Durch Indien ins verschlossene Land Nepal/In der Krieger-Heimat
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Krieger-Heimat! Wie läßt dieses Wort alle Saiten mitschwingen, die bei der Stichnote Indien nicht sofort in unserem Inneren erklangen! Ich habe immer das Gefühl, als ob die Tonfarbe des Wortes Indien zunächst die feinfühlige, musikalische und poetische, ja ich möchte sogar sagen, weibliche Hälfte des deutschen Gemütes in Schwingungen bringt; beim Namen Radschputana[WS 1], Krieger-Heimat, wird dagegen mit lautem Schall, wie wenn es sich um das alte, kraftvolle Hellas handelte, die männliche Seele erregt.
Die Radschputana! Wem daran liegt, aus dem allzu bunten Völkerwirrwarr Bombays zu den individuelleren Eindrücken des eigentlichen, man könnte fast sagen, des vorhistorischen Indiens zu flüchten, der wende sich in dieses nordwestliche Gebiet Indiens, das freilich vom Mai bis zur Regenzeit zu den heißesten Gegenden unseres Erdballes gehört. Aber noch heute danke ich es dem Künstlersinn des Grafen Lanckrokonski[WS 2], der die Freundlichkeit hatte, mich nach einem Vortrage in Wien auf Dschodpur[WS 3] als eine Schatzkammer anregender Motive hinzuweisen, die den von Indienreisenden gewöhnlich besuchten Ort Dscheipur[WS 4] weit überstrahlt.
Mein erster Versuch, diese wunderbare Stadt kennen zu lernen, glückte freilich keineswegs nach Wunsch. Ich kam mir vor wie behext; auf Schritt und Tritt stieß ich auf passiven Widerstand, und ich fühlte, daß ich mir eher den Kopf an den Burgmauern Dschodpurs einrennen als Hoffnung machen könnte, dort irgend etwas Sehenswertes kennen zu lernen. Erst als ich der scheinbar so ungastlichen Stadt mißmutig den Rücken gekehrt hatte und bereits in der Schmalspurbahn saß, die Dschodpur seit kurzem mit dem übrigen indischen Eisenbahnnetz verband, während es früher nur durch langwierigen [129] Transport auf Kamel-, Ochsen- oder Elefantenwagen zu erreichen war, löste sich das Rätsel.
Es bleibt wohl keinem Weltreisenden erspart, gelegentlich irgendwo hinterrücks angeschwärzt zu werden, und so war es mir hier bei den hohen Herren des Landes ergangen, freilich nicht ganz ohne meine Schuld. In Dschodpur, wo es wegen des kaum nennenswerten Verkehrs von Europäern keine Gasthöfe gibt, war ich in dem Bungalo, dem Rasthause für reisende Europäer, eingekehrt; dies einstöckige Haus liegt etwas außerhalb der Stadt in der Nähe der Residenz des englischen Gesandten, der den Maharadschah zu „beraten“ hat und bietet eine prächtige Aussicht auf die Felsenburg Dschodpur. In einem anstoßenden Raume dieses einfachen Gebäudes hatte sich ein anderer Reisender aus Europa, der sich hinsichtlich seines engeren Vaterlandes etwas gummi-elastisch ausdrückte, niedergelassen, ein Händler mit allerlei schönen Dingen, die aber nicht völlig waschecht waren, und die einen bestechenden Eindruck auf die indischen Großen machen sollten. Dieser talentvolle Geschäftsmann hatte, bevor ich seine Spezialität erkannt hatte, gesprächsweise von mir erfahren, welche Verdrießlichkeiten mir bei meinen Reisen im Himalaja durch den mir boshafterweise aufgebürdeten Verdacht, ein russischer Spion zu sein, erwachsen waren, und in der Befürchtung, ich könnte seinen Kunden die Minderwertigkeit seiner Kostbarkeiten ausplaudern, hatte der wackere Mann auch hier diese selbe Verdächtigung in Umlauf gesetzt, um mir den Kredit zu untergraben. Ein mitreisender Engländer, der am Hofe des Maharadschah einen wichtigen Posten bekleidete, verriet mir diesen schnöden Grund der unverkennbaren Mißachtung.
Andere Abmachungen erlaubten es mir nicht, sofort umzukehren, dem Herrn des Talmis und der Similis[WS 5] meine Meinung zu sagen und mich am Hofe des Fürsten zu rehabilitieren. Mein freundlicher Reisegefährte versprach mir, nach seiner Rückkehr aus Australien, wohin er im Begriff war zu reisen, um Zuwachs für den fürstlichen Marstall einzukaufen, sich meiner anzunehmen, falls ich jemals wieder nach Indien käme und Lust verspüren sollte, das Versäumte nachzuholen.
Nach zwei Jahren kam ich wieder nach Dschodpur und merkte, daß es gar keinen höheren Genuß gibt, als ein Ziel zu erreichen, von dem man wegen [130] scheinbar unüberwindlicher Schwierigkeit zeitweilig absehen mußte, ohne es deshalb für immer aufzugeben! Mein getreuer Helfer hatte Wort gehalten. Ich wurde mit allen Ehren aufgenommen, und ein Hindu in höherer Beamtenstellung sollte beständig um mich sein, um jeden meiner Wünsche zu erspähen und zur Erfüllung zu bringen. Pferde und Wagen wurden mir zur Verfügung gestellt, der englische Gesandte lud mich in seinen Palast, kurz, ich konnte keine glänzendere Genugtuung erwarten.
Bereits nach zwei Tagen bat ich den Hofbeamten, der mir wie ein dienstbereiter Schatten folgte, mich freundlichst mir selbst zu überlassen, wobei es allerdings schwer hielt, ihm in nicht verletzender Weise auseinanderzusetzen, daß seine ständige Begleitung und das Gefolge seiner Diener für mich beinahe ein Übelstand sei, der mich bei meinen Beobachtungen und photographischen Arbeiten nur hindere, da vor lauter Respekt alle mich interessierenden Leute fortliefen, sobald sie unsere Karosse und meine pomphafte Begleitung in der Ferne gewahrten. Ich begnügte mich, mir einen Passierschein zum Besuche der Burg auszubitten, die sich wie ein Adlerhorst auf hohem Fels hochragend aus der ebenen Steppe erhebt, und deren Besichtigung mir bei meinem ersten Aufenthalt verweigert worden war. Ich hatte eine größere Freude daran, statt den großen Herrn zu spielen, der ich von Haus aus doch gar nicht bin, recht einsam und nach Herzenslust in der Stadt herumzustreifen, nur von einem unscheinbaren Kuli begleitet, der meinen Apparat trug und der mich nicht störte, da ich ihn und sein Tun bald nur wie einen gut arbeitenden Mechanismus auffaßte. Lautlos richtete er mir den Dreifuß auf und ging mir geschickt und schweigend zur Hand; besonders gut aber konnte ich ihn als wanderndes Stativ benutzen, um scharfe Momentaufnahmen zu machen, denn hierfür hatte ich mir einen eigenen Apparat gebaut, da alle im Handel erhältlichen durch ihr befremdendes, fast beängstigendes Aussehen und ihre funkelnden Metallteile fast stets die Eingeborenen, die ich aufnehmen wollte, ihres bisherigen harmlosen Aussehens beraubten. In einem ganz unauffälligen Kasten hatte ich eine Kamera untergebracht, in der ich das Bild durch eine kaum kenntliche Öffnung von obenher mittelst eines darin schrägstehenden Spiegels auf einer horizontalen Mattscheibe haarscharf [131] einstellen konnte, ohne daß die von mir ins Auge gefaßte Person dadurch belästigt wurde oder diesen Vorgang ahnte. Ich konnte mit diesem Apparat, den mein Kuli dann wie einen Tornister festgeschnallt aus dem Rücken trug, gewissermaßen „um die Ecke“ photographieren, denn während ich ebenso wie der Kuli geradeaus sah, zeichnete die nach der Seite gerichtete Linse auf der vor mir liegenden Mattscheibe ab, was sich der Linse gegenüber zu meiner Seite ausbreitete; stand nun dort jemand, der mich und mein Hantieren, weil ich ihn nicht ansah, gar nicht beachtete, so konnte ich dessen Porträt durch leises Hin- und Herschieben des Kulis unablässig auf der Visierscheibe im Auge behalten, scharf einstellen und im geeigneten Augenblick unbemerkt aufnehmen. Aber freilich haben solche schikanenreiche photographische Ausnahmen in Indien, die zu einer Tageszeit gemacht werden müssen, wo die Sonne am heißesten brennt und in der sich die Europäer schattensuchend hinter kühlen Mauern aufzuhalten pflegen, eine ähnliche Wirkung wie türkische Bäder.
Ich hatte meinem liebenswürdigen Beamten-Adjutanten gelegentlich und fast wie im Scherz gesagt und ohne mir dabei Hoffnung auf die Erfüllung meines Wunsches zu machen, daß es mir besonderes Vergnügen machen würde, die wegen ihrer Kunstleistungen in besonderem Ansehen stehenden Tänzerinnen von Dschodpur bewundern und abbilden zu dürfen; ich ahnte nicht, daß ich dadurch eine der merkwürdigsten Überraschungen meines Lebens heraufbeschwor.
Erschöpft von dem nächtlichen Platten-Wechseln und -Verpacken, das in Indien das Photographieren wegen der zur Nachtzeit am beutegierigsten herumschwirrenden Moskitos besonders lästig und aufreibend macht, schlief ich etwas länger als gewöhnlich und hätte gewiß trotz der bereits hell ins Zimmer lachenden Morgensonne noch länger fortgeschlummert, wenn mich nicht ein ganz merkwürdiges Geräusch, ein ganz seltsames Schellengerassel mit dem Quietschen und Quarren von Wagenrädern vermischt, ermuntert hätte; das Geräusch schien aus weiter Ferne näher und näher zu kommen, aber dicht vor der Bungalohalle hörte es plötzlich auf.
Neugierig fuhr ich in die Kleider und lugte zur Türspalte hinaus. Ich glaubte einen Märchentraum lebendig werden zu sehen! Vor dem Bungalo hielt eine schier endlose Reihe von Karren, durchweg mit Rindern bespannt, deren Geschirrglocken jenes Schellengeklingel hervorgebracht hatten und deren rundum heruntergelassene purpurrote Vorhänge verraten hätten, daß es sich hier um einen Damentransport handele, wenn mir dies nicht die an allen Ecken unter den Gardinen hervorkriechenden Insassen gezeigt hätten, deren Geschwätz, Gekicher und Schmucksachengeklimper einen Ohrenschmaus abgab, vor dem niemand sein eigenes Wort zu verstehen vermochte. Schlaftrunken und gänzlich ohne Frühstück, wie ich war, wurde mir nicht allein bunt, sondern geradezu wirr und schwach vor den Augen, als mir die Wortführerin der Damen klar machte, daß sie das gewünschte Ballett-Corps — viel lieber schriebe ich Kohr[WS 6] — seien und ich nun gefälligst anfangen möchte, Bilder zu machen.
[132] „Der Tag fängt ja gut an,“ dachte ich, während ich meinen Apparat aufstellte und die Kassetten bereit legte; dabei ließ ich meine Augen prüfend über einzelne Gestalten schweifen, wobei ich aber von deren farbenreicher Gesamtheit wie betäubt blieb.
Ich will es nur gestehn: mir war, ich wußte nicht wie! Weniger wäre entschieden mehr gewesen, denn wohlgezählte 35 gar nicht sonderlich blöde oder spröde, fortwährend kichernde und schwatzende Künstlerinnen hatten sich inzwischen um mich angesammelt, beobachteten gespannt meine Vorbereitungen des Apparates und drangen dann zungenfertig und dabei bald hier bald dorthin huschend, mit tausend Fragen auf mich ein; zwei der Damen schleppten dabei zwanglos stramme Babies mit sich herum, die ihnen nach Landessitte auf der Hüfte saßen.
Ich fühlte so viel vereinter weiblicher Kraft gegenüber etwas wie eine Ohnmachtsanwandlung über mich kommen. Daß mit dieser unbändigen Amazonenschar im ganzen nichts anzufangen war, wurde mir bald klar, als ich die stattliche Zahl ehrwürdiger Semester sah, die hier neben ein paar allerliebsten kleinen Füchschen oder richtiger Ratten als jedenfalls hocherfahrene Meisterinnen der Tanzkunst glänzten, die gewiß schon manchen Ballettsturm erlebt hatten; freilich darf man hierbei nicht an die Fußgeschicklichkeit unserer Ballerinen denken, um nicht ungerecht gegen die Leistungen der indischen zu werden, die sich vor allen Dingen bestreben, durch lebhafte Mimik und eine eigentümliche Beredsamkeit des in allen Muskeln beweglichen Rumpfes Gedanken, Empfindungs- und Leidenschaftsentwickelungen auszudrücken, die für den Europäer schon deshalb langweilig sein müssen, weil er die während dieser Mimerei gesungenen, genauer gesprochen sogar häufig arg geplärrten Liedchen nicht versteht. Der Indier dagegen faßt alles dies sofort auf und folgt einer solchen Nautsch-Aufführung mit für uns unbegreiflicher Geduld und Wonne. Die wundervollen deutschen Übersetzungen, die Leopold von Schröder[WS 7], Brunnhofer[WS 8], Hertel[WS 9] und in freier Nachbildung auch Adolf Wilbrandt[WS 10] von diesen Liedern geschaffen haben, setzen nunmehr jeden in die Lage, einen Begriff von der zierlichen Feinkunst indischer Lyrik zu bekommen, deren reicher Inhalt manche vergeblich nach „Kunst im Kleinen“ herumsuchenden Überbrettler[WS 11] mit noch gefälligeren Kunstmitteln als Klinglingling und Trallala vertraut machen kann. Wie überaus gefällig malt z. B. der ebenso geniale wie launige Hala[WS 12] selbst Alltäglichkeiten, wie folgende Küchenszene:
Töchterlein fein,
Laß dein Blasen ’mal sein,
Bringst doch kein Feuer zustande!
Zu schwach ist noch dein Hauch,
Noch beißt dich ja der Rauch,
Schon glühn dir die Augen am Rande!
Nicht so mit Tränen den Herd besprengt,
Nicht so mit Wallen den Busen beengt,
Sonst sprengt er noch alle Bande!
[133] Der freundliche Leser möge sich jedoch gefälligst selbst in diese Schnadahüpfl-Schätze[WS 13] vertiefen, in denen das indische Volksleben aller Stände seine innerste Seele ausströmt und bald in naiver bald in geistvoller Weise zeigt, wie dieses Volk zur Zeit seines geistigen Höhestandes geliebt und empfunden, gedacht und genossen hat. Daß aber der Indier durchaus nicht so stumpf für Naturschönheit ist, wie manche argwöhnen, bezeugen Gedichte wie desselben Halas „Einzug des Lenzes“, das ich ebenfalls in Brunnhofers Übertragung zitiere:
Ordnet den Festzug und schmückt euch mit Kränzen,
Flechtet Guirlanden und streichet frisch an!
Niemals selbst bei eines Fürsten Empfahn
Bricht unter Jubeln und Spielen und Tänzen
Also die Freude des Volkes sich Bahn,
Wie bei dem jährlichen Einzug des Lenzen!
Ich komme förmlich in Versuchung, den indischen Dichtergarten nach Herzenslust zu plündern und eine Blumenlese, zumal aus den erotischen Liedchen, wie sie die Bajaderen zwitschern, hier einzuflechten, begnüge mich jedoch, in der Hoffnung, recht viele Leser zum stillen Genuß der erwähnten Sammlungen indischer Geistesschätze angeregt zu haben, von dieser Gattung nur Kalidasas[WS 14] von Leopold von Schröder übertragene Verse anzuführen:
O Mädchen mit den Lotusaugen,
Schau mich noch einmal wieder an,
Vielleicht, daß ich von meinen Leiden
Durch deinen Blick genesen kann.
Ich hört’ es oftmals schon erzählen,
Daß Gift bekämpfet wird durch Gift:
Die Krankheit, die dein Blick erzeugte,
Sie heilt, wenn neu dein Blick mich trifft!
Sollte jemand aber gar grämlich werden, daß ich dieses Werk mit poetischen Federchen ziere, dem rufe ich mit dem fröhlichen Spotte des Sregarasatakas[WS 15] zu:
Der Weise sitzt versunken ganz;
In ihm strahlt hehren Wissens Glanz.
Rehäuglein kommt und schielt ihn an:
Gleich ist’s um seinen Witz getan! —
Doch kehren wir zu unseren Künstlerinnen zurück.
Höheres Alter ist zwar stets etwas Achtung Gebietendes, bei Tänzerinnen, die ungeschminkt im grellen Sonnenschein stehen, legt man aber wenig Wert auf besonders hohe Semesterziffern. Angesichts der bunt durcheinander gewürfelten Jahrgänge wagte ich deshalb den Versuch, wie ein Feldwebel die ganze Amazonenschar zunächst erst einmal gründlich zu rangieren,[WS 16] d. h. die mir für die Aufnahme erwünschten aus der dichten Masse herauszuziehen und seitwärts treten zu lassen.
[134]Durch diese Auslese schien ich aber einen Griff in ein Wespennest zu tun; ich habe ja schon manche Entrüstungsrufe aus weiblichen Kehlen vor und hinter den Kulissen mit angehört, aber was sich hier an indisch frisierter gekränkter Eitelkeit bemerkbar machte, das überstieg alles Denkbare. Kurz und bündig wurde mir auseinandergesetzt, und zwar immer von der rüstigsten Koryphäe, deren überreife Formen am allerwenigsten der bei uns gangbaren Vorstellung von Bajaderen entsprachen, daß ich ein ganz unausstehlicher Mäkelfritz sei, daß die Damenschar einen ungemein kräftig entwickelten Corps- — oder soll ich schreiben Chor? — geist besäße, und daß sie mich vor die Wahl stellte, entweder alle zusammen aufzunehmen oder gar keine; meine Ausmusterung sei eine unerhörte Kränkung für die zurückgesetzten und beweise nur, daß ich von der richtigen Wertschätzung gerade der allerbesten Kräfte noch himmelweit entfernt sei. Mit Damen muß man niemals brechen, deshalb machte ich gute Miene zu dem beabsichtigten Streik und formierte die Kompagnie in drei Glieder, da beim Abbilden eines ihrer gemeinschaftlichen Tänze eine die andere verdeckt haben würde; so entstand das hier abgedruckte Gruppenbild tatsächlich ganz gegen meine Absicht.
Mein Pfiffikus von Diener glaubte wohl bei dieser Gelegenheit einen Extra-Backschisch[WS 17] verdienen zu können und hielt bei der Abfahrt der Tänzerinnen den Kutscher des zuletzt stehenden Wagens unter irgend einem Vorwand zurück, was die beiden darin kauernden Fahrgäste gar nicht übel [135] aufzunehmen schienen; schelmisch lächelnd und sichtlich geschmeichelt kletterten sie von dem Karren wieder herunter, Wohl überzeugt, daß sie es mir ganz besonders angetan hätten, was für sie, da indische Tanzkünstlerinnen sich nicht durch Unzugänglichkeit auszeichnen, den Anfang eines pikanten Romanes bedeuten mochte. Sichtlich enttäuscht, daß sie nur einen Augenblick vor dem photographischen Kasten stehen und sich dann wieder heimtrollen sollten, erschwerten sie mir durch Schmollen und Kokettieren ihre Aufnahme nach Kräften; auf der Gesamtgruppe sitzt die eine dieser Grazien in der vorderen Reihe als zweite von links, die andere, eben die wuchtigste Stimmführerin, als vierte von rechts gezählt.
Ich wußte nicht recht, ob ich über dieses Erlebnis lachen oder zürnen sollte, als schon ein neues Schaustück vor meinem Bungalo erschien, der prachtvoll angeschirrte Staatselefant des Fürsten; das in Silber getriebene Muster des von goldenen Tigern gestützten Sitzes, die blendende Goldstickerei seiner Purpurdecke, die funkelnden Goldketten um Hals und Fuß und die Juwelen auf den um die Stoßzähne gelegten Ringen ließen mich vor Staunen über den auf meiner Visierscheibe mir entgegenstrahlenden Glanz kaum zum ruhigen Aufnehmen des riesigen Tieres kommen. Auch ein Jagdfalkenträger des Fürsten hatte sich eingefunden, der sich wohl ebenfalls für eine ganz besondere Merkwürdigkeit hielt.
Um in die Stadt und bis an die Burg zu kommen, stand mir ein Hofwagen zur Verfügung, der mir meiner Apparate wegen sehr willkommen war. Im allgemeinen wird in diesen sandreichen Teilen der Radschputana jedoch der „Segler der Wüste“, das Kamel, sowohl als Last- wie als Reittier bevorzugt, aber auch Fuhrwerke, von der eleganten Kutsche des Fürsten bis zum einfachsten Ackerkarren, werden mit Kamelen bespannt, sobald es gilt, den fusshohen Sandstaub auf den Landstraßen der schattenlosen, baumarmen Umgebung von [136] Dschodpur in der Wüste von Marwar[WS 18] zu durchfahren, deren Holzarmut hier eine besonders starke Benutzung von an der Sonne gedörrten Kuhdüngerfladen als Brennmaterial nötig macht. Auch die veralteten Kanonen, die dem Maharadschah zum Salutschießen belassen wurden, sind zumeist mit Kamelen, zum Teil auch, mit Ochsen bespannt. Daß derartige störrische Zugtiere in einem ernsten Gefecht allerlei Verwirrungen anrichten und dadurch den ohnehin geringen Wert der alten Geschütze ganz aufheben können, liegt auf der Hand.
Die Straßen und Märkte von Dschodpur bieten dem Architekten mindestens ebenso fesselnde Bilder wie dem Freunde urindischen Volkstums; hat man aber wie ich das Glück, gerade während der festlichen Woche in der Stadt zu weilen, in der sämtliche für das laufende Jahr geplanten Eheschließungen vollzogen werden, dann kann man sich förmlich berauschen an diesen unsagbar malerischen, festlich geschmückten Erscheinungen, die dann auf dem Wege von und nach den Tempeln gleich lebenden Märchen vorüberziehen. Jeder Bräutigam trägt dann an diesem seinem Festtage, und ebenso jede neuvermählte junge Frau trotz ihrer dichten Verschleierung, neben allem sonstigen Ausputz an Zieraten [137] noch einen phantastischen Busch aus Metallflittern und blitzenden und schimmernden Steinen an der Seite des Kopfes, wodurch ihre Gestalten einen theatralisch-phantastischen Eindruck hervorbringen.
Die Radschputen von Dschodpur fallen nicht nur durch ausdrucksvolle Gesichtszüge, sondern auch durch ihre stolze Tracht und durch ganz besonders kühn und selbstbewußt um das Haupt geschlungene Turbantücher auf, und das Bild eines fürstlichen Radschputen mit seiner Umgebung, das ich hier eingeschaltet habe, zeigt den Aufwand an Zubehör, den dort ein hoher Stand erfordert. Der wichtigste Würdenträger ist der Träger des fürstlichen Sonnenschirmes, der auch ein köstlich gesticktes seidenes Umschlagetuch und einen zierlichen Rohrspazierstock in Bereitschaft zu halten pflegt; ferner darf der Schwerthalter und der Fächerschwinger nicht fehlen und ebensowenig der Jüngling, der die Wasserpfeife zu Füßen des Gewaltigen gebrauchsfertig hält. Von besonderer Wichtigkeit ist auch der Würdenträger, dem das goldne Tablett anvertraut ist, worauf grüne Betelblätter liegen, das Begrüßungszeichen der Hindus für Gäste; neben den Blättern steht eine Dose mit gelöschtem Kalk, der auf die Betelblätter gestrichen und mit diesen zerkaut wird, sowie ein Fläschchen mit Rosenwasser zum Besprengen der Gäste, das diese Bewillkommnungsgarnitur vervollständigt. Alle diese Erfordernisse lassen uns ahnen, welch ein asiatisch-erhabenes, prachtvolles und pomphaftes Zeremoniell an den Fürstenhöfen der Radschputana üblich war, als sich die Radschputen noch ihrer Machtfülle erfreuten.
Das heutige Dschodpur stammt etwa aus dem Jahre 1460, und die aus jener Zeit herrührenden Steinbauten und die mit entzückender Sorgfalt aus dem blauen Marmor Dschodpurs gemeißelten Nachahmungen zierlicher, edelgemusterter, durchbrochener Holzschnitzereien an Erkern, Dächern, Fenstern in der Burg muß man aufsuchen, um sich eine zutreffende Vorstellung von dem einstigen Glanze dieser Stadt zu bilden, die damals noch von waffenstarrenden, nach Kampf und Todesgefahr wahrhaft lechzenden Männern durchwogt war.
Nirgends blühte im alten, gewerbfleißigen Indien die Waffenschmiedekunst so herrlich wie hier in der Radschputana, bis im Jahre 1857 auch dieses wichtige Kunsthandwerk durch die „arms act“ der Engländer, die das [138] Waffentragen bis auf einen nichtssagenden Rest einschränkte, lahmgelegt und dem Untergange geweiht war. Staunt man über den unaufhaltsamen Verfall der alten Gewerbe und Hausindustrien der Indier, so ist dafür keineswegs, wie man dies bei uns zu Lande den Engländern nachzusprechen pflegt, die schlaffe Trägheit der Hindus, sondern die Annektierung sämtlicher einstigen indischen Fürstentümer durch die Engländer verantwortlich zu machen; nur das Königreich Nepal darf sich noch seiner Unabhängigkeit erfreuen. Seitdem die Radschahs aufgehört haben, wirkliche, ihr Land völlig selbständig regierende Fürsten zu sein und nachdem ihnen die Mittel zur Lebensführung zu knapp zugeschnitten wurden, um den früheren Prunk aufrecht zu erhalten, gebricht es an Stellen, von denen aus das dem Volke durch Steuern abgenommene Geld, sei es durch verschwenderische Hofhaltungen oder durch fürstliche Geschenke und Gegengeschenke, ins Rollen und wieder unter die Leute gebracht wird; jetzt wandern zum Ingrimm des indischen Volkes alle diese Gelder nach England, um in die Taschen der für unsere kargen Verhältnisse geradezu unglaublich hoch bezahlten Zivilbeamten in Indien zu fließen oder um das in Indien unterhaltene Heer zu füttern. Außerdem aber überschwemmen England und andere Länder Europas Indien mit wohlfeilen, durch Maschinen hergestellten Massenartikeln oder sonstigen Maschinenindustrieerzeugnissen, wie z. B. Webereiprodukten, gegen die das indische Hausindustriegewerbe nicht aufkommen kann und deshalb die Hände [139] verzagend in den Schoß legt. Die Vergnügungsreisenden, die gewöhnlich möglichst billig einzukaufen suchen und den Feinheiten der vollendetsten indischen Kunstleistungen, wie z. B. der entzückenden Miniaturbildchen auf Elfenbein, selten verständnisvolle Würdigung entgegenbringen, kommen als Verbraucher derartiger Erzeugnisse um so weniger in Betracht, als sie in Indien häufig sogar mit in Europa fabrizierten geringwertigen Nachahmungen indischer Altertümer abgespeist werden.
Mit unwiderstehlicher Gewalt dringt die Erinnerung an die alten Zeiten Indiens, die in mancher Hinsicht gar nicht so entsetzlich waren; wie sie uns von den Fürsprechern englischer Gewalt- und Realpolitik hingestellt werden, beim Besuch der Burg von Dschodpur auf uns ein, zu der wir auf steilen Pfaden emporsteigen.
Selbst wer nur mit schwachem Phantasiefluge begabt ist, muß von gewaltigen Gemütsbewegungen erfaßt werden, wenn er über diese Burggräben und durch diese gewaltigen mit Götterbildern geschmückten Tore schreitet und sich erinnert, was an diesen Felsenwänden, diesen wie für die Ewigkeit aus Steinquadern errichteten Wällen vorbeigezogen ist, aus denen mächtige Eisendorne als Abwehr einst dagegen anstürmender Kriegselefanten hervorragen. Freilich muß man außer den jetzt verlassenen Burgräumen, in denen Purpurvorhänge und goldene Schirme unbenutzte Lagerstätten umgeben, auch die Rüstkammern gesehen haben, um die Rittergestalten mit der ganzen Wucht [140] stahlklirrender Rüstungen umkleiden zu können; einst zogen diese hier einher, geschmückt mit den schon in den ältesten Zeiten als Schildzier benutzten Wappenbildern und mit Turban oder Helmbüschen aus Federn vom Pfau, dem Reittier des indischen Kriegsgottes Kartikeja[WS 19], einem Helmschmuck, dessen Anwendung sich später von Indien aus nach Westen verbreitete und durch die Kreuzfahrer bis nach Deutschland gelangte.
Friedlich ging es ja niemals in diesen Gebieten Indiens zu, die den Einfallspforten nahe lagen, aus denen sich die mohammedanischen Eroberer Indiens, die Moguls, und vor diesen schon Ströme skythischer Asiaten[WS 20] nach Indien ergossen. Von solchen Reitervölkern, die sich mit den hier bereits angesiedelten brahminischen Ariern vermischten, stammen die Radschputen ab, die schließlich fast allein die Kriegerkaste Indiens bildeten; bald zerstreuten sie sich über das ganze Land und könnten heute dessen Herren sein, wenn sie nicht durch kleinliche Streitigkeiten von der Einigkeit abgehalten worden wären, mit der sie sowohl den anstürmenden Islam wie auch später die Angriffe der ebenso kriegerischen Mahratten, gleich ihnen selber brahminischer Hindus, zu Boden geschlagen haben würden. Daß aber indische Streiter auch die Angriffe englischer Truppen siegreich abweisen können, haben die vergeblichen Erstürmungsversuche Burfurs im Jahre 1805 erwiesen, in denen General Locke Tausende seiner Soldaten nutzlos opfern mußte[WS 21].
Der Brahminismus dieser Kriegerkaste sieht freilich wesentlich anders aus als die Grundsätze, nach denen die anderen indischen Kasten, vor allen die Brahmanen, zu leben verpflichtet sind. Die Anforderungen ihres Berufes als Soldaten, der den Blut und Blutvergießen scheuenden anderen Hindus nicht sympathisch sein konnte, geboten eine kräftigere Nahrungsweise als die übliche vegetabilische, so daß den Radschputen Fleischkost erlaubt war, natürlich mit Ausnahme von Speisen aus dem Fleisch des für geheiligt angesehenen Rindes. Aber auch andere Anschauungen, die mit dem stolzen Kriegersinn zusammenhingen und von denen der anderen Hindus abwichen, brachen sich hier Bahn, und ebenso entsprang hier eine besondere Literatur an Heldensagen, die von den Barden bei allen heroischen oder festlichen Gelegenheiten angestimmt wurden, mochte es in die Schlacht gehen oder zu Tier- und Gladiatorenkämpfen oder zum Gelage, mochten in den Burggräben Kriegsgefangene hingeschlachtet oder geächtete, nur mit Schwert und Schild ausgestattete Stammesgenossen auf wildem Rappen aus dem Burgtor gejagt werden. Überall hatte ich in der Radschputana das Gefühl, daß hier einst sicherlich dem Lebensideal der Indier nachgelebt wurde, das Nitisataka[WS 22] in die Worte gekleidet hat:
Friedlich im Glück sein, trotzig in Fehden,
Standhaft im Unglück sein, Ehre erstreben,
Redegewandt sein und kundig der Weden:
Das ist der Edlen natürliches Leben!
Man weiß nicht, welche Teile der in verschiedenen Zeiten errichteten, nunmehr arg vernachlässigten und zerfallenden Gebäude auf der Burg am [141] meisten Bewunderung verdienen. Ein Blick auf das Steinfiligran der Fenster gibt einen Begriff von den Wundern, die der alten indischen Bauweise entstammen. Schauen wir aber aus diesen Fenstern auf die Stadt hinunter und dann weiter hinaus in die unabsehbare Ferne, so staunen wir über das trostlose Braun, in das die Wüste von Marwar, das Todesgebiet, gekleidet ist; der Befehl, sich gerade hier anzusiedeln, sollte ja eine den Rathors[WS 23], den radschputischen Fürstenhöfen, von den siegreichen Mohammedanern auferlegte Strafe bedeuten! Auch der Marmorthron im Burghofe erweckt die Erinnerung an heiße Kämpfe von Usurpatoren, die diesen Fürstensitz einzunehmen trachteten.
Straff und energisch waren und sind auch noch zum Teil die Gestalten der tatendurstigen Radschputen; konnten diese als echte, kraftvolle Männer gelten, so waren ihre Frauen und Mädchen vollendete Verkörperungen der Weiblichkeit, und es ist kein Zufall, daß gerade hier die köstlichste Dichtergestalt der Indier, die Fürstin Damajanti[WS 24], der Inbegriff weiblicher Tugenden, ihren Ursprung fand; der gewaltige mohammedanische Eroberer, der Großmogul Akbar[WS 25], wußte für die Prinzen seines Hauses keine edleren Gemahlinnen zu finden, als die Töchter dieser brahminischen Rathors, die freilich von anderen Radschputenstämmen wegen dieser Vermischung mit den Todfeinden tödlich gehaßt wurden.
Neben diesem Dschodpur, das im Jahre 1839 die Engländer beim Erlöschen der bisher regierenden Fürstenlinie an sich rissen, glänzen in Indien [142] noch andere Perlen, die einst den Radschputen gehörten: das herrliche Adschmir, Alwar und Udeipur[WS 26], landschaftlich wohl die bevorzugteste Stadt der Radschputana, deren Bewohner für besonders mutig und unternehmend galten. Der europäischen Kultur am meisten geneigt sind jedoch die Radschputen von Dscheipur.
Es kann keinen größeren Unterschied zwischen den Erscheinungen zweier Städte desselben Volksstammes geben als den zwischen Dschodpur und Dscheipur, dort altes Indien, hier modernes, womit aber nicht etwas gesagt sein soll, verengländertes Indien. Nein, auch Dscheipur ist eine durchaus indische Stadt und von einem so besonderen Gepränge, daß man es niemals vergißt; man könnte es eine Stadt der Augenverblendung nennen. Was die Baumeister der alten Städte in solider Steinmetzarbeit ausdrückten, ist hier dem Stuck übertragen; rosa getünchtes Mauerwerk an Stelle rötlicher Sandsteine und bläulicher Marmorquadern, Zuckerbäckerei an Stelle von Bildhauerkunst, Kulissenschein statt soliden Reichtums!
Neben dieser vorwiegenden Rosafärbung, die einer Mischung von Milch mit Himbeersaft gleicht, prägt sich auch die weite, lichte Straßenanlage ein, die nichts von dem Gewirr enger Gäßchen und Durchgänge älterer indischer Städte kennt. Die Stadt enthält keine alten Teile, da sie erst im Jahre 1728 gegründet und nach einem sehr übersichtlichen und einfachen Plane erbaut wurde. Die Hauptstraße, an der die bedeutendsten Gebäude liegen, wurde durchweg 35 Meter, ihre Querstraßen aber nur halb so breit gemacht, während deren Verbindungsstraßen abermals um die Hälfte schmäler sein müssen.
Vielen Besuchern Dscheipurs wird wohl der mit allem möglichen Luxus ausgestattete siebenstöckige Palast des Maharadschah den größten Eindruck machen, zu dem dieser durch eine nur für ihn geöffnete Pforte, das Publikum durch ein im übrigen mit sehr kindlichen Malereien bedecktes, weißgetünchtes Parktor Zutritt findet; ich muß aber gestehen, daß mich weit mehr das sogenannte „Observatorium“ fesselte, das der Begründer Dscheipurs wie in einigen anderen Städten so auch hier erbaut und mit von ihm ersonnenen astronomischen Werkzeugen angefüllt hat[WS 27], die freilich jetzt bis auf die aus Mauerwerk bestehenden Träger der Fernrohre wieder verschwunden sind. Dieser fürstliche Sternschauer soll geäußert haben, daß ihm die Durchforschung des Himmelsraumes mehr Freude bereite als alle anderen irdischen Genüsse, und es muß demnach [143] dieser Dschai Singh[WS 28] ein wahrhaft genialer, aufgeklärter Mann gewesen sein.
Das Gerede, das jeder Fremdenführer dem anderen nachbetet, wonach dieser Fürst seine bisherige Hauptstadt Amber[WS 30] im Jahre 1728 nur deshalb plötzlich verlassen, als Residenz aufgegeben und alsbald das heutige Dscheipur gegründet habe, weil ihm von einem Propheten verkündet wurde, er werde in seiner Hauptstadt Amber sterben, entbehrt des tatsächlichen Grundes, denn in Wirklichkeit ließ sich dieser Fürst durch die Vorstellungen seines Vertrauten, des Dschaina Vedyadur[WS 31], zu diesem Residenzwechsel bestimmen, weil eine vorteilhafte Entwickelung Ambers durch seine abgeschlossene Lage in den Bergen nicht möglich war, Dscheipur mit seinen nach allen Richtungen offenen Verkehrswegen aber einer glückverheißenden Zukunft entgegensehen konnte; gingen auch diese Hoffnungen aus politischen Gründen nicht in Erfüllung, so wurde die Stadt doch ein Sitz neuindischer Bildung, die sich mit ihren alten asiatischen Kernen nur äußerlich an die europäische anlehnt. [144] Ähnlich wie sich die Burg Dschodpur über die gleichnamige Stadt erhebt, so ragt auch über die jetzt völlig von Menschen verlassene Stadt Amber auf einem Bergrücken der Palast gleichen Namens empor, den jeder Besucher Dscheipurs in Augenschein nimmt, da schon das Zugangstor eine Sehenswürdigkeit genannt werden kann. Der Fürst pflegt in liebenswürdiger Weise jedem reisenden Europäer, der darum nachsucht, zu diesem etwa acht Kilometer weiten Ausflug einen Elefanten seines Marstalles zu leihen; und ich habe ein mir in dieser Weise zur Verfügung gestelltes Reittier auf der beigefügten Ansicht des Schlosses als Staffage benutzt, auf dessen Rücken der Geführte meiner ersten Indienreise, der den Lesern meiner „Indischen Gletscherfahrten“ wohlbekannte Gletscherführer Hans Kerer aus Kals[WS 32], thront; Kamele, Ochsenkarren und ein indischer Feigenbaum, dessen Luftwurzeln der Erde zustreben, machen dies Bildchen zum Typus einer Radschputana-Landstraße. An dem Teich zu Füßen dieses Burgberges liegt ein Gebäude, in dessen Zellen sich die wissensdurstigen Fürsten von Dscheipur mit magischen Studien befaßt haben sollen, was wiederum von dem fortschrittlichen Streben der Dscheipur-Radschputen zeugt. In dem Teiche werden zahlreiche Krokodile gefüttert, deren für gewöhnlich nur wenig über dem Wasserspiegel hervorragende Schädelkrusten kaum von den im Teiche schwimmenden genarbten Baumstämmen zu unterscheiden sind.
Ein für die Eigenart der Radschputana sehr bezeichnendes Straßenbild bieten die hier und da bemerkbaren Jagdleoparden oder Tschitas[WS 34] und die kleinen, für die Hasenjagd dressierten Luchse, die der Zähmung wegen meistens mit einer Lederkappe über den Augen dicht an der Straße angefesselt werden, um schließlich vollkommen gleichgültig gegen alles zu werden, was um sie [145] herum geschieht, und die schließlich selbst die Tauben in Ruhe lassen, die hier auf allen Straßen und Plätzen, wo sie gefüttert werden, herumlaufen. Bei eben erst im Fangeisen erbeuteten Leoparden werden allerlei Tierquälereien, Hunger, unaufhörlicher Lärm und andere kräftige Mittel angewendet, das auf dem Bette seines Wärters gefesselte Tier seiner Wildheit zu berauben; am wirksamsten soll die Maßregel sein, vor dem armen Gefangenen, dem ja stets die Augen bedeckt sind, eine Anzahl Weiber aufzustellen, die ihm ohne Unterlaß Tag und Nacht so lange in die Ohren schwatzen und schreien, bis er zahm ist und seinem Wächter das Futter aus der Hand frißt; er folgt ihm dann wie ein Hund sogar in das Bazargetümmel, wo sich, außer Hunden, niemand viel um die fessellos einherschreitenden Raubtiere kümmert. Die radschputischen Großen unterhalten sich vorzugsweise gern durch die Jagd, wobei, falls sie auf Antilopen gemünzt ist, diese Jagdleoparden als Treiber und Jagdhelfer dienen. Da diese Tiere fast ausschließlich mit dem Blut, der Leber und den Eingeweiden von Antilopen gefüttert werden, entwickeln sie außerordentlich scharfen Spürsinn, sobald sie in einem Tragkasten auf das Jagdfeld geschafft sind und ihnen angesichts eines in weiter Ferne äsenden Antilopenrudels die Binde von den Augen genommen ist; sie pürschen sich an die Herde von hinten heran, springen dann dem Leitbock in den Nacken und jagen so das ganze Rudel den Gewehren der Jäger in Schußweite entgegen.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ WS: Radschputana: vergleiche Rajasthan (zum Land) oder Rajputen (zur Bevölkerung)
- ↑ WS: Lanckrokonski: vergleiche Karl Lanckoroński (1848–1933)
- ↑ WS: Dschodpur: vergleiche Jodhpur
- ↑ WS: Dscheipur: vergleiche Jaipur
- ↑ WS: Talmis und Similis: Falschgold und Strass. Vergleiche Talmi und Similis
- ↑ WS: Corps / Kohr: vergleiche Corps de ballet, die Schreibung „Kohr“ folgt wohl zeitgenössischen „Sprachreinigungs“-Bestrebungen z.B. des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins
- ↑ WS: Leopold von Schröder: vergleiche Leopold von Schroeder (1851–1920)
- ↑ WS: Brunnhofer: vergleiche Hermann Brunnhofer (1841–1916)
- ↑ WS: Hertel: vergleiche Johannes Hertel (1872–1955)
- ↑ WS: Adolf Wilbrandt: vergleiche Adolf von Wilbrandt (1837–1911)
- ↑ WS: Überbrettler: Berliner Kabarettkünstler Anfang 20. Jahrhundert, vergleiche Überbrettl
- ↑ WS: Hala: vermutlich gemeint: König Hāla, regierte 20-24 n. Chr. (en)
- ↑ WS: Schnadahüpfl: vergleiche Schnaderhüpfl
- ↑ WS: Kalidasa: vergleiche Kalidasa
- ↑ WS: Sregarasatakas: gemeint wohl das Srngara-sataka von Bhartrihari
- ↑ WS: rangieren: vergleiche Rangieren, hier arrangieren
- ↑ WS: Backschisch: vergleiche Bakschisch
- ↑ WS: Marwar: wörtlich „Wüstenregion“, vergleiche Marwar. Die Wüste ist heute als Thar bekannt, liegt aber nur zum Teil in Marwar.
- ↑ WS: Kartikeja: vergleiche Karttikeya
- ↑ WS: skythische Asiaten: vergleiche Saken
- ↑ WS: Belagerung von Burfur durch General Locke: vermutlich gemeint: Belagerung von Bharatpur durch General Gerard Lake
- ↑ WS: Nitisataka: gemeint ist das Niti-sataka von Bhartrihari, Nr. 63, übersetzt von Johannes Hertel
- ↑ WS: Rathors: vergleiche Rathore (en)
- ↑ WS: Fürstin Damajanti: vergleiche Damayanti (en)
- ↑ WS: Akbar: vergleiche Akbar, regierte 1556–1605
- ↑ WS: Adschmir, Alwar, Udeipur: vergleiche Ajmer, Alwar, Udaipur
- ↑ WS: vergleiche Jantar Mantar
- ↑ WS: Dschai Singh: vergleiche Jai Singh II., regierte 1699–1743
- ↑ WS: Banyanbaum: vergleiche Banyan-Feige
- ↑ WS: Amber: vergleiche Amber (Indien), englisch Amer
- ↑ WS: Dschaina Vedyadur: vergleiche Vidyadhar Bhattacharya (en)
- ↑ WS: Kals: vergleiche Kals am Großglockner
- ↑ WS: Tscharpen-Bettstellen: vergleiche Charpai
- ↑ WS: Jagdleoparden oder Tschitas: vergleiche Gepard (englisch: Cheetah)