Die Heimath in der neuen Welt/Erster Band/Vierter Brief

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Dritter Brief Die Heimath in der neuen Welt. Erster Band
von Fredrika Bremer
Fünfter Brief
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Textdaten
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Autor: Fredrika Bremer
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Titel: Die Heimath in der neuen Welt, Erster Band
Untertitel: Vierter Brief
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Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum: 1854
Erscheinungsdatum: Vorlage:none
Verlag: Franckh
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Erscheinungsort: Stuttgart
Übersetzer: Gottlob Fink
Originaltitel: Hemmen i den nya verlden. Första delen.
Originalsubtitel: Fjerde brefvet
Originalherkunft: Schweden
Quelle: Scans auf Commons
Kurzbeschreibung: Erinnerungen über Reisen in den USA und Cuba
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Vierter Brief.
Brooklyn d. 5. Novbr. 1849. 

Wieder in New-York, oder vielmehr in derjenigen Hälfte der großen Stadt, die Brooklyn heißt, von New-York durch den sogenannten East river getrennt ist und für sich selbst eine Stadt sein will, wozu sie auch durch ihre eigenthümliche Beschaffenheit berechtigt ist. Brooklyn ist ebenso still, wie New-York voll von geschäftigem Getöse ist; Brooklyn liegt auf den Höhen Long-Islands, hat herrliche Aussichten über den weiten Hafen und stille breite Straßen, auf beiden Seiten mit Ailantusbäumen bepflanzt, einer chinesischen Baumart, ich glaube aus der Akazienfamilie; ihr Laub gleicht dem unserer Eschen, nur daß ihre Blätter weit breiter sind, und jetzt tragen sie lange Bohnen. Auch andere Baumarten mit höheren Stämmen als der Ailantus verleihen den Straßen Schatten und ein friedlich ländliches Aussehen. Man sagt, der Handel New-Yorks komme nach Brooklyn (wo er Haus und Hof hat) herüber, um zu schlafen. Der Freund, bei dem ich hier wohne, Marcus Sprinz, hat sein Handelshaus in New-York und seine eigentliche Wohnung hier in Brooklyn; ein allerliebstes ländliches Haus mit Namen Rosenhütte, das er selbst gebaut, und mit Bäumen, Weinlauben, Mais und andern Gartengewächsen umpflanzt hat, eine Anlage halb Park und halb Baumgarten. Von da fährt er jeden Morgen nach New-York, und hieher kommt er jeden Abend zurück, aber nicht blos um zu schlafen, sondern um auszuruhen und sich mit seiner Frau, seinen Kindern und seinen Freunden zu erfreuen. Rosenhütte liegt just an der Auszackung der Stadt, aber Du darfst nicht glauben, daß dies eine kleine Stadt sei, sondern eine Stadt, die 100,000 Einwohner, ein eigenes, recht stattliches Rathhaus und 100 Kirchen hat. — Und das Land mit waldigen Höhen und grünen Feldern sieht man von hier aus auf drei Seiten. Aber auf mehreren Seiten stehen auch neue Häuser und drohen bald dem Land Eintrag zu thun. Inzwischen wird das immer noch einige Jahre anstehen, bis Rosenhütte in die Stadt kommt. Ich werde jetzt eine kurze Zeit hier verweilen, bevor ich nach Boston und Massachussetts fahre.

Ich habe Dir viel, viel zu erzählen; aber ach, die Zeit will mir nicht Zeit und Ruhe dazu geben, und ich muß Dir hier mein Leben mehr im Zusammenhang schildern, als ich in Dänemark that. Meine Eindrücke vom Leben sind hier auch größer, massiver, blockartiger möchte ich sagen; ich kann sie noch nicht bemeistern und handhaben, ich habe keine Worte für sie. Ich ahne die Gestalten im Block, aber es kostet Zeit und Arbeit, um sie hervorzurufen.

So viel indeß ist gewiß; die Wirkung meiner amerikanischen Reise auf mich selbst hat bereits die bestimmteste Wendung genommen, und diese ist von ganz anderer Natur, als ich erwartet hatte. Ich kam hieher, um eine neue und frischere Lebensluft einzuathmen, und das Volksleben, Institutionen und Verhältnisse in einem neuen Staat zu betrachten, um über gewisse Fragen in der Entwicklung der Staaten und Völker klarer zu werden, und besonders, um die Frauen und das Hauswesen in der neuen Welt ins Auge zu fassen und von der Schwelle des Hauses her eine Aussicht auf die Zukunft der Menschheit zu erhalten. Denn wie der Fluß aus den Quellen des Himmels geboren wird, so wird das Leben und Schicksal der Völker aus dem verborgenen Leben des Hauses geboren. Ich kam mit einem Wort, um mich mit allgemeinen Angelegenheiten zu beschäftigen, und nun sind es Privatdinge, nun sind es Individuen, die mein Interesse, meine Gefühle, meine Gedanken am meisten fesseln. Ich kam mit einer geheimen Absicht, mich vom Roman und seinen Stoffen loszumachen und mit meinen Gedanken für andere Gegenstände zu leben, und nun werde ich stärker als je in die ersteren hineingezogen, werde unwillkürlich durch Gedanken und Gefühle gezwungen, Gestalten, Auftritte und Verhältnisse, die sich schon vor zwanzig Jahren in dunkeln Schatten im Hintergrunde meiner Seele bewegt haben, zum Leben zu bringen. Und in diesem sogenannten realistischen Land, das indeß mehr poetisches Leben hat, als man in Europa ahnt, habe ich bereits in „petto“ gelebt und mehr Romantik geschrieben, als ich seit vielen Jahren gethan. Und damit werde ich wohl während meines Aufenthalts hier fortfahren.

Als ich gewahr wurde, daß ich gleich bei meinem ersten Erwachen am Morgen in meiner innersten Werkstatt mich nicht mit amerikanischen Angelegenheiten beschäftigten, sondern mit meinen eigenen idealen Schöpfungen unter dem Einfluß der Eindrücke, die meine neuen Umgebungen und Verhältnisse mir gaben, da entsagte ich dem Gedanken, etwas Anderes thun zu wollen, als was Gott mir zu thun gegeben hat. Ich muß auch hier mein Pfund verarbeiten, meinem Beruf folgen und Schicksale und Gegenstände darauf einwirken lassen, wie sie müssen und wollen, Ich werde also, wie vorher, die Welt des Privatlebens kultiviren, aber die Luft und das Leben der neuen Welt, des großen Weltlebens frei darauf einströmen und ihr größeren Inhalt geben lassen. So wollte ich es immer haben. Ich werde es nun auch besser vermögen. Den Roman des Lebens habe ich in seiner unendlichen Schönheit und Innigkeit schon lange geahnt. Wie sie zum erstenmal vor meinen Blick trat, diese erste Erscheinung einer verklärten Welt, diese himmlische Aurora, das vergesse ich nicht. Sie war, sie ist, sie bleibt ewig der Glanzpunkt in meinem Leben. Diesen verdanke ich Schweden. Aber Wolken gingen eine Weile darüber hin; ich sah nicht klar, oder vielmehr erkannte ich ihn nicht mehr in seiner ersten Schönheit. Jetzt sehe ich ihn wieder. Und ich ahne es, für den vollen Tag werde ich Amerika zu danken haben.

Auch mein Leben in und mit dieser neuen Welt nimmt eine romantische Gestaltung an. Es ist nicht blos ein neuer Continent, eine neue Weltbildung mit Jahrtausenden als Zukunft, was ich hier betrachten werde; es ist eine lebendige Seele, eine große Persönlichkeit, ein individueller Geist, den ich kennen lernen, mit dem ich leben, mit dem ich in meinem tiefinnersten Zusammenleben Zwiesprach halten werde. Wie gelüstet es mich nicht seine charakteristischen Züge zu sehen, seinen Offenbarungen, seinen unbewußten Orakelsprüchen über sein Leben und seine Zukunft zu lauschen! Und die große, allgemeine Gastfreiheit, womit diese neue Welt mir entgegenkommt, läßt mich erkennen, daß es ein Herz, ein lebendiger Geist ist, der mir in ihr entgegentritt.

Jetzt ein wenig von der Außenseite meines Lebens. Ich verließ Dich das letzte Mal, als ich mit Downings im Begriff stand, Mr. Hamilton und seine Familie zu besuchen. Als wir an die Brücke in Newburgh kamen, gingen da zwei Männer, ein dicker und ein magerer, die laut und eifrig sprachen, ja sogar über einander erzürnt zu sein schienen. Jeder, der mit diesem Dampfschiff fährt, wird bestohlen, rief der Eine; es wimmelt da von Taschendieben und Schelmen. Der Andere rief: wem um sein Leben bang ist, der mag sich hüten mit diesem Dampfboot da zu fahren; es ist eine elende Barake und wird nächstens einmal in die Luft fliegen. Das ist nicht wahr, sondern der größte Betrug! versetzte der Erste, und sie warfen einander mit zusammengezogenen Brauen entsetzliche Blicke zu, während sie, fortfuhren herumzugehen und Jeder sein Schiff zu preisen und das des Andern zu verunglimpfen. „Was bedeutet das?“ sagte ich zu Downing, der ruhig lächelte und antwortete: „Hier ist Opposition, zwei Schiffe wetteifern um Passagiere und diese Bursche da sind gedungen, um jeder das seinige auszuposaunen. Sie spielen diese Rolle täglich, und das bedeutet ganz und gar nichts.“ Ich bemerkte auch, daß, während sie einander die feindlichsten Blicke zuwarfen, ihre Lippen sich oft zu einem Lächeln über die scharfsinnigen Grobheiten verzogen, die sie über ihre gegenseitigen Schiffe ausstießen, welche wahrscheinlich beide gleich unschuldig und gleich sicher waren; und die Leute um sie her lächelten ebenfalls, oder bekümmerten sie sich nicht das Mindeste um ihren Streit. Ich sah, daß das Ganze nur eine Comödie war, und wunderte mich blos, daß sie dieselbe so oft spielen konnten. Downing hatte sein Schiff bereits gewählt.

Wir waren nicht lange an Bord, als der Kapitän herschickte und Miß B. und ihren Freunden freie Reise auf dem Dampfschiff, sowie auf der Eisenbahn am Hudson anbot. So reisten wir denn auf Kosten meines guten Namens und der amerikanischen Artigkeit den Hudson hinauf in der ruhigen, sommerwarmen Luft. Aber der Ziegelschläger Herr A, der sich schon vorher für meinen Freund erklärt, der mich mit schönen Blumen beschenkt, mir seine Villa am Hudson angeboten, und einige gute phrenologische Bezirke auf meiner Stirne entdeckt hatte, bemächtigte sich hier meiner und führte mich zu seiner Frau, die mich einem Poeten vorstellte, von dessen Versen sie behauptete, ich müsse sie gelesen haben, und der Poet führte mir drei Frauenzimmer vor, und die drei Frauenzimmer diverse andere Frauenzimmer und Herrn; ich wurde gleichsam eingemauert, bekam es heiß wie in einem Ofen und entfloh aus dem Salon zu meinem stillen Freund auf dem Verdeck, dem ich Vorwürfe machte, daß er mich so den Eingebornen des Landes als Raub preisgab. Meinen Freund Ziegelschläger gewann ich indessen recht lieb, eine breite, bastante, wohlwollende Natur mit offenem Herzen und Gesicht. Und so gefiel mir auch der Poet, der offenbar ein Mann von gesundem Kopf und gutem Herzen war, nur hatte ich seine Verse nicht gelesen, und der neuen Freunde waren es gar zu viele. Auf dem Verdecke konnte ich jetzt still sitzen mit dem stillen Downing, jedoch mit dem Gefühl, daß ich mich innig mit ihm bespreche, daß sein Blik auf denselben Gegenständen ruht, wie der meinige, und sie, wenn auch nicht ganz so wie ich, doch auf eine Art, die ich verstand, weil ich ihn verstand, auffasse und beurtheile. Das eine und andere Wort, die eine und andere Bemerkung kam von Zeit zu Zeit erweckend und belebend. Wie eine solche Gesellschaft angenehm ist!

Aus dem Dampfboot begaben wir uns auf die Hudsons-Eisenbahn, dieselbe, an der Newburgh gegenüber noch gearbeitet wird, und nun flogen wir pfeilschnell nach Mr. Hamiltons Villa, die auf einem Hügel am Flusse liegt. Hier waren wir bald in einem schönen Haus und einem schönen Familienleben.

Der Familienvater Mr. Hamilton ist der Sohn des Generals gleichen Namens, des Zeitgenossen und Freundes Washingtons und eines der großen Männer der amerikanischen Freiheitskriege. Mistreß Hamilton, eine noch schöne, ältere Frau von stillem mütterlichem Wesen, ein Sohn und drei Töchter bilden die Familie. Mrs. Skeyler, die verheirathete Tochter, die ich von manchem Munde als ein durch Geistes- und Herzensgaben ausgezeichnetes Weib preisen hörte, lud mich ein mit ihr die Schulen und verschiedene Wohlthätigkeitsanstalten in New-York zu besuchen, was ich dankbar annahm. Die zwei jüngeren, unverheiratheten Töchter, Marie und Angelica, erscheinen mir wie Typen der zwei Frauenzimmer-Charaktere, die in Coopers Romanen oft vorkommen. Marie ist lebhaft, feurig, voll Energie; sie hat braune, lebhafte Augen, sie ist munter und lustig im Gespräch; Angelica ist madonnenhaft mild und blond, ein schönes, edles, in meinen und noch vielen Augen höchst einnehmendes Wesen. Ganz besonders bemerkte ich die Anmuth ihrer Stimme und ihrer Bewegungen, und wie sie, ohne Fragen zu thun, auch mit Fremden ein Gespräch in Gang bringen und auf eine belebende Art unterhalten konnte.

Mr. Hamilton, Vater, besuchte mit mir mehrere kleinere Pflanzer in der Gegend, dort Farmers genannt, damit ich etwas von ihren Umständen sehen sollte. In ein paar Häuser kamen wir just zur Mittagszeit und ich sah da ihre Tische reichlich versehen mit Fleisch und Maischkuchen, mit Gemüs, Früchten und dem schönsten Waizenbrod. Die Häuser waren größtentheils „frame houses“ d. h. eine Art zierlicher Bretterhäuser. Die Zimmer hatten große Fenster, waren hell und sauber. Es war mir lieb mit Mr. Hamilton zu sprechen, der vieles im Lande baut und ein warmer Freund seiner freien Institutionen ist, deren Güte er in einer langen Beamtenlaufbahn zu erproben Gelegenheit hatte. Der Tag war schön, aber etwas windkalt, keine wohlgemischte Luft, wie Du es zu nennen pflegst. Und die Luft hier hat etwas so Scharfes, so Durchdringendes, daß sie stärker auf mich einwirkt, als jemals die Luft in Schweden.

Zum Mittagessen hatten wir eine Masse Gäste. Unter ihnen befand sich Washington Irwing, ein Mann von ungefähr 60 Jahren, mit schönen Augen, großer, wohlgeformter Nase, einem noch schönen Gesichte, worin jugendliche Grübchen und ein freundliches Lächeln von etwas Gesundem, Humoristischem, Frischem an Seele und Gemüth zeugen. Er soll auch eine ungewöhnlich glückliche Gemüthsart und das allerbeste Herz haben; er umgibt sich mit einer Menge Schwesterkinder, lauter Mädchen, (W. Irwing sagt, er begreife nicht, wozu die Jungen da seien) die er glücklich macht und die hinwiederum ihn durch ihre Liebe beglücken. Er soll ein ganz eigenes Talent haben, an Allem was er besitzt, und an Allem was ihm zugefügt wird, Gefallen zu finden. Er ist ein Optimist, aber keiner von der eigenliebigen Sorte. Bei Tisch wurde er mein Nachbar und ich verdachte ihm nicht, daß er schläfrig wurde, ich schrieb es aber dießmal auch nicht auf meine Rechnung, da man mir gesagt hatte, er pflege bei großen Mittagessen schläfrig zu werden, und ich wundere mich wahrlich nicht darüber. Diese Mittagessen gehörten jedoch nicht zu den besonders langen und langweiligen; offenbar suchte er auch artig und freundlich das Gespräch zu unterhalten und ich that ebenfalls mein Bestes, wie Du wohl begreifst, aber es wollte nicht gehen. Nachmittags bat ich ihn um Erlaubniß, sein Profil abzuzeichnen. Aber damit er während der Operation nicht geradezu einschlafen sollte, ersuchte ich Angelica Hamilton, sich ihm gegenüber zu setzen und mit ihm zu sprechen; und das gelang vortrefflich. Der schöne alte Herr wurde jetzt so wach, so gesprächig, so lebhaft, und in seinem Gesichte spielte ein so schalkhaftes und heiteres Lächeln unter den humoristischen Grübchen, daß es meine Schuld ist, wenn ich nicht eines der besten und ansprechendsten Portraits zu Stande brachte, die noch jemals von dem allgemein beliebten Schriftsteller gemacht worden sind.

Ich bin froh, seinen Bewunderern und Freunden in Schweden dieses zeigen zu können. Washington Irwing, lud mich und meine Freunde auf den nächsten Abend zu sich in seine Wohnung ein; da wir aber noch diesen Abend nach Hause reisen mußten, so lehnten wir die Einladung ab, behielten uns jedoch einen Morgenbesuch bei ihm vor. Abends kam der junge, neuverheirathete Sohn des Hauses von einer Reise zurück. Es war lieblich, den schönen jungen Mann zwischen Vater und Mutter sitzen zu sehen, wie er sich heiter und herzlich zugleich zwischen beiden zu theilen suchte, und ihren Fragen und Liebkosungen entsprach.

Unter den interessanten Gegenständen, die ich hier, wie auch in einigen andern Häusern am Hudson sah, befanden sich Amerikas Vögel von Audebon, ein Werk von wahrem Genie und Verdienst, denn man bekommt nicht blos die Vogelarten Amerikas zu sehen, sondern auch ihren Charakter, ihr Leben und ihre Geschichte, wie sie bauen, sich ernähren, ihre Streitigkeiten, Gefahren und Freuden. Einige Gemälde scheinen mir eine gewisse Excentricität in der Auffassung anzudeuten. Aber wer kann excentrischer sein als die Natur selbst in gewissen Stunden und Launen? Eine andere anziehende Bekanntschaft war für mich ein Mr. Steevens, der recht interessant von den altertümlichen Ueberbleibseln in Centralamerika sprach. Welches reiche Feld ist nicht da für amerikanische Betriebsamkeit und Forschungslust! Und sie werden nicht ruhen, diese Wikinger der Jetztzeit, bis alles das ihnen gehört und sie dort freien Spielraum haben. Jetzt stehen ihrem Eindringen in diese Gegenden noch große Schwierigkeiten entgegen.

Am folgenden Tag hatten wir unter den guten Sachen beim Frühstück — man hat ihrer hier nur allzu viele und zu starke; der Cayenne-Pfeffer verderbt sowohl die Speisen als den Magen — auch Honig vom Berge Hymettus, der Familie geschenkt von einem neuerdings aus Griechenland zurückgekommenen reisenden Freunde. Dieser klassische Honig schien mir nicht besser, als der Jungfern-Honig unsrer nordischen Bienen. Die Blumen und die Bienen sind wohl überall auf Erden dieselben und nähren sich von demselben himmlischen Honigthau. Ich denke mir, wie unsere Bienen in Arsta im Herbst um die Resedenbeete surren, und wie Du ihnen jetzt zusiehst, indem Du wie eine kleine Königin unter Deinen Untertanen in Deinem Blumenviertel unter Blumengruppen, die Du pflanzen ließest, einherwandelst. Ach, aber es ist wahr, jetzt liegen sie bereits in ihrem Winterschlaf und die Bienen haben sich in ihre Häuser verborgen. Hier vergesse ich, wie das Jahr herumgeht, denn der indianische Sommer ist eine Zauberzeit.

Vormittags ging ich mit Marie Hamilton zu Washington Irwing; sein Haus liegt nahe dem Ufer des Hudson und gleicht einer friedlichen Idylle. Dichte Epheuranken bekleiden einen Theil der weißen Mauern und bekränzen die Dachfirsten. Fette Kühe weideten auf der Wiese dicht vor dem Fenster. In den Zimmern sah es sommerwarm und friedlich, dabei belebend aus. Man merkte, daß ein warmer seelenvoller Geist da wirkte und lebte. Washington Irwing hat, obschon er die Höflichkeit eines Weltmannes und in seinem ganzen Benehmen viel Gutmüthigkeit besitzt, doch etwas von der nervösen Schüchternheit, welche dem Schriftsteller von feinerem Schrot und Korn leicht anhaftet. Der poetische Geist muß für seinen Umgang mit göttlichen Sphären oft durch eine kleine Disharmonie mit der irdischen plumpen Wirklichkeit büßen, und dazu gehört wesentlich der Besuch von Fremden und solche Umgangsformen, wie wir sie in guter Gesellschaft brauchen, Schalen, welche geknackt werden müssen, wenn man zu des Kernes Saft oder Frucht kommen soll. Aber das ist eine Mühe, wozu wir oft nicht Zeit haben. Ein vor längerer Zeit gemaltes Portrait in Washington Irwings Salon stellt ihn als einen ausgezeichnet schönen Mann dar, mit dunkeln Haaren und dunkeln Augen — ein Kopf, der einem Spanier gehört haben konnte. Er soll auch in seiner Jugend ungewöhnlich schön gewesen sein. Er war mit einem jungen Mädchen von seltener Schönheit und Herzensgüte verlobt, und man hatte Mühe sich ein schöneres Paar zu denken. Aber sie starb und Washington Irwing suchte hernach keine andere Braut mehr. Er war weise genug, sich mit der schönen Erinnerung an eine vollkommene Liebe zu begnügen und für seine Wissenschaft, für die Freundschaft und die Natur zu leben. Er ist ein Weiser ohne Runzeln und graue Haare. Washington Irwing beschäftigte sich eben mit seiner Biographie Mohameds, die er binnen kurzem herausgeben will. Zwei Frauenzimmer, ein älteres und ein jüngeres, nicht schön, aber mit seelenvollen Gesichtern und nahe Verwandte von Washington Irwing, waren im Hause.

Bei Hamilton empfing ich wieder eine Menge Gäste; lauter schönes, freundliches, offenherziges Volk. Die Frauenzimmer haben im Allgemeinen feine Gestalten, aber es fehlt ihnen an Rundung. Später machten wir Musik. Marie Hamilton und ich waren just mit vollem Eifer in einer vierhändigen Ouvertüre begriffen, und spielten so, daß man uns Bravo zurief, als Mr. Downing mit seiner melodischen Stimme und seinem entschiedenen Wesen (das ihn mitunter zu einer Art von liebenswürdigem Despoten macht) uns mit dem Zuruf unterbrach: „Jetzt ist es Zeit!“ nämlich die Zeit zum Abreisen; wir mußten also mitten im Stück abbrechen um Abschied zu nehmen und auf die Eisenbahn zu eilen, die so mit eiserner Hand in die Musik des Lebens eingriff. Sie folgte mir jedoch im Eindruck von dem schönen Familienleben, das ich hier wieder sehen durfte, und an die Eisenbahn folgte mir auch der stattliche alte Gentleman Mr. Hamilton, der mir die ganze Zeit die größte Güte bewiesen hatte, und mich jetzt schließlich bat, ihn als einen Vater anzusehen, sein Haus als das meinige zu betrachten und zu kommen und da zu bleiben, so oft ich mich anderswo in den Vereinigten Staaten minder wohl befinde. Und ich weiß, daß dieses Anerbieten ebenso ernstlich gemeint ist, wie Downings Aufforderung, ihn als einen Bruder anzusehen, und ihn mir dienen zu lassen, so oft ich eine Gelegenheit dazu fände. Erinnern Sie sich dessen wohl! so lauteten seine Abschiedsworte zu mir. So daß ich also jetzt sowohl einen Vater als einen Bruder in der neuen Welt habe! Das ist für den Anfang nicht übel. Auf der Eisenbahn saß ich sodann stille an der Seite meines stillen Freundes, dessen Seelenmusik ich aber immer höre, auch wenn er schweigt. Auf diese Art nahm also die Musik im Ganzen kein Ende.

Wir fuhren an einem finstern, aber schönen Abend den Hudson hinauf. Die Luft war ganz ruhig. Dann und wann kam ein Dampfboot donnernd mit flammenden Schornsteinen uns entgegen; aber der Fluß war ungewöhnlich still. Aus den schwarzen Schatten, welche die hohen Berge über die Ufer warfen, glommen da und dort kleine rothe Lichter. „Das kommt aus den Hütten der Eisenbahnarbeiter,“ sagte Downing — „Ganz und gar nicht, erwiederte ich, sondern das sind kleine Zwerge, die aus den Felsen hervorgucken und die Fenster der Bergsäle da drinnen öffnen. Das wissen wir Scandinavier.“ Downing lächelte und ließ meine Erklärung gelten.

Was ich hier vermissen könnte, wenn es mir einfiele etwas zu vermissen, wo so viel neues, reiches Leben sich darbietet, das ist das Märchen- und Legendenleben, das wir in Schweden überall haben, und das unser Land zu einem poetischen Boden macht, voll von symbolischen Runen in Wäldern, Bergen und Feldern, an Strömen und Seen; gibt es doch jedem Stein Leben, jedem Rasen eine Bedeutung. In Schweden würden all diese prächtige Hügel und Berge am Hudson symbolische Namen und Sagen haben. Hier haben sie blos einige historische Sagen, meist seit den Zeiten und Kämpfen der Indianer, und Namen von mehr humoristischem als poetischem Gehalt. So wird eine lange, in den Fluß hinausragende, nasenförmige Bergspitze St. Anton’s Nase genannt, und ich mußte beim Vorbeifahren an ein lustiges Gedichtchen denken, das Downing mir vorgelesen hatte, und worin der h. Antonius dargestellt ist, wie er den Fischen predigt, die ganz erschrocken und entzückt über den Vortrag des bekehrungseifrigen Kirchenvaters aus der Tiefe herauskommen. Es endet mit den Worten:

„Sie dankten sehr für seinen Segen
Und blieben — auf den alten Wegen.“

Und sie fahren in ihren natürlichen Untugenden fort und Mr. Antonius bekam — eine lange Nase.

Noch einige indianischen Sommertage verlebte ich mit meinen Freunden am Hudson. Tage reich an vielem Schönen im Umgang mit Menschen und mit der Natur, reich auch an Genuß paradiesisch schöner Früchte. Der Neumond zündete sein Licht an und gab dem Sommerschleier über Berg und Fluß einen höheren romantischen Charakter — wundersam schöne Tage und Scenen — und wundersam schön war derjenige, wo ich unter einem warmen Sturm mit meinen Freunden den Hudson hinab nach New-York reiste — der Herbst hatte in seinem Voranschreiten dem Farbenspiel des Laubwaldes Einheit gegeben. Er wechselte jetzt zwischen Kupfer und Gold und glänzte wie eine unendlich reiche goldene Stickerei auf dem indianischen Nebelschleier, der über den Höhen am Hudson entlang ruhte. — Der Wind war so heftig, daß das Schiff zuweilen auf die Seite gedrückt wurde. Und je weiter der Abend voranschritt, um so stiller wurde es unter den Gruppen in dem großen starkbewohnten Salon. Freund zog sich näher zum Freund, Gattin zum Gatten; Mütter drückten ihre Kinder näher an ihre Brust. Meine Augen fielen zufällig auf eine hohe Mannsgestalt von schönem energischen Aussehen; ein kleines Frauenzimmer stand ganz nahe vor ihm, er hielt ihre Hand an seine Brust gedrückt. Mich überkam einige Neugierde ihr Gesicht zu sehen, ich weiß nicht recht warum. Sie wandte ihren Kopf und ich sah unter ihrem Strohhut ein schwarzes Gesicht ohne Spuren von Schönheit. — Ein stummes, leidenschaftliches Leben waltete darin vor, waltete überall vor in der Atmosphäre an diesem stürmischen, warmen Abend. Dieser und einige andere Abende haben sich mit unauslöschlichen Zügen in meine Seele eingeschrieben; Du wirst sie einmal auf dem Papiere lesen, denn was ich tief und stark erlebe, das muß ich, wie Du weißt, früher oder später in Worten und Bildern wiedergeben.

In Sturm und Dunkelheit kamen wir in New-York an, in Sturm und Dunkelheit, aber im Uebrigen ganz comfortable kamen wir ins Astorhaus. Und bald saß ich mit meinen Freunden vertraulich in einem hellen, schönen Zimmer, trank Thee und die ausgesuchteste Milch, in Eis gekühlt. „Um Sie jetzt zu unterhalten, sagte Downing, als wir fertig waren, glaube ich, daß ich Sie um ein Autograph ansprechen muß.“ So neckt er mich oft freundlich, da er meinen Schrecken vor der amerikanischen Autographenwuth kennt. Wir verbrachten den Abend angenehm, indem wir abwechselnd aus unsern Lieblingsdichtern, Lowell, Bryant, Emerson, vorlasen. Es war 12, als wir uns trennten und ich auf mein Zimmer ging. Oben aber ging ich noch lange herum, durch die offenen Fenster dem leise plätschernden Regen lauschend, die balsamische Luft trinkend und den Hauch eines neuen Lebens mein Inneres durchströmen lassend.

Ich blieb mit Downings ein Paar Tage im Astorhaus. Während derselben besuchten wir die Ausstellung des amerikanischen Kunstvereins in New-York. Unter den Gemälden einheimischer Künstler sah ich Nichts, was ein eigenthümliches Genie andeutete, außer einem großen historischen Bild aus dem ersten mexikanischen Krieg zwischen den Spaniern und Indianern. Einige plastische Kunstwerke machten mir großes Vergnügen durch ihre Feinheit im Ausdruck und die Meisterschaft in der Ausführung. Unter ihnen war besonders eine Proserpina (Marmorbüste) und ein Hirtenjunge, der dem Ton in einer Muschel lauschte; beides Arbeiten eines amerikanischen Künstlers, Namens Hiram Powers. Man konnte etwas Größeres und Rationelleres in Bezug auf den Stoff, aber unmöglich mehr Schönheit, mehr Vollendung in den Formen wünschen. Gegenüber dem Saal des amerikanischen Kunstvereins hat man mit Wohlbedacht, wie mir scheint, die sogenannte Düsseldorfer Gallerie verlegt, oder eine Gallerie, wo alte Gemälde, besonders der deutschen Schule, gesammelt und ausgestellt sind, zum vergleichenden Studium für des Landes Künstler und Kunstliebhaber. Aber ich hatte diesmal nicht Zeit die Gallerie zu besehen.

Unter den guten Dingen, die mir hier begegnet sind, befindet sich das Anerbieten eines sehr geachteten Buchhändlers in New-York, Mr. G. Putnam, des Verlegers von Miß Sedgewick, der eine neue und schöne Auflage meiner Schriften, die bisher blos in wohlfeilen Ausgaben gedruckt und verbreitet worden sind, veranstalten und mir dafür dieselben Vortheile wie einheimischen Schriftstellern gewähren will. Downing war erfreut über den Vorschlag, denn er kennt Mr. Putnam als einen durchaus ehrenhaften und zuverlässigen Mann (ich glaube ihm diese Eigenschaften schon an den Augen anzusehen).

Schwer wurde mir der Abschied von Downings, mit denen ich eine so schöne genußreiche Zeit verlebt (ich möchte sie die Tage meiner süßen Brode in der neuen Welt nennen), und an die ich mich so recht von Herzen angeschlossen habe. Aber — ich werde sie wiedersehen! … Ich schulde Downing großen Dank für die Klugheit, den Takt und den brüderlichhen Ernst, womit er mich in Bezug auf mein Benehmen hier zu Lande, die Annahme von Einladungen und andern Freundschaftsbeweisen, berathen hat. Beim Abschied ermahnte er mich mit seinem feinen Lächeln, ich möchte bei allen Gelegenheiten von einem gewissen angeborenen Takt — NB. einer Sache, die mir durchaus nicht angeboren ist — Gebrauch machen, damit ich wisse, was ich thun und lassen solle. Ich meinte inzwischen seinen Rath gut zu benützen, indem ich unmittelbar darauf den Vorschlag eines jungen Herrn, auf einen hohen Kirchthurm mit ihm zu klettern, ablehnte. Nichts frappirt mich mehr, als der jugendliche, ich möchte beinah sagen kindliche Unternehmungsgeist dieser Leute; sie scheuen auch gar nichts und halten Nichts für unmöglich. Aber ich bin zu alt, um mit jungen Herren auf die Kirchthürme zu klettern.

Als Downings mich verließen, wurde ich von Mr. Putnam übernommen, der mich nach seiner Villa auf Staten-Island führen wollte. Wir arbeiteten uns mühsam mit unserm Wagen durch das Gedränge von Fuhrwerken aller Art auf den Straßen bis in den Hafen durch, um zur rechten Zeit ans Dampfboot zu kommen. Ich muß die Kutscher bewundern, wie sie auszuweichen, zu schwenken, sich einzukeilen und sich ohne Abenteuer aus dem wahrhaft gordischen Knoten von Karren und Wagen herauszuwickeln verstehen. Es ist merkwürdig, aber angenehm ist es nicht. Ich saß in beständiger Angst da, es möchten einige Pferdsköpfe durch die Wagenfenster hereinkommen und der Wagen könnte zusammengedrückt werden. Inzwischen ging Alles gut. Wir kamen rechtzeitig ans Dampfboot und hatten eine schöne Fahrt auf dem ruhigen Wasser in dem weiten Hafen, wo große und kleine Dampfboote unaufhörlich zwischen den Segelschiffen fahren und sich herumschwingen; — das ist ein Leben!

In Mr. Putnams schöner Wohnung auf einer der Anhöhen Staten-Islands sah ich eine allerliebste, schöne und anmuthsvolle Wirthin, drei artige Kinder und Abends eine ganze Masse von Nachbarn. Ich spielte ihnen schwedische Melodien und Lieder vor. Das beste Stück des Abends war ein humoristisches Lied, das ein gemüthlicher älterer Herr sang. In meinem Schlafzimmer fror ich, denn das Wetter war nun kalt, und die Schlafzimmer werden hier zu Land nicht geheizt. Es ist damit wie in England, aber nicht wie in unserem guten Schweden, und es wird mir schwer mich an diese kalten Schlafzimmer zu gewöhnen. Besonders schwer wurde es mir in dem kalten Zimmer aufzustehen und mich mit steifen Fingern anzukleiden; aber als ich zum Frühstück hinabkam, da vergaß ich Frost und Steifheit über der hellen Sonne und der schönen freundlichen Wirthin in dem hübschen Zimmer, das eine Aussicht über den Hafen, die Stadt und die Inseln gewährt. Vormittags führte mich Mr. Putnam in der Kutsche spazieren, um die Insel zu besehen und einige Familien zu begrüßen. Die reichen goldenen Wälder glänzten in ihrer Herbstpracht, schön wechselnd in Gold und Braun, — ein Farbenspiel warm[WS 1] und tief, wie das von den reinsten Leidenschaften der Seele. Ich lebte neu auf in den Gefühlen, die es in mir erweckte. Ich fuhr durch den Wald, wie durch einen Tempel voll symbolischer Schrift, und was sie mir vorzeichnete, das konnte ich lesen und deuten. So gelangten wir bis zum höchsten Punkte der Insel, wo die Aussicht über Land und Wasser groß und herrlich war. An Höhen fehlt es. Das Auge schwebt und kreist wie der Adler in der Luft, aber es hat keinen Fels, keine Bergspitze, um daran auszuruhen.

Ich sah auch einige zierliche Häuser mit ihren Gärten und ein paar hübsche freundliche Frauen. Eine von ihnen war wirklich schön, aber in Trauer versunken. Der Tod hat ihr unlängst ihre Freude geraubt. In dem andern Haus war Freude und Glück daheim, das ließ sich nicht verkennen, und ich mußte versprechen aufs Frühjahr zurückzukommen und den Frühling hier anrücken zu sehen. Aber ich bin begierig, wie manche Wortbrüchigkeiten ich hier zu Lande begehen werde.

Mr. Putnam führte mich nach New-York und zu der freundlichen Mrs. Skeyler zurück, die jetzt Hand an mich legte, um verschiedene öffentliche Anstalten mit mir zu sehen, worunter ein paar große Schulen, wo ich Hunderte von lebhaften Kindern und jungen Menschen fand. Mir fielen besonders die hellen, wachen, schönen Augen der Kinder auf. Die Lehrmethode schien es hauptsächlich darauf abzusehen, die Kinder wach und aufmerksam zu erhalten. Ein Schulhaus enthält mehrere oder alle Klassen der Schule. In den untersten Zimmern sind die kleinsten Kinder, 4—6 Jahre alt (jedes Kind hat sein Stühlchen und seinen kleinen freistehenden Pult vor sich), und mit jedem Stock steigt das Alter der Schüler, wie auch die Masse der Lehrgegenstände. Im obersten Stock graduiren sie sowohl in den Mädchen- als in den Knabenschulen mit 19 bis 21 Jahren oder darüber, erhalten Diplome und gehen dann in die Welt hinaus, um zu leben und zu lehren nach dem was sie hier gelernt haben. Aber ich erfuhr da nicht viel. Ich wollte Fragen machen, allein man nahm sich nicht Zeit zu antworten, und ich sah bald, daß mein Besuch für mich nicht sowohl eine Unterweisung als vielmehr einen Verweis enthielt. Im Taubstummeninstitut zeichnete der junge Lehrer eine lange Erzählung über mich und meine Begleiterin seinen Schülern vor, welche sie auf die Schreibtafeln, die an den Wänden hingen, aufzeichneten. Sie machten das vortrefflich. Ich muß ihr Gedächtniß, sowie ihre Fertigkeit in Auffassung und Ausdruck bewundern.

Am folgenden Tag wurde eine Ausfahrt auf eine der Inseln in der Nähe der Stadt unternommen, wo wohldenkende Menschen eine große Anstalt zum Empfang und zur Unterstützung von Auswanderern gegründet haben, die krank oder entblöst aus Europa in New-York ankommen. Die Insel heißt Wards-Island, die Anstalt Auswandererasyl. Einer ihrer hauptsächlichen Gründer und Verwalter, Mr. Colden, früher einer der angesehensten Advokaten New-Yorks, jetzt ein reicher Mann, der sich ausschließlich mit wohlthätigen Anstalten beschäftigt, denen er seine Zeit und sein Vermögen widmet, führte mich und Mrs. Skeyler in seinem Wagen dahin. Ich habe auch Bergfalk verlockt mit uns zu kommen. Er hat eine unglückliche Neigung sich unter Gesetzbüchern und Akten zu vergraben und mit den Todten zu leben; ich muß ihn also hinauslocken, um in dem lebendigen und belebenden Leben frische Luft zu schöpfen. Der Tag war herrlich und unsere Bootsfahrt auf dem schönen wohlriechenden Wasser (ich habe nie ein Wasser gekannt, daß so duftete wie hier) in der warmen Herbstsonne äußerst angenehm. Auf Wards-Island kann man ein wenig beurteilen, welch eine schwere Aufgabe sich die Amerikaner beim Empfang der armen oft elendesten Bevölkerung Europas stellen, und wie sie dieselbe zu lösen suchen. Tausende, die zerlumpt und mit Krankheiten behaftet ankommen, werden hieher gebracht, verpflegt, gekleidet, gespeist und sodann westwärts nach den Missisippistaaten geschickt, im Fall sie nicht in näheren Gegenden Verwandte und Freunde haben, zu denen sie zu kommen wünschen. Besondere Häuser wurden für Typhuskranke, für Augenkranke, für kranke Kinder, für die Genesenden, für Wöchnerinnen erbaut; mehrere neue Häuser waren in der Arbeit. Auf den grünen freien Hügeln, umkost von den milden Seewinden, müssen die Kranken, wo immer möglich, wieder gesund, die Schwachen stärker werden. Wir besuchten die Kranken; mehrere Hunderte lagen am Typhus darnieder; — wir besuchten auch die Reconvalescenten an ihrem guten reichlichen Mittagstisch. „Aber wenn sie alle Tage eine solche Suppe und solches Fleisch bekommen, sagte ich zu Mr. Colden, wie können Sie dann die Leute wieder los werden, wenigstens diejenigen, welche blos leben, um zu essen?“ — Mit ihnen machen wir es, wie der Quäcker mit seinem Gegner, antwortete Colden lächelnd. Er ergriff den Widerspenstigen mit starken Händen. Ei wie? sagte dieser, Sie werden mich doch nicht schlagen wollen? das ist ja gegen Ihre Religionslehre. — Nein, erwiederte der Quäcker, ich will Dich nicht schlagen, aber ich will Dich ganz unangenehm halten. Bergfalk freute sich mit mir, diese großartige, immer mehr aufblühende Anstalt zu sehen, welche die Bevölkerung der neuen Welt hier für die verunglückten Kinder der alten errichtet; und ich erfreute mich nicht minder an Mr. Coldens eigener Persönlichkeit; er ist eine jener starken Naturen, die solche Anstalten ebenso leicht tragen, wie eine Mutter ihr Kind auf dem Arme trägt, — ein Mann, stark an Herz, Seele und Leib. Für solche Männer hege ich eine Bewunderung, die kindlicher Liebe gleicht. Sie haben den Magnetismus, den man der Gebirgsnatur zuschreibt.

Mit Mrs. Skeyler besuchte ich auch das Haus, das zur Wiederaufrichtung gefallener Weiber gestiftet ist. Es schien mir gut und wohl geordnet zu sein. Miß Sedgewick ist eine der Vorsteherinnen und soll unendlich viel Gutes wirken. Sie liest den Weibern Erzählungen vor, die ihre bessere Natur wecken, und sie spricht gut und klug mit ihnen. Sie soll eine der thätigsten Pflegerinnen dieser Besserungsanstalt sein.

Mrs. Skeyler, die eine ebenso sanfte Hausmutter, als eine gute Bürgerin außer dem Hause ist — und das sollte jedes edle Weib sein — war eine liebenswürdige Wirthin für mich, und ich bedaure blos, daß ich nicht mehr mit ihr sprechen konnte. Diese Schulen, Hilfsanstalten u. s w. sind höchst vortrefflich und achtungswerth, aber ach, wie sie mich ermüden! — Mrs. Skeyler führte mich zu Miß Lynch, wo ich eine Masse Leute sah, und unter ihnen den Dichter Bryant, der einen schönen charakteristischen Kopf mit silbergesprenkelten Locken hat.

Von Miß Lynch hinweg führte mich ein freundlicher, ehrlicher Professor, — ich glaube Hacklitt heißt er — in die elyseeischen Felder, einer parkähnlichen Gegend auf einer Insel bei New-York und wegen ihrer idyllisch, schönen Natur so genannt. Sie war auch idyllisch schön und der Tag und die Luft — nein, nein, meine Liebe, da haben wir nichts Aehnliches in der alten Welt, wenigstens habe ich dort nie etwas solches kennen gelernt. Ich trinke diese Luft, wie ich Nektar trinken könnte, und ich empfinde sie beinahe wie einen lieblichen Rausch. Sie muß dieser Jahreszeit und dem magischen Leben des indianischen Sommers angehören. Ich wandelte in den elyseeischen Feldern mit wahrhaft elyseeischen Gefühlen; ich sah Schaaren weißer Segel gleich beschwingten Friedensboten den Hudson herabkommen, und ich ließ meine Gedanken den Fluß hinaufschwimmen, zu den Freunden dort, den neuen und doch so theuern, mir fern und doch so nahe. Es war ein entzückender Tag, dieser Tag auf den elyseeischen Feldern in der neuen Welt. Mein Professor war gut und weise, wie Mentor in den Abenteuern Telemachs, und ich glaube noch weiser, denn er hielt ganz und gar keine Reden, sondern folgte mir mit väterlicher Huld und schien sich an meinem Vergnügen zu erfreuen. Abends führte er mich über den East river und nach Rosenhütte in dem ruhigen Brooklyn. Und da will ich einige Tage ruhen und mich der Welt etwas fern halten.

Jetzt ein Wort über meine neuen Freunde Marcus und Rebecca Spring. Sie sind eine ganz besondere Art von Leutchen; sie haben etwas eigenthümliches Einfaches und Menschliches, Klares und Schönes, was ich engelgleich nennen möchte. Gleich beim ersten Mittagessen in ihrem Hause nannten sie mich bei meinem Namen und verlangten, daß ich sie auch so nennen solle, und jetzt lebe ich mit ihnen vertraulich, wie mit einem Bruder und einer Schwester. Sie waren und sind unbeschreiblich gut gegen mich. In den ersten Tagen war ich etwas verstimmt, ich litt von der Kälte, besonders in meinem Schlafzimmer, und ich konnte mich nicht recht in die neuen Verhältnisse finden, was mir überhaupt immer Mühe macht. Aber sie ließen einen Ofen in mein Zimmer setzen, machten es mir warm und angenehm, und bald fühlte ich mich bei ihnen heimisch und glücklich. Marcus S. ist auch was man einen selbstgemachten Mann nennt, aber ich glaube fest, daß der liebe Gott selbst bei der Erschaffung seines Herzens und Kopfes thätig war. Sein Gesicht erinnert mich an Sternes Ausdruck für ein Gesicht: es gleicht einem Segen. Seine Frau Rebecca ist aus einer Quäckerfamilie und hat etwas von dem innern stillen Licht und der Besonnenheit, die dieser Secte angehören soll; überdies ist sie wohlbegabt und verständig, und man kann ihr mit dem größten Vergnügen zuhören. Sie ist anmuthtsvoll von Gefühl, ohne schön zu sein; der Mund besonders ist frisch und lebendig, ihre Gestalt ist classisch schön. Beide Gatten sind warme Patrioten und Menschenfreunde, lieben die Ideale des Lebens und leben für sie. Sie sind vermöglich und sollen viel Gutes thun. Sie interessieren sich für den Socialismus, aber mehr als Dilettanten, denn als eigentlich Eingeweihte. Doch hat Marcus sich in seinem Handelsgeschäft mit mehreren seiner Comptoiristen associrt. Aber er gehört zu jenen Leuten, die von ihren Handlungen nicht gerne sprechen, und auch nicht wünschen, daß Andere sich damit beschäftigen. Aber seine Frau und seine Freunde sprechen sehr gerne von ihm, und ich wundere mich nicht darüber. Sie haben drei Kinder. Eddy, der älteste Knabe von zwölf Jahren, könnte als Modell zu einem Amor sowohl, als zu einem Raphael’schen Engel dienen; er hat ein stilles, denkendes Wesen mit viel Feinheit im Ausdruck. Die kleine Jenny, des Hauses einzige Tochter, ist ein tüchtiges lebhaftes Mädchen, und dann kommt das Baby, ein goldgelockter kleiner Junge mit seines Vaters Stirne und klaren blauen Augen, ein kränkliches aber anmuthsvolles Kind. Mit Marcus spreche ich über das, was im Lande fern und nah vorgeht und im Werk ist, mit Rebecca spreche ich von Geschichten des innern Lebens, und ich bekomme vieles zu hören, was mich anregt und interessirt. Ja ich sage Dir, hier ist weit mehr Poesie und romantisches Leben, als man sich bei uns vorstellt. Das Leben hier ist eine neue Jugend. Auch das Klima ist jugendlich, aber nicht immer auf die beste Art. Es ist sehr veränderlich. In den ersten Tagen, die ich hier in Brooklyn zubrachte, war es so empfindlich kalt, daß ich an Leib und Seele fror. Jetzt seit drei Tagen ist es so warm gewesen, daß ich mich nachts bei offenen Fenstern ins Bett legte, durch die Jalousien die Sterne blinken sah und von der Morgenröthe mit den sanftesten Hauchen dieser duftigen Luft, die etwas Zauberisches hat, begrüßt wurde.

Den 7. November.  

Ich habe einige Tage nicht schreiben können. Es thut mir leid, mein Kind, aber ich kann nicht helfen. Mündlich will ich einmal die Lücken ausfüllen, die im Briefe gelassen sind. Sehr schmeichelhafte und zugleich sehr beschwerliche Dinge, welche die Mühe des Niederschreibens nicht lohnen, kommen mir tagtäglich vor. Mein Leben ist ein täglicher Kampf mit Wohlwollen, Artigkeit und — Neugierde, ein Kampf, bei dem ich oft müde und verdrießlich werde, oft aber auch einen wundersamen Hauch von Jugendfrische und Erneuung meine Seele durchströmen fühle. Einen solchen empfand ich dieser Tage bei der Berührung mit dem edeln Enthusiasten H. W. Channing, einer ebenso glühenden als reinen Natur, mit strahlendem Auge und einem Gesicht so rein und regelmäßig, wie ich mirs nur bei einem Seraph denken könnte. Seine edle und elegante Gestalt paßt vortrefflich für einen öffentlichen Redner. Für sein Land ist er mehr ein kritischer Liebhaber als ein Enthusiast. Enthusiastisch liebt er blos das Ideale und Vollkommene, und er findet die Wirklichkeit noch weit unter diesem. Wir sind sehr jung, sehr jung! sagt er vom Volk der Vereinigten Staaten. Von Emerson sprach er mit Bewunderung — aber wie von einem ihm ferne stehenden höheren Geiste. „Er ist der Beste, von uns Allen,“ sagte er. — „Ist er Ihr Freund?“[WS 2] fragte ich. — „Nein,“ antwortete er, „ich kann mir mit diesem Verhältniß zwischen uns nicht schmeicheln. Er ist dafür zu abstoßend, zu … Aber Sie müssen ihn sehen, um ihn zu begreifen.“ Ich machte einige Bemerkungen gegen Emersons Anschauungsweise. Channing antwortete nicht viel darauf, blieb aber dabei, daß er zu Emerson wie zu einem Stern erster Größe aufschaue. Dieser Mann muß ein Zaubertalent besitzen.

Am Donnerstag werde ich mit Channing und Springs nach dem amerikanischen Phalanstère in New-Jersey reisen, dieses wunderliche Ding in der Nähe besehen und mehr von christlichem Socialismus lernen. Bergfalk kommt mit uns. Dann kehre ich hieher zurück und bleibe bis zum Ende der Woche hier. Die nächste Woche werde ich bei Miß Lynch in New-York zubringen und mich dem Gesellschaftsleben dort widmen. Hierauf komme ich wieder und begleite meine Freunde nach Massachusetts, um allda bei ihren Verwandten das große Dankfest, genannt Thankgivings, zu feiern. Es ist auf den 26. November festgesetzt und soll besonders in den Staaten Neuenglands, wo es zuerst entstand, feierlich begangen werden. Dann wollen wir zusammen Lowells, Emersons und mehrere Andere besuchen, zu denen wir eingeladen sind. Hierauf landen wir in Boston, wo ich über die Wintermonate zu bleiben gedenke, und meine Freunde kehren in ihre Heimath zurück.

Abends.

Bei Sonnenuntergang machte ich einen einsamen Spaziergang auf der Straße, halb Stadt und halb Land; ich ging unter den grünen Bäumen und an meiner Seite der schöne Eddy S. ganz schweigsam. Der Abendhimmel glühte und breitete seinen warmen Schein über Wiesen und waldige Höhen. Und als ich meinen Blick von ihm ab auf den schönen Jungen wandte, da begegnete mir sein Auge so mild und eindringend wie eines Engels Blick. Er schien zu sehen und zu begreifen, was in mir lebte. So gingen wir lange. Aber es begann zu dämmern; da kam ein Reiter auf uns zu mit einer großen Schachtel oder einem Kästchen auf dem Arm. Es war der gute Markus auf seinem Dolly, und das Kästchen, das er trug, war für mich und voll der allerschönsten Blumen von Mr. Downing. Und mit ihnen folgten einige Worte für mich, die noch schöner waren als die Blumen. Rebekka und ich ordneten die Blumen in einer schönen, lilienförmig aus ihrem Bassin aufsteigenden Alabastervase. Markus und Channing halfen uns mit ihren Augen.

Ich befinde mich trotz körperlicher und geistiger Strapatzen wohl und bin unendlich dankbar für das, was ich hier erlebe und lerne, und für diese guten herzlichen Freunde. Es fehlt mir gar nichts als die Freude, gute Nachrichten von Dir und Mama zu erhalten. Ich hoffe auf die heutige Post, ich hoffe und sehne mich. Jetzt muß ich diesen Brief absenden und an einer Menge Anderer arbeiten. Küsse Mama für mich und grüße alle, die gegrüßt zu werden wünschen von

Deiner
Fr.   

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: waren
  2. Anführungszeichen ergänzt
Dritter Brief Die Heimath in der neuen Welt. Erster Band
von Fredrika Bremer
Fünfter Brief
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