Ein Mann der „Gegenwart“

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Textdaten
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Autor: Albert Traeger
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Titel: Ein Mann der „Gegenwart“
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 8, S. 129–132
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Ein Mann der „Gegenwart“.
Von Albert Traeger.


Berlin (S. W., so will des deutschen Reiches General-Postmeister), Lindenstraße Nr. 110 tritt ein Haus durch eigenartigen Geschmack aus den bürgerlich dareinschauenden Nachbarn hervor. Ein einladendes Haus – das wissen die Treppen sehr wohl, denen bei Tag und Nacht selten Ruhe vergönnt ist. Vielleicht getrösten sie

Paul Lindau.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

sich, daß die Ruhestörer zu den Besten ihrer Zeit gehören und daß die meisten der nach Berlin kommenden oder dort wohnenden literarischen und künstlerischen Berühmtheiten sie betreten. Und wenn zu jenen zweifelhaften Stunden, um welche Nacht und Morgen streiten, oben im zweiten Stock die gastlichen Räume sich öffnen, deren Einrichtung der geistreichen Illustration eines duftigen Märchens gleicht, und eine fröhliche Schaar mit dem letzten Lachen zum Ausbruch in die erste Dämmerung hinabeilt, dann verhallt von schönen Lippen wie ein Seufzer: „Es ist doch zu reizend bei Lindau’s.“

Eine glückliche und beglückende Häuslichkeit hat Paul Lindau hier begründet, nachdem er in Anna Kalisch, der einzigen Tochter des unvergeßlichen Vaters des „Kladderadatsch“, sein Glück gefunden. Geist- und gemüthvoll, anmuthig und liebenswürdig, ist sie ihm zugleich eine stille, aber nicht zu unterschätzende Mitarbeiterin, deren Spuren in seinem Wesen und Wirken unverkennbar. Kurz zuvor hatte er „Die Gegenwart“ in das Leben gerufen und damit über sein Verbleiben in Berlin entschieden, das sich soeben an die Spitze des jüngsten Kaiserreiches gestellt sah. Lindau hat stets in der Wahl des Ortes und der Zeit ein untrügliches Geschick bewiesen. Beide waren dem neuen Unternehmen entschieden günstig; diese Gunst begriffen und verwerthet zu haben, ist sein unleugbares Verdienst. „Die Gegenwart“ hat sich auf der Höhe ihres Namens behauptet, und die innere Bedeutung eilt dem stetig wachsenden äußeren Erfolge voraus – ein Beweis, daß Lindau ein hervorragender Redacteur. Wenn aber in dem großen Leserkreise die Mehrheit zunächst nach den von dem Herausgeber gezeichneten Beiträgen späht, und eine nicht unbeträchtliche Minderheit vielleicht damit die Lectüre sogar [130] beschließt, so dürfte dies ergeben, daß Lindau nicht minder vortrefflich schreibt.

Und er ist kein bloßes Kind des Glückes oder des Talentes; Fleiß und Willenskraft haben dieses gefördert und jenes angezogen; er hat von unten auf gedient und als Journalist und Schriftsteller eine so strenge und mannigfaltige Schule durchgemacht, daß der noch so jugendfrische Kämpe fast einem in den Waffen Ergrauten gleicht. Localreporter, Berichterstatter, Correspondent, Feuilletonist, Kunstkritiker, Leitartikelschreiber, Redacteur des Wolff'schen Telegraphen-Bureau, der „Düsseldorfer“ und „Elberfelder Zeitung“, sowie des „Neuen Blattes“, dies Alles ist er gewesen, noch ehe er das dreißigste Lebensjahr hinter sich hatte. Seit seinem fünfzehnten stand er auf eigenen Füßen, als Schüler und Student bereits ein sich selbst helfender Mann. Die „Elberfelder Zeitung“ hat er zu einem unsrer bedeutendsten Provinzblätter emporgebracht, auch in der besonders am Rhein so aufgeregten Zeit der Wahlen zum constituirenden und ordentlichen Reichstage als geschickter Agitator sich erwiesen und häufig den Muth gehabt, stürmischen Arbeiterversammlungen und ihrem Präsidenten von Schweitzer allein entgegenzutreten, dann aber mit der praktischen Politik unwiderruflich abgeschlossen und wiederholte Aufforderungen zur Candidatur abgelehnt. Noch heute ein sehr willkommener Ehrengast bei den Festen des Reichstages, hat er denselben auf seinen früheren Ausflügen und Luftfahrten allen als Berichterstatter begleitet. Lindau ist ein echt deutscher und wahrhaft freisinniger Mann, aber die Formen der Partei beengen ihn und der Lorbeer des Volks- und Parlamentsredners lockt ihn nicht; sein Kranz erblüht in einer reineren Luftschicht. Dagegen kommen jene reichen Erfahrungen dem Redacteur der „Gegenwart“ trefflich zu statten, dem auch die Leiden des Standes nicht erspart geblieben. Der so Bewegliche hat zweimal wider seinen Willen „gesessen“, vor Jahren ein paar Tage als Opfer des Zeugnißzwanges, vor Kurzem ein paar Wochen, auch für einen Anderen und zwar keinen Geringeren als Johannes Scherr, der in der „Gegenwart“ eine Religionsverspottung verübt haben sollte, aber für den Staatsanwalt nicht gegenwärtig war. Der Director von Plötzensee hat Lindau mit dem Zeugniß entlassen, daß er durchaus kein Talent zum „Sitzen“ habe, und noch heute geräth der nervöse Bestrafte in eine unbeschreiblich qualvolle Aufregung, wenn er seiner Gefängnißzeit gedenkt. Material aus der Gegenwart für die Gesetzgebung der Zukunft!

Dem Journalisten und vorzüglich dem Redacteur Lindau war es zunächst gelungen, weithin Ruf und Geltung sich zu verschaffen. Der Schriftsteller ließ 1864 ein Bändchen „Aus Venetien“ erscheinen, Reiseschilderungen, deren Stimmung bis zum lyrischen Erguß sich steigert, und die Verse erwecken fast das Bedauern, daß ihr Urheber diese Jugendsünde für immer abgeschworen. Nachdem er noch unter dem Titel „Aus Paris“ eine Sammlung von Aufsätzen über das kaiserliche Frankreich veröffentlicht, errang er seinen ersten großen Erfolg anonym.

Ein wirkliches Ereigniß waren die „harmlosen Briefe eines deutschen Kleinstädters“, die 1869 in Rodenberg’s „Salon“ abgedruckt wurden; mit jedem neuen wuchs Aufsehen, Spannung und Nachfrage nach dem Verfasser.

Diese Natürlichkeit der Sprache, diese Anmuth der Schilderung, diese neckische Grazie des Witzes, die auch dann noch bezauberte, wenn die Harmlosigkeit längst aufgehört, das Alles war neu, trat aus dem Rahmen des Gewohnten und Gewöhnlichen so vollständig heraus, daß es überraschte, fesselte und den Namen Lindau, als er endlich bekannt ward, mit einem Schlage zu einem allbekannten machte. Er selbst hat seine Schule nie verleugnet.

Lindau hatte nach Beendigung seiner Studien mehrere Jahre in Paris verlebt und dort Eingang in alle maßgebenden Kreise, namentlich die literarischen und gesellschaftlichen, gefunden. Er ist durchaus kein Nachahmer der Franzosen, auch nicht in der äußern Manier; er hat nur ihre Vorzüge so trefflich in sein eigenstes Deutsch übersetzt, daß sie für ursprüngliche gelten können und müssen. Das bei uns leider gewohnheitsmäßig vernachlässigte „Wie“ hat ihm zuerst Anerkennung und Ansehen im Sturme erobert; beide steigen stets höher und begründen sich immer tiefer durch die Erkenntniß der Einsichtigen, daß auch ihm das „Was“ die Hauptsache.

Dies bewies er schon durch seine „Literarischen Rücksichtslosigkeiten, gesammelte feuilletonistische und polemische Aufsätze“, die kurz nach ihrem Erscheinen (1871) vergriffen waren und seitdem wiederholt neu aufgelegt sind. Sie haben viel Staub aufgewirbelt wegen einiger Angriffe gegen namhafte Schriftsteller, die jedoch weder einem Mangel an Pietät noch der Lust am Scandale, sondern dem achtungswerthen Gerechtigkeitsgefühle entspringen, das da, wo es der Sache gilt, auch vor dem Ansehen der Person nicht zurückweicht. Ist doch der Angreifer wiederum der Erste gewesen, die Verdienste der Angegriffenen nach Gelegenheit und Gebühr zu würdigen. Jedes Jahr bringt neue Bücher von Lindau, nach Lage der Verhältnisse meist Sammlungen seiner journalistischen Arbeiten, aus denen er mit strenger Kritik das dauernd Werthvolle auszuwählen versteht. Die „Nüchternen Briefe aus Baireuth“, soeben in neunter Auflage gedruckt, üben noch die frischeste Wirkung und werden sie behalten, so lange jener wunderbaren Tage gedacht wird. Sie erinnern lebhaft an den „Kleinstädter“ und sind bemerkenswerth durch die tactvolle Beschränkung auf literarische und gesellschaftliche Gesichtspunkte bei völliger Schonung, ja Anerkennung der musikalischen Seite des Festes. Die unerbittlichen Schildknappen des „Meisters“ haben Unrecht, sich empört zu zeigen; jeder schwüle Sommerabend führt nothwendig Stiche in seinem Gefolge, die jucken mögen, aber kein Herzblut kosten.

Ganz vor Kurzem hat der Unermüdliche wieder drei neue Werke hinausgesandt. Die „Ueberflüssigen Briefe“ haben, zum größten Theile wenigstens, schon in der „Gegenwart“ durch ihren übersprudelnden Humor das allgemeinste Behagen erregt; „Wie ein Lustspiel entsteht und vergeht“ ladet in reizender Form zu Einblicken in die Dichterbrust und hinter die Coulissen ein, und eine solche Einladung wird niemals ausgeschlagen; von weitaus hervorragenderer Bedeutung aber ist „Alfred de Musset“, herausgegeben von dem verdienstvollen „Allgemeinen Verein für deutsche Literatur“. Berthold Auerbach, dessen neidlose Anerkennung Anderer auf das Bewußtsein des eigenen Werthes sich stützen darf, schrieb an Lindau, daß er sich mit diesem Buche „eine neue, unerschütterliche Position“ errungen habe, und daß „eine solche psychologische Ausgründung“ vielleicht noch niemals dagewesen sei. Durch eine ähnliche Arbeit über Molière hat sich Lindau vor Jahren die Doctorwürde erworben; Verständniß und Würdigung des großen Franzosen in Deutschland immer weiter zu verbreiten, ist ihm wirkliche Herzenssache, und mit schwermüthigem Lächeln schaut die wundervolle Büste Molière's, des eingebildeten Kranken, auf den Schreibtisch des deutschen Freundes hernieder.

Alfred de Musset war auch ein großer Dichter und kein eingebildeter, sondern ein wirklich und schwer Kranker, der lange vorher todt, ehe man den zerfallenen Leib endlich zur Ruhe trug, dessen Name aber unter die ewigen Sterne versetzt ist. Schon Heinrich Heine nennt ihn den ersten Lyriker Frankreichs, und keiner unter allen steht uns Deutschen in der Tiefe und dem Ausdruck des Gefühles näher; dessen ungeachtet ist er in Deutschland nur wenig bekannt geworden, am meisten vielleicht durch einige seiner frühesten Lieder, die Freiligrath mit gewohnter Vollendung übertragen hat. Ein großer Dichter und ein uns verwandter Dichter – gewiß eine so dankenswerthe wie dankbare Aufgabe, und schon die Wahl des Stoffes macht Lindau alle Ehre, die Meisterschaft aber, mit der er die Aufgabe gelöst, den Stoff bewältigt, fordert geradezu das Erstaunen heraus. Er rückt den Dichter und den Menschen in unsere unmittelbarste Nähe; er erklärt den einen aus dem andern mit solch überzeugungskräftiger Folgerichtigkeit, daß wir das unselige Leben auf jedem Schritte begleiten und jene duftigen Blumen, die unter diesen Schritten erblühen, aus den geheimsten Keimen und Wurzeln emporsprießen sehen. Auch die äußeren Einflüsse, die so mächtig auf die Entwicklung des Menschen und des Dichters einwirken: Zeit, Umgebung, Verhältnisse sind geschickt zu dem Hintergrund verwoben, von welchem das Einzelbild sich abhebt. Es ist ein Stück Geschichte, ein Stück Literatur, vor allem ein psychologisches Meisterstück; umfassendes Studium, ehrlichster Fleiß stecken und verstecken sich in diesem Buche. Auch über diesem Werke schwebt der Zauber reizvollster Anmuth; es unterhält und fesselt, während es belehrt. Leichtflüssig strebt die Entwicklung fort; wir lernen das Leben und die Werke des Dichters zugleich kennen, ohne jemals eine Lücke zwischen beiden zu empfinden. Die Nacherzählung der schönsten Dichtung Musset's: „Rolla“ [131] im siebenten Capitel ist selbst ein Gedicht, der Stil überall von tadelloser Schönheit und wechselnder charakteristischer Färbung. Gewiß hat sich Lindau mit diesem Buche eine „neue Position“ in der deutschen Literatur errungen, die unerschütterlich bleiben wird, und sollte er jemals eine Sünde begangen haben, oder noch zu begehen gedenken, im Namen Alfred de Musset's sei sie ihm vergeben!

Auf einem Boden von noch viel gefährlicherer Schlüpfrigkeit hat er bereits seit Jahren festen Fuß gefaßt: auf der Bühne. Seine ganze Veranlagung, Neigung und Beruf für unmittelbare Wirkung mußten ihn gebieterisch dem Theater zuführen. Schon sein erstes Drama „Marion“, eine höchst interessante Verwerthung französischer Erinnerungen und Vorbilder, erregte Aufsehen, wegen des wenig anmuthenden Halbwelt-Stoffes aber überwiegendes Bedenken. Auch das kleine Lustspiel „In diplomatischer Sendung“, von Laube mit dem Preise des Wiener Stadttheaters gekrönt, war nur eine liebenswürdige Plänkelei, eine versuchsweise Vorbereitung zum ernsthaften Angriff. Er erfolgte bald darauf und mit einem so vollständigen Siege, wie er seit langen Jahren auf deutschen Brettern nicht erfochten ward. „Maria und Magdalena“, ein Schauspiel in vier Aufzügen, kam im Winter 1872 zuerst in Wien, abermals bei Laube, alsdann im Berliner Hoftheater zur Aufführung, ging in einem Jahre über einhundertzwölf deutsche Theater, erlebte überall zahlreiche Wiederholungen, in Berlin allein sehr schnell fünfzig, hat heute noch nichts von seiner Anziehungskraft eingebüßt, seinem Autor grüne und goldene Lorbeeren in reichster Fülle eingebracht und neulich, in italienischer Uebersetzung, auch die Römer entzückt. Das Publicum war hingerissen; die Kritik konnte den Sturm der Aufregung nicht beschwören, sie mußte den ungetheilten Erfolg besiegeln. Und wiederum war es der Reiz der Neuheit, der so widerstandslos packte.

Das Theater war verschwunden; man sah, man hörte, man fühlte sich selbst; man befand sich unter lauter guten Bekannten, denn auch die Angehörigen der schlechten Gesellschaft hatte man nur allzu häufig gestreift. Was halfen dagegen alle nachträglichen Nörgeleien: daß die ganze Geschichte auf einer Unwahrscheinlichkeit beruhe – was ist unwahrscheinlicher als das Leben? – daß die Handlung manchmal Sprünge mache – geht denn Alles schnurgerade vor sich? – daß mancher Witz doch zu verwegen – ist die Verwegenheit nicht die Würze des Witzes? Lindau, dessen Name auf Aller Lippen, durfte kühnen Muthes weiter streben. Die allgemeine Erwartung hob ihn schon zu den höchsten Zielen empor. Und doch schien er bei dem nächsten Schritte zu straucheln. „Diana“, das neue Drama, das im folgenden Jahre erschien, stimmte etwas herab; seine Aufnahme und Verbreitung würde bei jedem andern Schriftsteller ungemein befriedigt haben, für den Dichter von „Maria und Magdalena“ aber genügten sie nicht. Die Begeisterung versagte; der Triumphzug stockte; aus den Reihen traten die Tadler hervor, und die Kritik der beiden deutschen Hauptstädte vereinte sich zu einem abfälligen Urtheile, dessen absichtliche Schärfe den Rache-Act deutlich verrieth: man holte nach, was man das vorige Mal nicht hatte wagen dürfen. Dem verwöhnten Sieger war die erste Verwarnung ertheilt – es kam noch schlimmer. Sehr bald verbreitete sich das Gerücht, daß er, unbußfertig und unentmuthigt, an einem Stücke schreibe, dessen Stoff die Geschichte des vorigen mit pikanten Zuthaten von persönlicher Portraitirung und anderem Gräuel. So war eine künstliche Aufregung hervorgerufen und diese sichtlich in dem Publicum verkörpert, das am 7. November 1874 im königlichen Schauspielhause zu Berlin der ersten Aufführung von Lindau’s „Erfolg“, Lustspiel in vier Acten, entgegen harrte. Einen solchen Abend hatte die vornehme Stätte noch nicht erlebt. Die zügellosesten Ausbrüche der Leidenschaftlichkeit begleiteten und störten die Vorstellung; der Kampf kam dem Handgemenge immer näher, und der schließlich durchgesetzte Hervorruf des Dichters glich einer Vorladung zur Schlachtbank. Aber mit der Schleunigkeit einer Bühnenverwandlung ward aus der scheinbaren Niederlage ein wirklicher Sieg. Schon der zweite Abend brachte einen Erfolg, der dem von „Maria und Magdalena“ nichts nachgab und mit dem Stücke ständig sich erhalten hat, welches auch das Hofburgtheater in Wien für Lindau eroberte und siegreich behauptete.

Und die Kritik? Die Berliner zerfleischte Dichtung und Dichter und hallte von dem Tone des ersten Abends wieder; die Wiener folgte, mit völliger Nichtbeachtung der ihr vorliegenden Thatsachen, dem nordischen Beispiele.

Das Publicum, das inzwischen sein selbstständiges Urtheil abgegeben, schüttelte die Köpfe, diesseits wie jenseits des Oceans, denn ehe der „Erfolg“ seine Rundreise durch Deutschland angetreten, hatte er bereits in New-York zwölf Mal hinter einander die herzlichste Freude erregt. Daß Lindau, dem alle bei solchen Gelegenheiten unvermeidlichen bitteren Erfahrungen nicht erspart blieben, auf das Tiefste ergriffen war, läßt sich leicht nachfühlen, daß er aber alle Verbitterung überwand und die Gegnerschaft durch eine neue That zu widerlegen suchte, zeugt für seine Schaffensfreudigkeit und den Glauben an den eigenen Beruf. Und abermals war am 21. December 1875 das königliche Schauspielhaus zu Berlin bis auf den letzten Platz gefüllt, und, verborgen in einer Loge des zweiten Ranges, folgte mit athemloser Spannung und hochklopfendem Herzen eine junge Frau dem Verlaufe und telegraphirte von Act zu Act dem Gatten, der zu derselben Zeit in Wien eine Vorlesung zum Besten des Schriftstellervereins „Concordia“ hielt. Die letzte Depesche blieb ihr erspart, denn an Stelle des herausgejubelten Dichters erschien der Regisseur mit der Verkündigung, daß dem leider Abwesenden der Dank und die Anerkennung „des Hauses“ sofort durch den Draht übermittelt werden sollte.

Die Abende kehren wieder, aber sie gleichen sich nicht. Eine so freundliche erste Aufführung hat dieses „Haus“ selten zu verzeichnen gehabt; die Theilnahme, die Begeisterung war eine verständnißinnige, hingebende, fast zärtliche, überall die Stimmung getreu in Einklang und Wechselwirkung mit der auf den Brettern. Und dieses erste Urtheil ward aller Orten bestätigt, auch von der Kritik, die, bis auf ein verschwindendes Häuflein Verbissener, eine neue Schraube einsetzte und ihr Instrument wieder nach der Seite der Anerkennung hin drehte, wenn auch hier und da mit etwas zweifelhaft gedämpften Tönen.

„Tante Therese“, Schauspiel in vier Acten ist die beste und gereifteste dramatische Schöpfung Lindau's. Mit allen Vorzügen seiner früheren, der fesselnden Handlung, der sicheren Zeichnung der Verhältnisse und Figuren, der photographisch treuen Wiedergabe der heutigen Gesellschaft, der geistreichen und doch überall angemessenen Sprache, verbinden sich innerliche Vertiefung und äußere Abrundung, die bei Lindau bisher zuweilen vermißt wurden; auf dem Ganzen ruht der Zauber echter Poesie. Das Stück, welches mehr gefangen nimmt, als blendet, ist ein bürgerliches Schauspiel im edelsten Sinne und eine Zierde dieser bei uns leider so vernachlässigten Gattung. Für den gegenwärtigen Winter hat Lindau nur eine mustergültige Bearbeitung der hochinteressanten „Fremden“ des jüngeren Dumas geliefert, die ihm unter anderem einen vierzehnseitigen Brief und das Portrait des einlenkenden Deutschenhassers eingetragen. Eine Originalarbeit wird indessen nicht allzu lange auf sich warten lassen.

Paul Lindau, am 3. Juni 1839 zu Magdeburg geboren, hat die Lehrjahre längst hinter sich, auch die Sturm- und Drangperiode überwunden, und ist in voller Jugendblüthe ein reifer Mann mit erfolgreicher Vergangenheit und gewiß auch ein Mann von bedeutender Zukunft. Was er bisher geleistet, würde genügen, ein Menschenleben auszufüllen, und heute schon läßt sich seine Bedeutung nicht mehr bestreiten. Sie erhellt am klarsten aus dem Streite, der um ihn entbrannt ist und noch nicht gänzlich ruht. Kein Name wird vielleicht häufiger genannt, sicherlich keiner mit so unbedingter Anerkennung auf der einen, solch ingrimmigem Haß auf der andern Seite. Es giebt eine ganze Literatur für und wider ihn. Offenherzig und rückhaltslos, mitunter etwas hastig und ungeduldig, ist er doch ein treuer Geselle und guter Cumpan im Leben wie im Schreiben, und gerade jene ersten Eigenschaften werden so häufig mißverstanden, oder gar absichtlich mißdeutet.

Welche Schmähungen sind schon auf den Kritiker Lindau gehäuft! Und doch ist Keiner ehrlicher bei der Sache, anerkennt und fördert Keiner mit größerer Freudigkeit das wahrhaft Gute; ist es seine Schuld, wenn er ihm nicht allzu häufig begegnet, und hat Unerbittlichkeit gegen breitspurige Mittelmäßigkeit oder wirklich Schlechtes jemals für ein Verbrechen gegolten? Lindau ist nicht nach und nach fertig, nicht begünstigt und großgezogen worden; wie eine Ueberraschung stieg er plötzlich aus der Versenkung empor, und seine ersten Erfolge sind maßgebend [132] geblieben und haben sich immer mehr befestigt. Auch das nehmen ihm Manche übel; es ist das nicht die herkömmliche und zunftgemäße Entwickelung. Für Herkömmliches und Zunftgemäßes hat Lindau weder Neigung noch Verständniß. Gerade darin versteht ihn aber das Publicum, und daher dessen Neigung für ihn. Vom ersten Augenblicke an hat es sich auf seine Seite gestellt und sich immer dichter und enger um ihn geschaart; das Publicum hat, eine in Deutschland seltene Erscheinung, den Kampf gegen die zünftige Kritik für seinen Liebling aufgenommen und das Feld behauptet. Und diese Anhänglichkeit ist keine zufällige oder willkürliche. Lindau steht mitten im Publicum und im Tage; in ununterbrochener Fühlung mit Beiden, hat er für die leiseste Regung das richtige Verständniß und den treffendsten Ausdruck. „Es ist Fleisch von unserem Fleische und Geist von unserem Geist,“ schloß Karl Frenzel seine Kritik über „Maria und Magdalena“. Dieses Wort ist der Schlüssel des Geheimnisses, die Erklärung aller Erfolge, die Lindau, gleichgültig auf welchem Gebiete, errungen hat und noch erringen wird; bei aller gerechten Anwartschaft auf die Zukunft ist er zunächst voll und ganz ein Mann der Gegenwart.