Zum Inhalt springen

Durch Indien ins verschlossene Land Nepal/Brandungsplätze des indischen Aufstandes

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Mohammedaner-Residenzen in Indien Durch Indien ins verschlossene Land Nepal
von Kurt Boeck
Am Ziele aller Hinduwünsche
{{{ANMERKUNG}}}
  Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
[162]

Kaiser-Bagh in Laknau.[WS 1]

Dreizehntes Kapitel.
Brandungsplätze des indischen Aufstandes.

Ich glaube nicht, daß je irgend ein europäischer Indienreisender so unfreiwillig und unbeabsichtigt ein Bad im Gangesstrom genommen hat, wie der Verfasser dieses Werkes. Ob freilich das heilige Gewässer dabei auch meine Sünden wie bei den darin badenden brahminischen Hindus fortgewaschen hat, wage ich nicht zu behaupten.

Um zu sagen, wie ich zu diesem Gratisbade gekommen bin, muß ich etwas weiter ausholen.

In der Absicht, ein ansehnliches Bild von der Uferumgebung des Sutti Tschaura Ghat in Kahnpur[WS 2] aufzunehmen, hatte ich mich auf einen in das Wasser hineingebauten Mauervorsprung gestellt und den umfänglichen Apparat auf einen festen Dreifuß aufgeschraubt, oder genauer gesagt, ich hatte ihn von meinem Diener festschrauben lassen und stand nun abwartend daneben, um bei geeigneter Gelegenheit die Aufnahme zu machen.

Die Badezeit war vorüber, und es befanden sich nur wenig Badende an dem in den früheren Morgenstunden von brahminischen Badegästen wimmelnden Ufer, und außer mir war niemand auf dem gemauerten Vorsprung, dessen oberer Rand etwa zwei Meter über der Wasserfläche lag, und auf dem sich während der Zeit der religiösen Waschungen Büßer oder sonstige fromme Hindus unter riesigen Sonnenschirmen aufzuhalten pflegen. Ich hatte gerade diese Zeit für den Besuch Kahnpurs gewählt, weil an dem folgenden Tage, einem Hindu-Festtage, hier ein großartiges Zusammentreffen von Büßern aus allen Teilen Indiens zu erwarten stand. Es war bereits eine stattliche Anzahl solcher sonderbarer Heiliger eingetroffen, die sich in der prächtigen, zu diesen Badestufen führenden Allee[WS 3] niedergelassen hatten, umringt von anderen Pilgern oder Einwohnern der Stadt.

[163] Diese Allee und dieses Sutti Tschaura Ghat, wo ankommende und abgehende Gangesboote anzulegen pflegen, müssen für jeden einigermaßen mit indischen Begebenheiten Vertrauten ein wehmutsvolles Interesse haben und bewegten auch mich bei meinem Aufenthalt im innersten Gemüte. Diese schattige Allee war am 27. Juni 1857 die Todesstraße gewesen, worauf die englische Besatzung Kahnpurs, die sich 23 lange Tage gegen die aufständischen Sipeus unter Nana Sahib[WS 4] in einem baufälligen Hospital tapfer verteidigt und gehalten hatte, an den Strom flüchteten, um sich nach Allahabad einzuschiffen; sie vertrauten dabei auf das Versprechen freien und bewaffneten Abzuges, das ihnen Nana Sahib gegeben hatte, als er anfing, einen siegreichen Ausgang seiner Sache zu bezweifeln. Übermannt von dem Wunsche, an den verhaßten, nach Gold und Land lüsternen Fremden volle Rache zu nehmen und durch ihre Ausrottung für alle Zukunft ein warnendes Exempel zu stiften, ließ er sich jedoch zum Wortbruch hinreißen, verbarg einige hundert indische Schützen und ein paar Kanonen in den Büschen beim Einschiffungsplatze und ließ, nachdem er den Engländern nebst ihren Frauen und Kindern den Rückzug durch jene Allee abgeschnitten hatte, ein mörderisches Feuer gegen die bereits in die Boote steigenden Flüchtlinge eröffnen; nur vier Personen entrannen dem Gemetzel, um die Trauerkunde davon nach Allahabad zu bringen und eine Rache-Expedition nach Kahnpur in Bewegung zu setzen.[WS 5] Wie diese britischen Rächer später an Schuldigen und Unschuldigen gewütet haben, indem sie jeden erreichbaren Teilnehmer oder Zuschauer der furchtbaren Mordtat unter gräßlichen Qualen umbrachten, vermag keine Feder zu beschreiben. Freilich mußte ihr Rachedurst beim Anblick eines tiefen, nunmehr überdeckten Brunnenschachtes, der jetzt durch einen Marmorengel mit den Palmen des Märtyrertums und des Sieges in den Händen geschmückt ist,[WS 6] aufs äußerste erregt werden, da in diesen Nana Sahib die ermordeten Frauen und Kinder hatte hineinwerfen lassen, unter denen sogar einige noch Zeichen des Lebens von sich gegeben haben sollen. Es steht jedoch fest, daß von den Hindus keine anderen Schandtaten an diesen beklagenswerten Opfern des Aufstandes verübt wurden.

So erschütternd dieses furchtbare Gemetzel von Kahnpur auch ist, darf man doch nicht vergessen, daß frühere Kriegszustände in Indien noch weit fürchterlichere Grausamkeitshandlungen asiatischer Heerführer im Gefolge hatten, auch wird oft übersehen, daß es sich bei diesem ganzen Aufstande keineswegs nur um eine Empörung wegen irgend welcher Kleinigkeiten handelte; oft wird z. B. das beim damaligen Laden erforderliche Abbeißen der mit einem Gemisch von Rinds- und Schweinetalg eingefetteten Patronen, das brahminischen wie mohammedanischen Sipeus gleich widerlich sein mußte, als Grund der Meuterei angeführt, in Wahrheit stellte aber diese wohldurchdachte, jedoch ungeschickt und übereilt durchgeführte Erhebung der indischen Soldateska den letzten krampfhaften Ausbruch indischen Nationalgeistes dar, der sogar die sonst stets gegeneinander gehetzten Hindus und Moslems zu einer einzigen, um Befreiung des heimischen Bodens ringenden Macht vereinigte, deren Niederschlagen den Engländern bei aller [164] Tapferkeit, nur durch außerordentliche Glücksfälle gelang, wobei es für sie von größtem Vorteil war, daß einige der mächtigsten indischen Staaten, wie z. B. Nepal, von dem ich später viel zu reden habe, sich nicht dem Aufstande gegen England anschlossen, sondern diese Macht sogar unterstützten. Die wahre Ursache, wodurch der schon seit langen Jahren gärende Groll zum gewaltsamen Ausbruch gereizt wurde, war die ebenso unberechtigte wie brutale Annektierung des Königreichs Audh[WS 7] mit den beiden als große Garnisonen ins Auge gefaßten Hauptstädten Kahnpur und Laknau, sowie die Entthronung des Königs von Audh unter der Begründung, daß der sittenlose Lebenswandel dieses Königs von den Engländern nicht mehr länger geduldet werden könne! Selbst maßgebende englische Stimmen haben diesen rechtlosen Länderraub als einen unverantwortlichen Fehler bezeichnet, und nirgends weniger als beim Untergang des Königreichs Audh können die Engländer von einer ehrlichen Eroberung sprechen.

Diese furchtbaren Zustände und Ereignisse lagen mir im Sinn, als ich jene mit so viel Blut getränkte Stelle am Gangesufer mit prüfendem Blicke überschaute.

Ich hielt es zunächst für eine Täuschung meiner erregten Sinne, als es mir schien, daß in der Allee und in der Umgebung des Ghats eine allmählich zunehmende Bewegung der dort bisher ruhig verweilenden Massen einträte, ja, daß sich diese dann sogar in der Richtung auf mich und meinen Standpunkt hin fortzupflanzen begann. Noch ehe ich mich in der Besorgnis nahenden Unheils von meinem weit in den Flußlauf hineingebauten Standplatz, auf dem mich von drei Seiten Wasser umgab, fortbegeben konnte, war die von der Landseite her stetig gegen mich anschwellende und langsam vorwärts drängende Menschenwoge so weit vorgerückt, daß nur noch wenige Quadratmeter Raum um mich herum von nackten Büßern und anderen Pilgern in allen erdenklichen Trachten frei blieben. Die Leute in den vordersten Reihen, die ich immer energischer zum Stillstehen zu veranlassen trachtete, um nicht mit meinem Apparat schließlich in das hinter und neben mir in der Tiefe vorbeiflutende lehmige Gangeswasser gedrängt zu werden, machten mir durch nicht mißzuverstehende Gesten klar, daß sie gegen den von hintenher ausgeübten Druck der Nachdrängenden vollkommen machtlos seien. Ich befand mich demnach in der verzwicktesten Lage, die man sich vorstellen kann, da gar keine offene Gewalttat gegen mich vorlag, und weil die Leute ihre Annäherung ganz gut mit hochgradiger Neugier wegen meines ihnen auffallenden Hantierens mit dem Apparat entschuldigen konnten.

Mein mohammedanischer Diener, dessen Anwesenheit auf dem nur für Gläubige bestimmten Platze nicht weniger als die meinige den zu festlichen Zeiten stets besonders empfindlichen Hindus gewiß ein gewaltiger Dorn im Auge gewesen war, hatte sich gerade am Ufer etwas zu schaffen gemacht und war durch die nicht etwa drohend wild, sondern scheinbar fast unfreiwillig vorwärts schiebende schnatternde und gestikulierende Menge von mir abgedrängt und gehindert worden, sich wieder mit mir zu vereinigen [165] Ich wußte mir tatsächlich keine Rettung. Vor allen Dingen suchte ich die Taschen zu retten, in denen sich die Kassetten mit meinen bisherigen Aufnahmen befanden; diese hängte ich um die Schulter, schraubte dann die mächtige Kamera für 24X30 Centimeter-Platten vom Stativ, nahm sie in die linke Hand und versuchte, mit Hilfe des Stativs wie mit einer im rechten Arm gehaltenen Lanze eine Lücke in die mich nunmehr beinahe berührende Menschenmauer zu treiben und mir dadurch einen Ausweg ins Freie zu bahnen.

Mit Asche von verbranntem Kuhdünger weißgepuderte Büßer.

Doch versuche nur einmal jemand, sich durch eine aufgeregte und unberechenbare Masse von mindestens tausend Menschen ohne Verübung häßlicher Gewalttaten zu drängen! Als Nichtengländer wollte ich es nicht auf einen brutalen Boxkampf mit britischen Untertanen ankommen lassen, sondern rückte zollweis der äußersten Mauerkante näher, bis mir kein anderer Ausweg übrig blieb, als mein Gesicht gegen die Angreifer zu wenden, und mit all meinen sieben Sachen, Kamera, drei Kassettentaschen, Stativ, Dunkeltuch und Sonnenschirm in das Wasser zu springen, worin ich bisher keinen Badenden wahrgenommen hatte. Sobald ich auf diese Weise und nicht einmal, wie die Taschenspieler zu sagen pflegen, „ohne alle Apparate“ von der Bildfläche völlig verschwunden war, kam die ganze Menschenmenge sogleich ins Stocken.

Ich fühlte sofort, daß ich nur mit dem einen Fuß auf den Boden des nur etwa metertiefen Wassers aufstieß, der andere trat auf etwas zum Glück ziemlich Weiches und Rundes, was sich als ein Teil des Rückens eines älteren Hindus entpuppte, der während seines Bades oder vielleicht auch aus Neugier wegen dieses noch nie dagewesenen Schauspiels gerade in diesem Augenblick unter jenen Mauervorsprung geraten war; der arme Mann schreckte jedenfalls nicht schlecht zusammen, als ich, ohne seine Gegenwart zu ahnen, auf ihn heruntergesaust kam!

Trotz der Überzeugung, daß mein umgeknickter Fuß zum mindesten eine böse Verstauchung, wenn nicht gar einen Bruch davon getragen hatte, konnte ich [166] doch nicht umhin, eine gewiß ganz fürchterlich klingende homerische Lache aufzuschlagen, als ich das verdutzte Gesicht des nackten, alten Hinduknaben im Wasser neben mir auftauchen sah, der sich zitternd und stöhnend seinen glatten braunen Rücken mit beiden Händen zu massieren begann.

Mich krümmend und schüttelnd vor verdrießlichem Lachen, schleppte ich humpelnd meine Gerätschaften an dies durch unvergleichlich tragische Ereignisse berüchtigte Gestade, schickte dann den Diener nach meinem etwa einen halben Kilometer entfernt stehenden Wagen und fuhr zum nächsten englischen Militärarzt, um meinen Fuß bandagieren zu lassen; ich vernahm dort, daß ich ihn nach mehrtägiger völliger Schonung wieder einigermaßen würde gebrauchen können.

Zunächst fuhr ich nach dem Bahnhof, um meine übrigen dort zurückgelassenen Gepäckstücke abzuholen und damit nach einem Hotel zu kutschieren. Als ich aber bemerkte, wie hübsch sich das rege Getümmel bei den hier häufig verkehrenden Zügen vom Wartesaale aus beobachten ließ, schlug ich darin mein Feldbett auf und hatte dadurch ein vortreffliches Mittel gegen die sonst bei derartigem Zimmerarrest unausbleibliche Langeweile gefunden. Die Krämer der Stadt machten mir mit ihren indischen Erzeugnissen in dem Wartesaal unablässig ihre Aufwartung, auf den Bahnsteigen folgte ein fesselndes Bild auf das andere, und auf der anderen Seite des Gebäudes drängte sich von früh bis spät eine neugierige Menge von Pilgern und Teilnehmern an dem großen Hindufeste, die den weder ins Wasser gefallenen, noch ins Wasser geworfenen und doch unfreiwillig in den Ganges geratenen Sahib anstaunen wollten. Zu guter Letzt fand sich auch jener würdige Hindu ein, der mir als Sprungpolster gedient hatte, um sich ein kleines Schmerzensgeld für seinen bedenklich angeschwollenen Rücken auszahlen zu lassen.

Auch allerhand Gaukler und ein berühmter Wahrsager sprachen bei mir vor und vertrieben mir mit ihren Künsten die Zeit, so daß sie wie im Fluge verrann. Mit wahrhaft verblüffender Sicherheit erzählte mir der fortune-teller allerlei Vorkommnisse meiner bisherigen Reise; dann verriet er mir Dinge, die der Gegenstand meiner Korrespondenz mit den indischen Behörden gewesen waren und wußte auch, wieviel und was für Banknoten ich in der Brieftasche hatte, so daß ich schon anfing, an die Existenz spiritistischer Wunder zu glauben. Schließlich wollte der Chiromant[WS 8] einen Haupttrumpf ausspielen, indem er behauptete, in meiner Hand würde das erscheinen, was ich mir am lebhaftesten wünschte! Nachdem ich für dieses verlockende Kunststück ein beträchtliches Extrahonorar bezahlt hatte, trieb er mit meiner Handfläche einigen Hokuspokus, untersuchte nochmals ihre Linienverästelung, drückte sie dann leise mit der seinigen und bat mich, die Uhr in die andere Hand zu nehmen und erst nach drei Minuten die untersuchte Hand anzusehen, in der dann das von mir Gewünschte erscheinen würde; hierauf beeilte sich der große Mann, seine Habseligkeiten in einen Beutel zusammenzuraffen, hastig seine Salam-Verbeugungen[WS 9] zu machen und seinen Abschied zu nehmen. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, die verzauberte Hand rasch zu öffnen und fand auf ihrer Fläche [167] das mit frischer schwarzer Farbe gedruckte Wort money! Mit blitzschnellem Griff packte ich den Gaukler beim Handgelenk, zerrte seine zusammengekrallten Finger auseinander und entdeckte in seiner Hand das darin anscheinend mittels eines Stempels aufgetragene Spiegelbild jenes Wortes, das er in der meinigen als Inbegriff meiner Wünsche zum Vorschein gebracht hatte.

Nachdem ich diesen Vermittler der Geisterschrift entlarvt hatte, vertraute mir auch der Aufwärter des Wartesaals, der meinem Diener nicht hold zu sein schien, daß er beobachtet habe, wie der Zaubermann in der letzten Nacht meinen Diener längere Zeit im geheimen ausgeforscht, auch in meinen Briefschaften herumgekramt und darin studiert hätte — eine Aufklärung, die mich über den gewaltigen Eindruck, die die wunderbare Wahrsagerei tatsächlich auf mich gemacht hatte, fast schamrot werden ließ.

Als echte Garnisonstadt bietet Kahnpur alle Unterhaltungen einer solchen, also namentlich Sportübungen, Bälle, Picknicks und dergleichen; die zum Gedächtnis der Ermordeten begründeten Parkanlagen, in die kein Eingeborener jemals den Fuß setzen darf, gehören zu den schönsten Gärten in Indien und ließen mich mit Wehmut von diesem Orte scheiden.

Auch in Laknau, der ehemaligen Hauptstadt des Königreichs Audh, fehlt es nicht an Erinnerungszeichen, daß die im Aufstandsjahre 1857 darin weilenden 1700 Europäer nebst 500 indischen Dienstboten und Soldaten bei einem Haare genau von demselben Schicksale ereilt wurden, wie jene in Kahnpur eingeschlossenen; hier in Laknau hatte jedoch der Befehlshaber Lord Lawrence[WS 10], in der Voraussicht, daß sich die Indier nicht ohne Widerstand völlig zertreten lassen würden, für ausreichende Vorräte gesorgt, eine Maßregel, die der Kommandant von Kahnpur, Sir Hugh Wheeler[WS 11], in unbegreiflicher Verblendung völlig außer acht gelassen hatte.

Ruine der Gesandtschafts-Residenz in Laknau;
rechts Denkmal, in der Mitte Erinnerungskanone.

Es gibt wohl nur wenig Orte auf der Welt, die so melancholisch zu stimmen vermöchten, wie die absichtlich als zerschossene Ruine erhaltene Residenz,[WS 12] worin der Gesandte Englands an dem einst so üppigem glanzvollen Hofe des Königs von Audh lebte und worin sich die Europäer gegen den Ansturm der Aufständischen verschanzten. Durch zahlreiche Inschriftstafeln und Denkmäler wird man auf Schritt und Tritt an die von den Belagerten fast fünf heiße indische Sommermonate hindurch erlittenen Qualen, die namentlich für die [168] geängstigten Frauen und Kinder furchtbar gewesen sein müssen, und an den unermüdlich tapferen Widerstand der Verteidiger unter Sir Lawrence erinnert, ein Widerstand, der in solchen Fällen freilich nie ganz allein dem militärischen Pflichtgefühl, sondern eben so sehr dem Selbsterhaltungstrieb auf Rechnung zu setzen ist; andererseits gibt es keinen unberechtigteren Erfolg der englischen Realpolitik und keine grundlosere, gesetzwidrigere Annektierung als eben die des Königreichs Audh, die in der Brust vaterlandsliebender Indier einen Grimm ohnegleichen erwecken und die schon lange schlummernden Empörungs- und Rachegedanken zum Ausbruch treiben mußte.

Hof der Imambara-Moschee in Laknau.[WS 13]


Wird man so von widerstreitenden Empfindungen gequält, wenn man die letzte Ursache alles hier in entsetzlichen Greueltaten vergossenen Blutes und die Verherrlichung der erfolgreichen gegenwärtigen Herren des Landes erwägt, so enttäuscht andererseits auch die fabelhafte Pracht und Ausdehnung der Bauten, die in Laknau zunächst das Auge fast blenden. Namentlich wenn man aus Agra und Delhi an diesen Sitz mohammedanischer Herrschergewalt kommt, vermißt man bald die dort für Kultus- und Palastbauten verwendeten edlen Stoffe, den mit kostbaren Steinen eingelegten Marmor und feinkörnigen roten Sandstein, an deren Stelle hier getünchtes und reich mit Stuck verziertes Mauerwerk getreten ist. Statt vornehmer Würde und gediegener Einfachheit spricht hier aus den meisten baulichen Erscheinungen eine ungesunde, auf Augenverblendung gerichtete Effekthascherei und Sucht zu glänzen. Eine geradezu beispiellose Platzverschwendung hat namentlich bei der Anlage einer als Kaiser-Bagh oder Kaiser-Garten zusammengefaßten Gruppe von Schlössern und Gebäuden gewaltet, aber noch viel befremdlicher ist der seltsame Baustil, der dabei aus der Mischung italienischer, indischer, maurischer und chinesischer Motive zu Tage trat. Freilich hat sich Wadschid Ali Schah[WS 14] nicht lange des Besitzes dieses erst 1850 mit einem Kostenaufwande von 15 Millionen Mark [169] fertig gestellten Kaiser-Baghs freuen dürfen, da er bald darauf von den Engländern seines Thrones beraubt wurde; wohl um sie, die ihn wegen seines lasterhaften Lebenswandels entthront hatten, zu ärgern, ließ er sich dicht bei Kalkutta nieder, um mit Hilfe seiner Pension dort ein schwelgerisches Müßiggängerleben ohnegleichen zu führen und sich dabei in keiner Weise um die Engländer zu kümmern.

Imambara-Moschee in Laknau.

Noch für geraume Zeit wird der Kaiser-Bagh, diese beinahe wie eine Ausstellung theatralischer Dekorationsstücke wirkende Zusammenhäufung von Schlössern und Villas, Moscheen und Minarets, Gärten und Wasserkünsten inmitten von Prunktoren und stattlichen Mauern, ein Zeichen dafür sein, daß Indien am Ende des achtzehnten Jahrhunderts das rechte Feld für talentvolle Abenteurer war. Der Begründer dieser und anderer nicht minder auffallender Bauwerke in Laknau wie z. B. der bizarren Martinière,[WS 15] einer für mehrere tausend Schüler eingerichteten Unterrichtsanstalt, namens Claude Martin[WS 16], war tatsächlich als einfacher französischer Soldat nach der französischen Kolonie Ponditscheri gekommen, dort Korporal und schließlich nach einer Reihe der wunderbarsten Schicksale oberster Feldherr und Ratgeber des Königs von Audh geworden; er wußte den König zur Einführung eines von ihm erdachten neuen indischen Baustiles zu überreden, der namentlich in Martins eigenem Wohnsitze Konstantia[WS 17] in einer fast sinnverwirrenden Weise Anwendung fand.

Laknau macht ganz den Eindruck, als ob es ein Versuchsfeld für kühne Architekten gewesen sei, und wirklich wurde es dazu durch ein Preisausschreiben des Nawab-Wuzir Asuf-ud-Daulah[WS 18] gemacht, der seinen Namen durch Schaffung [170] eines Bauwerkes von noch nie dagewesener Herrlichkeit zu verewigen trachtete; ihm verdankt Laknau seit etwa 120 Jahren die große Imambara-Moschee, zu der man durch das prächtige Tor Rumi Durwaga[WS 19] und über einen ungeheuren gepflasterten Hof emporsteigt, der an mohammedanischen Festtagen von Gläubigen überfüllt ist. Doch weit mehr noch als am Tage kommt die bereits etwas verwitterte, aber ebenso kühn wie in den Einzelheiten zierlich konstruierte Moschee mit ihren beinahe endlosen, von zahlreichen Kuppeln gekrönten Arkadengängen zur Geltung, wenn bei solchen Festen diese Arkaden wie alle anderen Hauptlinien des Baues durch farbige Lämpchen und andere Illuminationskörper hervorgehoben und erhellt werden; im Scheine unzähliger Fackeln und Raketen werden dabei prächtig mit brennenden Kerzen illuminierte und mit Flittergold geputzte Modelle anderer berühmter Moscheen in Indien zwischen der Hossinabad Imambara[WS 20] und dieser Großen Imambara in Triumphprozessionen hin- und hergetragen.

Hindufrauen, dahinter Bettler; in der Ferne das Fort in Allahabad.

Neben Laknau und Kahnpur hätte auch der Regierungssitz der Nordwestprovinzen, die außerordentlich rasch wachsende Garnisonstadt Allahabad in dem Aufstande von 1857 eine hervorragende, ja sogar vielleicht die entscheidendste Rolle gespielt, wenn es den Indiern gelungen wäre, das durch Kaiser Akbar mit Sandsteinbastionen verstärkte uralte Fort[WS 21] zu erobern, in das sich sämtliche Europäer in größter Bestürzung und ohne Vorräte zurückgezogen hatten, und das die Schiffsbrücke über den Ganges sowie die Zusammenflußstelle dieses Stromes mit der Dschamna beherrscht. Zum Glück für die Belagerten gelang es einigen in Gewaltmärschen anrückenden Kolonnen des General Neil[WS 22] die Belagerer auseinander zu treiben und, trotzdem eine ausbrechende Cholera-Epidemie 40 % seiner Mannschaften hinwegraffte, von hier aus zum Entsatze Kahnpurs zu eilen, wo freilich seine Hilfe zu spät kam.

Jede Einmündungsstelle eines Flusses in einen anderen erscheint den Hindus als ein heiliger Platz, besonders wenn dabei eine so ungeheuere, in der Regenzeit einem See gleichende Wasserfläche entsteht wie bei der Vereinigung des Dschamna-Stromes mit dem heiligen, den größten Teil des [171] heißen Indiens mit Wasser versorgenden Ganges, wodurch der Umkreis von Allahabad in einen fruchtbaren, grünenden Garten verwandelt wird. Auch glauben die Hindus, daß sich noch ein anderer unsichtbarer, unmittelbar vom Himmel stammender Wasserlauf, der Saraswati[WS 23], an dieser Stelle mit dem Ganges vermählt. Seit den ältesten Zeiten wurden deshalb Pilgerfahrten nach dieser Stelle unternommen, und beim Magh Mela-Feste[WS 24] im Januar bevölkern sich die dann sandigen, in der Regenzeit aber überschwemmten Ufer mit badelustigen Pilgern, Priestern, Büßern, Bettlern oder Händlern mit Lebensmitteln und Leckereien, Spielzeug und Schmucksachen, die für ihre Buden an bevorzugten Stellen einen sehr beträchtlichen Platzpacht zu erlegen haben.

Viktualienhändler am Dschamna-Ufer bei Allahabad;
in der Ferne das Fort und die Eisenbahnbrücke.

Ich denke mit einigem Verdruß an meinen ersten Aufenthalt in Allahabad zurück, weil ich damals noch nicht die kleinen Kunstgriffe herausgefunden hatte, mit deren Hilfe ich mir später lästige uninteressante Volksmassen fernhielt, die sich häufig an den von Europäern besuchten Orten in der Hoffnung auf Backschisch vor photographische Apparate zu drängen versuchen. Das wirksamste dieser Hilfsmittel besteht darin, daß man die Entfernung von dem Gegenstand, den man eigentlich aufnehmen will, aber den man so wenig wie möglich beachtet, taxiert und den Apparat auf irgend einen in diesem Abstand, aber in ganz anderer Richtung befindlichen richtet und einstellt. Unfehlbar wird der nirgends fehlende Haufen müßiggehender Jungen und Bettler sich in dieser Richtung ansammeln und sogar an diesem Sammelplatz verbleiben, selbst wenn man die Kamera bald hier- bald dorthin und dabei in die Richtung des wirklichen Zieles dreht. Durch diesen recht widerwärtigen Janhagel[WS 25] wurden mir gerade hier einige der wunderlichen Büßer verdeckt, die in Indien immer seltener werden und die ich erst später im Lande Nepal in größerer Anzahl antraf; nirgends als hier habe ich, aber nur im Jahre 1890 und nicht mehr bei späteren Besuchen, einen Büßer gesehen, der drei volle Stunden mit dem Kopf nach unten über einem Feuer aus gedörrten Kuhdüngerscheiben an einem Gestell aus Bambusstämmen hin- und herpendelte, wobei er sich, wenn es ihm zu warm wurde, mit Hilfe der Unterschenkel wie ein Trapez-Akrobat emporzog, so daß er nicht mehr mit den Fußgelenken, sondern mit den Kniekehlen in den gepolsterten Ringen an den Seilenden hing. [172] Diese Bußübung wurde dadurch allerdings erleichtert, daß das Haupthaar fest mit einem Tuche umwickelt und dann ebenso wie der Körper mit einem dicken Brei aus Asche mit Wasser übertüncht wurde, der bald zu einer schützenden Kruste erstarrt.

Pilger nach dem Bade.

Wie Pilze nach Regenwetter erstehen an solchen Badefestplätzen große Sonnenschirme, unter denen Brahmanen kauern, um Gläubigen das Haar abzuschneiden, wovon jedes abgeschnittene und in den Strom geworfene einer Sünde gleichkommt, die dadurch vom Haupte und Sündenregister des sündigen Menschen verschwindet; andere malen den Wallfahrern nach vollzogenem Bade saubere Tilaks auf die Stirn oder wirken als Anführer, um nicht zu sagen Bademeister bei den verschiedenen Badeformen, wobei sie den Pilgern nicht nur die religiösen Tauchungen, Gurgelungen und Güsse vormachen, sondern dabei auch die auf diese Verrichtungen bezüglichen Stellen aus den Wedas hersprechen, wozu Angehörige niederer Kasten nicht befugt sind.

An allen Badeplätzen und Wallfahrtsorten findet auch ein lebhafter Handel mit Götzenbildern statt, von denen die größeren von Angehörigen einer besonderen indischen Bildhauersekte aus Ton hergestellt und bunt angemalt, die kleineren aber aus Bronze gegossen sind; wie man sagt, werden solche neuerdings als Massenartikel aus englischen Fabriken nach Indien eingeführt, nachdem die alten, schön gearbeiteten mythologischen Figuren längst dem armen Volke von Sammlern, namentlich in Zeiten von Hungersnot und Teuerung, weggekauft und in alle Welt verschleppt wurden.

Nächst der Höhle, die tief unter dem Waffenmagazin der Festung aus den Felsen herausgearbeitet ist, und die ursprünglich den Buddhisten, später bei den Einfällen der Mohammedaner brahminischen Hindus als Tempel gedient hat und die noch mit rotbemalten Lingam-Idolen gefüllt ist, verrät noch ein anderes Wahrzeichen die alte Heiligkeit Prajagas, wie Allahabad zu Zeiten des frommen buddhistischen Königs Asoka genannt wurde; dieser hat, wie an anderen zahlreichen Stellen Indiens so auch hier, ums Jahr 250 eine etwa 50 Meter hohe, mit weisen Lehren gezierte Denksäule oder Lat[WS 26] errichtet, und auch eine kleinere Säule dieser Art soll wie der Lat des Asoka als Sonnenuhr gedient haben.

[173] Das Serai[WS 27] mit den drei Mausoleen der Gemahlin des mohammedanischen Fürsten Jehandschir und ihrer beiden Söhne[WS 28] möchte ich nur deshalb kurz erwähnen, weil der praktische Sinn der Engländer den Raum über dem Grabe der Mutter in einen Billardsaal verwandelt hat; ebensowenig darf man sich wundern, an anderen mit Marmorplatten belegten Grabplätzen berühmter indischer Fürstlichkeiten, die jetzt als Picknick und Ausflugsorte beliebt sind, Tafeln mit dem Verbote zu erblicken: Das Tanzen auf diesen Gräbern ist nicht erlaubt!

Vielfach und wohl auch mit Recht ist der Vorschlag gemacht worden, den Sitz der Regierung aus Kalkutta nach Allahabad zu verlegen, dessen gesunde Lage in ziemlich gleicher Entfernung von den bedeutendsten Städten Indiens dafür so günstig wie möglich wäre. Jedenfalls gibt es keine andere Stadt in Indien, die einen so europäischen Anstrich besitzt wie Allahabad, dessen ungeheure auf sechzehn mächtigen Pfeilern über die Dschamna führende Eisenbahnbrücke den hier zusammenkommenden Hindus als ein in die Augen fallender Beweis europäischer Überlegenheit auf technischen Gebieten erscheinen muß.

Asoka-Säule als Sonnenuhr.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Kaiser-Bagh, Laknau: vergleiche Qaisar Bagh, Lucknow
  2. WS: Sutti Tschaura Ghat, Kahnpur: vergleiche Massacre Ghat, Kanpur
  3. WS: Badestufen, Allee: vergleiche Ghat (Indien)
  4. WS: Nana Sahib: vergleiche Nana Sahib
  5. WS: nur vier Personen entrannen dem Gemetzel: vergleiche Satichaura Ghat massacre (en). Die Darstellung ist nicht ganz korrekt: Es überlebten vier britische Soldaten. 120 ebenfalls überlebende Frauen und Kinder wurden später im Bibighar massacre ermordet und in einen Brunnen geworfen. Ob Nana Sahib die Massaker befohlen hat, ist umstritten.
  6. WS: Marmorengel: Bild, vergleiche Kanpur Memorial Church (en)
  7. WS: Audh: vergleiche Avadh
  8. WS: Chiromant: vergleiche Chiromantie
  9. WS: Salam-Verbeugungen: vergleiche Salām
  10. WS: Lord Lawrence: vergleiche Henry Montgomery Lawrence
  11. WS: Sir Hugh Wheeler: vergleiche Hugh Wheeler (Offizier)
  12. WS: Residenz-Ruine: vergleiche The Residency, Lucknow (en)
  13. WS: Imambara-Moschee: vergleiche Bara Imambara (en)
  14. WS: Wadschid Ali Schah: vergleiche Wajid Ali Shah (en)
  15. WS: Martinière: vergleiche La Martiniere Lucknow (en)
  16. WS: Claude Martin: vergleiche Claude Martin (en), 1735-1800
  17. WS: Konstantia: Hauptgebäude der Martinière, eigentlich Constantia
  18. WS: Nawab-Wuzir Asuf-ud-Daulah: vergleiche Asaf-ud-Daula (en), regierte 1775-1797 (Trotz des Ranges Vize-Wesir war er nominell Herrscher von Audh)
  19. WS: Rumi Durwaga: vergleiche Rumi Darwaza
  20. WS: Hossinabad Imambara: vergleiche Chhota Imambara
  21. WS: Fort Allahabad: vergleiche Fort Allahabad
  22. WS: General Neil: vergleiche James Neill (1810-1857))
  23. WS: Saraswati: vergleiche Sarasvati (Fluss)
  24. WS: Magh Mela-Fest: vergleiche Allahabad Kumbh Mela (en)
  25. WS: Janhagel: vergleiche Janhagel (Pöbel)
  26. WS: Denksäule oder Lat: vergleiche Edikte des Ashoka (allgemein), Allahabad pillar (en)
  27. WS: Serai: vergleiche Serail
  28. WS: drei Mausoleen: vergleiche Khusrau-Bagh