Durch Indien ins verschlossene Land Nepal/Durch den Sumpfurwald des Terai
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Die angreifende Wanderung in Sonne und Staub und die einförmige Feldlandschaft änderte sich zu Mittag, bei Semrabassa[WS 1], vollständig. Der Wald begann. Das eigentliche Nepal, d. h. das nach der Landeshauptstadt benannte Tal von Katmandu, das vom Bagmati bewässert und im Westen vom Gandak, im Osten vom Kosi begrenzt wird,[WS 2] ist nicht nur durch die beiden schon erwähnten Bergrücken, sondern auch durch einen diesen Höhen südlich vorgelagerten sumpfigen Urwaldgürtel, das Terai,[WS 3] vortrefflich gegen feindliche Überfälle von Indien her geschützt. Diese etwa 900 Kilometer lang ausgedehnte und durchschnittlich 50 Kilometer breite Urwaldzone hatte ich nun zunächst zu durchqueren und dann noch die beiden Gebirgsrücken zu übersteigen, ehe ich mein eigentliches Ziel, die Stadt Katmandu, erreichte.
Ein Fußmarsch durch das fieberhauchende Terai gilt stets für ein gewagtes, während und kurz nach der Regenzeit sogar für ein höchst gefährliches Beginnen, und ein längeres Verweilen im Terai während der feuchten Jahreszeit bedeutet für jeden Europäer sicheren Tod. Wie überall in Indien blendendes Licht und schwärzester Schatten grell aneinanderstoßen und die giftigsten Vipern dort gern unter den schönsten Blüten lauern, so strömt auch dieser vergiftende Malariahauch aus einem Waldkörper von üppigster, fast überirdischer [235] Schönheit. Ich preise mich wirklich glücklich, diese unheimlich schönen Urwaldbilder auf gemächlicher Fußwanderung mit staunender Bewunderung genossen zu haben, und nicht im dicht verschlossenen Palankin mit Windeseile hindurchgeschleppt worden zu sein, muß aber doch wohl zur Entschuldigung meines Leichtsinns hinzufügen, daß sich meine Natur bis dahin selbst in den gefährlichsten Fiebergegenden Asiens, z. B. in den persischen Wäldern am Kaspimeer,[WS 4] widerstandsfähig genug gezeigt hatte, um einen solchen Fußmarsch wagen zu dürfen.
Bei Semrabassa ist freilich noch wenig von dieser sich nur ganz allmählich entwickelnden Urwaldherrlichkeit zu sehen. Dagegen konnte ich dort zum ersten Male die Awalias[WS 5] beobachten, d. h. die fast vertierten Ureinwohner des Terai, die dasselbe nicht einmal während der Regenzeit, in der kein Verkehr durch das Terai möglich ist, verlassen und die tatsächlich fieberfest geworden sind. In dem wildreichen Dschungeldickicht spähen sie nach verwesenden Tierleichen umher, die ihnen ihre üppigsten Mahlzeiten liefern, und leben im übrigen vom Verkauf von Topfwaren, Rettichen und Kürbissen an die durchziehenden Kärrnerkarawanen.
Das Terai wimmelt von Tieren aller Art, die sich gegenseitig die besten Bissen wegzuschnappen suchen und einander nach dem Leben trachten. Der Geier zerreißt den Kranich, der sich eben ein saftiges Fröschlein aus einem Infusorienbrei herausgespießt hat, und übersieht den auf ihn lauernden Leoparden, dem alsbald ein wild daherstürmender Elefant einen tödlichen Fußtritt versetzt, dabei aber vielleicht unterwegs ein Rhinozeros aus seinem Pfuhle aufscheucht, das dann wutschnaubend dem Rüsselschwinger zu Leibe geht und den ungeheuren Körper aufschlitzt und zerfetzt. In anderen Himalajavorbergen räumt die Büchse englischer Sportsleute gewaltig unter dem Wildstande auf; im nepalischen Terai aber können die Tiere sich ganz nach Herzenslust vermehren oder gegenseitig vernichten, unbekümmert um die blauen Bohnen der Europäer. Nur einmal im Jahre veranstaltet der Maharadschah eine Jagd größten Stils, bei der dann gleich Hunderte von Elefanten gefangen oder gefällt und zahllose wilde Katzen aller Art ihres prächtigen Felles beraubt werden.
Durch die Zusage dreifachen Tagelohnes bewog ich meine Kulis, mir in einem einzigen Tagemarsch von Racksaul über Semrabassa bis nach Bitschako,[WS 6] das sind volle 28 englische Meilen oder 50 Kilometer, zu folgen, wobei ich die trägen Kulis oft stundenweit hinter mir ließ und in der fürchterlich erhabenen Waldwildnis vollkommen allein war. Immer fremdartiger wurden die mich umgebenden Vegetationsbilder. Aus den wunderlichen, verschlungenen Zweig- und Blättermassen waren die einzelnen Bäume schließlich gar nicht mehr herauszufinden; wüst und phantastisch und doch mit schönster Gesamtwirkung waren die Stämme durcheinander gewürfelt, mit Schlingpflanzen verkettet und von Ranken und Orchideen überwuchert. Der moderige, saftstrotzende Humusboden und das rege Schmarotzerleben verrieten, wie kraftvoll die Natur in dieser Zone Vergehen und Entstehen befördert.
[236] Als ich gerade eines dieser tausendmaschigen, wundervoll gerafften Blätternetze betrachtete, die dort die Natur wie ungeheure Zaubermäntel von Ast zu Ast, von Wipfel zu Wipfel geworfen hat, schien sich etwas leise zwischen den Fäden dieses Flechtwerks zu regen; dann guckte hier ein Händchen, dort ein seltsam munteres, lebhaftes Äuglein und darüber ein drolliges, haariges Köpfchen unter den Blättern hervor, und ehe ich mich noch besinnen konnte, was für eine Sorte von Waldgeistern das wohl sein mochte, sprang urplötzlich gleich einer ungeheuren, rauschenden Flutwelle von zahllosen braunen Körpern eine riesige Affenherde aus ihrem grünen Versteck hervor und verschwand mit eiligen, langen Sprüngen in den dichten Blätterkulissen einer benachbarten Baumgruppe. Dann herrschte wieder Mäuschenstille im Wald; jeder der tausend Affen hockte wieder unkenntlich irgendwo im Dickicht und beobachtete mich vermutlich von dort aus aufs schärfste.
Ich stand noch ganz verblüfft unter der Nachwirkung dieses ganz unerwarteten Schauspiels, das für mich bei schlechter Laune der Herren Affen übel genug hätte ablaufen können, als es abermals in den Büschen krachte und knackte und kaum hundert Schritte vor mir zwei herrliche, weißgefleckte Hirsche in mächtigen Sätzen quer über den Weg sprangen. Ich ging mit einem der inzwischen herangekommenen Kulis den Spuren der Tiere entgegen und stieß bald auf einen verendeten Hirsch gleicher Art, mit zerrissener Gurgel und fürchterlichen Krallenspuren am ganzen Körper. Doch an welcher Stelle der verfilzten Laubmasse lauerte jetzt die vermutlich durch unser Nahen verscheuchte Bestie? Über mir, hinter meinem Rücken, rechts oder links von mir? Ich schoß aufs Geratewohl meinen Revolver ab, hörte aber aus den dichten Blätterklumpen statt des Geräusches eines davonspringenden schweren Tieres nur das höhnisch klingende Krächzen eines Vogels! Die Kulis begrüßten den Hirsch als willkommene Beute und nahmen ihn mit nach Bitschako, wo wir erst in später Nacht eintrafen.
In Bitschako befand sich zwar ein Unterkunftshaus für Reisende, das aber wie die meisten dieser Pauas[WS 7] in einem so nichtsnutzig verräucherten und unsauberen Zustande war, daß ein Übernachten darin eine Strafe gewesen wäre. Ich ließ deshalb mein Zelt auf einem gegenüberliegenden Hügel aufschlagen und machte dann, müde wie ich war, bei den auf der Lichtung verteilten Lagerfeuern der Kärrner die Runde, um für den nächsten Tag einen Ersatz für zwei fieberkrank gewordene Kulis aufzutreiben; mein einziger Erfolg bestand in dem Erwerb eines räudigen, lendenlahmen Ponys, der auch richtig am folgenden Tage unter der Last seiner beiden Kulibürden zusammenbrach. Zu abgespannt, noch ein großes Abendessen herzurichten, griff ich zu meinen Nothelfern, einigen Aleuronatbiskuits und ein paar Stückchen Kolaschokolade,[WS 8] schlief aber noch während des Knabberns ein.
Wäre ich nicht durch jahrelange Abhärtung ein fast unermüdlicher Fußgänger geworden, so hätte ich sicherlich am folgenden Tage die Flinte ins Korn geworfen und Nepal Nepal sein lassen. Jedenfalls gebe ich dem Naik in [237] Segauli vollkommen recht und möchte niemandem den Versuch empfehlen, anders als im menschenquälenden Palankin durch die abscheulichen Geröllmassen vorwärts zu kommen, die hinter Bitschako als Boden eines ausgetrockneten Flußbettes die Straße vorstellen. Zu Fuß, und noch dazu in Lederstiefeln, ist es eine Stolperei ganz ohnegleichen, zu Pferde würde es aber eine noch unerhörtere Tierquälerei sein; die barfuß laufenden Palkiträger kommen tatsächlich über dieses Meer von losen runden Steinen noch am leichtesten hinweg. Auch die zweiräderigen Karren der Teraikarawanen bahnen sich, so schlecht es auch geht, mit gräßlichem Knarren und Quietschen ihren Weg durch dieses Flußbett, das natürlich während der Regenzeit von einem brausenden Waldstrom ausgefüllt ist, jetzt im Winter aber nur von einigen schmalen Wasseradern durchrieselt wurde.
Meine Kulis krochen wie Schnecken über diesen schauderhaften Boden fort, so daß ich reichlich Zeit fand, die heute gänzlich veränderte Landschaft zu betrachten. Die merkwürdige Flußbettstraße wird nämlich durch bewaldete, steil abfallende Konglomeratwände[WS 9] gesäumt, die an Höhe und Formwildheit zunahmen, je weiter ich ging. Sie ragten ganz wie zerschossene, verwetterte Festungsmauern und Türme in die Luft, genau wie die Felsgebilde der „Sächsischen Schweiz“. Glücklicherweise verläßt die Straße nach mehreren Stunden den Wasserlauf und führt steil durch einen Hohlweg in einen herrlichen Wald von hochstämmigen Salbäumen.
In diesem Hohlweg, der für Verkehrsstockungen wie geschaffen zu sein scheint, hatte ein Karren das eine seiner beiden riesigen, massiven Räder verloren und durch seinen Umsturz sowohl die ihm folgenden, wie auch alle begegnenden Karren aufgehalten, unmittelbar nachdem ich diese kritische Wegstelle passiert hatte. Dadurch wurden meine Kulis, ohne daß ich es wußte, zurückgehalten und von mir getrennt, so daß, als ich endlich sehr erschöpft in Hetaura[WS 10] eintraf, weder von ihnen noch von meiner Feldküche etwas zu erblicken war. Vergeblich versuchte ich in den dürftigen Bauernhäusern für Geld und gute Worte etwas Eßbares aufzutreiben; die Weibsleute schlossen entweder entrüstet ihre Türen und rannten davon, oder erhoben ein so entsetzliches Geschrei, daß ich ganz betäubt auf alle ferneren Verpflegungsversuche verzichtete. Die bisherigen Strapazen, die ungesunde Luft im Terai, die stechende Hitze und schließlich die mangelhafte Beköstigung hatten mich aber nachgerade so mürbe gemacht, daß ich mich ohne weiteres im Schatten eines dichtbelaubten Banyanbaumes auf die Erde warf; ich besaß jedoch noch Energie genug, mich sogleich wieder aufzuraffen, als ich spürte, wie sumpfig das ganze Erdreich und wie erhitzt ich selber war. Von einigen in der Nähe lagernden Afghanen, die mit Pelzwaren handelten, erstand ich für 20 Rupien ein herrlich geschecktes Leopardenfell und von einem Kärrner eine Strohdecke, so daß ich nun wenigstens eine trockene gesunde Lagerstätte hatte, um die Ankunft meiner Kulis abzuwarten.
In meinem von zahllosen Fliegen und Moskitos gestörten Halbschlummer bemerkte ich, wie sich plötzlich eine ferne Blätterwand teilte und daraus eine [238] große, dunkle Masse hervor kam; es war ein ungeheurer Elefant, um den sich aber niemand zu kümmern schien. Ich war viel zu abgespannt, um aufzustehen, selbst als ich bemerkte, daß der Elefant geradeswegs auf mich losmarschierte; ich blinzelte das Untier von unten her an und wartete stumpfsinnig ab, ob es wohl geruhen würde, mich zu zertreten oder nicht. Doch das Grautier machte klugerweise vor mir Halt, wedelte gemütlich mit den riesigen Ohren, knickte dann mit seinem Rüssel einen belaubten Zweig ab und fächelte mir damit bedächtig die lästigen Moskito- und Insektenschwärme fort, ohne mich auch nur mit einem Blättchen zu streifen. Durch diese unvermutete Liebenswürdigkeit wurde ich so gerührt und aufgeheitert, daß ich völlig ermuntert aufsprang und dem herbeieilenden Kornak eine Backschischmünze zuwarf. Der Wärter, der wie alle Kornaks der größeren Gelenkigkeit halber völlig nackt ging, ließ den Elefanten alsbald niederknieen, legte eine Leiter an und bat mich, auf den Rücken seines Pfleglings zu klettern, während das Tier ihn selbst mit dem Rüssel emporhob, so daß er sich auf seinen Platz, d. h. auf den Hals des Elefanten, schwingen konnte. Ein kleiner Junge, der wohl von meiner Proviantnot gehört hatte, kam eiligst angerannt, um mir außer einer großen Banane drei kleine Taubeneier anzubieten, die der Elefant mir auch gehorsamst in seinem Rüssel in die Höhe lieferte, die Banane aber dabei schlauerweise so fest gekrallt hielt, daß ich sie ihm gutwillig überlassen mußte; im Ziehkampf mit einem Elefanten hatte ich noch keine Erfahrung. So hungrig ich auch war, tröstete ich mich doch über die Einbuße der Bananenschote durch die Hoffnung, daß es wohl nur eine sogenannte Pferdebanane gewesen sei, an der sich ein Mensch den Magen zu verderben pflegt.
Der Elefant marschierte stracks in den Wald hinein, wo ich auf einer Lichtung mindestens 200 der herrlichsten Tiere dieser Art versammelt fand; man hatte sie für die Jagd des Maharadschah zusammengebracht und dafür Sorge getragen, daß es sämtlich tigerfeste, tadellos dressierte Prachtexemplare waren. Gegen ein Rhinozeros hält aber auch der taktfesteste Elefant nur dann stand, wenn es dem Schützen gelingt, das Rhinozeros zwischen die Augen, allenfalls auch zwischen Auge und Ohr zu treffen, bevor es zu grunzen anhebt.
Schwerlich kann man sich eine noch großartigere Tierversammlung vorstellen, aber noch schwieriger wäre es zu unterscheiden, was mehr zu bewundern [239] ist: die Gelehrigkeit und die Leistungen dieser Tiere oder der Mut und die Geschicklichkeit ihrer Lehrmeister, der Kornaks. Mir wurde schließlich vor lauter in der Luft herumzüngelnden Elefantenrüsseln so wirr vor den Augen, daß ich froh war, den Jungen, der mir die Taubeneier gebracht hatte, mit der Meldung heranspringen zu sehen, daß meine Kulis eingerückt seien. Natürlich wehrten sie sich verzweifelt, noch die weiteren zwölf Meilen bis Bhimpedi[WS 11] zu marschieren, und erst nachdem ich ihnen eine dreistündige Mittagsrast zugesagt und als Erleichterer ihrer Lasten ein paar stramme Ochsen gemietet hatte, konnte ich in Gemütsruhe meine inzwischen gar gewordene Mahlzeit verzehren, für die ich mir nicht die schlechtesten Büchsen aus der Konservenkiste herausgesucht hatte.
Bei der mir nur auf wenige Wochen bemessenen Erlaubnisfrist drängte es mich, in das eigentliche Nepal zu kommen, so interessant das Terai, abgesehen von der darin herrschenden schwülen, widerlichen Atmosphäre, auch an und für sich war.
Gleich hinter Hetaura änderte sich wie mit einem Schlage der bis dahin qualvoll schlechte Weg, denn von dort bis nach Bhimpedi hat die nepalische Armee eine ganz wundervolle Straße durch Wald und Gebirge angelegt, breit, bequem und wohlgepflegt, vielleicht um zu zeigen, daß die Zugangsstraßen an den strategisch wichtigen Stellen absichtlich in einem schauderhaften, nur mit allergrößter Mühe benutzbaren Zustande belassen werden. Daß das sumpfige Terai ebenso absichtlich nicht trocken gelegt und ausgerodet wird, um die Malariagefahr nicht zu vermindern, die das Land vor Eindringlingen schützt, geben die Nepaler selbst zu.
Glücklicherweise widerstand ich der Versuchung, diese romantischen Hohlwege und Schluchten photographisch aufzunehmen, denn es war mir nicht entgangen, daß hinter den Bäumen am Wegrande hie und da Soldaten postiert waren und mir auch zeitweise nachschlichen, die jedenfalls den Auftrag hatten, über mein Tun und Treiben genauen Bericht abzustatten, mich wohl sogar bei offenbaren Vergehen abzufassen und unschädlich zu machen; das Unterlassen aller die Sicherheit des Landes berührenden Aufnahmen war mir ernstlich zur Pflicht gemacht worden. Und doch war der Drang, diese Landschaftsbilder festzuhalten, unwiderstehlich, denn ich wollte kaum glauben, daß nur blinder Zufall, nur Laune der Natur die Schönheit der Vegetation in so wirkungsvoller Steigerung zur Entfaltung zu bringen vermag, wie es auf dem Wege von Hetaura nach Bhimpedi geschieht. Kein Dekorationsmaler kann von genialeren Meisterstücken träumen, als sie hier der überquellende Schöpfungsdrang der subtropischen Zone gezeitigt hat.
Wie gewöhnlich waren auch auf diesem herrlichen Wege die Kulis weit zurückgeblieben, und ich stutzte nicht wenig, als mir plötzlich aus einem Busche ein fast nackter Mann mit einem an rasselndem Speer hängenden ledernen Beutel entgegentrat, der dort nebst einem noch weniger bekleideten Bogenschützen auf mich gewartet zu haben schien. Der Speerträger bückte sich grüßend bis auf die Erde und zog dann grinsend aus seinem Ledersack ein Briefchen hervor, das die Mitteilung enthielt, daß für mein Weiterkommen in Bhimpedi ein paar [240] offene Tragstühle, sogenannte Dändis[WS 12], bereitgehalten würden, da ich nur in solchen über die kaum wegsamen Gebirgspässe nach Groß-Nepal hinübergeschafft werden könnte. Allerdings hatte ich noch eine gute Strecke bis Bhimpedi zurückzulegen, und der einbrechende Abend überraschte mich einsam im dichtesten Walde; ohne gerade allzu ängstlich zu sein, war ich doch froh, als ich aus diesem Jagdgebiet der Tiger und Rhinozerosse glücklich heraus war und die ersten Hütten von Bhimpedi erreichte.
Während des Wartens auf die Kulis hatte ich hinreichend Zeit, in die offenen Häuschen der Eingeborenen zu blicken und, ohne selbst gesehen zu werden, deren glückliches, heiteres Familienleben zu beobachten. Mit welcher Zärtlichkeit stopfte dort beim Schein des auf dem niedrigen Herde flackernden Feuers die braune Mama ihrem Baby den Reis in das Mäulchen, während der Herr Papa sich von dem Töchterchen den bronzefarbigen Körper massieren und dann mit Senföl einsalben ließ! Doch weit bedeutender war das Schauspiel, das draußen der Talschluß hinter Bhimpedi bot, und das die gewaltigen Eindrücke dieses Tages aufs beste krönte.
Es war gerade Anfang Dezember, also die Zeit, wo der Maharadschah seine jährliche Tigerjagd abzuhalten pflegt, wobei ich gleich einschalten möchte, daß der Maharadschah nicht etwa mit dem König oder Mahara Dhiradsch von Nepal zu verwechseln ist. Ganz im Gegensatz zu anderen monarchischen Staaten nimmt man hier von dem Könige, namens Krithmi Viri Vikram Sah[WS 13], der nur eine Repräsentationsrolle spielt, viel weniger Notiz als von seinem allmächtigen Premierminister, eben dem Maharadschah Bir Schum Scherkana Bahadur[WS 14], der alle Zügel der Regierung in den Händen hält, während sich Se. Majestät den Freuden dieser Welt mit Inbrunst hingibt, sich nur selten in die Angelegenheit des Durbars einmischt und sich damit begnügt, ab und zu bei pomphaften Feierlichkeiten als dekoratives Schlußstück des Staatsgebäudes zu prangen.
An dieser Jagd des Maharadschah nimmt häufig der König, aber stets eine ungeheure Menschenschar teil, Höherstehende als Jagd- und Lagergefolge, Soldaten und Bauern als Treiber und Jagdhelfer, ganz abgesehen von den zahllosen Kulis und den Sklaven, die es in Nepal tatsächlich noch gibt. Diese Jagdgehilfen hatten nun in dem prächtigen Waldkessel, der bei Bhimpedi den Talschluß bildet, ihre Lager bezogen. In zahllosen unregelmäßigen Staffeln loderten ihre Lagerfeuer zwischen den Baumgruppen auf, und wo nur irgend eine kleine Lichtung oder ein glatter Felsblock ein Plätzchen zum Niederlassen bot, da dampfte auch ein Kessel, um den sich phantastisch beleuchtete Gruppen scharten, die schwatzten und lachten, schmausten und rauchten. An jedem dieser Flammenherde herrschte ein vollsaftiges „Freut euch des Lebens!“ und erfüllte den ganzen Talkessel mit brausendem Stimmengewirr, mit Sang und mit Klang. Die Kokosschale voll Rakschi[WS 15] d. i. Reisschnaps ging von Mund zu Munde, ebenso die Wasserpfeife, Sängerinnen kreischten, Hände klatschten, Trommeln dröhnten, Pfeier quiekten — kurz, es war ein Zigeunerlager allerbuntester Art! Von allen Höhen schallte der Jubel zu mir herunter, aus der Tiefe des [241] Flußbettes klang er herauf und zeigte, über welchen unerschöpflichen Herzensfrohsinn diese des Tages über so geplagten Kinder Nepals verfügen, trotzdem sie, oder vielleicht gerade weil sie von der übrigen Welt nichts wissen und nichts wissen wollen.
In Bhimpedi, am Fuße des Gebirges, geht die Fahrstraße in einen Bergpfad über; deshalb müssen alle Karrenladungen auf die Rücken von Kulis übergepackt werden, selbst wenn deren hundert zur Bewältigung eines einzigen Laststückes erforderlich sind, und deshalb herrscht in diesem Orte auch ohne Jagdversammlung während des ganzen Winters ein reges Leben. Durch die Anwesenheit der Treiber artete dasselbe aber zu solchem Tumult aus, daß ich hier unmöglich die nötige Nachtruhe gefunden hätte. Ich suchte deshalb einen der für mich bereit gehaltenen Tragstühle auf, lohnte die bisherigen Kulis ab und ließ die Kahars unter dem Versprechen eines fürstlichen Backschischs noch in dunkler Mitternacht den Marsch zu dem hoch über Bhimvedi liegenden Sperrfort Sissagari[WS 16] antreten. Nach dem schwülen, gewitterdrohenden Tage und dem ganz ungemein angreifenden Marsch durch die dunstigen Teraiwälder war es ein wahrer Genuß für mich, als ein Dutzend kräftiger Kahars die Stangen, an denen mein Tragstuhl hing, packten, auf ihre Schultern schoben und dann sofort den dicht hinter dem Ort lächerlich steil emporführenden Pfad hinaufzuklettern begannen. Schon nach wenigen Minuten sah ich die Bauernhäuser, die staubigen Straßen, bald auch die amphitheatralisch übereinander liegenden Wachtfeuer zu meinen Füßen. Das Singen, Musizieren und Händeklatschen wurde immer schwächer, das Licht der Sterne über mir immer reiner, die Luft stetig kühler und ätherischer, so daß ich mir bei dem höchst merkwürdigen Gefühl dieses Schnellemporgehobenwerdens mit einiger Phantasie ganz gut einbilden konnte, wie Margarete in der Oper gleichen Namens[WS 17] auf Engelsfittichen in den offenen Himmel zu schweben.
Die Kahars machten ihre Sache ganz vorzüglich. Die ganze Trägermasse glich einem einzigen Körper mit 24 Armen und Beinen, deren Füße auch im Dunkeln jeden Stein des unerhörten Weges zu kennen und zu fühlen schienen.
Wäre freilich dieser Menschenknäuel ins Fallen oder Rutschen gekommen, so [243] hätte es kein Halten gegeben, denn der Weg führte ohne jede Zickzackbiegung auf dem Grat einer Bergrippe so schnurgerade in die Höhe, daß das bei 5875 Fuß, also 2000 Fuß über Bhimpedi liegende Fort Sissagari bereits nach fünf Viertelstunden erreicht war. Der erste Blick zeigte, daß durch die Batterien dieses Forts jede Annäherung auf diesem fürchterlichen Pfade unmöglich gemacht werden kann und daß solche Annäherung nur auf einem Nebenaste des Rückens denkbar wäre.
Mir war nicht ganz behaglich zu Mute, denn ich hatte meinen Passierschein noch immer nicht erhalten und es unterlag keinem Zweifel, daß ich hier danach gefragt werden würde. Bei meinem Eintreffen am Festungstore trat auch sofort ein Offizier in lehmfarbiger Khakiuniform, mit schwarzem, tellerförmigem Turban, an dem eine handgroße Goldkokarde steckte, auf mich zu, bat mich um meinen Namen und händigte mir dann bei Fackelschein einen Streifen Bastpapier ein, den langersehnten Erlaubnisschein zum Betreten Groß-Nepals! Es war ein packender, wildschöner Anblick, als im Dunkel der Nacht die trotzigen, echt asiatischen Gestalten der Gorkhas mit lodernden Fackelbränden Spalier bis zum Eingang eines kleinen Rasthauses bildeten, worin ich Unterkommen finden sollte. Schon nach wenigen Minuten lag ich auf den weichen Kamelhaardecken meines Feldbettes und horchte auf das Brodeln meiner Theemaschine, die ein munteres Einzugsliedchen in das „verschlossene Land“ zu summen schien.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ WS: Semrabassa: vergleiche Pipara Simara (en)
- ↑ WS: Bagmati, Gandak, Kosi: Flüsse, vergleiche Bagmati (Fluss), Kali Gandaki, Koshi (Fluss)
- ↑ WS: Terai: vergleiche Terai
- ↑ WS: persische Wälder am Kaspimeer: vergleiche Hyrcanischer Wald an der Südküste des Kaspischen Meers
- ↑ WS: Awalias: Sammelbezeichnung der Hochlandbewohner für die Volksgruppen des Tieflands, Ableitung von Nepalesisch aval für Fieber.
- ↑ WS: Bitschako: Bichako, heute Amlekhganj (en).
- ↑ WS: Paua: möglicherweise von पाहुना (Hindi/Nepali), pahuna = Gast
- ↑ WS: Aleuronat, Kolaschokolade: vergleiche Aleuronat; koffeinhaltige Schokolade
- ↑ WS: Konglomerat: vergleiche Konglomerat (Gestein)
- ↑ WS: Hetaura: vergleiche Hetauda
- ↑ WS: Bhimphedi: vergleiche Bhimphedi (en)
- ↑ WS: Dändi: in anderer Literatur meist Dandy
- ↑ WS: Krithmi Viri Vikram Sah: vergleiche Prithvi Bir Bikram Shah Dev (regierte 1881-1911)
- ↑ WS: Maharadschah Bir Schum Scherkana Bahadur: vergleiche Bir Shumsher Jang Bahadur Rana (regierte 1885-1901)
- ↑ WS: Rakschi: vergleiche Raksi
- ↑ WS: Sissagari: nicht eindeutig identifizierbar, von anderen zeitgenössichen Reisenden als „Pass“ bezeichnet.
- ↑ WS: Margarete: vergleiche Faust (Gounod)