Durch Indien ins verschlossene Land Nepal/Am Ziele aller Hinduwünsche

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Brandungsplätze des indischen Aufstandes Durch Indien ins verschlossene Land Nepal
von Kurt Boeck
Englands Regierungssitz in Indien
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Weber im Zuchthause in Benares.

Vierzehntes Kapitel.
Am Ziele aller Hinduwünsche.

In Benares zu weilen, dort in die entsündigenden Fluten des Ganges niederzutauchen oder nach dem Ableben an den Ufern dieses heiligsten Stromes von den Flammen verzehrt zu werden, das ist der Inbegriff des Wünschenswerten für den wahren Hindu, der auf die Ziele modernen Europäerstrebens, soweit sie ihm als Luxus, Genuß und materieller Gewinn erkennbar sind, mit derselben Verständnislosigkeit wie auf die gesamte Lebensweise der Europäer herabsieht.

Ich muß ganz offen bekennen, daß mich Benares beim ersten Besuch etwas enttäuscht und weit weniger gefesselt hat, als bei späterer Wiederkehr; es ging mir mit dem Hindutum, wie mit einer fremden Sprache, von der man wohl ein paar Wörter versteht, die man aber noch nicht ausreichend zu sprechen vermag, so daß man sich fortwährend über den Mangel an Kenntnissen und über begangene Schnitzer zu ärgern Ursache hat. Jetzt erst, nach vier Indienreisen, halte ich auch Benares für eine der allerinteressantesten Städte Indiens, und gerne würde ich noch einmal für längere Zeit dorthin zurückkehren, seitdem ich unter den dortigen Brahmanen Männer kennen gelernt habe, die sehr wohl begreifen, warum uns die Begleiterscheinungen des entarteten brahminischen Kultus anstößig und widerlich vorkommen müssen. Freilich wollen solche vornehme Brahmanen mit Geduld und Ruhe ausgesucht sein, denn sie meiden ganz besonders die in geräuschvollen Massen auftretenden Globe-Trotter und sind nicht zwischen dem lästigen Bettlergesindel zu finden, das die Vergnügungsreisenden auf Schritt und Tritt verfolgt.

Vor allen Dingen muß man aus der inhaltsreichen Geschichte dieses Ortes die Umstände kennen, die der Entthronung des Königs von Benares, [175] Tscheit Singh[WS 1], im Jahre 1780 voraufgingen, die Hinterlist, mit der ihn der englische General Warren Hastings[WS 2] überrumpelte, und die flammende Beredsamkeit, mit der dieser Fürst nach seiner Flucht seine indischen Standesgenossen vergeblich zu einträchtigem Zusammenhalten und gemeinschaftlichem mutigen Vorgehen gegen die Eindringlinge zu beschwören versuchte. Wer je das etwa sieben Kilometer von Benares entfernt am jenseitigen rechten Gangesufer liegende Radschah-Schloß Ramnagar[WS 3] besucht hat, wird erfahren haben, mit wie fürchterlichen Mitteln dort die englischen Soldaten gehaust und der Mutter des Fürsten und seinen Gemahlinnen ihre Kostbarkeiten und Schmuckstücke abgepreßt haben. Es ist Tatsache, daß Warren Hastings in diesem Schlosse nicht weniger als fünf Millionen Mark erbeutete, daß der Anführer der Truppen, Major Potham[WS 4], 700 000 Mark, seine Offiziere 100 000 Mark und jeder Soldat 30 000 Mark mit sich davontrugen!

Erst wenn man all dieses weiß, wird man die jetzige äußere Armseligkeit dieses Palastes begreifen; aber noch unendlich viel wichtiger ist es, sich an die ungeheuren Umwälzungen zu erinnern, die Benares durchgemacht hat, daran zu denken, daß etwa sechshundert Jahre vor Christi Geburt der indische Fürstensohn Sakya Muni hierher gepilgert kam und sich bei Sarnath[WS 5] in der Nähe von Benares niederließ, um jene die Hindus vom Joche des tyrannischen Brahminentums erlösenden Lehren zu predigen, die ihren Verkünder zum gottähnlichen Buddha verklärten und ihren Siegeslauf durch ganz Indien und einen großen Teil Asiens nahmen.

Doch die mehr als ein Jahrtausend hindurch als Hort des Buddhismus geltende Stadt Benares wurde ebenso wie das übrige fast gänzlich buddhistisch gewordene Indien durch die unermüdlichen Brahmanen ihrer Hierarchie zurückgewonnen und im Laufe der Zeit sogar zum gefeiertsten Sitze dieses Kultus, an dem nicht weniger als 25 000 Brahmanen anwesend zu sein pflegen; daß es den Brahmanen durch die unablässige Versicherung, Buddha sei nichts anderes als eine neue Inkarnation einer brahminischen Gottheit gewesen, gelang, die gefahrdrohend angeschwollene Macht des Buddhismus zu brechen, ist mindestens ebenso staunenswert wie der Lebensgang des Religionsstifters Buddha und dessen Riesenerfolge.

An diese überwältigend bedeutsame Umwandlung mußte ich erinnern, damit die uralten Reste buddhistischer Bauten in der Nähe dieses nunmehrigen Brahminensitzes Benares nicht befremden, der nach Vorstellung der Hindus gleich einer Lotosblüte aus dem Dreizack[WS 6] des Gottes Schiwa erblüht sein soll, ja sogar als eine Verkörperungsform dieses Gottes betrachtet wird. Es ist demnach kein Wunder, daß hier fast alles nur auf den Schiwakultus Bezug hat. Der einzige große Tempel, der dem anderen Hauptgott der Hindus, dem Wischnu, gewidmet war, liegt in Trümmern, und auf diesen hat der siegreiche Großmogul Aurungzeb am Ende des siebzehnten Jahrhunderts die schlanken Minarets einer Moschee erstehen lassen, die dem Ankömmling bereits von [176] weitem auffallen und die einst weithin verkünden sollten, daß der Islam auch hier den brahminischen Hindukultus zu Boden geschmettert habe.

Doch diese Tage sind nun vorübergerauscht, und auf die Fremdherrschaft der Mohammedaner folgte eine andere, die klug genug ist, die Hindus nach ihrer Art selig werden zu lassen, sie in ihrem Kultusbetrieb nicht zu stören und damit zufrieden zu sein, daß die Steuern aus Indien pünktlich nach England abfließen.

Auch die Sehenswürdigkeiten von Benares möchte ich, als schon häufig geschildert, nicht der Reihe nach umständlich beschreiben, sondern nur durch einige Beispiele meinen Lesern näher bringen.

Eine häufig für Brahmanen gehaltene Horde zungenfertiger Fremdenführer treibt die eintreffenden Reisenden tagaus tagein mit übertrieben dienstfertiger Hast aus den übelduftenden Ställen der heiligen Kühe im geräuschvollen „goldenen Tempel“[WS 7] zu dem in keinem besseren Geruch stehenden Tempel der heiligen Affen[WS 8], von den blendenden Badetreppen zu dem sumpfigen Erlösungsbrunnen[WS 9], bis der betäubte und übersättigte fremde Reisende froh ist, den ganzen Tumult im Rücken zu haben — obgleich er oft den Wald vor Bäumen nicht gesehen hat.

Pfiffig, wie der Hindu nun einmal ist, bemüht er sich nämlich, den im stillen tiefgehaßten Europäer möglichst wenig an diejenigen Stellen gelangen zu lassen, an denen das indische Leben ungesehen die vollsten, schönsten aber auch zugleich zartesten Blüten treibt. Jedenfalls büßt durch das Gebaren der brahminischen Barkenführer die Kahnfahrt längs der Badeplätze, die Glanznummer jedes indischen Reiseprogramms, unendlich viel an Reiz ein. Angeblich fehlt es dafür bald an Fahrzeugen, bald an Fährleuten. Der Reisende ahnt es nicht, wie sich, indem er die entzückend kühlen Morgenstunden verschläft oder unwirsch verwarten muß, die Physiognomie des Gangesstrandes zu seinen Ungunsten ändert. Während im Scheine des Mondes, im Schimmer der aufdämmernden Morgenröte nur Vertreter der höchsten Kasten, Radschahs und Brahmanen, edle Frauen und zarte Mädchen, in hellfarbige Musselintücher gehüllt, in das Wasser hinabsteigen und das Gangesnaß aus goldenen oder silbernen Lotaschalen in vorgeschriebener Gießweise über ihre Glieder rieseln lassen, unbekümmert um das sonst in Benares so streng beobachtete System der Frauenabschließung, werden von Stunde zu Stunde die Badenden minderwertiger. Sind nach Sonnenaufgang nur noch armselige, verkümmerte Gestalten der letzten des Volkes an den Ufern zu sehen, dann läßt der listig lächelnde Hinduführer den Europäer großmütig dieses dürftige Schauspiel genießen, so daß dieser häufig genug seiner Enttäuschung gereizten Ausdruck verleiht. Daß die eben erwähnte Abschließung nur ehrbare Frauen und nicht die dreist aus ihren Fenstern lugenden öffentlichen Tänzerinnen betrifft, versteht sich von selbst.

Ähnlich verhält es sich auch mit dem Besuche der Tempel. Wohl sieht der Reisende genug derselben und darinnen widerliche, unsaubere Bettler und [177] Tempeldiener niederen Ranges in Hülle und Fülle, aber die Tore der geheimnisvollen „Nonns“ und „Tirthas“[WS 10], der Zufluchtsorte der im innersten Herzen indisch fühlenden und deshalb europäerfeindlichen, bald nur noch in Legenden vorkommenden Büßer aus den vornehmeren Klassen des Volkes bleiben ihm verschlossen.

Lingam- und Yoni-Idole mit opfernden Brahmanen.

Zu einer der allermerkwürdigsten Stellen dieser Art möchte ich den geneigten Leser führen. Das Kloster, in dem sich dieser Platz befindet, hat historische Bedeutung, denn hier verbarg sich — am Schlusse des achtzehnten Jahrhunderts — Tscheit Singh, der letzte unabhängige Radschah von Benares, auf der Flucht vor Warren Hastings, dem stahlharten, rücksichtslosesten Draufgänger der englisch-indischen Handelskompagnie, der mit einigen Dutzend auf ihre vorzügliche Bewaffnung vertrauenden englischen Abenteurern diesen unermeßlich reichen, weichherzigen Hindufürsten aus seinem Palaste vertrieb.

Hier inmitten dieser Schiwa-Idole, dieser alten, steinernen Lingamsäulen, die seine Brahmanen so oft in andächtigen Opfern mit Gangeswasser, mit Milch und geschmolzener Butter begossen hatten, wie es auf der Abbildung eben die mit heiliger Kuhdüngerasche bestäubten Büßer tun, deren nie beschnittenes Haar fast bis zu den Füßen hängt, inmitten all dieser Lingams, die er so häufig mit Jasminblüten bekränzt hatte, fühlte der fromme Hindufürst sich sicher; er wußte, daß selbst ein Warren Hastings nicht wagen durfte, dem Verbot der [178] Brahmanen zu trotzen und dieses Heiligtum zu betreten, ohne eine unstillbare Volksraserei heraufzubeschwören.

Sanyassis, „Leidenschaftslose“,
im Begriff sich als Klausner in die Einsamkeit zu begeben.

In diesem Nonn bringen betagte Mitglieder gewisser Hindusekten zwölf Tage mit Verehrung des Lingam-Idols und anderen Kultushandlungen zu, die von Benares als Sanyassis hinausziehen wollen, als „Leute, die freiwillig alles hinter sich gelassen haben“, die auf ihren weltlichen Besitz und alles Entbehrliche, was das Leben schmückt oder angenehm macht, verzichten wollen, um ihre Tage fortan unter einem heiligen Banyanbaum oder in einer einsamen Schlucht als entsagungsvolle Klausner in Gedanken an das höchste Wesen zu beschließen. Die auf dem Bilde sitzenden Männer sind sämtlich derartige Sanyassis vornehmer Herkunft, die ich nur mit der Aufbietung meiner ganzen Überredungsgabe bewegen konnte, mir zu diesem Bilde zu sitzen. Einst im Vollbesitz aller Glücksgüter schwelgend, wandern diese Asketen von hier aus in die Einsamkeit: eingehüllt in das baumwollene Tuch, in dem sie nach dem Ableben verbrannt zu werden wünschen, oder auch vollkommen nackt, eine Kette von Fruchtkernen um den Hals, mit deren Hilfe sie die Zahl der von ihnen gemurmelten Puranastrophen feststellen, auf der Schulter ein zum Nachtlager dienendes Antilopen- oder Leopardenfell und in der Hand die Bettlerschale, die Lota, aus der sie während des Bades das Wasser über Kopf und Schultern gießen, so ziehen sie davon; ein stützender Stab ist ihnen nicht vor dem sechzigsten Jahre erlaubt.

Paribrajakacharya Sri Bhashkaranand Saraswati Swami,
ein wegen seiner Bedürfnislosigkeit und beständigen Versenkung in das höchste Wesen als heilig verehrter, wundertätiger Jogi in Benares. Hinter ihm das vom Fürsten Sri Bal Madhab Sing von Amiti im „Garten des Glücks“ errichtete Marmorbild des Heiligen.[WS 11]

Eine der merkwürdigsten Persönlichkeiten dieser Art hat sich nach einem sehr bewegten Wanderleben bei Benares in der Nähe des von jedem Reisenden mit besonderer Neugier besuchten Affentempels niedergelassen, dessen in erschreckender Zahl sich vermehrende Insassen zwar nicht durch Töten, wohl aber von Zeit zu Zeit durch Abschieben auf eine unbewohnte Insel vermindert werden. Auch in diesem Falle habe ich bemerkt, wie verschieden ein und dieselbe Erscheinung zu wirken vermag. Einen verdrehten alten Narren titulieren diesen hochbetagten Swami Bhaskarananda Saraswati sehr respektslos die einen, während ihn andere, ähnlich den Hindus, beinahe wie einen zum Gott Gewordenen verehren, entzückt von dem milden Greisenblick, mit dem dieser aus vornehmsten Verhältnissen stammende Asket über die Nichtigkeit aller materiellen Glücksgüter und Genüsse predigt; damit sich aber die ihn in seiner Einsamkeit Aufsuchenden nicht nur nach seinen Worten sondern auch nach seinen Taten richten können, beschränkt er seine Kleidung auf nichts und seine Mahlzeiten auf die denkbar schmalsten Bissen streng pflanzlicher Kost. Fast unaufhörlich von Hindus besucht, die der Ruf seiner Heiligkeit und der schon durch seine Berührung bewirkten wunderbaren Krankenheilungen anzieht und die, wie die auf dem Bilde bei ihm weilenden, häufig hohen Ranges sind, sitzt dieser Verkörperer der Lehre Salomos: „Es ist alles eitel!“[WS 12] in Hitze und Regen inmitten des prächtigen „Gartens der Glückseligkeit“ vor einem Sandsteinpavillon, in dem sich seine ihm von einem reichen Gönner geschenkte Marmorstatue befindet; auch diese zeigt die von ihm beständig beibehaltene, uns höchst [179] qualvoll erscheinende Sitzweise eines geistlichen Lehrers. Selbst zu den Bemerkungen lebenslustiger Spötter lächelt er mild, indem er ihnen kopfschüttelnd zuflüstert: „Alles, was uns umgibt, ist nicht Wirklichkeit, sondern nur ein Traum!“ Bereits mit siebzehn Jahren galt dieser Mann für einen der größten Sanskrit-Gelehrten Indiens, und mit stillem Lächeln zeigt er die in seinem Stammbuch eingetragenen Namen berühmter Besucher.

Szene am heiligen Ganges in Benares;
links ruft ein Brahmane die aufgehende Sonne an.

Nicht allein in so kritischen Zeiten schwerster Heimsuchung, wie sie nun schon jahrelang über das ausgesaugte, einst so reiche Indien dahinziehen, nein, jahrein, jahraus pilgern unzählbare Massen sehnsuchtsvoller Hindus nach Benares, das für viele der Ort wird, „von des Bezirk kein Wanderer wiederkehrt“. Schwerkranke und Sterbende lassen sich in größter Eile nach Benares schaffen, und mittelst Eisenbahnen, Schiffen, Palankinsänften oder Ochsenkarren, wohl auch auf dem Rücken von Elefanten und Kamelen werden sie aus allen Richtungen herbeigebracht, um angesichts des über dem Spiegel des heiligen Gangesstromes aufstrahlenden Tagesgestirnes ihre Augen zu schließen und alsbald dort verbrannt zu werden; der Tod verliert seine Schrecken für den Hindu durch die Gewißheit, daß die in seinem Körper „zu Schmerz und Lust gefügten Atome“ nach dem Ableben in Aschenform der heiligen, das heiße Indien bewässernden und fruchtbar machenden Flut der „ewigen Mutter Ganga“ anvertraut werden.

Will der Leser mit mir diesen Verbrennungsplatz Manikurnika-Ghat[WS 13] oder burning-ghat, wieder Engländer sagt, besuchen? Der Anblick erfordert nur dann außergewöhnlich feste Nerven, wenn in Zeiten verheerender Pestilenzen unaufhörlich neue Massen von Leichnamen zur Einäscherung durch die Flammen herbeigeschafft werden.

Langsam rudert unsre Barke an den Treppen oder Ghats vorüber, die aus morschen Tempelhallen und den zerbröckelnden Palästen indischer brahminischer Fürsten, deren Namen sie tragen, zum Flußbett hinunterleiten. So treiben wir vorbei am Radschah Pottia Ghat und am Ghat des Radschah von Indor[WS 14]. Während des ganzen Nachmittags liegen diese Marmor- und Sandsteinstufen verödet, auf denen nur bei Sonnenauf- und -niedergang ein unabsehbares Kommen und Gehen von Badenden wogt. Hie und da hocken unter riesigen Sonnenschirmen aus Bambusgeflecht ein paar nackte Büßer, die durch unablässiges Starren in die Sonne oder ähnliche Andachtsübungen fast blödsinnig geworden sind.

Verbrennungsplatz der Leichen in Benares.
Links oben wird ein Leidtragender rasiert; unten wird ein in das Leichentuch gehüllter Körper vom heiligen Ganges bespült.

Unweit des schimmernden Palastes des Radschah von Nagpur herrscht reges Leben; wir nähern uns dem Verbrennungsplatz der Toten. Rauchwolken qualmen empor und tragen die furchtbaren Düfte von verbranntem Fleische und versengtem Haar zu uns herüber.

Die Fährleute stemmen die Ruder in den Strom, damit ich die Uferszene vom Schiffsbord aus aufnehmen kann. Doch wo sind die fast weihevollen Vorstellungen geblieben, die man sich gewöhnlich vom indischen Scheiterhaufen nach phantasievollen Malereien zurechtmacht, die ihn so oft als das [180] hehre, gemeinsame Flammengrab des Hindu und seiner ihm freiwillig folgenden Witwe verherrlicht haben?

Zahlreiche Steinplatten und Obelisken erinnern an jene Satis[WS 15], die bis zum Jahre 1830 hier zusammen mit den toten Gatten lebend verbrannt wurden, wobei es dahingestellt bleiben mag, ob deren „Freiwilligkeit“ durch Niederdrücken mittelst Stricken und Hebebäumen befördert wurde, während gellende Muschelhörner und rasender Trommellärm etwaige Hilferufe der Unglücklichen übertönten.

Da stehen am lehmigen Gangesufer ganze Reihen etwa zwei Fuß hoher Stöße aus Scheiten von Mango oder für Wohlhabende aus wohlriechendem Sandelholz, in denen bereits die Leichname verpackt sind, wobei man die Zipfel des Turbantuches über den Rand des Scheiterhaufens herüberhängen ließ; einige Dhums, Parias niedrigster Sorte, sind beschäftigt, trockenes Stroh zwischen die Holzscheite zu stopfen und mit geschmolzener Butter zu begießen, damit der Holzstoß Feuer fängt, sobald ihn der nächste männliche Anverwandte des Verstorbenen abgewandten Gesichts mit einer Fackel aus Sandelholz berührt hat.

Ungewöhnlich, für unser Gefühl sogar verletzend, ist alles, was mit dem sterbenden Hindu geschieht. Stirbt er innerhalb seines Hauses, so wird er, in ein weißes oder gelbes rotgesprenkeltes Laken gewickelt, auf einer rohen Bahre aus dem Hause getragen, aber gewöhnlich nicht durch die Tür, sondern durch ein in die Wand geschlagenes und dann schnell zugemauertes Loch, damit die abgeschiedene Seele keinen Rückweg zu den Hinterbliebenen finden und sie nicht beunruhigen kann. In eiligem Trabe schleppen die Träger, beständig Sat hei! Sat hei! keuchend, die Leiche an das Gangesufer, wo sie einige Zeit, auf der Bahre festgebunden, so niedergelegt wird, wie es das Bild zeigt, damit der Verstorbene zum letzten Male von den Wellen des Stromes bespült und von der Sonne beschienen werden kann. Daß gerade dadurch die heiligen Wellen die Seuchen verbreiten, ahnt der Hindu in seiner Einfalt nicht. Verschied der Kranke aber in unmittelbarer Nähe dieses gebenedeiten Ufers, so wird eine Handvoll Gangesschlamm auf die erbleichenden Lippen gedrückt. Schließlich wird der Tote auf der Bahre zwischen die Holzknüttel oder, falls der Verstorbene zur Brahmanenkaste gehörte, zwischen die gedörrten Kuhdüngerscheiben des Scheiterhaufens verpackt und in der vorhin geschilderten Weise entzündet.

Der Holzstoß links steht bereits in vollen Flammen; wo aber weilt der Leidtragende, der sie entfachte? Dort kauert er gelassen — links oberhalb des Scheiterhaufens — neben dem Gedenkstein einer Sati, während ihm nach Hindusitte ein Barbier das Haar spiegelblank vom Kopfe rasiert. Hat er auf diese Weise seinem Verlust Ausdruck gegeben, so schmaucht er mit den anderen Verwandten in aller Gemütsruhe eine gemeinschaftliche Hukawasserpfeife[WS 16], in die zur Feier des Tages etwas Opium zwischen den Tabak gemischt ist und wartet gleichmütig, bis der Holzstoß heruntergebrannt ist; dann sammeln die [181] Hinterbliebenen die nicht völlig verbrannten Gebeine, begießen sie mit Milch und geschmolzener Butter und versenken sie schließlich in einem Tonkrug in den Ganges. Häufig schickt man den Krug auch zu diesem Zwecke mit einer Gesellschaft von Wallfahrern nach Hardwar[WS 17] oder noch höher in das Himalajagebirge hinauf zu einem Tempelplatz in der Nähe der Quellen des heiligen Stromes, der dort oben aus dem wilden Haargelock des auf den Berggipfeln thronenden Gottes Schiwa entspringen soll, wo dieser sich in seiner eisstarrenden Hochgebirgsheimat mitleidsvoll des auf der glühend heißen, ausgedörrten indischen Ebene schmachtenden Hinduvolkes erinnert; die Verehrer Wischnus dagegen glauben, daß die Quellen des Stromes unter den Fußtritten ihres im Vikunthaparadiese[WS 18] wandelnden Gottes hervorrieseln, der Ganges also unmittelbar vom Himmel herabkommt. —

Wir rudern ans Land; unser Wagen rasselt durch die engen Bazargassen. Wohl bergen die winzigen Läden oder, richtiger, die darin aufgespeicherten Truhen die fesselndste Augenweide. Kinkobs, lockere Brokatstoffe[WS 19], die zur Kleidung für Elfen geschaffen zu sein scheinen und schon seit dem Altertume berühmt sind, Stickereien, wie sie das Hochzeitsgewand einer Feenkönigin nicht reizender zieren können und andere kaum zu schätzende Kostbarkeiten vermögen die besseren Händler auf unsere Bitten aus unscheinbaren Kisten hervorzuzaubern, falls sie uns so hoher Gunst überhaupt für würdig erachten. Minderwertige Ware wird uns dagegen überall aufdringlich angepriesen, doch ist dies meist nur aus Europa eingeführter Messingkram, der sich mit den besseren Benaresbronzen und ihrem überaus kunstvoll und sauber ausgestichelten Figurenschmuck gar nicht vergleichen läßt.

Gelegentlich befinden sich auch wohl hervorragende Meister in der Herstellung derartiger seit den ältesten Zeiten als Spezialerzeugnisse der Stadt Benares bekannten Bronzegeräte unter den Sträflingen der beiden riesigen Zuchthäuser, die den aus ganz Indien in Benares zusammenströmenden Hindus Achtung vor den englischen Gesetzen beibringen sollen und die „Central-Jail“ und „Distrikt-Jail“ heißen.

Die langen Hallen dieser Gefängnisse stehen in kreisrunden Höfen, die von radialen Mauern durchzogen sind und durch deren militärisch besetzte Tore der Verkehr zwischen den Gefangenen bei etwaigen Meutereien sofort gesperrt werden kann. Nur die Oberleitung liegt in den Händen weniger Europäer, die eigentliche Aufsicht ist Sträflingen von besonders guter Führung übertragen.

An der Töpferscheibe oder am Kochherd, am Färbetrog oder am Schmiedefeuer arbeiten die nach ihrer Kaste oder richtiger „Dschati“ gesonderten Gefangenen. In der längsten Halle hocken die Teppichwirker, die nach uralter Weise ihre Decken und Läufer weben, natürlich, wie es alle Handarbeiter in Indien tun, unter gewandter Zuhilfenahme der Füße. Mit den großen Zehen wird der Schußfaden hin und her gezogen, während die Hände das Pocheisen[WS 20] regieren. Die Muster sind jedoch nie vorgezeichnet, sondern Farben und Zahl der Maschen und Kanten werden von einem Vorleser laut ausgerufen.

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Ein Todeskandidat.

Die unerläßliche Sorge, das Kastenvorrecht der einflußreichen Brahmanen zu wahren, tritt selbst hier im Gefängnis zu Tage. Die eingesperrten Brahmanen dürfen bei ihrer Arbeit nicht allein hübsch unter sich bleiben, sondern selbst das Essen erhalten diese Herren Gefangenen aus einem Extrakessel, in dem nur Köche in dem Reisbrei herumrühren dürfen, die gleichfalls die heilige Schnur der Brahmanen um die Schultern tragen. Hat aber gar ein Spitzbube oder sonstiger der Brahmanenkaste angehörender Verbrecher die in den indischen Gefängnissen wieder recht nötig gewordene Prügelstrafe verwirkt, so wird ihm die neunschwänzige Katze nur von einem Mitgefangenen aus ebenso hoher Kaste verabreicht.

Jammergeheul eines soeben Gepeitschten dringt an unser Ohr; doch während wir dem Schalle nachgehen, öffnet sich plötzlich klirrend eine Kerkertür vor uns, und heraus tritt ein Sträfling, Todesgrauen in den energischen Zügen. Es ist ein im Kriege gegen Birma gefangener und wie ein gemeiner Verbrecher ins Zuchthaus gesperrter Häuptling der Eingeborenen, jetzt ein verlorener Mann der, wegen Widersetzlichkeit zum Tode verurteilt, nunmehr seinen letzten Gang anzutreten im Begriff steht.

Mahlende Frauen.

So stürmt ein erschütternder Eindruck nach dem anderen auf unsere Nerven ein, aber doch drängt es uns, noch weitere Umschau zu halten. Nach einigem Widerstreben wird uns auch das Frauengefängnis geöffnet, zunächst die Kornmühle. Welches Knirschen, Knarren, Rollen und Rauschen der wuchtigen Mühlsteine betäubt dort unser Ohr! Je zwei Frauen ergreifen die Handhabe des oberen Steines und drehen ihn, von Zeit zu Zeit Getreide durch ein darin angebrachtes [183] Loch nachfüllend, in gleichem Takt mit den anderen Frauen auf dem unteren größeren Steine herum. Alle diese Weiber tragen an Stahlringen hölzerne Klötzchen um den Hals, auf denen die Art ihres Vergehens und die Dauer ihrer Kerkerstrafe zu lesen ist; in weiße Tücher sind die „leichteren“, in orangegelbe sind die bösartigeren Verbrecherinnen gekleidet, die sich hier jedoch nur vorübergehend aufhalten, da sie mit dem nächsten Transport außer Landes geschafft werden, gewöhnlich nach den Andamaneninseln[WS 21], wo sie bald dem Sumpffieberklima erliegen. Dies ist auch eine beliebte Maßregel, unbequeme oder gefürchtete Leute loszuwerden, die man kein Recht hat, hinrichten zu lassen, wie z. B. jene Birmanen, die bei der Verteidigung ihres Vaterlandes eingefangen wurden.

Im Spinnhause.

In dem angrenzenden Spinnhaus erregt eine derartige Orangedame unsere Aufmerksamkeit; auch sie soll morgen wegen der Ermordung ihrer beiden Töchterchen in die Strafkolonie abgeschoben werden, doch für heute hat man ihr die zweifelhafte Wohltat vergönnt, ihr kleines Söhnchen auf einige Abschiedsstunden in ihren Kerker zu lassen. Nicht bewußte Verderbtheit, sondern altindischer Kastenzwang haben die Frau zur Verbrecherin gemacht. Kastengebräuche geboten ihr, die einstige Vermählung der genannten Töchter mit einem für ihre Mittel ganz unerschwinglichen, sie ruinierenden Aufwand zu feiern, der Aberglaube aber raunte ihr zu, daß sie sogar ein gutes Werk tue, wenn sie die kleinen Mädchen vor dem Bilde des elefantenköpfigen Gottes Ganesch in einem Kessel mit siedender Milch ertränkte, da sie zum Lohne dafür diese beiden Kinder nochmals als Knaben gebären würde. Ganz allgemein wurden in früheren Zeiten, namentlich in der Radschputana den Brahmanen beträchtliche Geldopfer erlegt, damit sie halfen, den unerwünschten Überfluß an Mädchen auf solche Weise zu vermindern.

Flüchten wir uns aus diesen Zellen des Lasters und des Elends hinaus ins Freie! Wie kühlt hier draußen das milde Grün der im Abendwind wogenden Mohnfelder unsere noch von den sonnendurchglühten, lehmgelben Kerkermauern geblendeten Augen.

Die Mohnkultur und Opiumfabrikation hat zwischen Benares und Ghasipur[WS 22] ihren Hauptsitz. Mein Bild zeigt eine Hindufrau, die gerade unreife, grüne Mohnköpfe mit einem aus fünf schmalen Eisenklingen zusammengebundenen Messer einkerbt; der nach Verlauf einiger Stunden herausperlende Saft wird [184] dann mit einer kleinen Eisenkelle zusammengekratzt. Mit äußerster Strenge achten die Aufseher darauf, daß hierbei nichts von dem kostbaren Opiumsaft veruntreut oder vergeudet wird, ja selbst die Waschwasser der zum Pressen der Opiumklumpen dienenden Holzformen werden eingedampft, um die darin etwa gelösten Opiate zu gewinnen.

Einritzen der Mohnkapseln und Sammeln des Opiumsaftes.

Inzwischen ist es beinahe Abendessenszeit geworden. Das Rasthaus für europäische Reisende in Benares, der Dak-Bungalo[WS 23], ist leidlich behaglich; der Koch hat ein delikates Huhn mit Reis gekocht und hat es sogar auf mein ausdrücklichstes Bitten nicht bei lebendigem Leibe gerupft, obgleich ihm das sonst unendlichen Spaß bereitet — was will man mehr? Und doch sollte mir dieser eindrucksreiche Tag in Benares noch einen ganz besonderen, beinahe scherzhaften Triumph eintragen, zu dessen Verständnis ich jedoch etwas vorausschicken muß. Nach der Heimkehr von meiner ersten, dem Himalaja gewidmeten Indienreise im Jahre 1890 hatte ich den begreiflichen Wunsch, die Originalplatten meiner wichtigsten Photographien aus diesem Gebirge angemessen zu verwerten und reiste deshalb nach England.

Bei dieser Überfahrt nach England kam ich mit einem anderen Reisenden, einem Seidenfabrikanten aus Krefeld[WS 24], ins Gespräch. „Bilden Sie sich ja nicht ein, daß ein Engländer einem Deutschen irgend etwas abkauft, was er nicht sehr dringend braucht, oder was nicht etwas ganz Unerhörtes ist. Falls Sie nicht ein Kalb mit sechs Beinen mitbringen, machen Sie keine Geschäfte! Sehen Sie hier, das brauchen die Engländer!“ Dabei blätterte er mit gerechtem Stolz sein Musterbuch mit entzückend schönen Seidenproben auseinander.

Der gute Mann hatte ganz recht; ich erntete wohl manches Wort der Bewunderung, aber kein Geld. Meine Schätze galten nicht als „Wunderkalb mit sechs Beinen“.

[185] Und nun wollte es die Laune des Schicksals, daß ich auf einer kleinen Spazierfahrt, die ich noch kurz vor Tisch unternahm, bei einer Lingam-Opferstätte unter einem heiligen Bo-Baum eine Volksmenge wahrnahm, die sich um einen hölzernen Karren drängte. Ich sprang aus meinem Wagen und schleunigst wichen, wohl weniger aus Respekt als aus Scheu vor der Berührung mit einem Europäer, die Menschenmauern vor mir zurück, so daß ich bequem die Mißgeburt auf dem Karren nicht nur sehen, sondern auch photographieren konnte; es war ein Kalb, dem am Rückenende noch zwei verkrüppelte Extrabeinchen herunterhingen. Damit hatte ich also glücklich auch noch das Einzige ergattert, was mir bisher zum Geschäftserfolge gefehlt hatte: Ein echtes Kalb mit sechs Beinen!

Das Wunderkalb mit den sechs Beinen.

Am Abend dieses Tages, der meine dritte Reise nach Ostindien abschloß, da ich am nächsten Morgen unmittelbar nach Bombay und von dort in die Heimat fuhr, besaß ich nur noch eine einzige unbelichtete Trockenplatte. Meine beiden Diener, die für Instandhaltung der Küche und der Kleider sorgten, hatte ich wiederholt vergebens gebeten, mir zu einem Bilde zu sitzen. Sie waren mohammedanische Hindus, und der Prophet hat ja verboten, das menschliche Gesicht abbilden zu lassen; wären sie brahminisch gewesen, hätten sie vielleicht aus Furcht, daß ihnen durch das Photographiertwerden mit dem [186] Abbild ihre Seele entrissen würde, die Aufnahme verweigert. Wenn ich schlummern oder irgendwo recht ungestört sein wollte, lugten diese Prachtkerle neugierig durch alle Vorhänge; sollten sie aber einen Koffer wegrücken oder gar die Stube kehren, so rannten sie voll hohen Standesgefühls davon, um stundenlang nach dienstbaren Geistern aus dazu geeigneterer Kaste zu suchen.

Als ich nun meine Trockenbatterie[WS 25] in die Packkiste senken wollte, zuckte der teuflische Gedanke durch mein Hirn: „Du nimmst auf deiner letzten Platte die Kerle heimlich mittelst Blitzlichts auf!“

Harmlos ersuchte ich sie, das Nachtmahl zu rüsten und aufzutragen, und traf inzwischen meine Anordnungen.

Ich kannte die regelmäßigen Standpunkte der beiden bei Tische, und die Lampe auf demselben ermöglichte deren scharfes Einstellen mittelst der auf und zwischen Koffern verborgenen Kamera. Die Kassette wurde eingesetzt und der Schieber aufgezogen. Rechts von dem Apparat brachte ich gerade doppelt soviel Magnesiumpulver mit Kaliumpermanganat und etwas Schießpulver[WS 26] gemischt in die Lampe wie links, und die Leitungsdrähte des Trockenelements wurden zwischen den Gepäckstücken hinter den Tisch geleitet, so daß ich sie mit leichtem Griff in Verbindung mit Messer und Gabeln bringen konnte.

Wegen des umfänglichen Bildes hatte ich den Steinheil-Gruppen-Antiplaneten Nr. IV für Platten 13:18 auf f/25 abgeblendet[WS 27], war jedoch in Sorge, ob die Platte dabei auch ausexponiert würde; doch zur Überlegung blieb nicht viel Zeit.

Meine Opferlämmer erschienen mit dem Curry-Reis auf der Bildfläche und kaum hatten sie ihre gewohnten Plätze inne, berührte ich die Messerspitze mit der Gabel, es blitzte und qualmte und da — ja, da geschah etwas furchtbar Lächerliches!

Die Aufnahme war mir, wie selbst der Neid nicht leugnen wird, gelungen; ich sprang auf und schob die Kassette zu. Aber was war inzwischen aus den beiden Hindus geworden?

Der ahnungslos links auf dem Bild stehende alte Schaukidar[WS 28], was etwa „Haushofmeister“ heißt, war angesichts der beiden aufblitzenden Flammen mit krächzendem Aufschrei vornüber gestürzt und keinerlei Bakschischversprechen vermochte ihn zu schnellem Aufstehen zu bewegen, was bei einem Orientalen bekanntlich viel sagen will; er blieb winselnd liegen, die Stirn auf die Erde gedrückt. Der Jüngere aber, der Mundschenk, eilte mit anerkennenswerter Schneidigkeit an die Stellen, von denen das blendende Licht ausgegangen schien und goß, mir nichts dir nichts, ein volle Flasche Ingwerbier[WS 29] auf die unschuldige Lampe aus, die das Pulver verschossen hatte, oder vielmehr über den mit Dampf gefüllten Kasten, in dem die Lampe stand; diese Heldentat war seiner durchaus würdig, denn er war stets kühn und entschlossen, mochte daraus werden was wollte. Half er mir beim Einlegen in der Dunkelkammer; so konnte ich sicher sein, daß er mir die Trockenplatten[WS 30] mit feuchten; eben erst heimlich an einem nassen Tuche abgewischten Händen zureichte, weil [187] ihm streng verboten worden war, die Platten mit unsauberen Händen zu berühren. Hatte er die exponierten Ausnahmen nach Hause zu tragen, so bemühte er sich mit unendlichem Scharfsinn, die lichtdichten Kassettenkoffer heimlich zu öffnen, um sich die Platten bei Tageslicht etwas näher anzusehen — ich hätte ja bei der Aufnahme einen Fehler gemacht haben können! Und gar in der Küche, da war er der Beschützer der Hühner, denn er verbot auf mein Geheiß, daß man sie nach Landessitte bei lebendigem Leibe rupfte — dafür ließ er sie samt den Federn in die Kochtöpfe wandern. Zum Feuerlöschmann konnte er sich freilich leider nicht ferner mittelst Ingwerbier ausbilden, denn ich hatte, wie gesagt, keine weitere Blitzplatte zu versenden.

Daß ich mir den Scherz erlaubt habe, ein Resultat meiner ersten indischen Reise, mein „Himalaja-Album“, in jenem Rasthause oder Dak-Bungalo zu Benares auf den Eßtisch zu pflanzen, wird man mir nicht verdenken. Ich bin nicht sonderlich eitel, aber doch auf dieses den unglaublichsten Schwierigkeiten abgerungene photographische Werk einigermaßen stolz. Man darf nicht vergessen, daß sich seit meiner ersten Himalajareise in diesem Gebirge vieles zu Gunsten des Reisenden geändert hat!

Warum ich aber die Blitzeinrichtung mitgeschleppt habe? Nun, um „im Schatten zu fechten“, will sagen, um allerlei von dem aufzunehmen, was sich in Indien dem Lichte der Tropensonne entzieht.

Eine Sinhalesenhochzeit war die erste Gelegenheit dieser Art, demnächst ermöglichte mir das Blitzlicht die Aufnahme von Kultushandlungen in den düsteren, geräuschvollen und übelriechenden buddhistischen und brahminischen Tempeln sowie von niederen, dunklen Werkstätten und Bazargewölben, ja sogar die von Arbeiten in den indischen Zuchthäusern. Das aktinische Licht[WS 31], das die Vermählung des Magnesiums mit dem Sauerstoff verkündet, hätte ich selbst neben dem Meer des indischen Sonnenlichtes nicht missen mögen.

Ein Blitzlicht-Scherz des Verfassers.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Chait Singh: vergleiche Chait Singh (en), regierte 1770-1781
  2. WS: Warren Hastings: vergleiche Warren Hastings, de facto General-Gouverneur, regierte 1773-1785
  3. WS: Radschah-Schloß Ramnagar: vergleiche Ramnagar Fort (en)
  4. WS: Major Potham: Major William Popham, später Colonel
  5. WS: Sarnath: vergleiche Sarnath
  6. WS: Schiwas Dreizack: vergleiche Trishula
  7. WS: goldener Tempel: vergleiche Kashi-Vishwanath-Tempel
  8. WS: Affen-Tempel: vergleiche Durga Mandir, Varanasi (en)
  9. WS: Erlösungsbrunnen: vergleiche Gyanvapi Mosque, Gyan Vapi well (en)
  10. WS: Nonns und Tirthas: vergleiche Tirtha, Nonn konnte noch nicht identifiziert werden
  11. WS: Paribrajakarcharya Sri Bhashkaranand Saraswati Swami, Sri Bal Madhab Sing von Amiti, Garten des Glücks: konnten nicht identifiziert werden. Eine mögliche Parkanlage nahe des Durga Mandir ist heute der Ram Baagh.
  12. WS: alles eitel, vergleiche Bibel: Prediger 1,2. (auch: omnia vanitas)
  13. WS: Manikurnika-Ghat: vergleiche Manikarnika Ghat (en)
  14. WS: Ghats in Varanasi: vergleiche Ghats in Varanasi (en), es gibt 88 solcher Anlagen
  15. WS: Sati, freiwillig folgende Witwe: vergleiche Witwenverbrennung (Sati)
  16. WS: Huka: vergleiche Shisha (im englischen Raum allgemein als Hookah bekannt)
  17. WS: Hardwar: vergleiche Haridwar
  18. WS: Vikuntha: vergleiche Vaikuntha
  19. WS: Kinkob: Seidenbrokat, im Englischen Kincob, Kinkhwab oder Kimkhab genannt. Vergleiche Silk in the Indian subcontinent, Silk brocades (en)
  20. WS: Schußfaden, Pocheisen: vergleiche Schussfaden, vermutlich gemeint: Schützen/Schiffchen
  21. WS: Andamanen: vergleiche Andamanen
  22. WS: Ghasipur: vergleiche Ghazipur
  23. WS: Dak-Bungalo: vergleiche Dak bungalow (en)
  24. WS: Krefelder Seide: vergleiche Krefelder Industrie ab dem 18. Jahrhundert, Seidenbaron, Haus der Seidenkultur
  25. WS: Trockenelement: vergleiche Trockenbatterie
  26. WS: Magnesiumpulver, Kaliumpermanganat, Schießpulver: vergleiche Blitzlichtpulver
  27. WS: Steinheil-Gruppen-Antiplaneten: vergleiche C. A. Steinheil & Söhne, diese stellten nach dem Aplanat ab 1883 auch den Antiplanaten her. Auch: Blendenzahl.
  28. WS: Schaukidar: vergleiche chowkidar
  29. WS: Ingwerbier: vergleiche Ginger Beer
  30. WS: Trockenplatten: vergleiche Trockenes Gelatineverfahren
  31. WS: aktinisches Licht: gemeint ist grelles blauweißes Kunstlicht. Zum Begriff vergleiche Aktinität