen offen. — Channings Antwort auf dieses Anerbieten zeugt von dem edeln Sinn und Ernst seines Herzens. Er kam. Und seitdem hat er der an ihn ergangenen Einladung gemäß gelebt, indem er bald in den Gefängnissen, bald bei religiösen und socialen Festen und Vereinen, oder auch als Redner über sociale Fragen in New-York, Boston und andern Städten auftrat, wobei er seinen Eingebungen folgte, und durch seine geniale, schön begabte Natur Seelen erweckte und Herzen erwärmte, überall wo er auftrat, ein höheres Leben hervorrief, den Samen des ewigen Lebens ausstreute und allenthalben matte Flämmchen wieder anblies. Zu seinen Freunden kommt er wann er will, oft unerwartet, aber immer ersehnt und warm bewillkommt. Für H. W. Channing steht in ihrem Hause immer ein Zimmer bereit. Der gute Markus hegt eine solche Verehrung für ideelle Gaben und Thätigkeit, und besonders eine solche Anhänglichkeit an Channing, daß es ihm Freude macht, ihm selbst wie ein Diener zu dienen, seinen Mantelsack zu tragen, irgend eine gröbere Arbeit für ihn zu verrichten, und Rebekka und er gehen mit dem Gedanken um, in der Nähe der Phalanstère[WS 1] ein Haus für ihn zu bauen. Der Gedanke daran und an Channings Zufriedenheit machte Rebekka ganz glückselig. Ach, Agathe! unter solchen Menschen zu leben! — Es lohnt sich der Mühe über das Weltmeer zu kommen, bloß um sie kennen zu lernen.
Nächsten Sonntag wird Channing einen Vortrag in New-York halten und ich werde mit Springs hinfahren, um ihn zu hören. Ich befinde mich so wohl, hier in Brooklyn, in diesem Hause, bei diesen Ehegatten und den schönen Kindern. Hier ist es auch ruhig und schön. Ich kann allein und still umherwandeln, allein lange Ausflüge in die Gegend machen. Unter den Bäumen hier bemerke ich prächtige Hängeweiden, wahrhaft kolossale Bäume. Sie sind noch ganz grün. Die Trauben sind reif im Garten. Markus braucht blos die Hand über den Erker in den Garten hinauszustrecken, wo Weinreben eine Laube bilden, um die ganze Haud voll schöner Trauben zu bekommen, womit er uns dann bewirthet. Und ich spaziere oft in einem langen gewölbten Rebengang und pflücke und esse. Die Trauben sind hell, violett, klein, recht süß und angenehm, haben aber immer zu innerst einen kleinen, dicken Klumpen, der säuerlich und unreif ist. Das soll den Trauben hier zu Lande eigen sein. Die Veranda, die das Haus auf der Vorderseite schmückt, prangt jetzt mit den schönsten Chrysanthemen. Im Sommer sollen eine Menge Kolibri die Rosen- und die Gaisblatthecken umflattern.
Wieder eine Unterbrechung von mehreren Tagen! Mein liebes Kind, das Leben ist für mich wie ein rascher Strom und ich muß mit ihm fahren und zusehen, daß ich das Leben behalte. Nähere Beschreibung der Fahrt und ihrer Abentheuer muß ich aufschieben, bis wir uns wieder treffen. Jetzt kann ich Dir blos das Wesentlichste aufzeichnen. Letzten Sonntag Vormittag war ich mit meinen Freunden in der Kirche, einer schönen Kirche mit farbigen Glasfenstern, die ihr eine etwas düstere Beleuchtung geben. Man ist hier so bang vor dem Sonnenschein. Die Kirche war gut, aber der Prediger, ein Unitarier, von der dürftigsten Sorte. Abends fuhren wir nach New-York, um Channing zu hören. Es ist immer ein solches Gedränge und eine solche Rührigkeit auf der New-Yorker Seite des „East River,“ daß es mir zu Muthe ist, als müßte man für Leib und Leben kämpfen. Gleichwohl soll höchst selten ein Unglück vorkommen. Ich freute mich ungemein Channing[WS 2] hören zu dürfen, dessen ungewöhnliches Talent als Stegreifredner ich so sehr preisen hörte. Der Saal, wo der Vortrag gehalten werden sollte, mochte ungefähr 500 Personen fassen und war ganz voll. Er war wie ein Amphitheater gebaut in schmalem Halbkreis. Channing kam herein und begann damit, daß er sich in einem Gebet sammelte, obwohl stehend und gegen die Gemeinde gewandt. Sodann sprach er zu ihr, aber mit gesenkten Blicken und in einer abgerissenen, beinahe leblosen Art. Das Thema, das er die Versammlung mit ihm zu überlegen bat, war die Gemeinschaft der Heiligen; einige schöne Andeutungen kamen vor, aber das Ganze war so ohne tieferen Zusammenhang, ohne Entwicklung, und würde so ohne Leben und Wärme vorgetragen, daß ich mich höchlich verwunderte. Ist das, dachte ich, amerikanische Beredsamkeit? Ist das der geniale Redner, den ich so oft preisen hörte? Und diese gesenkten Blicke, diese Unbeweglichkeit, woher kommt das? Aber jetzt hörte ich Rebekka ihrem Manne zuflüstern: „Was ist doch an Channing? Sollte er unwohl sein? Er gleicht sich gar nicht.“ Das tröstete mich, denn ich vernahm, daß dieser Zustand bei Channing etwas Ungewöhnliches war. Er war sich wirklich nicht gleich. Der begeisterte Ausdruck, den ich so oft bei ihm gesehen hatte, war verschwunden. Ein paarmal hielt er an, und schien sich sammeln zu wollen, aber die Rede wollte dennoch keinen Fortgang nehmen. Es war peinlich dies anzusehen. Endlich schloß Channing seinen Vortrag. Und jetzt trat er mit einer feinen, beinahe hektischen Röthe auf seinen Wangen ein paar Schritte vor und sagte: Ich fühle das Bedürfniß mich vor der Gemeinde zu entschuldigen wegen der gänzlich unbefriedigenden Art, wie ich mein Thema ausgeführt habe, und die davon herrührt, daß ich diesen Abend einen gänzlichen Mangel an geistlichem Leben in mir selbst verspüre, dessen ich mir nicht bewußt war, als ich in den Saal trat.“
Die einfache und edle Aufrichtigkeit, mit welcher diese Erklärung abgegeben wurde, erfrischte mich gänzlich, und auch die Art, wie seine Freunde den verunglückten Abend aufnahmen. Man sah, daß sie dachten: Dieß ist etwas Unbedeutendes und Channing kann es ein andermal gut machen. No matter (macht nichts). Ein kleiner Kreis von Freunden schloß sich um Channing, während der größere Theil der Gemeinde still den Saal verließ. Später sagte er zu Markus und Rebekka, er könne sich die zauberähnliche Schwere nicht erklären, die diesen Abend seine Redefähigkeit gehemmt habe. Er sei ganz munter, vergnügt über den schönen, sternhellen Abend und voll Redelust aus seiner Wohnung am Hudson nach New-York gekommen. Aber als er in den Saal getreten, sei er wie gelähmt gewesen und habe die schwere, hemmende Kette, die er der magischen Einwirkung eines feindseligen Geistes zuzuschreiben geneigt sei, nicht abzuschütteln vermocht. Wenn ich indeß manchmal den Glanz in Channings Augen, die feine scharfe Röthe auf seinen Wangen sehe, so möchte ich fragen, ob nicht sein an exaltirten Augenblicken reifes Leben die feindselige Macht ist, die zu gleicher Zeit das Leben steigert und den Tod näher rückt. Der Prometheusgeist, welcher das Feuer vom Himmel raubt, muß noch mit Tagen der Gebundenheit und der Qual dafür büßen. Aber wer kann und wer will wohl den Vogel hindern, die Höhe zu suchen, wenn er sich auch dabei dem Schuß des Jägers aussetzt, oder dem Seidenwurm zu spinnen, wenn er auch sein eignes Grab spinnt? Aus den Fäden, die er gesponnen hat, webt dennoch das Menschengeschlecht seine Festkleider.
Am Montag führten mich meine guten Wirthsleute zu Miß Lynch, die in einem der stillen und fashionablen Quartiere New-Yorks wohnt, und ich nahm für kurze Zeit Abschied von diesen Gatten, die so reinen Herzens, so glücklich mit einander, so unendlich gut gegen mich sind. Aber zu ihnen werde ich zurückkommen, bei ihnen werde ich meine Hauptstation und meine Wohnung nehmen, so oft ich in diese Gegend zurückkehre; so lautete unsere Uebereinkunft, als sie mich verließen.
Am Dienstag war ich über Mittag bei Mrs. Kirkland, Verfasserin des guten und kurzweiligen Buches: „Eine neue Heimath im Westen,“ und Abends sah ich 60 bis 70 Personen aus ihrer Freundschaft. Unter ihnen befand sich ein sehr angenehmer Mann aus Wisconsin, der mich in sein Haus einlud und sich erbot, in diesem Theil des großen Westens meinen Cicerone zu machen. Mrs. Kirkland gehört zu den starken Weibern; sie besitzt viel Geistesgegenwart, aber auch viel Weiblichkeit, und Seele und Herz, warm als Mutter, Freundin und Bürgerin, von dem Schlag Menschen, der mir gefällt, eine Natur, zu der ich mich angezogen fühle. Ihr hübsches Lächeln und der Blitz in ihren braunen Augen, wenn sie ins Feuer kommt, verräth den Geist, der in dem Buch: „Eine neue Heimath“ lebt; aber Unglücksfälle und Widerwärtigkeiten scheinen später einen Schleier über dieses Leben geworfen zu haben. Am Donnerstag wurde ich in eine Frauenzimmer-Akademie, nach dem Namen des Gründers „Rutger-Institut“ genannt, eingeführt und sah da 450 junge Mädchen nebst vortrefflichen Anstalten zu ihrer Belehrung und Bildung. Ich hörte und las auch verschiedene prosaische sowohl als poetische Compositionen der jungen Mädchen, und ich mußte die Klarheit der Gedanken, die Vollendung der Sprache, überhaupt den wachen, schönen Sinn fürs Leben bewundern, den diese Erzeugnisse verriethen. Eigentliches Genie sah ich nicht darin, und ich verspreche mir auch nicht viel Gutes von der Oeffentlichkeit, die man solchen Jugendprodukten hier gibt. Ich fürchte, sie könnte Ehrgeiz erwecken und eine Neigung, großes Gewicht auf eine literarische Wirksamkeit zu legen, die viele jugendliche Gemüther bethört, während gleichwohl nur sehr Wenige von der Göttergabe des Genies emporgetragen werden, denn sie ist das Einzige, was sowohl die Literatur als ihre Pfleger zu etwas Tüchtigem emporhebt. Ich fürchte, daß man sie über einem Scheinleben die Schönheit des Lebens vergessen läßt, von welchem Byron in dem herrlichen Verse spricht:
„Viel sind der Dichter, doch ohne den Namen.“
Ich habe mir auch die Freiheit genommen, dieß in einem kleinen Vorwort auszusprechen, das man mich zu einigen dieser für die Oeffentlichkeit bestimmten Compositionen zu schreiben bat.
Und in allen Fällen gelten für alle Schriftsteller die göthischen Worte im Faust:
„Erst müßt Ihr leben und dann könnt Ihr schreiben.“
Diese jungen Mädchen können noch kaum genug gelebt, gefühlt und gedacht haben, um aus eigener Erfahrung, eigenem Glauben und eigener Ueberzeugung zu schreiben. Sie schreiben wie man singt, nach dem Gehör. Gut, vortrefflich ist es, seine Gedanken sich bald klar machen, sich gut und klar aussprechen zu lernen. Und dazu sind diese schriftstellerischen Proben gut. Aber die Oeffentlichkeit, der Druck, das Ausposaunen, das Belohnen u. s. w. ist das auch gut für solche Kinder, für irgend Jemanden oder irgend Etwas?
Da wo wirklich wahres Genie sich findet, da bricht es sich seiner Zeit sicherlich Bahn zu Lorbeeren.
„Denn es ist ein Gott,
Weiß seinen eigenen Weg
Und die Wege aus den Wolken.“
Nach dem Besuche im Institut und einem Frühstück bei der Familie, deren Namen es führt und welche den reichen und fashionablen in der Stadt anzugehören scheint, war ich zu Mittag bei Norries, die einmal, wie Du Dich wohl erinnerst, in Arsta bei uns waren und die mir jetzt auch freundlich ihre Wohnung anboten. Sie wollten mich auch auf den Abend in die Oper führen, aber Miß Lynch hatte große Gesellschaft, der ich und die mir vorgestellt werden sollte, und so fuhr ich zu ihr nach Hause, um bis gegen Mitternacht unter einer großen Menge von Leuten den Papagei zu spielen. Diese Vorstellungen sind gar zu ermüdend, denn wohl hundertmal mußte ich dieselben Fragen beantworten, die größtentheils bedeutungslos und trivial sind, wie man sie etwa an einen Papagei stellen kann, über dessen Antwort man zum Voraus gewiß ist. Z. B. Haben Sie eine gute Reise gehabt von England her? — Wie gefällt es Ihnen in New-York? — Wie gefällt es Ihnen in Amerika? — Wie lange sind Sie schon hier? — Wie lange gedenken Sie zu bleiben? — Wohin reisen Sie von hier aus? u. s. w. Allerdings kam mir auch viele wirkliche Herzlichkeit und Seelengüte entgegen, und ich kann mich über das Gefühl, das Viele leitet, nicht täuschen; — aber der Menschen sind gar zu Viele. Es ist ein wahrer Wirbel von Präsentationen und Gesprächs-Brocken, die zu nichts anderem dienen, als die Seele leer und den Körper müde zu machen. Ein gutes ernstes Gespräch mit einem ernsten Menschen wäre eine Erfrischung. Aber kaum konnte ein solches begonnen werden, so mußte ich den Kopf wenden und wieder antworten auf: Hatten Sie eine gute Fahrt, oder — wie finden Sie New-York? oder — wie gefällt Ihnen Amerika?
„Solche Feste sind unser Ruin.“ Und dazwischenhinein werde ich von Besuchen, Briefen und Billeten, Einladungen und Autographen in Anspruch genommen, so daß ich keine Zeit für mich selbst habe. Diesen Morgen hatte ich einen köstlichen Besuch von einer artigen Doctorin, d. h. einer Dame, welche die Medicin ausübt, einer Miß H. Hunt „female physician“ (Aerztin), wie sie sich nennt, aus Boston, die mich in ihr Haus einlud, fest behauptete, ich müsse kommen, mich nicht loslassen wollte, bevor ich es verspräche, und dabei so voll von überfließendem Leben und so unwiderstehlich lustig war, daß wir, sie, ich und die ganze Gesellschaft einmal ums andre in lautes Lachen ausbrachen. Dabei lag in ihrem Aeußerungen so viel Gutes und wahrhaft Kluges, und ich fand bei der eifrigen kleinen Person so viel Herz, daß ich sie liebgewinnen und ihr das verlangte Versprechen geben mußte. Bei ihr war ein Frauenzimmer, das ebenso still war, als sie beweglich, ein weiblicher Professor der Phrenologie, den ich stark im Verdacht hatte, daß er es auf meinen Kopf absehe. Aber mein armer Kopf hat jetzt genug zu thun, um sich in den Wirbeln des Gesellchaftslebens aufrecht zu erhalten. Den Vormittag habe ich mit Mrs. Kirkland auf Besuchen zugebracht und um 6 Uhr werde ich bei dem Consul Habicht zu Mittag essen, unserem schwedischen Consul in New-York, der sehr gefällig und sehr artig ist, aber — entsetzlich spät zu Mittag ißt. Morgen werde ich von einer furchtbar lebhaften Mrs. Laurence nach ihrem Landsitz, den Hudson hinauf entführt und dann am Samstag wieder nach Hause gebracht, um bei Miß Lynch eine Menge Leute zu sehen. Und so sind die ganze Zeit über meine Tage in Anspruch genommen.
Ich habe jetzt vor dem Gottesdienst ein Stündchen, um mit Dir zu plaudern. Du mußt wissen, es ist wirklich merkwürdig, wie ich mich den ganzen Tag mit Leuten und Sachen abmühen kann. Ich beginne Achtung vor mir selbst zu bekommen. Aber man muß wirklich stark sein als Fremdling und Gast hier zu Lande.
Vorgestern holte Mrs. L. (eine gute Vertreterin des überwallenden Jugendlebens bei den Bewohnern der neuen Welt) mich und Miß Lynch nach ihrer Villa am Hudson ab. Aber zuerst zu einem Morgenbesuch bei einer reichen Frau, die Morgen-reception hatte, sodann zu einer 80jährigen Quäckerin, der schönsten Matrone, die ich je gesehen habe, einer Dame, die mir in den feinen weißen Quäckerkleidern und ihrem Flor wie ein leibhaftiger Festtag erschien. Ich zeichnete ihren Kopf in mein Album zum großen Vergnügen der Mrs. L., welche die Leute bat, zu kommen und mein Kunstwerk anzusehen, bald auch wieder mich anzusehen, während ich selbst es betrachtete, hierauf fuhren wir in ein großes Irrenhaus, genannt Bloomingdale, und hier war ich entzückt über die in allen Stücken sich kundgebende liebevolle Sorgfalt um die Narren; eine Sorgfalt, in Folge deren diese unglücklichen Geschöpfe der Erde wie die besten Kinder des Hauses behandelt werden. Man hörte aus mehreren Zimmern Musik, denn es gibt eine Menge Klaviere in der Anstalt und die Geisteskranken scheinen an der Musik ganz besondere Freude zu haben; außer dem Haus pflegten sie Blumen und beschäftigten sich mit Pflanzungen in den Gärten, im Haus machten die Frauenzimmer künstliche Blumen. Es war auch ein Museum mit Mineralien, Schnecken, ausgestopften Vögeln und andern Thieren da, überdieß eine Bibliothek und andere Dinge, sämmtlich berechnet, das Interesse der Geisteskranken zu wecken, und sie von ihrer kranken Selbstanschauung zur Anschauung schöner Gegenstände und Beschäftigung mit ihnen zu lenken. Der Park um das Haus war groß und schön, und in den vielen Gängen konnten die Patienten ungestört umherwandeln, die Schönheit des Landes genießen und unter den Bäumen ausruhen. An Blumen war ein wahrer Luxus vorhanden, und überall stieß man auf angenehme Gegenstände, außer natürlich in den armen Narren selbst. Und gleichwohl auch in ihnen, denn man sieht in ihnen Gegenstände großer Barmherzigkeit, welche die schönsten Früchte trägt. Denn diese überall in den Vereinigten Staaten eingeführte Behandlungsmethode der Geisteskranken wirkt so wohlthätig, daß ihre Heilung zur Regel, ihre Unheilbarkeit zur Ausnahme gehört, wenn sie nämlich gleich zu Anfang der Krankheit in diese vortrefflichen Anstalten gebracht werden. Vom Irrenhause weg setzten wir unsere Fahrt auf das Land fort.
Auf dem Weg sprang unsere Wirthin häufig ganz lestement aus dem Wagen, bald um einen Korb mit Kuchen, bald um etwas anderes für ihre Haushaltung zu holen, bald um für mich und für Miß Lynch Blumensträuße zu kaufen. Endlich kamen wir bei der schönen[WS 3] Villa Forest Hill am Hudson an, wo wir einen großen Familienkreis versammelt fanden, und wo Mr. L., ein würdiger alter Gentleman und Quäcker, eben so still als seine Frau an Leib und Seele beweglich ist, uns zum Mittagessen erwartete, einem tüchtigen und delikaten Mahle, wie noch alle, denen ich hier zu Lande angewohnt habe. Abends hatten wir eine Gesellschaft von ungefähr 60 Personen. Sie war angenehmer als ich glaubte, und ermüdete mich weniger. Aber ach, was diese Amerikaner und besonders diese Amerikanerinnen fragen und fragen können! Meine heitere Wirthin (sie gleicht Amalie A., hat aber noch mehr Lebensgeister) erfrischte und belustigte mich wahrhaftig. Sie war so voll von ungekünsteltem, frischem Leben, so z. B. sang sie und zwar recht hübsch, aber in dem Lied kam eine Stelle vor, die ihr offenbar zu hoch war; als diese Stelle das nächstemal wieder kam, hielt sie plötzlich ein, just als wollten die Töne in ihrem Hals stecken bleiben, stand auf und verließ das Klavier so unbekümmert, als hätte sie für sich allein gesungen, und begann mit einigen Personen in der Gesellschaft zu schwatzen und zu lachen. So etwas ist artig und muntert alle Welt auf. Mr. L. ist ein schöner, alter Herr, der mir sehr gefiel. Er ist der zweite Gatte seiner Frau und diesem Familienleben liegt eine romantische Liebesgeschichte zu Grund, so schön und edel, wie man sie in Romanen nicht oft findet.
Ich schlief gut und erwachte daran, daß ich einen starken, hellrothen Schein durch die Jalousien eindringen sah. Ich dachte an Feuersgefahr und stand auf. Aber es war die Morgenröthe, die mit hellrothen Flammen den Himmel, die grünen Höhen, den spiegelglatten Fluß und die Segel, welche ruhig schliefen und sich gleichsam von ihr wecken ließen, beleuchtete. Es war bezaubernd schön. Ich wurde bei dem herrlichen Schauspiel wach an Seele[WS 4] und Gemüth. Diese Aurora, die alle Dinge, lebendige und todte, küßt und verklärt! … Für solche Erscheinungen und Scenen taugen bloß König Davids Lobgesänge: „Singet dem Herrn ein neues Lied, singet dem Herrn alle Welt.“
Die schöne Morgenstunde verging und ich ging zum Frühstück hinab. So begann des Tages Plage mit Gesellschaft in und außer dem Hause und mit den ewigen Fragen, die mir keinen ruhigen Augenblick ließen und jedes aufkeimende Gefühl des Vergnügens über die schöne Landschaft zerstörten. Einige hübsche junge Mädchen brachten mich ganz besonders zur Verzweiflung durch ihr: Miß B., haben Sie den Telegraphen da gesehen, da über dem Fluß? — Miß B., sehen Sie die Eisenbahnwagen da unten? und: Miß B., sehen Sie das hübsche Laubwerk an den Ufern? und Miß B., haben Sie so etwas auch in Schweden? — Solche Fragen zwei oder dreimal anzuhören und zu beantworten ist schon viel; aber wenn sie 6—7mal wiederholt werden und man kein Ende absieht! … Ganz unglücklich sagte ich zuletzt zu Mrs. L.: ich könnte Morgens nicht in Gesellschaften gehen, sondern müsse in dieser Zeit ein wenig allein sein; und sie nahm dieß gut und freundlich auf und sagte es den jungen Mädchen, die es auch artig hinnahmen und mich in Ruhe ließen. Aber ich fürchte, daß die jungen Leutchen hier mit der Natur auf eine Art leben, wie man nicht sollte, und daß sie über Eisenbahnwagen und glitzernden äußern Dingen vergessen, eine Lehrerin und Freundin in ihr zu sehen. Sie würden sonst weniger schwatzen und mehr hören, oder auch etwas mehr Ueberlegung haben. Aber es ist nicht ihre Schuld.
Vormittags wurde ich nebst dem Geschichtsschreiber Bancroft und Anna Lynch von meiner Wirthin im Wagen umhergeführt, um bei verschiedenen Nachbarn Besuche zu machen. Ich sah in ihren schönen Villen eine Menge ausgesuchten Comfort und schönen Luxus, auch an Gemälden und Statuen. An einem Ort aber stieß ich auf eine schreckliche Löwenjägerin, die uns mit Geschwatze, Albums, Bitten um Autographen, Subscriptionen u. s. w. plagte, und uns bis in den Wagen, wohin wir uns flüchteten, verfolgte, indem sie Mr. Bancroft nachrief, er solle ihr doch sagen, wo er wohne. Fahr’ zu, fahr’ zu! riefen wir lachend, und fuhren in aller Hast an die sogenannte „high bridge,“ einer gigantisch hohe Brücke über den Harlem, wo wir ein herrliches Naturschauspiel sahen. Ja, reich und schön erscheint mir die Natur hier. Wer sie nur mit einiger Ruhe und Üeberlegung betrachten dürfte! Aber hier in der Umgegend von New-York wird man jeden Augenblick gezwungen, den Kopf oder die Aufmerksamkeit dem Acquadukt zuzuwenden, der das Wasser von dem Crotonfluß nach New-York leitet, einer großartigen, vortrefflichen Einrichtung, unschätzbar für die große Stadt, für mich aber oft sehr lästig. Doch jetzt weiter auf unsern Weg! Auf der ganzen Fahrt schwatzte, lachte und scherzte unsere Wirthin mit unversiegbarer Lustigkeit. Der Wagen hüpfte auf schlechten Wegen wie ein springendes Kalb über Stock und Stein. Ich saß vor lauter Müdigkeit still und geduldig da. So fuhren wir am Land und Ufer herum; so endlich zurück, um zu Mittag zu essen, Gesellschaft zu sehen, Autographen zu schreiben u. s. w. So im Galopp nach New-York, wohin Downings kommen sollten, um mich zu begrüßen, und wo wir in großer Abendgesellschaft bei Miß Lynch zusammensein sollten. Downings waren bereits im Salon der jungen Dichterin, als ich kam. Und ich war so froh, sie zu treffen und mich in voller Freiheit ein wenig vor ihnen ausgießen zu dürfen, daß ich mich auf einmal ganz ausgeruht fühlte. Und wenn Du mich ein paar Secunden später in einer Gesellschaft von 100 Personen gesehen hättest, so hättest Du nicht ahnen können, daß ich ein Paar Stunden vorher müde und erschöpft gewesen war. Das Vergnügen, Downings zu sehen, belebte mich, nebst verschiedenen schönen, ansprechenden Freundschaftsbeweisen. Mr. Downing war diesen Abend so hübsch, daß er durch sein ungewöhnlich „distinguirtes“ Aussehen allgemeine Aufmerksamkeit erregte, als er unter der Menge umherwandelte mit seinem verschlossenen Wesen, seinem tiefen, sprechenden Auge, seinem halb schüchternen, halb stolzen Ausdruck.
Die Gesellschaft bei Miß L. war an diesem Abend ausgezeichnet schön. Ich sah einige prächtige Toiletten und prächtige Gestalten unter den Frauenzimmern. Die Männer sind im allgemeinen nicht schön, aber sie sehen mannhaft aus, haben gute Stirnen, klare Augen, ein rasches und bestimmtes Wesen. Die Wirthin selbst war in ihrer eleganten, aber bescheidenen weißen Toilette, die für ihre schlanke, wohlgeformte Figur vortrefflich paßte, und mit einer weißen Blume in ihrem Haar, die den ungekünstelt zierlichen kranzlosen Kopf schmückte, eine der anmuthigsten Gestalten der Gesellschaft, unter der sie leicht wie ein Sommervogel hin und herschwebte, die Leute einander vorstellte und sich ins Gespräch mischte auf eine Art, die immer Vergnügen erweckte, mit jenen glücklichen Worten und Ausdrücken, welche man nie findet, wenn man sie noch so sehr sucht, die aber gewissen Menschen ganz ungesucht zu Gebote stehen, und zu diesen gehört Anna Lynch.
Ich zeichnete mich eigentlich als Blumenmädchen aus. Ich hatte nämlich an diesem Tag eine solche Menge Blumen erhalten, daß ich jedem der Frauenzimmer in der Gesellschaft einen kleinen Strauß schenken konnte. Diese Blumenaustheilung machte mir viel Freude, denn sie verschaffte mir Gelegenheit, vielen eine kleine Freundlichkeit zu erzeigen. Und ein solches kleines Geschenk oder ein freundlicher Blick ist beinahe das Einzige, was ich für all die Freundlichkeit, die ich empfange, geben kann.
Unter den Gästen des Abends bleibt mir besonders eine anmuthsvolle Mrs. Osgood (eine der besten Dichterinnen in den nördlichen Staaten) in Erinnerung wegen ihrer schönen, sprechenden Augen, ihrer seelenvollen Art zu reden und zu sein, und weil sie mir ihren Fächer gab, damit, wie sie sagte, ihr Fan (Fächer) mich an Fanny erinnern sollte. Alle Frauenzimmer hier tragen Fächer und fächeln und manövriren gewaltig damit; aber ich hatte mir noch keinen angeschafft. Weiter erinnere ich mich besonders noch eines Mannes mit prächtigen Augen und offenem herzlichen Wesen, mit dem ich gerne noch mehr gesprochen hätte, denn es war offenbar Genie und Herz bei ihm zu finden. Er ist einer der berühmtesten Prediger der bischöflichen Kirche von New-York und heißt Hawk. Dieß war mein angenehmster Gesellschafts-Abend in New-York.
Jetzt bin ich mit Mrs. Kirkland in der Kirche gewesen und habe einige der besten Predigten gehört, die mir in meinem Leben vorgekommen sind; keine schwermüthige, sektirerische Anschauung von der Religion und dem Leben, sondern eine solche, in welcher die Kirche — eine wahre Domkirche — sich über dem Leben wölbt wie des Himmels Dom sich über der Erde und allen ihren Wesen wölbt, eine großsinnige Predigt, so recht passend für die neue Welt, diese große und neue Heimath für alle Geschlechter der Welt. Bergfalk befand sich ebenfalls unter den Zuhörern und war wie ich ergriffen von der Predigt und dem Prediger Mr. Bellows. Jetzt werde ich mit meinen Freunden Downings im Astorhaus zu Mittag essen und sodann den Abend bei einer Familie Sedgewick zubringen.
Morgen bin ich bei einem großen Mittagessen, dann Abends in der Oper u. s. w.
Gibt es in der Welt etwas mühseligeres, langweiligeres, betrübteres, unerträglicheres, abscheulicheres, vermesseneres, leckerhafteres, unausstehlicheres, etwas das mehr geeignet wäre Seele und Leib zu tödten, als ein großes Diner in New-York? Ich meinestheils glaube es nicht. Man setzt sich um halb 6 oder 6 zu Tisch, sitzt bis 9 Uhr am Tisch, sitzt da und läßt sich eine Platte um die andere, einen Leckerbissen um den andern serviren, ißt und — schweigt. Ich habe nie eine solche Schweigsamkeit gehört, wie bei diesen Mittagsschmäusen. Um nicht geradezu einzuschlafen, mußte ich essen, essen ohne hungrig zu sein, und Gerichte, die mir nicht taugen. Und dabei empfinde ich Regungen von Ungeduld und Zorn über diese Art, die Zeit und die guten Gottesgaben zu vergeuden und sich dabei so unmenschlich zu langweilen, so daß ich mich hätte entschließen können, Schüsseln und Teller zu Boden zu werfen und die Gastfreundschaft mit einer Strafpredigt zu bezahlen, wenn ich Kraft genug dazu gehabt hätte. Aber ich schweige und leide, bin verdrießlich und schimpfe in der Stille. Dieß ist freilich just nicht ganz schön, aber ich kann nicht helfen. Gestern war ich bei einem solchen Mittagessen — einem entsetzlichen Schmause. Zwei ältere Herren, Advokaten, die mir gegenübersaßen, schlummerten ein wenig, wenn sie nicht gerade den Mund öffneten, um die Leckerbissen einzuheimsen, welche ihnen geboten wurden. Bei unsern Bauernhochzeiten, wo man auch 3 Stunden am Tische sitzt, hat man doch Toaste, Geschenke für Braut und Bräutigam und einen Musikanten, der bei jedem neuen Gericht aufspielt; aber hier hat man gar nichts als die Speisen. Und die lebhaften Mahlzeiten in Dänemark! Ich müßte an sie denken mit ihren wenigen aber guten Gerichten und lebhaften, frohen Gästen, die nur mitunter gar zu laut wurden in ihrem Eifer zu sprechen und sich Gehör zu schaffen, mit den muntern Einfällen, Scherzen, Geschichtchen, Toasten, Reden, dem fröhlichen, freien, frischen Sichgehenlassen, welches das dänische Gesellschaftsleben auszeichnet; bei den Gastmählern dort, da gab es ächten Champagner, Champagner für Seele und Leib; es waren die letzten, denen ich in Europa anwohnte, ehe ich hieher kam. Aber diese Schmausereien hier gehören ganz entschieden der Hölle an, wie Heiberg in „einer Seele nach dem Tode“ spricht, und sie fallen in die Rubrik des Leidigen. Dieser Tage indeß war mir einmal bei einem großen Mittagessen das Glück hold und setzte mir den interessanten Doctor Hawk an die Seite, der mir mit seiner schönen Stimme und seiner klaren, gemüthlichen Weise seine Ansichten über die Antiquitäten im Centralamerika und seine Hypothesen über Amerikas frühere Verbindung mit Asien entwickelte. Es war sehr interessant ihn anzuhören und es wäre mir sehr angenehm, diesen Mann, dessen Natur und ganzes Wesen mich gewaltig anmuthet, noch mehr zu sehen und zu sprechen. Er gehört auch zu denjenigen, die mir hier Haus und Wohnung angeboten haben, deren Anerbieten ich aber ablehnen mußte, und hier fühle ich, daß es eine Entsagung und ein Verlust ist. Als er mich vom Tisch wegführte, machte ich ihm den Vorschlag, gegen dergleichen Schmausereien zu predigen. Aber er schüttelte den Kopf und sagte lächelnd: „Nicht gegen Schmausereien, Miß B.!“ Die Herren, auch die besten, haben ganz entschieden eine zu große Freude am essen.
Als ich bei Nacht mit Anna Lynch nach Hause ging, war die Luft ganz lieblich und der Spaziergang in dieser Nachtluft und auf den stillen Straßen (die Trottoirs hier sind breit und eben wie der Golf) war mir höchst angenehm. Der Sternhimmel — Gottes Stadt — stand mit seinen Straßen und Gruppen von leuchtenden Wohnungen in stiller Größe und Schweigsamkeit über uns. Und hier in der stillen sternenhellen Nacht öffnete Anna Lynch ihre Seele vor mir und ich sah einen tiefen, ernsten Grund mit klaren Sternen darauf, wie ich es kaum erwartet hatte bei diesem fröhlichen Wesen, das schmetterlingartig im Gesellschaftsleben wie in seinem rechten Element herumschwebt. Ich hatte sie immer äußerst angenehm gefunden, ich hatte sie darum bewundert, wie sie ohne Vermögen lediglich durch ihr Talent und ihre persönliche Wirksamkeit sich und einer alten ehrwürdigen Mutter eine unabhängige Existenz verschaffen und dabei der Mittelpunkt der ästhetischen und gebildetsten Gesellschaft New-Yorks werden konnte, die jede Woche ihren Salon besucht; ich hatte sie auch um ihren harmlosen Witz, um ihre kindliche Fröhlichkeit und gute Laune bewundert und in ihren Augen hatte ich einen gewissen Ausdruck gefunden, gleich als suchte sie mitten unter ihrem zerstreuten Weltleben etwas „weit, weit weg im Walde;“ mit einem Wort, ich hatte sie lieb gewonnen und ein höheres Interesse geahnt — jetzt ist sie mir wahrhaft theuer. Sie gehört zu den Paradiesvögeln, die über die Erde hinfliegen, ohne ihre Schwingen im Staub derselben zu beschmutzen. Anna Lynch mit ihrer Individualität und ihrer Stellung in der Gesellschaft ist eine der eigenthümlichen Gestalten der neuen Welt.
Abend- und Nachtgesellschaften, die ich hier gesehen habe, sind mit den schönsten dieser Art, wie ich sie in Schweden und Dänemark sah, nicht zu vergleichen. Es ist hier nicht Raum, nicht Licht genug, es sind nicht Blumen genug da. Vor allen Dingen vermisse ich ein Costüm, einen Charakter in der Tracht. Die Frauenzimmer sind schön, sie kleiden sich gut und geschmackvoll, aber einander zu gleich. Die Herren sind alle gleich in der Tracht. Dieß kann hier nicht anders sein. Es ist im Grunde recht und gut, aber es macht keinen pittoresken Effect. Auch scheinen mir die geistigen Individualitäten nicht stark genug ausgeprägt, um das äußere Gepräge zu ersetzen. Aber dazu muß es wohl einmal kommen.
In der Oper sah ich eines Abends einen großen, schönen Saal, zierliche Toiletten in den Logen und auf der Bühne als Desdemona eine Prima-Donna, gegen die ich just nichts hatte, außer daß sie einen so garstigen Othello lieben konnte. Musik, Aufführung, Gesang und Scenerie, alles ziemlich gut außer Othello, nichts sehr gut. Man hätte sagen mögen: ce n’est pas ça. Nichts, was denken ließ: c’est ça! wie ein Ton, ein Blick, eine Geberde von Jenny Lind.
Letzten Sonntag Abend wurde in demselben Saal, wo ich das letztemal Channing hörte, ein Vortrag über christlichen Socialismus gehalten von einem Mr. Henry James, einem reichen und wie man sagt braven Manne. Seine Lehre war diejenige, welche kein Recht anerkennt, außer das der unwillkürlichen Anziehung, keine Größe, als die Größe der Kraft, keine Verpflichtung, als den Schönheitscultus des Künstlers, keinen Gott, als das Ueberall und Nirgends des Pantheismus, — eine Lehre, über die es uns auch in Schweden nicht an Predigern gefehlt hat. Nach der Rede, die mit hinreißender Lebendigkeit und blitzendem Witz aus dem Stegreif vorgetragen wurbe, erhob sich Channing und sagte: wenn die soeben ausgesprochene Lehre christlicher Socialismus sei, so wolle er sie nicht anerkennen; der Gegenstand müsse von Grund aus untersucht werden; nach seiner Ansicht befinde sich der Redner im Irrthum und nächsten Sonntag wolle er die Frage hier aufnehmen, um die Irrigkeit der aufgestellten Grundsätze darzuthun.
Die Sache hat Aufsehen erweckt, denn beide Redner sind Mitarbeiter eines Journals, das der Geist des Jahrhunderts heißt, und beide sind Männer von ausgezeichneten Talenten. Ich bin froh darüber, denn ich bekomme auf diese Art noch einmal Gelegenheit Channing zu hören, bevor ich New-York verlasse, und zwar in einem der interessanteren Gegenstände des Tags.
Den nächsten Brief wirst Du aus Neuengland von mir erhalten. Kommenden Montag reise ich mit Springs dahin ab, um das Dankfest zu feiern. Das Haus des geistreichen edeln Dichters Lowell wird eines der ersten sein, wo ich nach dieser Reise und den Festen ausruhen werde. Ich erhielt von ihm und seiner Frau eine Einladung, als ich noch bei Downings war. Aber dann kann ich kaum noch etwas Andres thun, als von Haus zu Haus fahren. Interessant aber mühsam. Denn man muß immer vollgeladen sein, wenn auch nicht just mit Geist, doch wenigstens mit guter Laune und Kraft, sich in der Gesellschaft angenehm zu zeigen, während man oft so müde und widerwärtig ist, daß man zu nichts anderem taugt, als in einer Ecke zu sitzen und zu schweigen oder zu schlafen. Aber Gott sei Dank gesagt für alles Gute und Erfreuliche! Und um wie viel fröhlicher würde ich nicht dieses Festleben und diese anregenden Eindrücke finden, wenn ich nur wüßte, daß Du, meine gute Agathe, auch fröhlich und ein Bischen munter wärest. Viel können wir in dieser Jahreszeit just nicht verlangen. Ich küsse Mama die Hand, danke für den lieben Brief und umarme Dich über das Weltmeer hinüber.
Anmerkungen (Wikisource)
← Vierter Brief | Die Heimath in der neuen Welt. Erster Band von Fredrika Bremer |
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