Eine Erinnerung an Gottfried Kinkel
Eine Erinnerung an Gottfried Kinkel.
Es sind jetzt nahe an zehn Jahre, daß Gottfried Kinkel dahin geschieden ist, zehn Jahre genau, daß ich zum letzten Male eine Nacht mit ihm verleben durfte. Eine Erinnerung an ihn und an diese merkwürdige Nacht, sie wird gerade den Lesern der „Gartenlaube“, welcher Kinkel seinerzeit so manchen Beitrag geliefert, die an seinen Schicksalen stets einen so regen Antheil genommen hat, willkommen sein, und ich halte das Mitzutheilende auch deshalb eines Plätzchens für würdig, weil die „Gartenlaube“, wenn auch nur mittelbar, damit in Verbindung steht. Denn meine Bekanntschaft und spätere Freundschaft mit dem Dichter entstand durch dieses Blatt.
Kinkel hatte in der „Gartenlaube“ seine Aufsätze „Meine Kindheit“ (1872) und „Meine Schuljahre“ (1873) mitgetheilt, in derselben Zeit, als ich ebenda über das „Steindenkmal in Nassau“ und anderes schrieb und den ersten Aufruf für das „National-Denkmal“ auf dem Niederwald veröffentlichte. Ihn interessierten diese Aufsätze, wie auch ein andrer, den ich früher (1868) dem Blatte geliefert hatte, über das Grab des deutschen Volkskämpfers von Itzstein. Denn Kinkel nahm stets innigen Antheil an allem, was in litterarischer Beziehung den Rhein auch nur streifte.
Hatte nun auch Freund Rittershaus einen schriftlichen Verkehr schon zwischen uns angebahnt, eine Annäherung geschah doch zunächst nur brieflich, als Kinkel mich über einige rheinische Dinge befragte, die ihm infolge seiner langen Abwesenheit fremd geblieben waren; aber die Gelegenheit zum persönlichen Verkehr fand sich bald, als ich in der Lage war, ihn als Redner nach Wiesbaden einzuladen. Er hielt denn auch im dortigen Kurhaus verschiedene Vorträge, über Venedig, über Franz Grillparzer, über William Hogarth, und aus dieser fast geschäftlichen litterarischen Verbindung entwickelte sich ein Briefwechsel, der mit der Zeit an aufrichtiger Wärme beiderseitig zunahm.
Ein paar Jahre war es ihm unmöglich, meinen Einladungen zu wiederholten Vorträgen zu folgen. Da erhielt ich plötzlich und unvermuthet im Jahre 1881 ein Schreiben von ihm folgenden Inhaltes:
„Mein lieber Freund! Wiesbaden gehört zu den vier Städten, denen ich noch einen versprochenen Vortrag schuldig bin, ich stelle mich hiermit zu Ihrer Verfügung. Dahinter halte ich keine Vorträge mehr in Deutschland!! (Er sollte leider recht behalten.) Wollen Sie mich? – – – Auf das Schöppchen mit Ihnen freue ich mich ganz besonders, auch darauf, einen heiteren Abend mit Ihnen zuzubringen. Ihr alter G. K.“
Gleichzeitig sandte er mir die letzte Photographie, die er von sich noch besaß. Es ist später keine mehr von ihm gemacht worden. Ich schrieb ihm sofort zu, und er kam. Ich fand ihn weicher gestimmt als jemals, auch stärker gebleicht als früher, sonst aber frisch. Greises Haar war ihm übrigens schon lange eigen, im Widerspruch mit seiner wohlig frischen Gesichtsfarbe. Kinkel sprach über „Christopher Marlowe, den Rivalen Shakespeares und frühesten Theaterdichter des Faust“ mit einem außergewöhnlichen Beifall, trotz des manchem Zuhörer etwas ferne liegenden Themas. Friedrich Bodenstedt wohnte dem Vortrag bis zum Schlusse in Begleitung seiner liebenswürdigen ältesten Tochter bei. Kinkel hatte sich wie immer im „Adler“ einquartiert; „ich wohne am liebsten im Untergeschoß nach dem Hofe zu,“ schrieb er mir; „die Fontäne und (wenn’s Wetter sie möglich macht) die Hyacinthen im Beetchen are so very sweet.[1] – – Lieber Bruder in Apollo, lachen Sie mich wegen meiner Anhänglichkeit an kleine Lebensfreuden aus, soviel Sie wollen, aber bleiben Sie gut Ihrem alten G. K.“
Nach dem Vortrag war ein Stelldichein im „Adler“ bald verabredet, und Kinkel, Bodenstedt, dessen Tochter und ich bildeten das Quartett, welches in anregender Unterhaltung einige Stunden zusammen verbrachte, um so anregender, als Bodenstedt selbst früher schon über Christopher Marlowe eine größere Arbeit geliefert hatte. Es gab mithin der Anknüpfungspunkte an diesem Abend für die beiden Poeten genug.
Es war kurz vor ein Uhr, als Bodenstedt, in Rücksicht auf seine damals etwas leidende Tochter, an den Heimweg dachte. Kinkel, dem ich eine gewisse Weichheit während des ganzen Abends schon angemerkt hatte, wollte zurückhalten, fügte sich aber, als Bodenstedt durchaus auf der Heimkehr bestand, und sagte dann: „Na, so laßt mir den noch hier, ich habe noch allerhand mit ihm zu reden, und wer weiß, ob wir uns sobald oder überhaupt noch einmal wiedersehen! Denn Vorträge in Deutschland halte ich nicht mehr. Ihr müßtet dann zu mir in mein Exil – nach Zürich kommen, und das thut Ihr ja doch nicht!“
Und so blieben wir zwei allein zurück. Der trauliche Saal des „Adler“ hatte sich schon vollständig geleert; die Winterkurgäste pflegen nicht bis ein Uhr sitzen zu bleiben. Einige Kellner harrten noch unserer Wünsche. „Geht schlafen,“ rief ihnen Kinkel zu, „setzt uns noch ein paar Flaschen her und laßt mir ein Licht hier. Mein Zimmer finde ich selbst. Wegen mir sollt Ihr um Euren Schlaf nicht kommen.“
Die Leute entfernten sich bis auf einen Jüngling, der bald in einer „schummerigen Ecke“ des Saales sanft entschlief. Die Lichter im Raume waren bis aus einen Lüster in unserer nächsten Nähe gelöscht. Der treffliche Wein des Hauses schien Kinkel gut zu munden. Das schone volle weiße Haupt auf die Hand gestützt, so saß er da mit seinem lichtsilbernen Prophetenbart – eine prächtige Erscheinung.
Er begann damit, mir für eine Gefälligkeit zu danken, die ich einem seiner Kinder zu erweisen im Begriff stand. Dies [241] brachte ihn auf das viele Ungemach, das ihm im Leben schon widerfahren, und die Erinnerung daran stimmte ihn sehr weich. Ich will hier diese traurigen Erfahrungen des Poeten nicht wiederholen[2] – kurz, eines fügte sich zum andern, und plötzlich waren wir bei der ereignißvollsten Zeit seines Lebens, bei seiner Flucht aus Spandau, angekommen.
„Ich spreche niemals über die Sache, wenn ich es vermeiden kann. Aber heute ist’s mir zu Muthe, als müsse ich mich einmal so recht von Herzen auslassen, ein Rheinländer zum andern, und ich wüßte kaum, wem gegenüber ich mehr die Neigung fühlen könnte, mir einmal Erleichterung zu verschaffen. Ich bin am Rhein – ein Glas aus unseren herrlichen Strom! – ich bin am Rhein – o, wenn man wüßte wie ich an seinen grünen Fluthen hänge, wenn man wüßte, was man dem ,Alten‘ für eine Freude hätte bereiten können, wenn man ihn heimberufen, ihn wieder zum ,Deutschen‘ hätte werden lassen mit Deutschen! Wohl danke ich der Schweiz, daß sie mir, – wie vordem England – ein Heim, eine Ruhestätte geboten hat, aber, Freund, ich leide, und zwar [242] an zwei Uebeln: am Heimweh und am Fluche der politischen Berühmtheit!“
Ich war überrascht, den alten gemüthreichen, freundlichen Poeten so ernst reden zu hören über Verhältnisse und Anschauungen, die ich in der That nicht sofort begriff.
„Mag’s Ihnen als ein Vermächtniß erscheinen, wenn ich diese mitternächtige Stunde dazu benutze, mich meiner tiefsten Schmerzen einmal zu entladen. Wer weiß, mein Freund, ob wir uns jemals wiedersehen,[3] bleiben Sie mir gut und treu und denken Sie manchmal des ‚Alten‘ und dessen, was wir heute plauschen.“
Ich leugne nicht, daß ich noch nicht ganz verstand, wie diese Stimmung auf einmal über den Dichter kommen konnte, aber schon fuhr er fort: „Glauben Sie nicht, daß ich durch unser Gespräch vorhin, durch den Vortrag oder ein Glas Wein mehr erregt bin als sonst. Im Gegentheil! Ich fühle sehr ruhig und ernst in diesem Augenblick und möchte nicht verkannt sein, am wenigsten von Ihnen. Ich will Ihnen gerne gestehen, ich war wohl oft hart zurückweisend, wo ich hätte nachgiebiger sein müssen. Ich habe vielleicht selbst den Weg zurück nicht recht gefunden, aber das Unglück verbittert. Sehen Sie Karl Schurz an, er traf es besser mit dem Geschick denn ich. Sie haben, wenn auch jünger als ich, doch auch einen Eindruck aus dem Jahre meiner Schicksalswendung, aus dem achtundvierziger Jahre! Was haben wir denn andres gewollt, als was Ihr jetzt erreicht habt? Auf anderm Wege, ja! Ihr vielleicht auch auf richtigerem, und ich – wie herzlich fühle ich mit Euch – und doch, ich darf es kaum laut werden lassen!“
„Und weshalb nicht?“ wandte ich ein.
„Weil ich sonst mehr als jeder andre mit meiner Vergangenheit breche. Halten Sie das meinethalb für zu weit gehend, nennen Sie die Ansicht verschroben: aber ich und Spandau, wir sind so eng in der Meinung des Volkes verknüpft, daß, wenn ich heute zugestehe, damals geirrt zu haben, ich ein Leben lang umsonst Märtyrer meiner Ueberzeugung war, daß ich eine lange Zeit hindurch umsonst von meinem Volke als Opfer meiner politischen Anschauungen gefeiert, daß ich umsonst und zwecklos von ihm glorificiert worden bin. Das klingt Ihnen überraschend. Aber ich, ich fühle so und ich möchte das den Fluch der politischen Berühmtheit nennen. Ich mußte bleiben, was ich war, der Spandauer Verurtheilte und Geflohene, der seiner damaligen Ansicht Getreue, sonst wurde ich meinem politischen Namen und Ruf – mir selbst untreu. Verstehen Sie, was ich damit meine und wie ich gelitten habe? Könnte in der That jemand annehmen, daß ich nicht so tief wie andere an unseren letzten Siegen theilgenommen, daß nicht auch ich gleich meinen Brüdern die Heimgewinnung von Elsaß und Lothringen freudig begrüßt hätte? Aber – ich will’s nicht verschweigen, ich war trotzig und eigensinnig, ich vermochte kein öffentliches Bekenntniß mir abzuringen. Denn man amnestierte, man tolerierte, aber man sah in keinem einen so schlimmen Missethäter als in mir. Ich habe dem nie öffentlich Worte gegeben. Was hätte es auch genutzt? Aber manchmal tritt mir die Erwägung nahe: wäre es nicht vielleicht besser gewesen, wenn ich mein Schicksal in Spandau erwartet hätte? – Nehmen Sie Schurz! Er ward gleich mir verurtheilt! Ich sehe ihn eben lebendig vor mir mit seinen offenen Augen, seinem blonden Haare – hat er nicht in der Verbannung drüben über dem Ocean seinen Weg gemacht, sein Berufsfeld gefunden? Ist er nicht glücklicher geworden als ich? Behüte Gott, daß ich ihm das mißgönnte! Es hat mir nie im Leben ein Mensch größere Freundschaft und Anhänglichkeit bewiesen als er. Und trotzdem, ich werde den Gedanken nicht los, daß man mich bis zum Lebensende straft. Hier Schurz als Gast Bismarcks, der Revolutionär und der Junker – so müssen wir den bedeutenden Mann doch nennen – ich im Exil! Habe ich mich denn an meinem Vaterland so sehr vergangen? Wie steht sie vor mir, die Nacht des 6. November 1850 in Spandau! Und als ich an jenem 17. November von Warnemünde, dank der Liebe und Treue echter Freunde, auf der „Anna“ dahin schwamm und noch im Bereich meiner Verfolger war, schon damals wußte ich nicht, sollte ich mich freuen ob der Rettung, oder sollte ich trauern, daß ich wie ein Verbrecher, ein Ausgestoßener das Vaterland, die Heimath meiden mußte!“
Er schwieg, und das Wenige, was ich ihm erwidern konnte, schien für ihn ungehört zu verhallen. Er blickte starr vor sich hin, wie in die Vergangenheit versenkt.
„Jener Tag – 1858 in London – war es nicht eine Strafe, die mich durch den Tod meiner Johanna traf, härter als den schlimmsten Sünder je eine getroffen? Nicht, daß das Geschick nicht auch wieder Linderung für mich gehabt hätte! Aber wäre ich in Bonn geblieben, mein Londoner Geschick wäre in dieser Form nicht über mich gekommen. Und was that ich denn in jenem ernsten Jahre 1848? Wäre ich damals von der Bewegung zurückgetreten, als man mich warnte und zurückhalten wollte – würde es dadurch im allgemeinen anders, besser geworden sein? Hätte ein weniger mild Denkender als ich nicht schlimmere Wendungen herbeiführen können?“
Nach einer kleinen Weile setzte er wieder ein: „Ja, Freund, ich will nicht verhehlen, daß ich damals auch genügend persönliche Feinde hatte, daß ich durch sogenannte Preßvergehen mich bereits kompromittiert glaubte. Aber – haben wir uns damals auch in den Mitteln geirrt, so haben wir doch wie andere das Beste gewollt. Hier wie überall richtet der Erfolg. Haben wir gefehlt – ich habe schwer genug gebüßt! Und habe ich die Buße nicht auf mich genommen?“
Bei den letzten Worten versagte ihm fast die Stimme, so sehr überwältigte ihn die Erinnerung.
Eine große Pause trat ein. Ich wagte nicht, sie zu unterbrechen. Plötzlich sprang er auf, als wolle er die Erinnerung verscheuchen, und stand hochaufgerichtet vor mir.
„Denken Sie an meinen ‚Otto der Schütz‘ – als ich ihn veröffentlichte, wie jubelte da noch die Schaffensfreudigkeit in mir, wie freundlich nahm ihn das Volk auf, wie daseinsfroh stimmte mich selbst der Sang und sein Erfolg. Und nun? Ich habe wohl Besseres nach dem gedacht und geschrieben, aber – ich habe gleichen Erfolg nicht mehr erreicht. Mein politisches Schicksal, die Märtyrerrolle, das eigenthümliche Relief, welches mir das Geschick verlieh, das alles hat meine späteren Leistungen litterarisch in den Schatten gestellt! Durch den früheren Ruhm ist mein Alter weniger bedeutungsvoll geworden, als ich erstrebt und verdient hatte. Ja, man hat den ‚Alten‘ vielfach geliebt, und gar mancher hat ihn hochgestellt“ – er reichte mir die Hand über den Tisch – „aber man hat ihn viel zu früh zum Alten gemacht, und das Schicksal hat dazu redlich geholfen.
Komme ich jetzt im wirklichen Alter zum Rhein – o, ich mache keine Ausnahme, ich bin ein Menschenkind wie andere, habe Fleisch und Blut wie sie – dann taucht die Jugendzeit mächtig vor mir auf, dann seh’ ich den kleinen Pfarrgarten in Oberkassel allüberall vor meinem geistigen Auge – dann möchte ich manchmal nicht der sein, der ich bin, sondern der Kinkel jener Tage. Warum hat man mich nicht heimgerufen? Konnte ich mein Lehramt nicht im Vaterland üben? Ich weiß, nicht die Pfalz allein, nicht Siegburg, Bonn und Köln bloß, auch meine amerikanische Reise wurde mir verargt. Aber für erstere Unthaten hatte man mich doch freigesprochen! Und Amerika? – Kennt jemand die Sorgen und Mühen, die es kostet, im fremden Lande Weib und Kind zu erhalten? Mußte ich nicht doppelt für alles büßen? Ich las seinerzeit den Aufruf, den Sie mit Rittershaus’ Gedicht für unser nationales Denkmal in der ‚Gartenlaube‘ veröffentlichten. Wie soll ich Ihnen schildern, was ich damals bei der Durchsicht desselben empfand! Hätte ich mich öffentlich dazu geäußert, mein Freund, hätte das nicht ausgesehen wie ein pater peccavi, wie eine Abbitte! Stolz und Ueberzeugung kämpften in mir. Ja, ja, ich war trotzig mein lebenlang, und das steckt uns rheinischen Jungen wohl so im Blute – ich wiederhole – ich vermochte vielleicht den Rückweg nicht zu finden! Ich litt unter dem Banne der politischen Berühmtheit!
Aber – wie ich damals in Köln meinen Anklägern zurief so denke ich noch: Wenn Preußen eine starke und kühne Politik verfolgt, wenn es ihm gelingt, Deutschland in eins zu schmieden und groß und geachtet vor allen Nationen hinzustellen, wenn es ihm gelingt, innere Freiheit zu sichern, Handel und Wandel zu beleben, den Armen im Volke Brot zu schaffen, dann – bei meinem Eide, die Ehre und Größe meines Vaterlandes stehen mir höher als meine Ideale von Staat – – und weltlichen Einrichtungen!“
[243] Erschöpft setzte sich Kinkel und sah abermals eine Zeit lang vor sich hin. Mit seinen weichsten Tönen begann er dann wieder:
„Aber man hat es wohl vergessen, daß ich damals schon sagte: ‚Wenn das alles erreicht wird, und mein Volk erwiese mir nochmals die Ehre, mich zu seinem Vertreter zu wählen, ich würde einer der ersten Abgeordneten sein, die frohen Herzens riefen: ‚Es lebe das deutsche Kaiserthum, es lebe das Kaiserthum Hohenzollern!‘ Und jetzt ist es erfüllt, der ‚Alte‘ geht wohl bald zur Ruhe, sein Vaterlaud aber hat seiner nicht mehr bedurft! Es hat ihn beiseite stehen lassen, weil – weil er mit anderen Mitteln das erstrebte, was andere mit Blut und Eisen erreicht haben. Aber ich fühle mich deshalb nicht weniger Patriot als diese, ich habe gebüßt, weil ich vielleicht zu früh erstrebte, was bis heute das Ideal der ganzen Nation war.
Und nun, mein Freund, ein Glas auf unsern Rhein, auf Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze, auf ihn, der uns jetzt erst gewonnen ist für immer!“
Nochmals erhob er sich leuchtenden Auges, und hell stießen die Gläser zusammen.
„Habe ich mich doch einmal ausgesprochen – zürnen Sie mir nicht ob der Reminiscenzen eines alten Dichterkopfes!“ sagte er nun wieder mit seiner gewinnenden heiteren Miene. „Aber es giebt stille Stunden, vielleicht vorzugsweise im Alter, wo man die Welt anders anschaut als im vollen Lebensgetriebe. So eine Stunde ist heute über mich gekommen. Belächeln Sie mich nicht, beurtheilen Sie mich nicht falsch! Als ich gestern über den Rhein fuhr, streifte mein ganzes Leben an mir vorüber – – war’s ein verlorenes? – Und nun, Freund, gute Nacht! Gedenken Sie immer mit Liebe Ihres ‚Alten‘, der heute vielleicht zu redselig war! Gute Nacht!“ – –
Wir schieden! Ich habe ihn nicht wiedergesehen, denn er starb kaum sechs Monate darauf. Ich aber – voll des Eindrucks dieser merkwürdigen Stunde, fand, als ich um vier Uhr heimgekehrt war, den Schlaf nicht. Meiner Gewohnheit folgend, setzte ich mich an den Schreibtisch, und da fand mich noch der helle Tag – ich bannte fest auf das Papier, was ich soeben erlebt und erfahren. Schon früher, bald nach Kinkels Tode, wollte ich die wundersame Nacht in der „Gartenlaube“ schildern. Ich hielt es damals nicht für angebracht. Heute, nach vollen zehn Jahren und nachdem ich mit Freunden und Geistesgenossen des Dichters mich darüber ausgesprochen, mögen diese Mittheilungen eine klärende Erinnerung bieten an den Dichter, dessen Schicksal so tragisch zwischen ihm und seinem heißgeliebten Volke stand.