Eine Suggestion

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Autor: Gustav Meyrink
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Titel: Eine Suggestion
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aus: Orchideen, S. 58–66
Herausgeber:
Auflage: 8.–10. Tausend
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: o. J. [ca. 1905]
Verlag: Albert Langen
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Erscheinungsort: München
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Quelle: ngiyaw-eBooks, Commons
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[58]
Eine Suggestion

23. September.

So. – Jetzt bin ich fertig mit meinem System und sicher, daß kein Furchtgefühl in mir entstehen kann.

Die Geheimschrift kann niemand entziffern. Es ist doch gut, wenn man alles vorher genau überlegt und in möglichst vielen Gebieten auf der Höhe des Wissens steht. Das soll ein Tagebuch für mich sein, kein anderer als ich ist es zu lesen imstande, und ich kann jetzt gefahrlos niederschreiben, was ich zu meiner Selbstbeobachtung für nötig halte. – Verstecken allein genügt nicht, der Zufall bringt es an den Tag. –

Gerade die heimlichsten Verstecke sind die unsichersten. – Wie verkehrt alles ist, was man in der Kindheit lernt. – Ich aber habe mit den Jahren zu lernen verstanden, wie man den Dingen ins Innere sieht, und ich weiß ganz genau, was ich zu tun habe, damit auch nicht eine Spur von Furcht in mir erwachen kann.

Die einen sagen, es gibt ein Gewissen, die anderen leugnen es; – das ist dann beiden ein Problem und ein Anlaß zum Streite. – Und wie einfach doch die Wahrheit ist: Es gibt ein Gewissen und es gibt keines, je nachdem man daran glaubt. –

[59] Wenn ich an ein Gewissen in mir glaube, suggeriere ich es mir. Ganz natürlich.

Seltsam ist dabei nur, daß, wenn ich an ein Gewissen glaube, es dadurch nicht nur entsteht, sondern auch sich ganz selbständig meinem Wunsche und Willen entgegenzustellen vermag. – – –

Entgegenstellen! – Sonderbar! – Es stellt sich also das Ich, das ich mir einbilde, dem Ich gegenüber, mit dem ich es mir selbst geschaffen habe, und spielt dann eine recht unabhängige Rolle. – – –

Eigentlich scheint es aber auch in andern Dingen so zu sein. Z. B. schlägt manchmal mein Herz schneller, wenn man von dem Morde spricht, und ich stehe dabei und bin doch sicher, daß sie mir nie auf die Spur kommen können. Ich erschrecke nicht im geringsten in solchen Fällen, – ich weiß es ganz genau, denn ich beobachte mich zu scharf, als daß es mir entgehen könnte, und doch fühle ich mein Herz schneller schlagen. –

Die Idee mit dem Gewissen ist wirklich das Teuflischste, was je ein Priester erdacht. –

Wer wohl der erste war, der diesen Gedanken in die Welt brachte! – Ein Schuldiger? Kaum! Und ein Schuldloser? Ein sogenannter Gerechter? – Wie hätte der sich so in die Folgen einer solchen Idee hineindenken können?! –

Es kann nur so sein, daß irgend ein Alter es Kindern als Schreckgespenst dargestellt hat. – Mit dem Instinkt der drohenden Wehrlosigkeit des Alters gegenüber der keimenden brutalen Kraft der Jugend. –

Ich kann mich ganz gut erinnern, wie ich noch als großer Junge für möglich gehalten hätte, daß sich die Schemen der Erschlagenen an die Fersen des Mörders heften und ihm in Visionen erscheinen. – –

Mörder! – Wie listig schon wieder das Wort gewählt und gebaut ist. – Mörder! Es liegt ordentlich etwas Knirschendes drin. –

[60] Ich denke, der Buchstabe „Ö“ ist die Wurzel, aus der das Entsetzliche aus-klingt. – –

Wie einen die Menschen mit Suggestionen ordentlich umstellt haben!

Aber ich weiß schon, wie ich diese Gefahren entwerte. Tausendmal habe ich mir dieses Wort an einem Abend vorgesagt, bis es die Schrecklichkeit für mich verloren hat. – Jetzt ist es mir ein Wort wie jedes andere. – –

– – Ich kann mir ganz gut vorstellen, daß einen ungebildeten Mörder die Wahnideen, von den Toten verfolgt zu werden, in den Irrsinn hetzen, aber nur den, der nicht überlegt, nicht wägt, nicht vorausdenkt. – Wer ist denn heutzutage gewöhnt, in brechende Augen voll Todesangst kaltblütig hineinzuschauen, ohne ein inneres Leck davonzutragen oder in gurgelnde Kehlen den Fluch zurückzudrosseln, vor dem man sich heimlich ja doch fürchtet. – Kein Wunder, daß so ein Bild lebendig werden kann und dann eine Art Gewissen erzeugt, dem man schließlich erliegt. –

Wenn ich über mich nachdenke, muß ich bekennen, daß ich eigentlich geradezu genial vorgegangen bin. –

Zwei Menschen kurz hintereinander zu vergiften und dabei alle Spuren des Verdachtes zu verwischen, ist wohl schon Dümmeren, als ich bin, geglückt, aber die Schuld, das eigene Schuldgefühl zu ersticken, noch ehe es geboren, das – – – Ich glaube wirklich, ich bin der einzige – – –

Ja, wenn einer das Unglück hätte, allwissend zu sein, für den gäbe es schwerlich einen inneren Schutz: – so aber habe ich wohlweislich meine eigene Unwissenheit benützt und klug ein Gift gewählt, das eine Todesart erzeugt, deren Verlauf mir gänzlich unbekannt ist und auch bleiben soll. –

Morphium, Strychnin, Cyankali; – alle ihre Wirkungen kenne ich oder könnte ich mir vorstellen: Verrenkungen, Krämpfe, blitzartiges Niederstürzen, Schaum [61] vor dem Mund. – Aber Curarin! – Ich habe keine Ahnung, wie bei diesem Gift der Todeskampf aussehen mag, und wie sollte sich da eine Vorstellung in mir bilden können?! Darüber nachzulesen werde ich mich natürlich hüten, und zufällig oder unfreiwillig etwas darüber mit anhören zu müssen, ist ausgeschlossen. – Wer kennt denn heute überhaupt den Namen Curarin?!

Also! – Wenn ich mir nicht einmal ein Bild von den letzten Minuten meiner beiden Opfer (welch albernes Wort) machen kann, wie könnte mich ein solches je verfolgen? – Und sollte ich dennoch davon träumen, so kann ich mir beim Erwachen die Unhaltbarkeit einer solchen Suggestion direkt beweisen. Und welche Suggestion wäre stärker als ein solcher Beweis!

– – – – – – – – – – – –

26. September.

Merkwürdig, gerade heute nachts träumte ich, daß die beiden Toten links und rechts hinter mir hergehen. – Vielleicht, weil ich gestern die Idee vom Träumen niedergeschrieben habe!? –

Da gibt es jetzt nur zwei Wege, um solchen Traumbildern den Eintritt zu verrammeln:

Entweder fortwährend sich dieselben innerlich vorzuhalten, um sich daran zu gewöhnen, wie ich es mit dem dummen Wort „Mörder“ mache, oder zweitens diese Erinnerung ganz auszureißen aus dem Gedächtnisse. –

Das erstere? – Hm. – – Das Bild war zu scheußlich! – – Ich wähle den zweiten Weg. –

Also: „Ich will nicht mehr daran denken! – Ich will nicht! Ich will nicht, nicht, nicht mehr daran denken! – Hörst Du! – Du sollst gar nicht mehr daran denken! –“

Eigentlich ist diese Form: „Du sollst nicht usw.“ recht unüberlegt, wie ich jetzt bemerke, man soll sich nicht mit „Du“ anreden, – dadurch zerlegt man sozusagen sein Ich in zwei Teile: in ein Ich und ein Du, und das könnte mit der Zeit verhängnisvolle Wirkungen haben! –

– – – – – – – – – – – –

[62] 5. Oktober.

Wenn ich das Wesen der Suggestion nicht so genau studiert hätte, könnte ich wirklich recht nervös werden: Heute war es die achte Nacht, daß ich jedesmal von demselben Bilde geträumt habe. – Immer die zwei hinter mir her, auf Schritt und Tritt. – – Ich werde heute abends unter die Leute gehen und etwas mehr als sonst trinken. –

Am liebsten ginge ich ins Theater, – aber natürlich gerade heute ist „Macbeth“. – – – – – –

– – – – – – – – – – – –

7. Oktober.

Man lernt doch nie aus. – Jetzt weiß ich, warum ich so hartnäckig davon träumen mußte. – Paracelsus sagt ausdrücklich, daß man, um beständig lebhaft zu träumen, nichts anderes zu tun brauche, als ein- oder zweimal seine Träume niederzuschreiben. Das werde ich aber nächstens gründlich bleiben lassen.

Ob das so ein moderner Gelehrter wüßte. Aber auf den Paracelsus schimpfen, das können sie.

– – – – – – – – – – – –

13. Oktober.

Ich muß mir heute genau aufschreiben, was passiert ist, damit nicht in meiner Erinnerung etwa Dinge dazuwachsen, die gar nicht geschehen sind. – –

Seit einiger Zeit hatte ich das Gefühl, – die Träume bin ich Gott sei dank los – als ob stets jemand links hinter mir ginge. –

Ich hätte mich natürlich umdrehen können, um mich von der Sinnestäuschung zu überzeugen, – das wäre aber ein großer Fehler gewesen, denn schon dadurch hätte ich mir selbst gegenüber heimlich zugegeben, daß die Möglichkeit von etwas Wirklichem überhaupt vorhanden sein könne. – Das hielt so einige Tage an. – Ich blieb gespannt auf meiner Hut. –

Wie ich nun heute früh an meinen Frühstückstisch [63] trete, habe ich wieder dieses lästige Gefühl, und plötzlich höre ich ein knirschendes Geräusch hinter mir. – Ehe ich mich fassen konnte, hatte mich der Schrecken übermannt, und ich war herumgefahren. – Einen Augenblick sah ich ganz deutlich mit wachen Augen den toten Richard Erben, grau in grau, – dann huschte das Phantom blitzschnell wieder hinter mich, – aber doch nicht mehr so weit, daß ich es nur wie vorher bloß ahnen kann. – Wenn ich mich ganz grad richte und die Augen stark nach links wende, kann ich seine Konturen sehen, sowie im Augenschimmer; – drehe ich aber den Kopf, so weicht die Gestalt im selben Maß zurück. –

Es ist mir ja ganz klar, daß das Geräusch nur von der alten Aufwärterin verursacht sein konnte, die keinen Augenblick still ist und sich immer an den Türen herumdrückt. –

Sie darf mir von jetzt ab nur mehr in die Wohnung, wenn ich nicht zu Haus bin. Ich will überhaupt keinen Menschen mehr in die Nähe haben. – –

Wie mir das Haar zu Berge stand! – ich denke mir, daß das davon kommt, daß sich einem die Kopfhaut zusammenzieht. – –

Und das Phantom?: Die erste Empfindung war ein Nachwehen aus den früheren Träumen, – ganz einfach –; und das Sichtbarwerden entstand ruckweise durch den plötzlichen Schrecken. – Schrecken, Furcht, Haß, Liebe sind lauter Kräfte, die das Ich zerteilen und daher die eigenen sonst ganz unbewußten Gedanken sichtbar machen können, daß sie sich im Wahrnehmungsvermögen wie in einem Reflektor spiegeln. –

Ich darf jetzt längere Zeit gar nicht unter Leute und muß mich scharf beobachten, denn das geht so nicht mehr weiter. –

Unangenehm ist, daß all das gerade auf den dreizehnten des Monats fallen muß. – Ich hätte wirklich gegen das alberne Vorurteil mit dem dreizehnten, das eben auch in mir zu stecken scheint, von allem Anfange an [64] energisch kämpfen sollen. – Übrigens, was liegt an diesem unwichtigen Umstande. – – – – – –

– – – – – – – – – – – –

20. Oktober.

Am liebsten hätte ich meine Koffer gepackt und wäre in eine andere Stadt gefahren. –

Schon wieder hat sich die Alte an der Tür zu schaffen gemacht. –

Wieder dieses Geräusch, – diesmal rechts hinter mir. – Derselbe Vorgang wie neulich. – Jetzt sehe ich rechts meinen vergifteten Onkel, und wenn ich das Kinn auf die Brust drücke, – so quasi auf meine Schultern schiele, – alle beide links und rechts. –

Die Beine kann ich nicht sehen. Es scheint mir übrigens, als ob die Gestalt des Richard Erben jetzt mehr hervorgetreten, – näher zu mir gekommen wäre. –

Die Alte muß mir aus dem Hause, – das wird mir immer verdächtiger, – aber ich werde noch einige Wochen ein freundliches Gesicht machen, – damit sie nicht Mißtrauen schöpft. –

Auch das Übersiedeln muß ich noch hinausschieben, es würde den Leuten auffallen, und man kann nicht vorsichtig genug sein. –

Morgen will ich wieder das Wort „Mörder“ ein paar Stunden lang üben, es fängt an, unangenehm auf mich zu wirken, – um mich wieder an den Klang gewöhnen. – – –

Eine merkwürdige Entdeckung habe ich heute gemacht: ich habe mich im Spiegel beobachtet und gesehen, daß ich beim Gehen mehr mit dem Ballen auftrete als früher und daher ein leichtes Schwanken spüre. – Die Redensart vom „festen Auftreten“ scheint einen tiefen, inneren Sinn zu haben, wie überhaupt in den Worten ein psychologisches Geheimnis zu stecken scheint. – Ich werde darauf achten, daß ich wieder mehr auf den Fersen gehe. –

Gott, wenn ich nur nicht immer über Nacht die [65] Hälfte von dem vergäße, was ich mir tagsüber vornehme. – Rein, als ob der Schlaf alles verwischen würde.

– – – – – – – – – – – –

1. November.

Letztesmal habe ich doch absichtlich nichts über das zweite Phantom niedergeschrieben, und doch verschwindet es nicht. – Gräßlich, gräßlich. – Gibt es denn keinen Widerstand? –

Ich habe doch einmal ganz klar unterschieden, daß es zwei Wege gibt, um mich aus der Sphäre solcher Bilder zu rücken. – Ich habe doch den zweiten eingeschlagen und bin dabei immerwährend auf dem ersten! –

War ich denn damals sinnesverwirrt? –

Sind die beiden Gestalten Spaltungen meines Ichs oder haben sie ihr eigenes unabhängiges Leben?

– – – Nein, nein! – Dann würde ich sie ja füttern mit meinem eigenen Leben! – – – – – Also sind es doch wirkliche Wesen! – Grauenhaft! – Aber nein, ich betrachte sie doch nur als selbständige Wesen, und was man als Wirklichkeit betrachtet, das ist – das ist – – – Herrgott, barmherziger, ich schreibe ja nicht, wie man sonst schreibt. – Ich schreibe ja, als ob mir jemand diktieren würde. – – – – Das muß von der Geheimschrift kommen, die ich immer erst übersetzen muß, ehe ich sie fließend lesen kann. –

Morgen schreibe ich das ganze Buch noch einmal kurrent ab. – Herrgott, steh mir bei in dieser langen Nacht. – – – – – – –

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10. November.

Es sind wirkliche Wesen, sie haben mir im Traum ihren Todeskampf erzählt. – Jesus schütze mich, – ja – Jesus, Jesus! – Sie wollen mich erdrosseln! – Ich habe nachgelesen; – es war die Wahrheit, – Curarin [66] wirkt so, genau so. – Woher wüßten sie es, wenn sie nur Scheinwesen wären. – – –

Gott im Himmel, – warum hast du mir nie gesagt, daß man nach dem Tode weiterlebt, – ich hätte ja keinen ermordet.

Warum hast du dich mir nicht mir als Kind geoffenbart? – – –

– – – Ich schreibe schon wieder so, wie man spricht; und ich will nicht.

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12. November.

Ich sehe wieder klar, jetzt, wo ich das ganze Buch abgeschrieben habe. – Ich bin krank. Da hilft nur kalter Mut und klares Wissen. –

Für morgen früh habe ich mir den Dr. Wetterstrand bestellt, der muß mir genau sagen, wo der Fehler lag. – Ich werde ihm alles haarklein berichten, er wird mir ruhig zuhören und das über Suggestion verraten, was ich noch nicht weiß. –

Er kann im ersten Augenblick unmöglich für wahr halten, daß ich wirklich gemordet habe, – er wird glauben, ich sei bloß wahnsinnig. –

Und daß er es sich zu Hause nicht mehr überlegt, dafür werde ich sorgen: – – Ein Gläschen Wein!!!

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13. November.

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