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Ein junger Jubilar

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Textdaten
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Autor: F. W.
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Titel: Ein junger Jubilar
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 38, S. 596–599
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Rudolf Gottschall zum 25. Jahrestag
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Ein junger Jubilar.


Man ist längst darüber einig, daß sich in der Literatur der Geist und das Leben einer Nation am unmittelbarsten und deutlichsten ausprägen. Die Literatur ist gleichsam das Geschwisterkind der Geschichte und weist jeder Zeit eine gewisse Familienähnlichkeit mit dieser auf, ja, sie theilt auch meist deren Geschicke, ist in alle ihre Triumphe und Niederlagen verflochten. In der Literatur vernimmt man so zu sagen das Herzklopfen der Geschichte, gewahrt man ihr freudiges Erröthen, ihr zaghaftes Erbleichen, den jubelnden Aufschrei der Thatenlust, den Mark und Bein erschütternden Schmerzlaut nationaler Verzweiflung.

Mit Goethe und Schiller hat unsere Literatur überdies zwei Genien erhalten, von denen sich nicht mit Unrecht behaupten läßt, daß sie in ihrer Vereinigung gewissermaßen den Janustempel unseres Volkes abgeben. Wie im alten Rom nach Numa’s Verordnung dieser Tempel bei dem Anfange eines Krieges geöffnet wurde und, so lange der Krieg dauerte, offen blieb, im Frieden aber geschlossen ward, so läßt sich auch in Deutschland gleichsam Krieg und Frieden an der Vogue und Gunst des einen oder des andern dieser Genien erkennen. Goethe ist der Genius des Friedens, sein Geist und Ruhm erfüllt die Deutschen in innerlichen Entwicklungsperioden, in Kunstepochen; der von Schiller steigt empor in Bewegungszeiten, in historischen und politischen Phasen; er ist der Genius des Kampfes. Seine Muse ist kriegerisch gezeugt; sie hat etwas von dem Commandowort und der Geste des Feldherrn. So oft die deutsche Nation geschichtlich ihre Zelte abbricht und weiter zieht, um die Himmelsgegend der Freiheit zu suchen, so oft auch tritt Schiller’s Dichtung an ihre Spitze und erfüllt sie mit ihrem Schwung und Pathos, ihrem Stil und Impulse.

Das war auch wieder der Fall, als vor nunmehr gerade fünfundzwanzig Jahren ein damals neunzehnjähriger Jüngling mit seiner ersten Dichtergabe vor das deutsche Publicum trat. Der junge Poet war Rudolph Gottschall; er hat sich inzwischen längst einen Ehrenplatz unter den Stimmführern unserer modernen Poesie erworben, und seine zahlreichen Freunde und Verehrer gedenken den Tag, der seine fünfundzwanzigjährige überaus rege literarische Thätigkeit abschließt, als ein Fest dankbarer Anerkennung und Würdigung zu begehen.

Rudolph Gottschall ist am 30. September 1823 in Breslau geboren, wo sein Vater als preußischer Artillerie-Officier um jene Zeit in Garnison stand. Später an den Rhein versetzt, verlebte der Sohn seine erste Jugend in Mainz und Coblenz, besuchte hier die Gymnasien und versuchte sich frühzeitig in dichterischen und kritischen Productionen. Schiller und Jean Paul waren damals die Lieblingsdichter des aufschießenden Jünglings, und diese Neigungen motiviren sich zumeist wohl aus der Familien- und landschaftlichen Umgebung Gottschall’s. Die Rheingegend mit ihren Burgen, rebenumkränzten Ufern, großen Sagen und Erinnerungen weckte, besonders in hellen Mondscheinnächten und bei verschleierten Sonnenuntergängen, ein gewisses sentimentales Naturgefühl in unserm angehenden Poeten, ein sentimentales Naturgefühl, das in Stunden der Dämmerung oder unter die Zauber lauer Sommernächte gestellt, sich in endlosen Wehmuthsschwelgereien und Thränengüssen Luft machen konnte. Daneben erzeugte die militärische Beschäftigung des Vaters im dichterischen Talent des Sohnes zugleich eine Vorliebe für das kriegerische Element und dadurch für Schiller, in dem gerade dieses Element vorzugsweise vertreten ist. Der junge Rudolph begleitete seinen Vater auf dessen Uebungsmärschen nach Coblenz, theilte mit ihm das Quartier auf den Dörfern und machte die gesammten Schießübungen der Artillerie bei Tag und Nacht mit durch. Frische Bilder aus dem Soldatenleben, ein munterer Zeltlagerton, die Feuerkugeln und Bomben sind der Muse unseres Dichters von damals in beständiger Erinnerung geblieben. Von damals hat sie auch einen gewissen martialischen Zug und die Neigung behalten, sich zu Zeiten mit einer etwas herausfordernden Miene den Bart zu streichen. Es harmonirte das mit dem veränderten Zeitgeist. Die ganze Sturm- und Dranglyrik von 1848 hatte schon seit geraumer Zeit ihre gesattelten Musenrosse im Vorhofe der Literatur, in der Journalistik stehen. Georg Herwegh setzte bereits den einen Fuß in den Steigbügel.

In diesem Momente wagte sich Rudolph Gottschall mit jener ersten eigentlichen Dichtergabe, den „Liedern der Gegenwart“ in die Oeffentlichkeit und zwar von Königsberg aus, wo er, nachdem sein Vater 1839 den Abschied genommen und sich nach dem ostpreußischen Städtchen Rastenburg übersiedelt hatte, seit 1841 als Studiosus der Rechte der Universität angehörte. In Königsberg warf dazumal der Liberalismus hohe Wogen. Die „Hartung’sche Zeitung“ stand mit ihren Leitartikeln an der Spitze der Bewegung; Johann Jacoby war der Mann des Tages, Ludwig Walesrode [597] mit seinen humoristischen Vorlesungen und Journalaufsätzen sein Adjutant.

Rudolph Gottschall.
Nach einer Photographie von Weigelt in Breslau.

Der junge Student, der fleißig seine Collegien bei Simson und Rosenkranz besuchte und dessen Herz mit großen Problemen geschwellt war, gerieth und mußte selbstverständlich in die Strudel der Bewegung hineingerathen; seine „Lieder der Gegenwart“ entsprachen ganz den Eindrücken seiner Jugend, dem Einfluß Schiller’s und den Verhältnissen des Tages. Sie schlugen einen hohen, pathetischen, kecken und herausfordernden Ton an; es waren in Verse gebrachte Apostrophen an das Volk. Das Büchlein wurde mit außerordentlichem Beifalle begrüßt. Die Gunst der öffentlichen Meinung, welche damals von Königsberg aus den Aufgang der deutschen Freiheit erwartete, stellte Gottschall als ostpreußischen Lyriker, trotz seiner neunzehn Jahre, alsbald in eine Linie mit den Koryphäen der Bewegung; die Gedichte wurden in der ganzen deutschen Presse nicht nur mit Anerkennung, sondern geradezu mit stürmischer Begeisterung besprochen; Gottschall wurde, man darf sagen, in vier Wochen berühmt, viel zu früh für seine Leistungen und sein Glück! Der rasche Erfolg machte ihn übermüthig und ließ ihn zu dem Glauben kommen, daß er, ein Liebling der Götter und der Musen, nur lustig weiter zu produciren habe, um seinen Weg mit Lorbeern besät zu machen. Wie schwer hat er sich darin betrogen! Mit furchtbaren Anstrengungen nur ist es ihm möglich geworden, den früh geschenkten Kranz des Ruhms sich auf die Länge zu bewahren und zu verdienen. Er hatte den goldenen Preis lange vor der Arbeit. Die Arbeit folgte dem Preise erst nach und welche Arbeit!

Er hat eine harte Schule durchgemacht und jeden späteren Succeß nur mit dem Aufgebot aller seiner Kraft und nach einem ausdauernden Kampfe mit einem widerlichen Geschicke errungen. Mehr als ihm seine liberale Richtung im ersten Anlaufe Vorschub geleistet, hat sie später nämlich ihm Nachtheil gestiftet. In ihre Wirren, ihre Mißhelligkeiten, ihre Wirbelwinde hineingerissen, hat seine Muse natürlich sich vor gewissen Ueberstürzungen und Ausartungen nicht hüten können und ist in Folge dessen auch von der ganzen Wucht ihrer Rückschläge und Widerwärtigkeiten betroffen worden. Gottschall’s Name ist beinahe in alle ihre Frevel und Sünden, in alle ihre Heimsuchungen eingewoben.

Eine dieser Heimsuchungen trat jetzt an ihn heran, die maßgebend wurde für sein ganzes späteres Leben. Walesrode hatte eine Vorlesung für Studirende angekündigt, allein der damalige Regierungsbevollmächtigte untersagte sie. Die studirende Jugend machte den Letzteren, den Geheimen Rath Schubert, dafür verantwortlich und beschloß ihm eine Katzenmusik zu bringen. Obgleich sich die große Mehrzahl der Studirenden daran betheiligte, wurden doch nur Einzelne daraus herausgegriffen und mit dem consilium abeundi bestraft. Zu den so Bestraften gehörte auch Rudolph Gottschall. Sein eigener Ruf wies zu verlockend mit dem Finger auf ihn hin, als daß man aus der Menge nicht gerade ihn hätte herausgreifen sollen. Ausgestoßen aus dem Universitätsverbande in Königsberg, schnallte er denn sein Ränzchen, um in seine engere Heimath Schlesien zurückzukehren. Doch erging es ihm hier nicht viel besser. Er hatte allerdings von dem Ministerium auf sein Ansuchen wieder die Erlaubniß erhalten, in Breslau Collegia hören zu dürfen, ohne indessen förmlich immatriculirt zu sein. Da begab es sich eines schönen Tages, daß einige Studenten im Collegium des Professor Braniß zu trommeln begannen, weil derselbe auf die junghegel’sche Philosophie loszog. Ein gutgesinnter Student tadelte sie deshalb in der Zeitung und wurde in [598] Folge dessen vor eine Studentenversammlung geladen, um sich zu vertheidigen und zu rechtfertigen.

Diese Studentenversammlung wurde verboten, aber trotz dessen doch abgehalten, was natürlich zu Untersuchung und Gericht Veranlassung gab. Da Gottschall in der Versammlung auch gesprochen, so wurde mit ihm, als nicht immatriculirtem Mitgliede der Breslauer Universität, kurzer Proceß gemacht und er ohne Weiteres aus der Stadt verwiesen. Er protestirte, aber vergebens; er mußte wandern.

Die Studentenschaft bereitete dem Scheidenden ein glänzendes Geleite, zu seinen Begleitern gehörte auch Ferdinand Lassalle, schon damals ein glänzender philosophischer Kopf, mit dem unser Poet einen intimen Umgang hatte. Beide redigirten zusammen eine Studentenzeitung, zu der Lassalle philosophische Aufsätze, Gottschall keck hingeschleuderte Gedichte gab. In jener Versammlung hatte Lassalle seine Jungfernrede gehalten und verbüßte dafür seinen ersten Arrest im Carcer.

Gottschall begab sich nun nach Oberschlesien, wo er sich theils bei dem ihm befreundeten Grafen Reichenbach, theils bei einer alten Tante aufhielt. Er hatte jetzt Gelegenheit, „fern von Madrid“ über mancherlei nachzudenken, neue poetische Pläne zu schmieden und zur Abwechselung und Erholung Vögel und Eichhörnchen zu schießen. Ein Versuch, sich in Leipzig zum akademischen Bürger machen zu lassen, den er inzwischen anstellte, mißlang, und erst im Herbst 1844 erhielt er auf mehrfaches Anklopfen die Erlaubniß in Berlin fortstudiren zu dürfen, wo er gleichzeitig sein Jahr bei den Gardeschützen abdiente und neben seinen Studien lustig den militärischen Uebungen und Manövern oblag.

Jung, talentvoll, stattlichen Ansehens, ungebrochen von allen Widerwärtigkeiten, die ihn betroffen, voll Lebensdrang und Thatenlust, getragen von einer bewegten Zeit und vom Ruhme schon ausgezeichnet, konnte es nicht fehlen, daß in Berlin dem begeisterten Poeten ein neues, glückverheißendes Leben aufging. Aufgenommen in den sogenannten „Verein der Freien“, in dem die politische Debatte an der Tagesordnung war und die Freisinnigkeit jener Tage studentisch commercirte, Mitglied des „Rütli“, jener Kneipe des Humors, aus welcher später der „Kladderadatsch“ hervorging, war er zugleich auch ein Löwe der Salons und Gesellschaften. Er fand Eingang in die Cirkel der Gräfin Ahlefeldt, Zutritt bei Varnhagen von Ense und ward ein gern gesehener Gast im Hause von Theodor Mundt, in welchem zu jener Zeit alle Schöngeister Berlins verkehrten und nicht selten die ästhetische Parole ausgegeben wurde. Vor einem Kreise von jungen, schönen Mädchen und blühenden Frauen, vor bedeutenden und geistvollen Männern las, nein, recitirte er aus dem Gedächtniß sein Revolutionsdrama „Robespierre“, das er zu Hause zu sich gesteckt, aber unterwegs verloren oder irgendwo liegen gelassen hatte. Die ganze Versammlung erschrak und bekümmerte sich über den möglichen Verlust der Handschrift; Rudolf Gottschall aber lächelte und indem er lustig um sich blickte, rief er getrost: „Was thut das? Ich weiß alle fünf Acte auswendig. Was ich gedichtet, hab’ ich zugleich gelernt!“

Neben diesem „Robespierre“ ward in Berlin manches feurige und kühne Lied gedichtet, trotzdem er den Dienst als Soldat pünktlich versah und in seinem Fachstudium nicht auf der Bärenhaut lag. Rudolf Gottschall ist eben von jeher eine ganz außerordentliche Arbeits- und zugleich Lebenskraft gewesen. Unberührt von schweren Krankheiten, voll Ausdauer und rascher Fassungskraft, überwand er fast spielend die größten Schwierigkeiten. Er kannte keine ängstliche Schonung, keine vorsorgliche Entsagung. Bei Allem dabei, jedes Vergnügen theilend, keine Mühe scheuend, gab er so recht das Bild und den Eindruck unverwüstlicher Jugend, einer Jugend, die, sich im Fluge des Jahrhunderts fühlend, gleichsam mit der Weltkugel im Arme träumt.

Es freut uns noch heute, ihn so gesehen zu haben, in der nachdrängenden Masse der literarischen Jugend ihm gefolgt zu sein. Er war uns Allen weit und glänzend voraus. Es fiel ein seltener Schimmer auf seinen Weg, ein Schimmer vom echten Genie, das freilich nicht ganz gehalten hat, was es verhieß, weil gerade in seiner eigentlichen Entwickelungszeit, in seinem üppigsten Blüthemomente Weltstürme darauf hereinbrachen, die es in seiner gleichmäßigen und allseitigen Entfaltung beeinträchtigten: Gottschall hatte sich zu ungestüm, zu heftig den Bewegungen seines Jahrhunderts hingegeben, war zu sehr in sie aufgegangen, um nicht endlich deren Wirren und Rückschläge in seiner Schaffensfähigkeit zu empfinden. Diese Schaffensfähigkeit verwilderte etwas, überbot sich und verlor zu Zeiten die klare Einsicht und das Maß.

Es fehlte den früheren Dichtungen Gottschall’s, wie seinen Jünglingsjahren, Sammlung und Concentration. Es prasselte Alles darin auseinander. Noch unter dem 2. April 1849 konnte er uns über sich selbst Folgendes schreiben:

„Was uns allein Befriedigung gewähren kann, ist nach der einen Seite das Aufgehen im großen, geschichtlichen Leben, auf der anderen die geistige Productivität nach irgend einer Richtung hin. Momentane Verstimmungen, eine deprimirende geschichtliche oder persönliche Epoche sollen uns nicht irre machen. Das ist meine Lebensansicht! Herzensneigung – ich kann keinen großen Werth darauf legen, sie kann nicht das Leben ausfüllen, kaum ergänzen. Die Frauen werden die Schattenseite in meinem Leben und in meinen Stücken bleiben. Gutgestaltete, bürgerliche Verhältnisse würden mich auch nicht befriedigen, in Vielem stören. Eine Leidenschaft, stürmisch und vorübergehend, würde mich glücklicher machen, als eine Neigung, welche Dauer fordert und auf sie begründet ist. Ich bin eine Natur, welche das ätzende Gift des Jahrhunderts vollauf eingesogen, nichts Dauerndes leiden kann, nichts Festes, nichts Bestehendes. Ich bin ein Stück von dem negativen Geiste der Welt, der Zerstörung. So hab’ ich mich mir selbst construirt und zurecht gelegt. Darin such’ ich meine Bedeutung. Mir wird unwohl bei Allem, was dauert – sei es nun eine Liebe, eine Ehe, eine Staatseinrichtung, eine Religion, und wäre ich der liebe Gott, würde ich nicht einmal die Welt lange existiren lassen.“

Solche auf die Spitze getriebene, ungeheuerliche Ansichten waren damals häufig, und wenn die gewechselten Briefe jener Jugend einmal zu Tage kommen, wird man Aehnliches häufig bekundet sehen. Jeder Kopf von einigem Geist fühlte etwas von einem Danton und Robespierre in sich. Die Umsturztheorie lag in der Mode des Tages. Die öffentliche Meinung sprach im revolutionären Jargon des Sanscülottismus. Rudolf Gottschall gehörte zu ihren dichterischen Matadoren. Auch als er 1846 in Königsberg als Doctor promovirte, kam keine Ruhe in ihn und das Ministerium hatte wohl so ganz Unrecht nicht, daß es ihm, ehe es ihm die Erlaubniß, den Lehrstuhl zu besteigen, ertheilte, eine Bedenkzeit von einem Jahre stellte. Statt Professor der Universität, Dramaturg am Stadttheater in Königsberg geworden und später dem Stadttheater in Hamburg nahegestellt, hat er rasch nacheinander eine ansehnliche Zahl von Dramen verfaßt, die zwar Interesse erregten, aber keinen dauernden Erfolg errangen. Auch Gottschall’s Gedichte, 1849 gesammelt bei Hoffmann und Campe erschienen, schlugen nicht so durch, wie man erwarten durfte, obwohl der Poet selbst so etwas wohl voraussah, denn er richtete sich darauf ein, die Poesie ganz fahren zu lassen und eifrig Geschichte und Staatswissenschaft studirend sich zum Politiker, zum Parlaments- und Volksredner, wenn nicht gar zum Staatsmann zu machen.

Das Geschick hat indeß anders entschieden, Gottschall hat die politische Bühne eigentlich nie betreten, er hat sie lyrisch und dramatisch umkreist, er hat sogar als Zeitungsredacteur ihre untersten Stufen betreten, dann aber plötzlich Kehrt gemacht und die rein literarische Laufbahn erwählt.

Wesentlich zu diesem Umschwunge möchte wohl seine Verheirathung mit der Freiin Marie von Seherr-Thost beigetragen haben (einer jungen, blühend schönen Dame aus einer altadeligen Familie in Schlesien), die 1852 stattfand. Mit dieser kam die künstlerische Läuterung, kam die Zeit, in welcher Gottschall begann, das moderne Princip in Praxis und Theorie als das maßgebende für die neuere Literatur in den Vordergrund zu stellen, jenes moderne Princip, das nicht mehr blos vernichtend und zerstörend, sondern schaffend und aufbauend verfahren will und kann.

Seine „deutsche Nationalliteratur in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts“, die 1854 erschien, war das erste Werk, in welchem er dies erprobte, und nun einmal auf einen neuen Standpunkt gelangt, begann er eine wahrhaft staunenswerthe Thätigkeit zu entwickeln. Zunächst erscheint noch 1853: „Die Göttin. Ein hohes Lied vom Weibe“ und schon 1854 gleichsam als hohes Lied vom Mann: „Carlo Zeno“ u. a. m., und endlich ist eine ganze Reihe von Dramen zu nennen, die eben jetzt gesammelt bei F. A. Brockhaus ausgegeben werden und zur Zeit in sechs [599] Bändchen vorliegen, welche der Reihe nach enthalten: „Pitt und Fox“, Lustspiel in fünf Aufzügen; „Mazeppa“, geschichtliches Trauerspiel in fünf Aufzügen; „Die Diplomaten“, Lustspiel in fünf Aufzügen; „Der Nabob“, Trauerspiel in fünf Aufzügen; „Katharina Howard“, Trauerspiel in fünf Aufzügen, und „König Karl XII.“, geschichtliches Trauerspiel in fünf Aufzügen.

Wer diese Arbeiten unbefangen prüft, der wird einräumen müssen, daß sie alle mehr oder minder eine großartige Begabung bekunden. Gottschall zeichnet in mächtigen Umrissen und kühnen Strichen, unterstützt in der Ausführung durch eine wahrhaft hinreißende Gewalt der Sprache. In der Tragödie verfügt er über den Pomp und das Pathos im Schiller’schen Genre und im Lustspiel über den geistreichen und glänzenden Dialog eines Scribe – zwei Gegensätze, die man selten vereinigt finden wird. Wenn trotz dessen nur ein paar seiner Stücke – namentlich „Pitt und Fox“ und „Katharina Howard“, ohne Zweifel zwei seiner glänzendsten Arbeiten – repertoirefest geworden, so liegt das zum Theil in den Stoffen, zum Theil in der Mangelhaftigkeit der Motivirung und ganzen Behandlungsweise. An Gottschall’s späteren Schöpfungen rächt sich noch immer seine tumultuarische, so zu sagen forcirte Jugend. Die wegwerfende Behandlung, die er und viele seiner Zeitgenossen den zarteren Regungen des Herzens, der Welt der anheimelnden Empfindung, dem stillen Wesen des Weibes und ihrem häuslichen Wirkungskreise zu Theil werden ließen, hat seine Muse einer gewissen Innigkeit und Wärme, eines traulich anmuthenden Reizes beraubt. Ihre Gestalten haben kein rechtes Zuhause; sie bewegen sich immer wie in der Fremde; besonders die weiblichen Erscheinungen leiden darunter, weil ihnen jener intime Hintergrund seelischen Behagens mangelt, welchen die Deutschen lieben und Schiller durch eine Sentimentalität ersetzte, deren unsere jungen Heldendramatiker sich schämen zu müssen meinten.

So viele Fehler Gottschall’s dramatische Arbeiten aber auch haben, das müssen wir einräumen, daß er von Hause aus unter den jüngeren deutschen Dramatikern einer derjenigen ist, die so zu sagen Zeug dazu besitzen. An genialer Wurfkraft, Pomp der Sprache, Erfindungsgeist und Bewältigungsgabe des vorgenommenen Stoffes möchten Wenige ihm gleichkommen. In diesen Dingen steht er Hebbel wenig nach. Es hat ihm nur die Vertiefung bis jetzt gefehlt und diese mußte ihm fehlen, weil er durch Umstände und Verhältnisse genöthigt wurde, nach zu vielen Richtungen hin sich zu zersplittern.

Was die bürgerliche Existenz unseres Dichters betrifft, so ist sie in jeder Beziehung eine geachtete. Nach seiner Verheirathung war er zuerst nach Hamburg gezogen, siedelte von dort aber bald wieder nach Breslau über und lebt jetzt in Leipzig, wo er die im Brockhaus’schen Verlag erscheinenden Zeitschriften „Blätter für literarische Unterhaltung“ und „Unsere Zeit“ mit seltener Umsicht und außerordentlichem Fleiße redigirt.
F. W.