Durch Indien ins verschlossene Land Nepal/Mohammedaner-Residenzen in Indien
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Auf den europäischen Reisenden werden in Indien zunächst die größten und reinsten Eindrücke durch Erscheinungen hervorgebracht, die gar nichts mit dem eigentlichen, d. h. dem brahminischen Indien zu tun haben, nämlich durch Überreste jener Prachtbauten, die von den mohammedanischen Eroberern Indiens zu Ehren des Islam oder zur Verherrlichung ihrer eigenen Herrschermacht inmitten des unterworfenen Hinduvolkes errichtet wurden.
Für den, der Indien um seiner selbst und der Indier willen liebt, ist es ein wahrer Jammer, zu sehen, was für konfuse Begriffe manche der Indien durchhastenden Globe-Trotter in dieses Land mitbringen; ich habe es schwarz auf weiß gelesen, daß jemand sich damit brüstete, hurtiger als irgend ein anderer Indien und seine sights „durchgemacht“ zu haben! Leider ist Papier aus gar zu geduldigem Stoffe geformt, sonst würde es sich gewiß zornlodernd sträuben, wenn literarische Großsprecher sich nicht entblöden, die drawidischen Tempel Indiens im Quartanerstil kurzweg als „kolossalen Mumpitz“ und die Südindier ausnahmslos als „ekelhaft“ abzutun; solche Schlagwortredner beweisen damit nur, daß sie dort bei vornehmen Eingeborenen wohl keinen Zutritt gefunden haben und über eine nur recht mäßige Begabung verfügen, sich in die Gedankenkreise dieser phantasievollen Völker zu versenken.
Mit dem Sammelwort „indische Tempel“ werden von Weltbummlern, denen es ausschließlich auf immer neue Sensationen ankommt, alle erdenklichen Baulichkeiten samt und sonders in einen Topf geworfen, ohne daß sie sich die Mühe geben, die doch so leicht faßlichen Unterschiede der Bevölkerungsgruppen und ihrer Hauptkulte vor Antritt der Reise zu erfassen; ich würde mich glücklich [147] schätzen, wenn auch dieses Werk zur Klärung der Anschauungen über Indien und die Indier beizutragen vermöchte. Daß auf fachwissenschaftlichen Studiengebieten von keiner Nation Bedeutenderes geleistet wurde und wird, als von deutschen Linguisten, Archäologen und anderen Spezialforschern, ist bekannt, aber gerade weil diese höchsten Errungenschaften selten über die Gelehrtenkreise hinaus in das Publikum dringen, sind leichtfaßliche Schilderungen doch wohl nicht ganz ohne Nutzen und Zweck. ·
Ich müßte oft Gesagtes wiederholen und ein endloses, ermüdendes Kapitel schreiben, wollte ich die Überbleibsel aus der Glanzzeit der Mohammedanerherrschaft in Indien der Reihe nach durchgehen; ich möchte mich darauf beschränken, einiges vom Wesentlichsten herauszugreifen, was als Typus ganzer Gruppen gelten darf. Ich lade deshalb den Leser höflichst ein, mit mir in den klappernden Holzkasten zu steigen, der als Droschke vor dem Gasthof in Agra erscheint, und mich unmittelbar vor die Perle dieser Bauten im Sarazenenstile zu begleiten, vor die oder wohl besser vor den Tadsch[WS 2].
Fernab von der Stadt und Burg Agra, auf dem anderen Ufer des Dschamnaflusses, hält der Wagen vor einem Bau, der schon manchmal für das eigentliche Ziel, für den erwarteten „indischen Tempel“ gehalten wurde, aber jeder auch nur einigermaßen Vorbereitete weiß, daß der Tadsch weder ein Tempel, noch von Indiern erbaut ist. Dieses Außentor, durch das wir in den Park des Tadsch eintreten, ist bereits eine Sehenswürdigkeit allerersten Ranges; doch wieviel Worte müßte ich verschwenden, um es mit allen Einzelheiten so deutlich zu bezeichnen, wie es durch das Bild mit einem Schlage erscheint! Mit wahrer Rührung und Dankbarkeit muß ich stets meiner photographischen Kamera gedenken, die mich in den Stand gesetzt hat, meinen Lesern wie mir selbst die äußeren Formen der bei diesem Bau aufgewendeten Bildnerkunst zu enthüllen, wobei ich bedaure, daß hier der Raum fehlt, die [148] stilisierten Blütenteile, die das Portal als Zierlinien umranken, oder die zu einem wundervoll gemusterten Bande durch- und ineinander geflochtenen arabischen Schriftzeichen, mit denen das ganze Tor in Gestalt von Koranfprüchen umsäumt ist, in voller Treue wiederzugeben.
Wir treten aus dem draußen sengenden Sonnenglanz in die kühlen, schattigen Hallen des Tordurchganges, dessen entgegengesetztes Portal zugleich den Rahmen für die jenseits ausgebreitete Landschaft abgibt, für einen Anblick, der auf Erden nicht seinesgleichen hat und geradezu das Ideal jedes seine Kunst wahrhaft liebenden Landschaftsgärtners genannt werden muß.
Wie auf allen Gebieten der Kunst Einfachheit und Reinheit des darstellenden Empfindens immerdar das Größte und die edelsten Wirkungen schafft und unvergleichlich viel nachhaltiger erquickt und erhebt als ausgeklügelte Spitzfindigkeiten, so prägt sich auch dieser erste Anblick des Tadsch für alle Zeit in die tiefste Seele des Beschauers. Es ist nicht möglich, starres Material in erhabenere und zu gleich anmutigere Formen zu zwingen, als durch diesen ungeheuren, mehr als 70 Meter hohen Bau, dessen schneeweiße, von bläulichem Geäder belebte Massen in den Jahren 1630 bis 1647 mit titanischen Kraftanstrengungen aus der Ferne herbeigeschafft, zusammengetürmt und schließlich mit den zierlichsten Linienführungen, über die der Formenschatz mohammedanischer Baukünstler verfügte, und mit Hilfe der kostbarsten Steine Indiens geschmückt wurden. Lebenden Wesen bauschmückende Motive zu entlehnen oder gar, menschliche Figuren zur Ausschmückung von Kultusbauten zu verwenden ist dem Islam verboten, und deshalb sind den Mohammedanern brahminische Hindutempel dermaßen ein Greuel, daß z. B. der Eroberer Aurungzeb allen erreichbaren indischen Tierfiguren mythologischer Art die Köpfe weghauen ließ. Die Muster, in denen die Hauptumrisse des Tadsch durch Linienornamente aus stilisierten Blumengewinden oder Zweigen des Lebensbaumes hervorgehoben [149] sind, kehren überall in unerschöpflicher Abwechselung und Mannigfaltigkeit wieder, und werden auch mit Vorliebe auf den berühmten Marmorwaren Agras als Einlagen durch farbige Steine nachgebildet.
Es ist ziemlich gleichgültig, ob die Sage wahr ist, wonach ein genialer, seiner französischen Heimat eines Verbrechens wegen entflohener Juwelier oder ob ein italienischer Architekt der Urheber der Grundidee zu diesem wahrhaften Wunderbau gewesen sein soll, dessen Anlage, Abstufung und Begrenzung durch vier Minaretnadeln bei einem Blick aus der Vogelschau von der Zinne des Durchgangstores am klarsten zu Tage tritt; ebenso zweifelhaft ist es, ob der Baukünstler auf Anstiften des Bauherren, des gewaltigen Schah Dschehan[WS 3], schließlich ermordet worden ist, um kein anderes Bauwerk von ähnlicher Pracht errichten zu können.
Unstreitig wurde die Absicht des Erbauers vollkommen erreicht, allerdings mächtig unterstützt von einer unübertrefflich feinfühligen gärtnerischen Verwendung von Zypressen und anderen ernst und schwermütig erscheinenden Baumgruppen, die sich nebst der Vorderseite des Baues auf der ruhig klaren Wasserfläche eines in Marmor gefaßten Beckens widerspiegeln, so daß der Marmorbau sich wie ein von Hoffnungsgrün umrahmtes, verkörpertes Ideal keuscher Reinheit vom blauen Himmelszelt abhebt. Dies alles im Verein mit der stadtfernen, weihevollen Stille des Ortes unterstützt die Wirkung dieser märchenhaften Schöpfung, die keinen geringeren Zweck hat, als fürstlicher Hochherzigkeit einen ewig dauernden Ausdruck zu geben; mit diesem Wunderbau suchte Schah Dschehan das Andenken an die geliebteste seiner zehn Gemahlinnen, an die Perserprinzessin Ardschmand Bonni Begum, zu ehren, die von ihm den Beinamen Mumtaz Mahal[WS 4], d. h. die Auserwählte des Palastes, erhielt. Daß freilich neben deren irdischen Überresten nach seinem Hinscheiden auch die seinigen in diesem Mausoleum Ruhe finden sollten, lag keineswegs in den Absichten Schah Dschehans; er hatte vielmehr angeordnet, daß als Grabstätte für ihn ein nicht minder prächtiges Gebäude auf dem gegenüberliegenden Dschamna-Ufer errichtet werden sollte, ein letzter Wunsch, der von seinem Sohn und Nachfolger Aurungzeb mißachtet wurde, indem dieser es vorzog, die dafür hinterlegten Baukosten von etwa 40 Millionen Mark in die eigene Tasche zu stecken. Dieser Aurungzeb muß den Inbegriff eines asiatischen Tyrannen verkörpert haben, der sich nicht scheute, seinen eigenen Vater im Palast zu Agra einzukerkern, nachdem er ihn durch Übersendung des in eine Geschenkkiste verpackten abgehackten Kopfes seines Bruders Dara[WS 5], der des Vaters Lieblingssohn war, zu Tode erschreckt hatte. Um das Urbild eines Franz Moor[WS 6] zu vervollständigen, soll er auch der zärtlichen Pflegerin des gefangenen Vaters, seiner Schwester Dschahanara Begum[WS 7], einen Kelch voll Gift gereicht und sie so aus der Welt geschafft haben.
[150] Einen Tempel oder eine Moschee soll der Tadsch also keineswegs vorstellen, wohl aber finden wir in Agra auf der anderen Flußseite einen der formenreinsten mohammedanischen Andachtsplätze, die Perl-Moschee[WS 8], die nebst anderen Prunkbauten von mohammedanischen Herrschern innerhalb der einst fast uneinnehmbaren Burgmauern errichtet wurde.
Präsentierend tritt die Wache ins Gewehr, sobald der Wagen eines Europäers durch das gähnende Tor dieser zyklopischen Burgwälle[WS 9] donnert. Doch unsere Heiterkeit wegen dieser nicht gewohnten Ehrenerweisung wandelt sich beim Betreten des Hofes der Perl-Moschee in ruhige, reine Freude, denn mit Staunen sehen wir, daß diese mächtige Wirkung durch schier unglaublich einfache Architekturmittel hervorgebracht wird, indem hier kein anderes Motiv als die gerade Linie, der Halbkreis und die Kuppelwölbung benutzt und auf jeden äußerlichen Ausputz Verzicht geleistet wurde. Wenn freilich die glatten Marmorfliesen dieser Moschee sprechen könnten, auf denen sich die Gläubigen allabendlich in der Richtung nach Mekka niederbeugen, dann könnten sie erzählen von den Seufzern und dem Todesröcheln, das einst aus den darunter liegenden Grüften empordrang, wenn dort Scharen brahminischer Hindus dem Hungertode erlagen, die nicht willens waren, dem Befehl des Großmoguls zu gehorchen und gleich vielen ihrer Landsleute zur Fahne des Propheten zu schwören. Nur vereinzelt fielen später die Nachkommen der mit so gewaltsamen Mitteln zu Mohammedanern gemachten Hindus beim Nachlassen des fanatischen Druckes wieder dem Brahminentum zu, so daß unter den fast 300 Millionen Menschen, die Indien bewohnen, immer noch der beträchtliche Bruchteil von rund 50 Millionen aus Mohammedanern besteht.
Das ganze Leben und Treiben am Hofe der Moguls wird vor dem geistigen Auge lebendig, wenn wir die anderen Burghöfe durchschreiten und die riesige, an drei Seiten offene Marmorhalle erblicken, die als „öffentliche Audienzhalle“ oder Diwan-I-Am an gewissen Festtagen jedermann Gelegenheit bot, sich dem Antlitz seines Herrschers zu nahen, der dann von allen Großen seines Reiches unter Entfaltung eines für unsere Begriffe unerhörten Prunkes umringt war. Gegenwärtig lagern auf dem Platz, wo einst die malerischen Gruppen kriegerischer und siegreicher Mohammedaner ihrem Gebieter zujauchzten, Pyramiden von englischen Bomben und Kanonenläufen, die den [151] Hindus jederzeit die Mittel vor Augen führen sollen, denen die gegenwärtigen Herren der indischen Lande ihre Macht und ihren Reichtum verdanken. Zierlicher und intimer als die öffentliche Audienzhalle wirkt aber ein anderer inmitten eines Rosengartens ebenfalls aus Marmor erbauter Pavillon, der für Besuche von Fürstlichkeiten oder anderen Personen von Rang bestimmt war und Diwan-I-Khas, privates Audienz-Gemach, hieß. Ein Blick vom Söller dieser Halle an einem Sommerabend oder noch besser in stiller, linder Nacht hinaus in die weite indische Ebene, zumal wenn der Mond darüber steht und seinen Silberglanz über den Strom und den sich dahinter erhebenden Tadsch ausbreitet, gehört zu jenen zarten, delikaten Genüssen, die alle Mühen einer Indienreise vergessen lassen. Vergnügungsreisende besuchen übrigens Indien grundsätzlich nur in der kühlsten Jahreszeit, in deren frühen Morgen- und Abendstunden das Klima entzückend und auch tagsüber nicht wärmer ist als in manchem Sommer in Deutschland; mit Recht darf man erst über Hitze jammern, wenn man einen indischen Hundstagssommer auf seiner Höhe kosten mußte, und ebenso kann nur der sagen, er kenne Indien gründlich, der aus eigener Erfahrung die indische Regenzeit kennt.
Neben den Mausoleen, Moscheen, Palästen und sonstigen Marmorbauten Agras verdient aber die etwa 35 Kilometer westlich von Agra in den Bergen liegende Sommerfrische und Nebenresidenz des gütigen, gerechten und gelehrten, schließlich aber sich selbst als Verkörperung des Sonnenbegriffs vergötternden Kaisers Akbar unbedingt ebenfalls einen Besuch, wäre es auch nur, um hier in Futti Pur Sikri zwar eine ähnliche, aber nicht in Marmor, sondern in feinkörnigem roten Sandstein ins Dasein getretene Kunstvollendung zu finden, die jedoch neben gigantischer Kraft und tiefernster Bedeutung zugleich nach dem Zierlich-Gefälligen in den Einzelheiten strebt; das Pantsch Mahal,[WS 10]ein luftiger Sommerpalast, dessen fünf Stockwerke fünf entscheidende kaiserliche Siege verherrlichen, zeigt diese mohammedanische Bauweise am schönsten.
Wenn von den Plätzen die Rede ist, an denen einst mohammedanische Erobererpracht zur glänzendsten Entfaltung gelangte, pflegt in einem Atem mit Agra der Name Delhi genannt zu werden. Auch in Delhi hielten die Moguls inmitten ihrer Palastgärten pomphafte Audienztage ab, doch auch in den dafür bestimmten Hallen erinnern nur noch köstlich ausgearbeitete Pfeiler [152] und mit wundervollen Steineinlagen verzierte Mauern an jene Tage fabelhaften Glanzes, wo im Fürstenpalaste zu Agra der Koh-I-Nor[WS 11] als wertvollster Edelstein, den die Erde trug, auf kostbarem Steinsockel prangte, wie er jetzt als schönster Stein in der englischen Königskrone funkelt, und erschreckend leer steht jetzt diese feenhaft geschmückte, von Gold strotzende Audienzhalle zu Delhi, in der der Fürst auf einem Goldsessel thronte, dessen Lehnen aus dem Diamantgefieder von Pfauen bestanden; doch auch dieser Pfauenthron blieb nicht im Lande, sondern wurde durch Nadir Schah[WS 12] nach Persien geschleppt, wo er noch jetzt den Mittelpunkt der fürstlichen Schatzkammern bildet. Besonders hier in Delhi gilt es, die Phantasie anzurufen und sich die wundervollen Steinmosaikböden dieser nun trostlos öden Hallen mit Prachtgestalten belebt zu denken, die man heute nur noch vereinzelt zu Gesicht bekommt, wenn man z. B. das Glück hat, einem großen Durbar[WS 13] oder Empfangstage eines indischen Fürsten beizuwohnen.
Es drückt den Geist unsäglich nieder, in Delhi überall die Spuren jähen Schicksalswechsels zu sehen und tiefste Armut und unaufhaltbaren Verfall wahrzunehmen, wo im Mittelalter alle Schätze des Erdballs massenhaft zusammenflossen. Bezeigten die Mohammedaner der Stadt Delhi nicht Opferfreudigkeit genug, aus eigenen Mitteln für die Erhaltung ihrer aus rotem Sandstein erbauten großartigen Dschuma-Moschee zu sorgen, so würde diese wundervolle Moschee, die einen Schuh und ein Barthaar des Propheten, sowie einen von diesem selbst diktierten Koran umschließt, wohl ebenfalls bald nur noch eine Ruine sein, wie es deren auf den Trümmerfeldern um Delhi herum unzählige gibt; die Stadt wurde nämlich nach jeder der sich sehr oft wiederholenden Zerstörungen bald hier bald dort wieder ausgebaut, einmal sogar in plötzlicher Despotenlaune zu Gunsten eines anderen Ortes für einige Zeit als Residenz völlig aufgegeben.
Doch inmitten dieser entvölkerten Ruinen flehen die Mohammedaner zu Allah und seinem großen Propheten, und aus vielen Merkzeichen spricht die in Indien noch lange nicht erloschene zähe Lebenskraft des Islam. Mit welchem Ernst versammeln sich seine Anhänger an jedem Freitag in der Halle der Dschuma-Moschee zur Predigt, und wie qualvoll dicht aneinander gedrängt erfüllen sie am Id-Feste[WS 14], aus ganz Nord-Indien herbeigeströmt, den ungeheuren Hof, in dem sich das Becken für die religiösen Abwaschungen befindet! Mit [153] welcher Inbrunst beugt sich dann jeder in dieser unabsehbaren Schar, sobald der Ruf Allah o Akbar, „Gott ist groß!“, vom Minaret erschallt, dem Beispiel des Vorbeters folgend und nach West gerichtet, zweimal zum Erdboden nieder, so tief, daß die Stirn den Erdboden berührt! Fürwahr, wer solche Äußerungen einer alle mit gleicher Glut durchdringenden Glaubensfreudigkeit und unerschütterlichen religiösen Zuversicht wahrgenommen hat, der darf den Islam nicht als eine ohnmächtig werdende Lehre mißachten.
Wurden die Bewohner Delhis in älteren Zeiten durch die Einfälle der Mohammedaner gequält und geplündert, so litten sie im neunzehnten Jahrhundert nicht weniger durch die Eroberungsgelüste der Engländer, die sich im Jahre 1803 zu Herren der Stadt machten und ihren Stolz darein setzten, gerade von diesem Hauptsitz indischer Kaisergewalt aus im Jahre 1877 die Königin Viktoria als Kaiserin Indiens auszurufen[WS 15], wie ja auch hier 1903 die Krönung König Eduards[WS 16] mit Aufwand von vielen Millionen gefeiert werden soll[WS 17], während der hoffentlich das Gespenst der Hungersnot seine Würgerarbeit einstellt. Wenig will freilich zu diesem Stolze die historisch feststehende Tatsache passen, daß hier in demselben Delhi der letzte Kaiser von Indien samt seinen beiden Söhnen nach dem Fehlschlagen des indischen Aufstandes im Jahre 1857 durch ein Bubenstück ohnegleichen aus der Welt geschafft wurde. Grimmiges Entsetzen über die Skrupellosigkeit, der die englische Realpolitik ihre Riesenerfolge verdankt, muß jeden überkommen, der erfährt, wie unsagbar brutal und feige damals ein englischer Offizier[WS 18] diesen Kaiser Bahadur Schah[WS 19] und die beiden ebenfalls unbewaffneten jungen Prinzen aus nächster Nähe mit Pistolenkugeln niederknallte[WS 20], als sie im blinden Vertrauen auf das feste englische Versprechen, daß ihr Leben geschont werden solle, aus dem Mausoleum Hamuyans[WS 21] hervorkamen, das ihnen als sicherer Schlupfwinkel gedient hatte. An diesen Aufstand wird man in Delhi auf Schritt und Tritt gemahnt, sei es durch das von den Kugeln der Hindus zerschossene Kreuz einer Kirchturmspitze, sei es durch die Bresche, die die Engländer unter Aufopferung zahlreicher treugebliebener indischer Sipeutruppen[WS 22] in das Kaschmirtor[WS 23] sprengen ließen, um Delhi stürmen zu können.
Das düstere Mausoleum Hamuyans gilt ebenfalls als eine Sehenswürdigkeit der ferneren Umgebung Delhis, weit mehr aber noch der rätselhafte Kutub-Minar-Turm[WS 24], dessen Querschnitt eine höchst wunderliche Mischung spitzwinkliger Erker und Rundungen darstellt; über den Zweck und die Herstellung dieses Riesenturmes gehen die Ansichten der brahminischen und mohammedanischen Hindus weit auseinander, indem erstere behaupten, er sei ursprünglich von einem brahminischen Fürsten errichtet worden, damit seine Tochter früher als alle anderen Bewohner Delhis den Sonnenaufgang begrüßen könne, während die Mohammedaner versichern, er sei von Anfang an als Minaret erbaut und mit Koraninschriften verziert gewesen und nach und nach durch stetig schlanker werdende Aufsätze verlängert worden.
Das Ersteigen der 378 Stufen dieses Turmes gehört ebenfalls in das unabänderliche Programm jeder Gesellschaftsreise durch Indien. Doch hatten in [154] früheren Jahren viele Personen davor eine unüberwindliche Scheu, weil es hieß, daß sich in dem stets offenen Turme Leoparden und tolle Schakale[WS 25] zu verkriechen liebten; sind schon bei uns tolle Hunde keine harmlosen Tierchen, so können die in einzelnen Strichen Indiens häufigen tollen Schakale geradezu als Landplage gelten.
So umfassend die Aussicht der Turmzinne über die endlosen Ruinenfelder des alten Delhi auch ist, so erweckt doch eine nahe am Kutub-Minar sieben Meter aus der Erde ragende und gleichfalls mit dem Reiz des Geheimnisses umgebene blanke, nie vom Rost zerfressene und wohl bereits 1800 Jahre alte Eisensäule[WS 26] in weit höherem Grade das Interesse der Besucher. Nach hergebrachter Ansicht sollte dieser Schaft nämlich bis zum Mittelpunkte der Erde hinabreichen und dort einem Drachen durchs Herz gebohrt sein; ein brahminischer Fürst, der die Richtigkeit dieser Sage prüfen wollte, habe, so berichtet die Sage, trotz des Abratens der Brahmanen, diese Säule aus der Erde graben lassen und dabei festgestellt, daß sie nicht tiefer in der Erde steckte, als sie darüber hinausragte, da aber des untere Ende blutrot gefärbt war, wurde dieser als Frevel aufgefaßten und allgemein mißbilligten Tat die Schuld an dem bald darauf erfolgenden Untergange des Fürsten und dem Siege der andringenden Mohammedaner zugeschrieben.
Im großen und ganzen bilden die Straßenbilder in Delhi sowohl wie in Agra bei weitem nicht so reiche und fesselnde Figuren wie in der Radschputana. [155] Die Kaufleute, die Juweliere und Goldarbeiter haben ihre Läden zumeist auf der Hauptstraße, dem Tschandni-Tschauk oder Silberwege[WS 27]; da die Läden offen sind, kann man darin die nach unseren Gewohnheiten höchst unbequeme Art wahrnehmen, in der dort die Buchhalter zu schreiben pflegen. Auch hier klagten mir die Kaufleute über den beständig schlechter werdenden Geschäftsgang, da das indische Volk immer mehr verarme und keine Ersparnisse mehr machen könne, um sie in Gestalt von Schmucksachen aus edlen Metallen in die Hände ihrer sparsamen Hausfrauen zu legen. Für jemanden, der noch nicht lange in Indien ist, wird in Delhi besonders das Herumstreifen in Werkstätten der Goldarbeiter oder auch der Töpfer und die Erzeugung ihrer absonderlich geformten Gefäße eine fesselnde Augenweide bieten, nicht minder der Besuch des Platzes an der Dschuma-Moschee, wo die Kamel-Omnibusse aus allen Richtungen zusammentreffen, um ihre Bespannung zu wechseln; der obere Raum dieser seltsamen Wagen dient zur Aufname des Gepäckes und zugleich zur Abhaltung der Sonnenwärme von dem unteren Teile des Wagens.
Als dritte im Bunde dieser einst unermeßlich reichen, nunmehr verfallenden Hauptsitze des Islam kann Ahmedabad gelten, das bis zur Mitte des siebzehnten Jahrhunderts wohl den bedeutendsten Stapelplatz Indiens und Austauschplatz aller Erzeugnisse Asiens bildete. Wer freilich bereits die weit lebhafter in die Augen springenden Baudenkmäler Delhis und Agras gesehen, wird selbst von der Hauptmoschee Ahmedabads, die durch ihre zahllosen, in den verschiedensten Mustern ausgemeißelten Pfeiler berühmt ist, ebensowenig noch überrascht werden können wie von den schlichten, höchstens mit seiner Zierleiste aus Perlmutter geschmückten Marmor-Sarkophagen, die an die Kinder und Gemahlinnen Ahmeds und seiner Nachfolger erinnern, jedoch ohne deren Namen auf die Nachwelt zu bringen oder sonst eine Inschrift zu tragen. Der Islam verschmäht angesichts des alle gleichmachenden Schicksals derartige Verzierungen der Grabstätten, und zieht es vor, auf den Gräbern der Frauen eine leere Schreibtafel, auf denen ihrer Gatten aber einen schreibschriftähnlichen Stab anzubringen, um anzudeuten, daß das Weib von Natur einem unbeschriebenen [156] Blatte gleiche, das erst durch die Einwirkung des Mannes Inhalt und Bedeutung empfange.
Wer aufmerksamen Auges an den morschen Ruinen der zunächst von den Mohammedanern und dann von den rachedürstend über die Moslems herfallenden brahminischen Mahratten zerstörten Gebäuden herumspäht, wird als dürftige Zeugen einstigen verschwenderischen Reichtums hie und da wahre Wunder kunstgewerblicher Leistungen ausfindig machen können; als Beispiel hierfür schalte ich das Bild eines aus Marmor gemeißelten Fenstergitters in der Vorderwand der Sidi-Seid-Moschee[WS 28] ein, um einerseits die entzückende Zierlichkeit eines labyrinthisch verschlungenen und verzweigten Arabeskenmusters, aber auch um zugleich zu zeigen, wie von dieser einstigen stolzen Fassade nur ein Mauerrest übrig geblieben ist.
Wie jede größere gewerbtreibende Stadt Indiens hat auch Ahmedabad ganz bestimmte Industriezweige, die von alters her Ruf haben und auch heute noch ganz wundervolle Erzeugnisse liefern, wenngleich die Schönheit der einst in Ahmedabad gestickten Decken und Tücher von den heutigen erfindungsärmeren und empfindungsschwächeren Indiern nicht mehr erreicht werden kann, so daß vielfach ältere Muster Verwendung finden; besonders geschieht dies wohl seitens der Kunsttischler, die Kästchen aus duftendem Sandelholz zu schnitzen und diese mit in Elfenbein geritzten Zeichnungen oder bewundernswerten feinen Mosaiken aus winzigen Plättchen von Silber, Elfenbein, Korallen, Ebenholz und edlen Steinen zu belegen verstehen. Wenn auch die wirklichen [157] Meister dieser Technik nur Gutes herstellen, gibt es doch genug, die dem Zuge der Zeit folgen und wohlfeile Geräte ähnlicher Art, aber ohne jeden künstlerischen Wert auf den Markt bringen und versuchen, sie dem Fremden zu hohen Preisen aufzuschwatzen. Kein verlorenes Geld schmerzt so wie das Lehrgeld, das jeder Neuling für derartige Erfahrungen anlegen muß.
Schließlich aber darf in diesem Kranze Adschmir nicht fehlen, das, bereits im siebenten Jahrhundert von Mohammed Kassim[WS 29] bedroht, sich mit Hilfe tapferer Radschputen vier Jahrhunderte hindurch der Mohammedaner erwehren konnte, dann aber für lange Zeit zum Mittelpunkte des Islam wurde, der die alten, herrlichen Hindutempel der Dschainsekte durch Zerstörung oder Entfernung aller an den Brahminenkult erinnernden mythologischen Figuren in Moscheen verwandelte. Hier spielte sich im Jahre 1615 in einem Sommerpalast an den Ufern eines Sees eine der folgenschwersten Szenen der Weltgeschichte ab, indem Dschehangir[WS 30] inmitten einer prachtvollen Durbarversammlung seiner Großen zwischen zwei lebenden weißen Hirschen thronend den demütig Geschenke darbringenden Lord Roe[WS 31] empfing und den Engländern die bescheiden nachgesuchte Erlaubnis gewährte, in Indien etwas Handel zu treiben. Welch ein Gegensatz zu der neuen Zeit, wo es ein englischer Beamter fertig bekam, einige der am schönsten ziselierten Säulen aus dem Haupttempel herausbrechen zu lassen, um daraus einen Triumphbogen für den bevorstehenden Besuch des Vizekönigs in Adschmir zu bilden[WS 32]!
Auch im übrigen ist Adschmir der Hintergrund merkwürdiger, verklungener Geschehnisse, deren Wahrzeichen mehr und mehr verschwinden. Zu den seltsamsten gehören die ganz ungeheuren Kochtöpfe und bronzenen Riesenkessel, in denen wohltätige Reiche an hohen Festtagen wahre Puddingberge mit Reis, Mandeln und Butter kochen und den Armen der Stadt Adschmir zur Verfügung stellen ließen, die sich an diesem Tage wie im Schlaraffenlande gefühlt haben müssen.
Kein indischer Stamm hat den mohammedischen Eindringlingen in Indien mehr zu schaffen gemacht und wirksamer das Gegengewicht gehalten, ja sie [158] sogar öfter aufs Haupt geschlagen als die Mahratten, die neben den Radschputen und Sikhs die tapfersten brahminischen Hindus als Kriegerkaste umschlossen; selbst die englische Macht wäre gegen sie ohnmächtig gewesen, wenn nicht Uneinigkeit der Führer und Treubruch seitens der Mietssoldaten schließlich den Engländern die Besiegung der Mahratten ermöglicht hätte. Die wichtigste Mahrattenhauptstadt Gwalior liegt kaum zweihundert Kilometer südlich von Agra und darf als ein Glanzpunkt des vormaligen brahminischen Indiens den eben behandelten Sitzen einstiger mohammedanischer Macht und Pracht an die Seite gestellt werden.
Der zur Zeit des indischen Aufstandes in Gwalior regierende Maharadschah[WS 33] glaubte den ewigen Dank der Engländer zu verdienen, wenn er die Ausbreitung des Sipeu-Aufstandes in seinem Staat nach besten Kräften einzuschränken suchte; als Dank mußte er es dulden, daß die Engländer seine für uneinnehmbar geltende Felsenfestung während der Zeit des Aufstandes besetzten, diese Besetzung aber ganz aus Versehen bis zum Jahre 1885 ausdehnten, und die Feste nur gegen Zahlung einer Summe von einigen Millionen Rupien auslieferten; ebenso zufällig war die Burg inzwischen entwertet worden, indem in der Nähe Gwaliors bei Morar eine englische Garnison mit weittragenden Geschützen untergebracht worden, dagegen den Truppen des Maharadschah von den Engländern eine veraltete Bewaffnung vorgeschrieben worden war! Die Uneinnehmbarkeit der Festung war dadurch ebensosehr zur leeren Phrase geworden, wie der dem Fürsten zugestandene Titel der „Unabhängigkeit“. Tatsächlich war das Festungsschloß nie mit Sturm und Gewalt, sondern stets durch Verrat und List eingenommen worden.
Zum Besuche dieser Burg hatte mir der Maharadschah Madodschi Rao Scindia[WS 34] einen seiner prächtigsten Elefanten geliehen. Es geschah das vielleicht als Erkenntlichkeit für einige Ratschläge, die ich ihm, einem wißbegierigen Amateurphotographen, gesprächsweise geben konnte, während er mir seine in wahrhaft fürstlichem Maßstabe angelegte Dunkelkammer und seinen pompösen Durbarsaal zeigte.
Der Besuch bei diesem Maharadschah, einem der angesehensten unter den indischen Fürsten, wird mir aus mancherlei Gründen unvergeßlich bleiben. Ich hatte in Erfahrung gebracht, daß an einem gewissen Tage des Jahres 1896 ein großer Durbar stattfinden würde und hatte auch die Erlaubnis erhalten, daran teilzunehmen. Ich freute mich unsagbar auf diese voraussichtlich überaus reiche Festversammlung indischer Großer und die damit verknüpfte Gelegenheit zur Aufnahme außergewöhnlich interessanter Porträts; frühzeitig machte ich mich auf den Weg nach dem Dschai Indar Bhawan-Palaste.[WS 35] Unterwegs verlor jedoch der Wagen, worin ich zu dem Durbar eilte, ein Rad, sodaß ich einige Verletzungen davontrug und ein Aufenthalt entstand, der die für den Durbar angesetzte Zeit vollständig verschlang.
Als endlich mein Wagen vor dem äußeren Palasttore anlangte, kam mir bereits der endlose Zug hoher Herren entgegen, der sich noch fortwährend [159] unter lebhaftem Geräusch innerhalb des Schloßhofes ordnete und in Bewegung setzte. Ich sah auf den ersten Blick, daß hier von Bildermachen keine Rede sein konnte. Es war nicht statthaft, daß mein Wagen oder ich selbst an dem mir aus dem Tor entgegenflutenden Gewühl vorbeizukommen versuchte, und so blieb mir nichts anderes übrig, da eine Aufstellung des Apparates hart vor dem Tore weder schicklich noch möglich war, als alle diese ganz fabelhaft kostümierten Gestalten und abenteuerlichen Charakterköpfe der vornehmsten lebenden Mahratten an mir vorüberziehen zu sehen, ohne auch nur eine einzige dieser Figuren im Bilde festhalten zu können.
Doch nicht nur die Erscheinungen der Festteilnehmer grenzten durch die trotzig-verschlagene Eigenart mahrattischer Gesichtszüge und des kühnen Geschmackes in Kleidung und Turbanwicklung ans Wunderbare, auch die Art, wie die Herrschaften fortbewegt wurden, um sich von Gwalior aus über alle mahrattischen Gebiete zu zerstreuen, war so abwechslungsreich und phantastisch wie möglich. Ein wanderndes Museum so merkwürdiger, nie gesehener Transportwerkzeuge in Gestalt von Wagen und Karren, Sänften, Tragstühlen und Hängematten bewegte sich im Geschwindschritt an mir vorüber, daß ich, untätig in meinem Wagen stehend, sicherlich ein ganz verzwicktes Gesicht geschnitten habe; standen mir vor ohnmächtigem Grimm über dies nie wieder gut zu machende Mißgeschick Tränen in dem einen Auge, so strahlte gewiß das andere vor heller Freude über dieses ganz unvergleichliche, echt indische Schauspiel. Ich mußte mich bezwingen, nicht mit Gewalt die Träger der oft lächerlich winzigen Palankine aufzuhalten, weil ich solche Beförderungsmittel bis dahin ebensowenig für denkbar gehalten hatte, wie die Möglichkeit, daß so reiche, hochstehende Herren in für Europäer ganz unerträglichen Stellungen und mit stets untergeschlagenen Beinen die weitesten Reisen machen können. Die Fuhrwerke aller Klassen des Mahrattenvolkes lassen überhaupt alles an Bequemlichkeit vermissen; wie es z. B. der umstehend abgebildete reisende Greis fertig bekommt, in seiner engen Droschke sogar noch eine verschleierte Dame im Schoß zu halten, ist mir unfaßbar, dagegen begreife ich, daß der Kutscher auf der Deichsel kauern muß, um zu verhüten, daß das Pärchen das Übergewicht bekommt und mit dem ganzen Fuhrwerke nach hinten umkippt.
Unter diesem Widerstreit von Verdruß und Jubel langte ich bei dem Maharadschah an, der mich in seiner Art zu trösten versuchte, aber mit sichtlicher Verstimmung es nicht begreifen zu können schien, daß mich die Herrlichkeit seines Prunksaales, der dem eines venezianischen Palastes nachgebildet ist, ziemlich kalt ließ und daß mich alle darin angehäuften Kristallkronleuchter, seidenen Vorhänge, Gobelins und kostbaren Spieluhren nicht für die mir entgangenen Modelle zu entschädigen, ja nicht einmal zu reizen vermochten, eine einzige photographische Platte dafür anzulegen.
Es würde eine mächtige Abhandlung erfordern, wollte ich die sich bei meinem Ritt nach der jetzt unbewohnten Burg darbietenden Architekturbilder zu beschreiben versuchen. Die zwischen den fünf Torwegen liegenden Felswände, [160] längs deren sich der steile Pfad auf die Höhe der Zitadelle hinaufzieht, und vor allen Dingen die mit blauen Emailleverzierungen bedeckte Hauptfassade des mehr als tausendjährigen King Pal-Palastes[WS 36], sind so überladen mit Säulen und Gesimsen, Denkmälern, Wandbildern, Altären und anderem Ausschmucke, daß ich, um meine Leser nicht zu ermüden, nur die beiden großartigsten Überreste aus jenem Zeitabschnitt erwähne, wo die Dschains die Gebieter dieses nun völlig verlassenen Burgschlosses waren und die Hochebene, auf der das Schloß stand, mit auserlesenen Tempeln bebauten. Auch hier hat fanatische Zerstörungslust mohammedanischer Eroberer, denen die Felsenfeste vom Jahre 1019 bis zum Zusammenbruch der Mogulmacht gehörte, diese köstlichen Bauwerke, den kreuzförmig gebauten Adinath[WS 37] und den mächtig in die Höhe aufragenden Deli Mandal-Tempel[WS 38] durch Verstümmelung aller mythologischen Figuren und durch sonstige Gewalttaten beeinträchtigt, ohne jedoch diesen wunderbaren Architekturschöpfungen die Eigenart des Baugeschmackes der Dschainsekte rauben zu können, die in jeder Richtung nach möglichster Vollendung und Reinheit sowohl in ihren Schöpfungen wie in der Ethik ihrer Gedankenwelt trachtet. Keine andere aus dem Brahminentum hervorgegangene Religionsgemeinschaft hat sich selbst so strenge Gesetze gegeben, wie die Dschains, die stolz darauf sind, daß der Religionslehrer des Fürstensohnes Sakya Muni[WS 39], [161] des späteren Buddha, zu ihrer Gemeinde gehörte. In ihrer Schonung jedes Lebens, wo immer es sich offenbart, schreiten diese Frommen nie anders dahin, als angetan mit einem Leinenläppchen vor dem Munde zum Zurückhalten herumschwirrender, beim Sprechen oder Atmen leicht in den Mund geratender Insekten und ausgerüstet mit einem Wedel von Pfauenfedern, um mit größter Schonung die Tierchen von einem Platze fortzufegen, auf dem sich der Dschain niederzulassen beabsichtigt.
Auch die steilen westlichen Felsabstürze des Urwahi-Tales sind durch die schon in den ältesten Zeiten hochentwickelte Bildnerkunst der Dschains mit zahlreichen aus den Felsen herausgehauenen Figuren von Tirthankar Adinath[WS 40], dem Stifter der Dschainlehre, und seinen Sendboten verziert worden, doch wurden auch diese von den Moslems arg beschädigt.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ WS: Moschee der fünfhundert Säulen: vergleiche Jama Masjid (Ahmedabad)
- ↑ WS: Agra, Tadsch: vergleiche Agra, Taj Mahal
- ↑ WS: Schah Dschehan: vergleiche Shah Jahan, regierte 1627–1658
- ↑ WS: Ardschmand Bonni Begum/Mumtaz Mahal: vergleiche Mumtaz Mahal (Arjumand Banu Begum)
- ↑ WS: Dara: vergleiche Dara Shikoh
- ↑ WS: Franz Moor: vergleiche Schillers Räuber
- ↑ WS: Dschahanara Begum: vergleiche Jahanara Begum
- ↑ WS: Perl-Moschee: vergleiche Moti Masjid (Agra Fort) (englisch: Pearl Mosque)
- ↑ WS: Burgwälle: vergleiche Rotes Fort (Agra)
- ↑ WS: Pantsch Mahal in Futti Pur Sikri: vergleiche Panch Mahal in Fatehpur Sikri
- ↑ WS: Koh-I-Nor: vergleiche Koh-i-Noor
- ↑ WS: Nadir Schah: vergleiche Nadir Schah
- ↑ WS: Durbar: vergleiche Durbar (court) (en)
- ↑ WS: Id-Fest: „Fest“ (id/eid) werden unter anderem genannt: Eid al-Fitr und Eid al-Adha
- ↑ WS: Königin Viktoria: vergleiche Victoria, regierte 1837–1901, ab 1876 als Kaiserin von Indien
- ↑ WS: König Eduard: vergleiche Eduard VII., regierte 1901–1910
- ↑ WS: Kaiser-Proklamationen: weder Viktoria noch Eduard erschienen zu ihrer Kaiser-Proklamation in Delhi
- ↑ WS: englischer Offizier: vergleiche William Hodson
- ↑ WS: Bahadur Schah und Prinzen: vergleiche Bahadur Shah II., regierte 1838-1857
- ↑ WS: Schah und... Prinzen... niederknallte: vergleiche Khooni Darwaza (Blut-Tor), dort schoß Hodson nicht wie hier behauptet, den Schah und die zwei Prinzen nieder, sondern zwei (von sechzehn) Prinzen mit einem Enkel: Mirza Mughal, Mirza Khizr Sultan und Mirza Abu Bakht. Der Schah und ein Großteil seiner Familie überlebten die Niederschlagung des Aufstands.
- ↑ WS: Mausoleum Hamuyans: vergleiche Humayun-Mausoleum
- ↑ WS: Sipeutruppen: vergleiche Sepoy
- ↑ WS: Kaschmirtor: vergleiche Kashmiri Gate, Delhi (en)
- ↑ WS: Kutub-Minar-Turm: vergleiche Qutb Minar
- ↑ WS: toller Schakal: vergleiche Tollwut, Goldschakal
- ↑ WS: Eisensäule: vergleiche Eiserne Säule
- ↑ WS: Tschandni-Tschauk/Silberweg: vergleiche Chandni Chowk (en), wörtlich eigentlich: Platz des Mondlichts, das Hindi-Wortspiel liegt in chaandanee (Mondlicht) und chaandee (Silber)
- ↑ WS: Sidi-Seid-Moschee: vergleiche Sidi-Saiyyed-Moschee (Ahmedabad)
- ↑ WS: Mohammed Kassim: vergleiche Muhammad ibn al-Qasim
- ↑ WS: Dschehangir: vergleiche Jahangir, regierte 1605-1627
- ↑ WS: Lord Roe: vergleiche Thomas Roe, 1581-1644
- ↑ WS: Triumphbogen: Arkadensäulen der Großen Moschee, anlässlich eines Durbars von Lord Mayo mit radschputischen Führern im Oktober 1870
- ↑ WS: Maharadschah in Gwalior 1857: vergleiche Jayajirao Scindia, regierte 1843-1886 (en)
- ↑ WS: Madodschi Rao Scindia: vergleiche Madho Rao Scindia, regierte 1886-1925 (en)
- ↑ WS: Dschai Indar Bhawan: konnte nicht identifiziert werden. Der Hauptsitz Scindias, wo häufig Durbars stattfanden, war eigentlich Jai Vilas Mahal.
- ↑ WS: King Pal-Palast: vergleiche Gwalior Fort (en), heutige Bezeichnung Man Singh Palast
- ↑ WS: Adinath: vergleiche Sasbahu Temple, Gwalior (en), wurde früher auch als Tempel des Adinath bezeichnet
- ↑ WS: Deli Mandal-Tempel: vergleiche Teli ka Mandir (en)
- ↑ WS: Sakya Muni: vergleiche Siddhartha Gautama
- ↑ WS: Figuren im Urwahi-Tal, von Adinath, erstem Tirthankar: vergleiche Bilder auf Wiki Commons, sowie Tirthankara (en), Rishabha (Adinath)