Durch Indien ins verschlossene Land Nepal/Englands Regierungssitz in Indien
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Wer zu Schiff in die Högli genannte Mündung des bei Kalkutta vorüberströmenden und sich im Sönderbönd[WS 2] zersplitternden Ganges einfährt, wird von einem namenlos niederdrückenden Gefühl der Enttäuschung befallen, wenn er zum ersten Male an einem dunstig schwülen Tage die trostlos einförmige, flache Dschungellandschaft an den Ufern erblickt; dieses Mißbehagen legt sich erst, wenn das Schiff wohlbehalten im Dampfschiffhafen von Kalkutta anlegt. Die erfahreneren Mitreisenden unterlassen zugleich nie, den Neuling auf die tatsächlich nicht geringen Gefahren aufmerksam zu machen; die der Schiffahrt durch Sandbänke und den „Quicksand“ genannten, mit unwiderstehlicher Riesenkraft alles in sich hineinschlingenden, unberechenbar auf dem Flußboden dahinflutenden Triebsand bereitet werden; gerät ein Dampfer, wie dies trotz der ausgezeichneten Lotsen und selbst bei sorglichstem Loten wiederholt vorgekommen ist, in derartigen Quicksand, so ist das Schiff in kürzester Frist unrettbar verloren! Der bekannte fromme Wunsch, der seitens der Engländer bei den Versuchen Friedrichs des Großen, deutsche Handelsverbindungen mit Indien anzuknüpfen, ausgesprochen wurde, daß nämlich die deutschen Schiffe durch die Lotsen irregeführt oder sonstwie zum Untergang gebracht werden möchten, hatte also ziemlich viel Aussicht auf Erfolg. Verschwand doch sogar im Jahre 1877 urplötzlich der gewiß auf gut untersuchtem Grund gebaute Leuchtturm Krischna[WS 3] an der Gangesmündung.
Der riesenhafte Verkehr von weit mehr als tausend Fahrzeugen sowohl im Dampfschiff- wie im Segelschiffhafen von Kalkutta setzt den Ankommenden aber alsbald in wahres Erstaunen.
Am Segelschiffhafen fällt sofort das weithin leuchtende Marmordenkmal des Admirals Peel[WS 4] in die Augen, und mit Staunen nimmt man die Fülle anderer prächtiger Denkmäler wahr, mit denen England die Verdienste seiner, [189] freilich oft nur durch geradezu barbarische Mittel erfolgreich gewesenen Männer in dem indischen Regierungssitze zu ehren gesucht hat, unbekümmert darum, daß diese Verherrlichung einen stetig schmerzenden Dorn für die Herzen patriotisch gesinnter Hindus bedeutet. Es ist eine stattliche Schar schneidiger Feldherrn und namhafter Generalgouverneure, die unbedeckten Hauptes von hohen Sockeln zu den scheu daran vorüberhuschenden Hindus hinunterschauen und an die vergeblichen Versuche tapferer Indier erinnern, Herren ihres eigenen Landes zu bleiben. Eine Spazierfahrt durch den von Europäern bewohnten Stadtteil, besonders durch den Tschoringhi[WS 5], die vornehmste, mit geräumigen Villen besetzte Straße Kalkuttas und längs der Rennbahn zeigt die Standbilder der unerschrockenen Lords, auf die England stolz zu sein alle Ursache hat: Lawrence, den Verteidiger, und Outram, den auf wildem Renner anstürmenden Befreier Laknaus, Ochterlony, den Bezwinger der tapfersten indischen Völker, der Sikhs und der Mahratten, Bentinck, Canning, Hardinge, Mayo, Northbrook[WS 6] — kurz, eine große Zahl um Indien verdienter Männer, in der jedoch die Vertreter anderer Nationen fehlen, die den Engländern durch ihre genialen Entwürfe die Wege zu ihrer heutigen Machtstellung in diesem Lande gebahnt haben; es ist auffallend wenig bekannt, wie kräftig sich gleichzeitig neben Engländern auch Franzosen bestrebt haben, Indien zu erobern, als es zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts durch die Kämpfe der Landesfürsten vollständiger Anarchie verfallen schien. Doch die kühnen, weitschauenden Franzosen fanden bei ihrer Regierung keine so verständnisvolle Unterstützung wie die englisch-ostindische Handelskompagnie und hatten auch nicht das Glück, Männer von so unerhörter Kühnheit, aber auch von so beispielloser Habgier und Rücksichtslosigkeit gegen die Forderungen von Recht und Billigkeit zu finden, wie Clive[WS 7] und Warren Hastings; wer sich über Clives Wortbrüchigkeit, über seine Fälschungen und Betrügereien, über Warren Hastings’ dreiste Erpressungen durch Folterung von Hindufrauen und andere „erfolgreiche“ Mittel zu unterrichten wünscht, der lese die in C. Scholls Studie „Erobert oder erräubert?“ (Bamberg 1901)[WS 8] unter Anführung der historischen Quellen zusammengestellten Belege nach; sie werden wohl jedem die Augen darüber öffnen, auf welche Weise das „stolze“ England in den Besitz Indiens und seiner Schätze gelangt ist und wie der brutale Egoismus, der von den modernen englischen Regierungsleitern angewandt wurde, um das sich gegen eine erdrückende Übermacht wehrende Burenvölkchen[WS 9] durch die Vernichtung der Frauen und Kinder auszurotten, nur ein recht trauriger Beweis dafür ist, daß Clive und Hastings würdige Nachfolger gefunden haben. Die früher viel schwächeren Verkehrsmittel und der trägere Nachrichtendienst waren schuld daran, daß damals Europa nicht noch mehr von den Schandtaten jener Männer erfuhr, denen England die Gründung Indiens verdankt.
Ich verkenne durchaus nicht, was England in Indien wie in allen von ihm beherrschten Ländern für die Entwicklung oder Vervollkommnung der Kultur getan hat; aber ebenso sehe ich, wie wenig man gewöhnlich bei der [190] Bewunderung dieses Verdienstes an die dabei wirksam gewesene Triebfeder unersättlicher Habsucht denkt, die gerade die Elemente der von England so gern als Deckmantel seiner Ländergier vorgeschützten Humanität, nämlich Gerechtigkeit und Menschlichkeit, mit erschreckendem Erfolge zu Boden tritt. Aber auch beim Anstaunen und Preisen des englischen Verwaltungsapparates in Indien wird sehr häufig übersehen, daß diesen die Engländer in seinen Grundzügen fast unverändert von seinem eigentlichen Schöpfer, dem weisen Großmogul Akbar, entlehnt haben. Selbst Sir John Lawrence gab den Engländern den guten Rat, nicht zu vergessen, daß die indischen Dorfgemeinden, die sich seit alten Zeiten ganz vortrefflich mit der Selbstverwaltung abzufinden gewußt hätten, eigentlich gar keiner Bevormundung bedürften.
Eine Fahrt in dem eleganten Villenviertel oder durch die Hauptgeschäftsstraßen der Europäer in Kalkutta, z. B. durch die Old Courthouse Street, führt uns höchst eindrucksvolle Bilder großstädtischer Bauweise vor Augen, die namentlich in dem Palast des Vizekönigs[WS 10], dem Postamt und den umfänglichen Verwaltungsgebäuden zu Tage tritt, so daß man wähnen könnte, in Europa zu sein, wenn nicht auch hier die auf den Straßen verkehrende Bevölkerung überwiegend aus Eingeborenen bestände, deren Erscheinungen aber keineswegs so buntfarbig und abwechslungsreich sind wie z. B. in der Radschputana. Kommen wir aber in die fast ausschließlich von Hindus bewohnten Viertel, so sind wir überrascht, wie wenig den Engländern daran liegt, daß auch diese in einem Zustande erscheinen, der dem Glanze eines Regierungssitzes entspricht. Mit einer für unser Ordnungsgefühl geradezu unverständlichen und peinlichen Gleichgültigkeit sind hier ansehnliche Baulichkeiten mit den denkbar erbärmlichsten Hütten durcheinander gewürfelt, was in gewissem Sinne zwar den Reiz des ungezwungen Malerischen bietet, aber doch mit allen gewohnten Grundsätzen eines geordneten Städtebaues im Widerspruch steht. Selbst die größte der breiten Hauptstraßen des verhältnismäßig ebenfalls noch jungen native quarter, die Harrison Road[WS 11], ist reich an solchen Gegensätzen, die aber wegen ihres europäischen Beigeschmackes nicht jenen künstlerischen Genuß aufkommen lassen, wie alte, echt indische Städte z. B. Gwalior oder Dschodpur.
Bei meinem ersten Spaziergang durch die Harrison Road war ich nicht wenig überrascht, inmitten des überaus lebhaften Straßenverkehrs auf einer [191] in der Häuserflucht liegenden Baustelle ein Lager wandernder Büßer und Bettler zu finden, die dort eine Reihe lumpiger Zelte aufgeschlagen hatten, zwischen denen einige Büffel hin- und herliefen, um sich an dem Heu der Lagerstätten gütlich zu tun, ohne daß sich jemand darum kümmerte. Was für ein Aufsehen würde es machen, wenn es inmitten der Berliner Friedrichstraße einer Zigeunergesellschaft einfallen sollte, sich dort auf einem Bauplatz häuslich niederzulassen! Auch ist es keine Seltenheit in dieser wie in anderen Straßen neben den gewöhnlich mit zartem, blassen Rosa, Gelb oder Blau getünchten riesigen Wohnhäusern reicher Radschahs erbärmliche Hütten zu finden, deren Wände über und über mit Fladen von Kuhdünger bedeckt sind, der von den armen Hausbewohnern auf den Straßen zusammengefegt und an die Mauern angedrückt wurde, um dort an der Sonne zu trocknen und ein wohlfeiles Brennmaterial für den Küchenherd zu ergeben. Dieser Duft, der namentlich abends aus den Feuerstellen der schornsteinlosen offenen Hinduhäuser hervordringt und sich mit dem Qualm der Kokusöllampen und anderen starken Gerüchen nach beliebten Genußmitteln vermengt, unter denen Zwiebeln und Knoblauch sowie Senföl und unbestimmbare Tabaksorten eine Hauptrolle spielen, verleidet manchem Europäer sehr bald den Besuch der indischen Eingeborenenviertel.
Die Steigerung des Bodenwertes drängt allerdings die Armen, deren Behausungen dieses für Kalkutta bezeichnende und sprichwörtlich gewordene Nebeneinandervorkommen von „Palast und Hütte“ hervorriefen, immer weiter [192] hinaus an die Ränder der Vorstädte, wo die glanzvollen Läden unbekannt und die Verkaufsstellen oft nichts anderes als winzige Fensternischen sind, in denen der Händler, manchmal sogar in Gesellschaft seiner Ehehälfte, hockt, um einige Betelblätter, Sodawasserflaschen oder fast wertlosen Trödel feilzubieten. Ich habe oft von ganzem Herzen lachen müssen, wenn ich bei solchen indischen Trödlern Dinge sah, wie z. B. Puppen aus Draht zur Anfertigung europäischer Frauenkleider, die bei Hindus, falls sie nicht Damenschneider sind, kaum eine angemessene Verwendung finden können.
Indische Kramladen bilden für ein künstlerisch schauendes Auge um so größere Anziehungskraft, je kleiner sie selbst oder die Verkäufer sind, denn es ist gar keine Seltenheit, daß ganz kleine Kinder mit dem Verkauf von Betelblättern oder ähnlichen geringwertigen Dingen, die aber doch einen festen Preis haben, betraut werden. In derartigen indischen Läden findet man allerlei diesem Lande eigentümliche Absonderlichkeiten, die man sich nicht gleich selbst erklären kann, so z. B. die runden Tonkrüge, die statt der Kästen und Schubfächer von den Mehlhändlern in schräger Stellung zur Hälfte in die Wände eingemauert werden, um den zerstörungslustigen, gefräßigen weißen Ameisen[WS 12] das Emporsteigen und den Zutritt zu dem Mehle zu hindern.
Eine Unzahl drolliger, wenn auch nicht immer sehr appetitlicher Bilder wird denjenigen belohnen, der sich die Zeit und die Mühe nimmt, in den ausschließlich von Eingeborenen bewohnten Straßen [193] herumzustreifen, so wenig ziemlich dies auch in den Augen der Engländer für einen Europäer ist. Fast jeder Schritt bringt irgend eine Überraschung. Dort kommt ein mohammedanischer Vogelhändler mit Käfigen voll kleiner Vögel, die mitleidige Hindus oder Buddhisten kaufen, um ihnen alsbald die Freiheit zu schenken. Dicht neben dem Laden des Zuckerbäckers kriecht und windet sich ein armer, splitternackter Krüppel mit einem verhungernden Kindchen im Staube der Straße herum und sammelt beträchtliche Massen von Kupfermünzen in einem Blechgefäß. Unweit davon schläft ein nackter Kuli matt und müde langausgestreckt an einer Mauer, daneben kauert sich ein anderer nieder, um sich gründlich und ausdauernd die Zähne zu säubern, während weiterhin auf einem freien Platze jemand seinen guten Freund massiert und sich dabei wenig um die Grimassen kümmert, die sein Opferlamm bei dem rücksichtslosen Bearbeiten seiner Muskeln und Gelenke zu schneiden sich veranlaßt sieht. Dazwischen kommt ein Musikant einhergewandert, der auf einer unmäßig lang gehalsten Gitarre herumklimpert. Hie und da gelingt es uns auch, einen Blick in die nur teilweise durch Vorhänge geschlossenen Räume und Höfe zu werfen, in denen die weiblichen Wesen sich aufzuhalten und sich bei ihren Toilettenkünsten hilfreich Beistand zu leisten pflegen.
Mit wahrer Überraschung entdeckt man inmitten dürftiger Vorstadthäuser eines der zierlichsten Architekturbilder von Kalkutta, einen Tempel der Dschainsekte[WS 13], die, wie ich bereits an anderer Stelle ausführte, es sich ganz besonders angelegen sein läßt, die Lauterkeit ihres Lehrgebäudes durch möglichst [194] sauber und kunstvoll ausgeführte Tempelbauten auch äußerlich zum Ausdruck zu bringen. Zwischen den Rosenbüschen, Palmen und Gartenanlagen macht das mit Stuckaturausputz überladene, leuchtend helle Tempelgebäude einen zumal beim ersten Anblick höchst überraschenden Eindruck, und fast habe ich das Gefühl, daß dieser der Vorstellung am nächsten kommt, die sich viele von Indien und indischen Erscheinungen machen. Wenn bei Festlichkeiten die große offene Halle und der Garten mit schön gekleideten Hindus belebt, alle Gebäude illuminiert und durch Schnüre mit farbigen Flaggen verbunden find und wenn auf dem Teich bengalische Feuer hin und her fahren, dann hat man in der Tat eins jener Bilder vor Augen, die in den Zeiten des einstigen, reichen Indiens alle Fremden in staunendes Entzücken versetzten.
Doch Kalkutta ist weniger ein Platz, um die Indier, als vielmehr den Brennpunkt englischer Machtentfaltung in Indien kennen zu lernen, denn seit dem Jahre 1770[WS 14] ist unablässig daran gearbeitet worden, dieser Macht auch äußerlich einen Ausdruck zu geben, der die Eingeborenen mit furchtsamem Respekt zu erfüllen vermag. Nirgends habe ich diese materielle Größe Englands in Indien mehr empfunden, als bei einer Besteigung des Turmes im Telegraphenamt, von wo aus man einen ausgezeichneten Blick aus der Vogelschau nicht nur auf die Old Courthouse Street, sondern zugleich auf das Wasserbecken des Dalhousie-Square[WS 15] hat, um das einige der wichtigsten und größten Gebäude [195] Kalkuttas: das Ministerium für öffentliche Arbeiten, das Obergericht, das Postamt und die Bank von Bengalen gruppiert sind. Jenseits liegt der ungeheure Park mit dem vizeköniglichen Palast und auf der anderen Straßenseite das Great Eastern Hotel.
Ich habe in allen größeren Hotels von Kalkutta gewohnt, könnte aber nicht sagen, daß auch nur eins den Vergleich miteinem erstklassigen deutschen oder schweizerischen Gasthofe aushalten könnte. Am erträglichsten fand ich es noch in dem Grand Oriental Hotel, obgleich auch dort die Küche manches zu wünschen übrig läßt. Von der Bedienung will ich nicht reden, denn in Indien bringt sich jeder, der gut bedient sein will, seinen eigenen Diener mit ins Hotel, obgleich es in einem solchen von Dienerschaft geradezu wimmelt.
Bei meinem Abschied von Kalkutta im Jahre 1890 machte ich mir das Vergnügen, die Hindukellner eines anderen Hotels zu photographieren und nahm auch die Familie des englischen Geschäftsinhabers mit auf das Bild; als ich diesem dann die Negativplatte zeigte, nahm er sie mir aus der Hand, lobte sie und schloß sie in seinen Geldschrank ein. Weder Bitten, noch Schelten, noch Drohen half mir zu meinem Eigentum, ich erhielt einfach die Antwort: „Jetzt habe ich die Platte und behalte sie!“ Unglücklicherweise hatte ich meine Rechnung schon bezahlt und wußte wirklich nicht, ob ich nicht am besten täte, diese Räuberei durch Mitnahme eines silbernen Löffels auszugleichen; da ich [196] jedoch noch eine zweite Aufnahme besaß, begnügte ich mich, den Photographen in Kalkutta mitzuteilen, daß die betreffende Platte mir gestohlen sei; ich bekam auch von einem Geschäft die Nachricht, daß der gute Mann sie zum Kopieren dorthin gebracht habe, daß man aber nichts gegen den Hotelier tun könne, da er sie „habe“. Ein englischer Polizist, dem ich, weniger wegen Zurückerlangung meines Eigentums als aus Grundsatz, diesen unverschämten Raub anzeigte, bemerkte sehr geistreich: dies sei eine Privatangelegenheit, die ihn nichts anginge! Damit ließ der Mann des Gesetzes den ob solcher Gerechtigkeitspflege verblüfften Fremdling aus Deutschland stehen.
So sehenswert auch der wohlgepflegte Edenpark und der berühmte botanische Garten und das Museum von Kalkutta[WS 17] sind, so zieht es den Fremden, zumal wenn er eine Landratte und kein Bewohner einer Seestadt ist, immer wieder an den Hafen; freilich kann dort der Deutsche ein Gefühl des Kummers nicht unterdrücken, wenn er erfährt, daß von dem gesamten indischen Handel kaum 2 % auf Deutschland, dagegen an 60 % auf England entfallen; und wie wird trotzdem in England wegen der deutschen Konkurrenz gegen uns gehetzt und gelogen!
Die Haupteinfuhr besteht aus Manufakturwaren, Maschinen und fertigen Baumwollgeweben, die Ausfuhr dagegen aus Rohbaumwolle, Thee, Opium, Indigo, Getreide, Reis, Häuten und besonders Jute; letztere wird in mehr als dreißig Fabriken mit zusammen etwa 60 000 Arbeitern aus indischem Hanf erzeugt, der in dem Gebiete zwischen Ganges und Brahmaputra fast wild [197] wächst und dessen feinere Innenfaser zur Herstellung von Sacktuchen, das untere Ende dagegen bei der Papierfabrikation Verwendung findet.
Die genannten Ausfuhrartikel erleiden hinsichtlich ihrer Menge oder ihres Wertes von Jahr zu Jahr Schwankungen, die sehr beträchtlich werden können, wenn irgend welche besonderen Ereignisse eintreten. So bewirkte der Wettbewerb des künstlichen Indigos einen Preisabschlag des natürlichen von 15 bis 20 %[WS 18]. Die Verteuerung der europäischen Kohlen ließ die Ausfuhr der in Indien früher gar nicht geförderten Kohle von 1 250 000 Tonnen im Jahre 1898 auf 1 734 000 Tonnen im Jahre 1900 anschwellen, und würde noch viel wesentlicher sein, wenn die Transportfähigkeit der Eisenbahnen der vorhandenen Förderung von 5 Millionen Tonnen Kohlen gewachsen gewesen wäre. Dagegen hat die in den letzten Jahren in einzelnen Provinzen Indiens herrschende Hungersnot die Kaufkraft des ganzen Landes höchst ungünstig beeinflußt, so daß Berge unverkäuflicher Waren anwuchsen, während die Ausfuhr von Reis und Weizen natürlich vollständig wegfiel. Andererseits ging während der Hungersnot der Viehstand zu Grunde, so daß die Zahl der im Jahre 1900 ausgeführten Kuhhäute um 30 %, die der Büffelhäute gar um 38 % oder um 316 200 bezw. 1 227 000 Stück gegenüber den 1898 verschifften stieg. Der deutsche Handel findet seit der Einstellung direkter Dampfer zwischen Bremen und Kalkutta durch die Hansalinie[WS 19] jetzt fast vollständig unter deutscher Flagge statt, so daß im [198] Jahre 1900 im Hafen von Kalkutta 55 solche Dampfschiffe verkehrten, während 1897 nur 38 dort gewesen waren. Einer Einfuhr aus Deutschland im Betrage von rund 10 735 000 Mark steht eine Ausfuhr aus Indien nach Deutschland im Werte von rund 84 Millionen Mark gegenüber, über deren Einzelheiten das vom Reichsamt des Inneren herausgegebene „Handelsarchiv“ außerordentlich lehrreiche Daten beibringt, deren Wiedergabe jedoch den Rahmen dieses Werkes überschreiten würde.
Die jährlich und zu Zeiten auch in Kalkutta tagenden indischen Nationalkongresse[WS 20] scheinen nach und nach zu einem für die englisch-indische Regierung recht peinlichen Zugeständnis zu werden, das sie aber den Eingeborenen zu entziehen, nicht mehr die Macht hat. Mit größtem, aber stets sachlich bleibenden Freimut, ohne Erregung oder Gehässigkeit, hält der Kongreß der Regierung ihr Sündenregister vor und scheut sich nicht, offen seine Mißbilligung über ihm unrechtmäßig erscheinende Handlungsweisen auszusprechen; so unterzog der Kongreß die Politik Englands in Bezug auf Birma einer ablehnenden Kritik, setzte die Freilassung der zweiundeinhalbes Jahr lang ohne jede Anklage als „verdächtig“ gefangen gehaltenen Brüder Natu[WS 21] durch und forderte unausgesetzt eine gründlichere Prüfung der Verwaltung Indiens von England. Der Kongreß erklärte auch die Gründe der Verarmung Indiens und die Aussaugung seiner Lebenskräfte durch die von den Indiern getragenen und immer mehr anwachsenden Kosten für das in ihrem Lande von England gehaltene Militär sowie durch die Ausfuhr des indischen Nationalvermögens nach England ohne entsprechende Gegenleistung. Diesen unbequemen Wahrheitssagern wurde bei der letzten Gelegenheit als Antwort nichts anderes als die sehr bezeichnende Abfertigung zu teil: Die Armut Indiens und der Verlust, den es durch Bezahlung von Gehältern, Sinekuren[WS 22] und Pensionen in England erleidet, sind schon so lange das Lieblingsthema feierlicher Reden gewesen, daß es nicht notwendig ist, sie von neuem zu besprechen!
Daß noch viele andere Ursachen mitsprechen, die Indien verarmen lassen, ist keinem Kenner der Verhältnisse unbekannt; vor allem macht es einen großen Unterschied, ob die Kleinbauern, die 7/10 der ganzen Bevölkerung ausmachen, ihre Steuern wie früher in einem Teil ihrer Bodenerzeugnisse oder wie jetzt als Bargeld entrichten müssen. Daß die Bauern dadurch immer mehr eine Beute schamloser Wucherer werden, ist mangels von Agrarbanken kein Wunder. Mit welcher unerbittlichen Strenge aber die Grundsteuer durch die Engländer eingetrieben wird, geht daraus hervor, daß von 1890 bis 1900 allein in der Präsidentschaft Madras nicht weniger als 840 713 Bauernfamilien infolge zwangsweiser Versteigerung ihrer Habe als Bettler davon ziehen mußten, wodurch alsbald eine Million Hektare Ackerland außer Kultur kam! Das Einkommen der Landbevölkerung erreicht jetzt täglich nicht mehr 6 Pfennige auf den Kopf[WS 23], wobei nicht zu vergessen ist, daß der indische Landbau durch die sinkende Viehzucht in Mitleidenschaft gezogen wird. Über den Verfall der Gewerbe und Kunstindustrien durch den europäischen Wettbewerb und den [199] Fortfall der indischen Hofhaltungen als Abnehmer habe ich bereits an anderer Stelle gesprochen.
Eine nicht geringe Schuld an diesem dringenden Begehren nach einer Untersuchungskommission für Indien, wie überhaupt an der schwülen, über Indien lastenden Ungewißheit und dem gegenseitigen Nichtverstehen zwischen Engländern und Hindus - liegt auch darin, daß die Amtsdauer der Vizekönige viel zu kurz bemessen wird; sie genügt nicht, um sich in so überaus verwickelte Verhältnisse einleben und den Volksgeist erfassen zu können. Hierzu kommt, daß der Verkehr von Indien nach England beständig erleichtert wird und die Engländer immer weniger danach trachten, sich mit der Gedanken- und Empfindungswelt der unterworfenen Rasse vertraut zu machen oder sich gar mit Hindufrauen zu vermählen; sie lassen sich an den äußeren, oft nur erheuchelten Zeichen der Unterwürfigkeit genügen, sind aber selbst schuld, daß die Indier Indier bleiben und nichts von den guten Eigenschaften ihrer Herrscher annehmen. Daß die gebildeten Engländer solche haben und sogar sehr liebenswürdige Gesellschafter abgeben, die von der Kleinlichkeit deutscher Philister frei sind, wird jeder zugeben, der in guten englischen Familien verkehrt hat.
Jedenfalls wird sich die englische Regierung Indiens bald bequemen müssen, um die Steuerüberbürdung zu mildern und einem völligen Bankerotte zu entrinnen, den Wurzeln des Übels zu Leibe zu gehen; es wird ihr nichts übrig bleiben, als Ersparnisse in der viel zu teueren Verwaltung einzuführen und die Kosten für das indische Militär zu verringern oder diese, wie es sich eigentlich von selbst versteht, durch das britische Reich tragen zu lassen.[WS 24]
Wenn der Vizekönig von Indien jedoch inmitten seines Prunksaales bei einem Durbar auf dem goldenen Sessel thront, der einst als Haudah auf dem Rücken eines Elephanten den gewaltigen, den Engländern so hartnäckigen Widerstand leistenden südindischen Sultan Tippu[WS 25] trug, oder wenn er ein Ballfest gibt, eine Reise macht oder sonstwie öffentlich auftritt, dann kann niemand ahnen, wie schwere Sorgen, welch unaussprechlich bitterer Mangel den fabelhaften, blendenden Pomp und Glanz seiner Hofhaltung als tiefe Schatten verbrämen.
Ich war zufällig gerade an dem Tage in Kalkutta, als Lord Curzon[WS 26], der jetzige Vizekönig und wohl der erfahrenste und befähigtste, der je diese schwere Bürde auf sich genommen hat, in das Government House einzog. Um sich ein Bild dieses Einzuges zu machen, denke man sich gütigst alle Fenster und Dächer der mit prächtigen Fellen und Teppichen behangenen Häuser und das ganze Pflaster der Courthouse Street dicht mit Menschen besetzt, durch die es aber den ausgesucht schönen indischen Lanzenreitern mit leichter Mühe gelang, eine Gasse für die im Schritt fahrende Kalesche zu bahnen, in der „Seine Exzellenz“ der Vizekönig mit seiner wunderbar schönen und sich [200] entzückend liebenswürdig benehmenden Gemahlin, einer geborenen Amerikanerin[WS 27], einherfuhr. Der Triumphzug kam von der Howrahstation[WS 28], mußte also die einen halben Kilometer lange Brücke über den Högli überschreiten, die nur zu gewissen Tagesstunden aufgezogen wird, um Schiffe hindurchfahren zu lassen; dann erst gelangte er in die eigentliche Stadt, die an diesem Tage einem wahren Meere von farbenreichen Trachten glich, da bei diesem Empfange sämtliche indische Fürstlichkeiten mit ihrem glänzenden Dienertroß anwesend waren.
Bei diesen und ähnlichen Anlässen konnte ich mich nicht genug über die Haltung wundern, die von den untersten Volksklassen selbst im dichtesten Gewühle bewahrt wurde. Nirgends spürte ich etwas von der bei solchen Volksanhäufungen in anderen Ländern selten ausbleibenden Roheit, sondern sah mit freudigem Erstaunen, wie weitgehende Rücksicht der Indier auf seinen Mitmenschen zu nehmen pflegt; auch im übrigen betätigen viele Hindus ihren Nächsten gegenüber weit tatkräftiger praktisches Christentum als diejenigen Christen, die ausschließlich dem Grundsatze gemäß leben: Jeder ist sich selbst der Nächste! Taktgefühl und Rücksichtnahme zu finden, wie wohl tut das einem aus dem modernen Deutschland kommenden Manne!
Zu den großen Ereignissen, die ganz Kalkutta und einen guten Teil Indiens auf die Beine bringen, gehört auch das gegen Neujahr stattfindende große Wettrennen[WS 29] auf dem Maidan, verbunden mit einer feierlichen Auffahrt des Vizekönigs, der einen stattlichen Silberpokal als Hauptpreis auszusetzen pflegt. Mit vielem Mißvergnügen nahmen jedoch die sportliebenden Engländer wahr, daß der frühere Vizekönig, der kein Reiter war, nicht selbst zu Pferde stieg, sondern bei dem zum Schluß des Rennens abgegebenen Pelotonfeuer[WS 30] der in [201] Parade stehenden Truppen sogar die Pferde seines Wagens aus Besorgnis vor ihrem Durchgehen abschirren ließ.
Wie in ganz Asien dienen natürlich auch hier diese races nicht nur als Treffpunkt von allen, die sich als zur Gesellschaft gehörig betrachten, sondern auch als höchst willkommene Gelegenheit, Wetten in fabelhaftem Umfange zu veranstalten und daß der Totalisator[WS 31] dabei nicht zu kurz kommt, brauche ich gewiß nicht erst zu versichern. In Ermangelung großer Abwechselung in den geistigen Genüssen hat sich die Sucht zu wetten allmählich zu einer Art Leidenschaft ausgebildet, wobei selbst das Datum und die Stunde des ersten Monsunregenfalles und die Höhe der dann vom Himmel stürzenden Wassermassen als zum Wetten geeignete Streitpunkte herhalten müssen.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ WS: Outram, Maidan in Kalkutta: vergleiche James Outram (General), Maidan (Kolkata) (en)
- ↑ WS: Högli, Sönderbönd: vergleiche Hugli (Fluss), Sundarbans
- ↑ WS: Leuchtturm Krischna: Der Krishna Shoal Tower stand von 1869 bis 1877 (allerdings im Irrawaddy-Delta), bis ihn vermutlich ein Zyklon zerstörte.
- ↑ WS: Admiral Peel: vergleiche William Peel (Marineoffizier)
- ↑ WS: Tschoringhi: vergleiche Chowringhee (en)
- ↑ WS: Ochterlony, Bentinck, Canning, Hardinge, Mayo, Northbrook: vergleiche David Ochterlony (en), William Cavendish-Bentinck (regierte 1828-1835), Charles Canning (regierte 1856-1862), Henry Hardinge (regierte 1844-1848), Richard Bourke, 6th Earl of Mayo (en, regierte 1869-1872), Thomas Baring, 1st Earl of Northbrook (en, regierte 1872-1876)
- ↑ WS: Clive: vergleiche Robert Clive (1725-1774)
- ↑ WS: C. Scholl: vergleiche Carl Scholl (1820-1907). Erobert oder erräubert? Geschichtlicher Nachweis wie England Ost-Indien nahm. Ein Seitenstück zum Burenkrieg.
- ↑ WS: Burenvölkchen: vergleiche Zweiter Burenkrieg (1899-1902), zur Drucklegung also hochaktuell.
- ↑ WS: Old Courthouse Street, Palast des Vizekönigs: vergleiche Raj Bhavan (en), gelegen an der Old Court House Street (ebenso wie weitere später erwähnte Gebäude, etwa das Great Eastern Hotel).
- ↑ WS: Harrison Road: seit 1947 Mahatma Gandhi Road (en)
- ↑ WS: Weiße Ameisen: vergleiche Termiten (veraltet englisch: white ant)
- ↑ WS: Tempel der Dschainsekte: vergleiche Calcutta Jain Temple (en)
- ↑ WS: 1770: auf welches konkrete Ereignis Boeck hier anspielt, ist unsicher, England etablierte seine Vorherrschaft in den Jahren 1757-1803: Im Siebenjährigen Krieg (bis 1763) wurde Frankreichs Kolonialeinfluss verdrängt. Hungersnot in Bengalen 1770. 1773 wurde die Hauptstadt der Ostindien-Kompanie nach Kalkutta verlegt. Ebenfalls ab 1773 wurde die Herrschaft der Kompanie (en) immer weiter durch England reglementiert und schließlich 1858 in eine Kolonie umgewandelt.
- ↑ WS: Dalhousie-Square: vergleiche B. B. D. Bagh (en)
- ↑ WS: Grand Hotel: vergleiche Oberoi Grand Hotel (en)
- ↑ WS: Edenpark, botanischer Garten, Museum: vergleiche Eden Gardens direkt neben dem Eden Garden Park; Acharya Jagadish Chandra Bose Indian Botanic Garden (en); Indian Museum
- ↑ WS: künstlicher Indigo: vergleiche Indigo, entwickelt 1879 durch Adolf von Baeyer
- ↑ WS: Hansalinie: vergleiche Deutsche Dampfschifffahrts-Gesellschaft „Hansa“
- ↑ WS: indischen Nationalkongresse: vergleiche Indische Unabhängigkeitsbewegung, Entstehung des indischen Nationalismus (1885–1905) und des Indischen Nationalkongresses
- ↑ WS: Brüder Natu: Balasaheb Balwant Ramchandra Natu (1855-1914) und Tatyasaheb Hari Ramchandra Natu
- ↑ WS: Sinekure: vergleiche Sinekure
- ↑ WS: entspräche 2018 ca. 39 Cent
- ↑ WS: bald bequemen müssen: ein Beispiel für spätere Reformen waren die Government of India Acts (en)
- ↑ WS: Sultan Tippu: vergleiche Tipu Sultan
- ↑ WS: Lord Curzon: vergleiche George Curzon, regierte 1899-1905
- ↑ WS: Frau Curzon: vergleiche Mary Curzon
- ↑ WS: Howrahstation: vergleiche Haora
- ↑ WS: Wettrennen: vergleiche Royal Calcutta Turf Club (en)
- ↑ WS: Pelotonfeuer: vergleiche Peloton (Militär)
- ↑ WS: Totalisator: vergleiche Totalisator
- ↑ WS: Gitarre: eigentlich eine Tanbur