Entstehung und Untergang der Staaten

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Autor: Siegfried Brie
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Titel: Entstehung und Untergang der Staaten
Untertitel:
aus: Handbuch der Politik Erster Band: Die Grundlagen der Politik, Zweites Hauptstück: Der Staat, Abschnitt 7, S. 66−73
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
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[66]
7. Abschnitt.


Entstehung und Untergang der Staaten.
Von
Geh. Justizrat Dr. S. Brie,
o. Professor der Rechte an der Universität Breslau.

I. Allgemeines. II. Tatsächliche Entstehung von Staaten. III. Tatsächlicher Untergang von Staaten. IV. Rechtliche Entstehung von Staaten. V. Rechtlicher Untergang von Staaten.

Literatur:

Hugo Grotius, De iure belli ac pacis, Lib. II cap. 9 (Quando imperia vel dominia desinant); vgl. Lib. III cap. 8 (De imperio in victos).
Robert von Mohl, Encyklopädie der Staatswissenschaften, § 13 (S. 84–97): Von der Entstehung der Staaten; vgl. § 22 (S. 158–169): Von Änderung und Untergang der Staaten.
Bluntschli, Lehre vom modernen Staat. Erster Teil, Allgemeine Staatslehre (1875), Viertes Buch (S. 298–344): Von der Entstehung und dem Untergang des Staates.
Rehm. Allgemeine Staatslehre, Zehnter Abschnitt (S. 266–285): Entstehung und Entwickelung des Staates.
Jellinek. Das Recht des modernen Staates. Band 1, Allgemeine Staatslehre (1900), Neuntes Kapitel (S. 239–258): Entstehung und Untergang der Staaten; vgl. Siebentes Kapitel (S. 162–204): Die Lehre von der Rechtfertigung des Staates.
Richard Schmidt, Allgemeine Staatslehre. Bd. 1 §§ 14–16 (S. 116–145); vgl. Bd. 2 Teil 1 und 2: Die verschiedenen Formen der Staatsbildung.
Eduard Meyer, Geschichte des Altertums, Erster Band, erste Hälfte, 3. Aufl. 1910, I (S. 3–86): Die staatliche und soziale Entwicklung (bes. §§ 2–13, S. 5–35).

I. Allgemeines.[Bearbeiten]

1. Der Mensch ist seiner Natur nach ein ζῶον πολιτικόν, ein staatliches Wesen : das staatliche Zusammenleben ist für die Menschen ein allgemeines vernünftiges Bedürfnis, und ein ihnen innewohnender Trieb führt, unbewusst oder bewusst, zur Befriedigung dieses Bedürfnisses. Die konkreten Gestaltungen aber, in denen dieses Bedürfnis und dieser Trieb sich verwirklichen, unterliegen nicht nur nach ihrer Beschaffenheit, sondern auch in ihrem Dasein dem Wechsel im Laufe der Zeit. Von der Entstehung eines Staates sprechen wir, wenn zwischen einer Gruppe von Menschen dem Staatsbegriff gemässe Beziehungen sich bilden; ein Staat ist untergegangen, wenn solche bisher zwischen einer Gruppe von Menschen vorhandene Beziehungen aufgehört haben zu bestehen.

2. Die Beantwortung der Frage, ob im einzelnen Falle ein neuer Staat entstanden oder ein bisheriger Staat untergegangen ist, bietet grosse Schwierigkeiten nach verschiedenen Richtungen. Zunächst ist eine sichere Feststellung der äusseren Vorgänge, um deren Charakterisierung es sich handelt, selbst wenn diese sich im Lichte der Geschichte vollzogen haben, vielfach schwierig; in betreff der Entstehung der ältesten Staaten sind wir sogar auf blosse Hypothesen angewiesen. Sodann führen die überaus verschiedenen Auffassungen des Staatsbegriffs, vor allem die weit auseinandergehenden theoretischen Ansichten über das den Staat von den übrigen menschlichen Verbänden unterscheidende spezifische Merkmal, häufig zu entgegengesetzten Entscheidungen der Frage, ob in dem konkreten Falle ein Staat entstanden bezw. untergegangen ist. Wer etwa das Vorhandensein eines Gebiets nicht als wesentliches Erfordernis des Staatsbegriffs anerkennt, wird die Bildung eines Staats als vollendet, einen bisherigen Staat als fortdauernd ansehen, wo wegen mangelnden Gebietes die vorherrschende Lehre zu der gegenteiligen Auffassung führt. Je nachdem man Souveränität oder Ursprünglichkeit der Herrschaft oder allseitige Zuständigkeit für das eigentümliche Moment des Staatsbegriffs erachtet, gelangt man naturgemäss zu sehr verschiedenen Ergebnissen hinsichtlich des Staatscharakters zahlreicher konkreter Gebilde, z. B. der deutschen Einzelstaaten, der britischen Charterkolonien. Dazu kommt die schwierige Frage, wie weit Abweichungen von einem begriffsmässigen Erfordernis des Staatsbegriffs [67] die Auffassung und Bezeichnung eines konkreten Gebildes als Staat gestatten oder hindern. Wenn wir z. B. im Einklang mit der jetzt herrschenden Theorie den Staat als ein Gemeinwesen, als eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, betrachten, schliesst dann eine mehr oder weniger privatrechtliche oder anstaltliche Gestaltung des betreffenden Verbandes seine Charakterisierung als Staat aus ? Endlich, auch wenn keine begrifflichen Momente in Frage kommen, ist es oft schwer zu entscheiden, ob ein bisher bestehender Staat durch geschichtliche Veränderungen insbesondere seiner Zusammensetzung seine Individualität verloren hat, also untergegangen ist und (möglicherweise) ein neuer Staat an seine Stelle getreten ist. Hat z. B. die Union Englands und Schottlands den Untergang dieser beiden Staaten, die Entstehung eines neuen Staates Grossbritannien bewirkt oder hat dadurch zwar Schottland seine staatliche Sonderexistenz verloren, der englische Staat aber nur eine Vergrösserung erhalten? Ist das jetzige Deutsche Reich nur eine erweiterte Fortsetzung des Norddeutschen Bundes, oder ist es als dessen Rechtsnachfolger, also als ein von ihm verschiedenes neues Gemeinwesen zu betrachten ? (Vgl. unten II 4 g.)

3. Wenn man den Staat als Körperschaft auffasst, ihm eine Persönlichkeit zuschreibt, so liegt darin die Annahme, dass der Begriff des Staates ein juristischer Begriff ist, dass dem einzelnen Staate nicht nur eine tatsächliche, sondern auch eine rechtliche Existenz zukommt. Nun ist es aber möglich und kommt geschichtlich häufig vor, dass, wie in zahlreichen anderen Beziehungen des menschlichen Zusammenlebens, so auch hinsichtlich des Vorhandenseins eines staatlichen Verbandes für eine konkrete Menschengruppe tatsächliche Erscheinung und Recht nicht zusammenfallen. Eine nicht juristische Betrachtungsweise kann, indem sie von dem rechtlichen Moment absieht, die tatsächliche Entstehung eines Staates annehmen, auch wenn eine Neubildung nur die übrigen begrifflichen Erfordernisse eines Staates erfüllt. Von dem gleichen Gesichtspunkt aus kann man einen Staat als tatsächlich untergegangen auch dann ansehen, wenn die bisherigen staatlichen Beziehungen zwischen einer konkreten Menschengruppe zwar rechtlich noch fortdauern, aber im übrigen aufgehoben sind. Freilich fallen diese Unterscheidungen für diejenigen Theorien hinweg, welche in der tatsächlichen Existenz eines Staates zugleich seinen Rechtsgrund erblicken oder welche Entstehung und Untergang der Staaten als der juristischen Qualifizierung entzogen betrachten (vgl. unten IV 1 und 2 b).

Wir werden im Folgenden zunächst die tatsächliche Entstehung, dann den tatsächlichen Untergang von Staaten ohne Rücksicht auf die rechtliche Qualifizierung der betreffenden Vorgänge behandeln; hieran wird sich die Erörterung der Wege reihen, auf denen Staaten rechtlich zur Entstehung gelangen oder untergehen.

II. Tatsächliche Entstehung von Staaten.[Bearbeiten]

1. Staaten entstehen tatsächlich in sehr verschiedener Weise. Wie die Geschichte zeigt, erwachsen sie entweder allmählich oder werden absichtlich gegründet. In beiden Fällen aber findet bald eine primäre, bald eine sekundäre Entstehung statt; entweder geht der neue Staat aus einem schon bestehenden Staate bezw. mehreren schon bestehenden Staaten hervor oder er bildet sich ohne eine solche Grundlage. Nach dem letzteren Gesichtspunkte unterscheiden wir ursprüngliche (originäre) und abgeleitete (derivative) Entstehungsarten.

2. Die ältesten Staaten können nur auf ursprünglichem Wege entstanden sein. Die Annahme der früheren naturrechtlichen Theorie jedoch, dass sie durch freiwillige Vereinigung bisher vereinzelt lebender Menschen gebildet worden seien, muss als unrichtig betrachtet werden, weil es niemals einen Naturzustand gegeben hat, in dem die Menschen völlig isoliert lebten, diese vielmehr immer schon durch ihre Geburt einer natürlichen Gemeinschaft wenigstens von der Mutterseite her angehörten. Andererseits wird man der neuerdings hervorgetretenen Ansicht, dass der Staat vormenschlichen Ursprungs sei, indem schon die Vorfahren der ältesten Menschen in Horden ein staatliches Zusammenleben geführt hätten, wenigstens so lange für eine willkürliche Hypothese halten müssen, als wir über den Ursprung des Menschen keine sicherere Kunde besitzen. Am wahrscheinlichsten ist in der auf gemeinsamer Abstammung beruhenden erweiterten Familie, der Sippe [68] (dem Geschlecht), mag diese nun mutter- oder vaterrechtlicher Art gewesen sein, der Keim der ältesten Staaten zu erblicken; hinzukommen aber musste eine gewisse Sesshaftigkeit, wie sie allerdings auch schon den mit ihrem Vieh innerhalb bestimmter Grenzen umherziehenden Nomaden eignet, und eine solche scheint erst eingetreten zu sein mit oder nach der Vereinigung verschiedener Sippen zu einem grösseren Stammes-Verbande. Diese Vereinigung wird bald eine freiwillige, bald eine gewaltsame gewesen sein. Ganz zurückzuweisen aber ist die Annahme, dass nur durch gewaltsame Unterwerfung einer (bereits ansässigen) Bevölkerung von selten stammfremder Eroberer Staaten ursprünglich entstanden seien und hätten entstehen können.

3. Auch in historischen Zeiten und für schon staatsangehörige Menschen ist eine ursprüngliche Entstehung neuer Staaten nicht ausgeschlossen.

a) Sehr bestritten ist freilich, ob Staaten überhaupt durch freiwilligen Zusammentritt von Individuen entstehen können und ob geschichtliche Beispiele dieser Entstehungsart sich nachweisen lassen. Die Möglichkeit solcher Entstehung wird keinenfalls in Abrede zu stellen sein, wenn man von der Frage der rechtlichen Wertung eines solchen Aktes absieht; wir werden zudem dartun (unten IV 2 c und 3), dass dieser auch rechtlich imstande ist, einen Staat zu gründen; hinzukommen muss freilich die Gewinnung eines Gebietes. Der meist erörterte, allerdings in seiner Bedeutung für die Streitfrage vielfach angezweifelte geschichtliche Fall einer solchen Staatsgründung ist der berühmte Vertrag, den puritanische Auswanderer aus England 1620 an Bord der Mayflower schlossen. Weder die fortdauernde englische Staatsangehörigkeit der Vertragschliessenden noch die Zugehörigkeit des von ihnen in Besitz genommenen Gebietes zum englischen Staate kann als ein Hindernis für die Annahme, dass das von ihnen gegründete Gemeinwesen ein – der englischen Staatsgewalt untergeordneter – Staat gewesen sei, gelten; dagegen erscheint es als sehr zweifelhaft, ob der Vorgang als ursprüngliche Entstehung eines Staats anzusehen ist. Bei der Gründung des Staates Kalifornien im Jahre 1849, die gleichfalls als typisches Beispiel der hier in Frage stehenden Entstehung eines Staates geltend gemacht worden ist, kommt gegen diese Auffassung noch besonders in Betracht, dass die Berufung einer von den Einwohnern gewählten konstituierenden Versammlung und die Vorlegung der von dieser beschlossenen Verfassung an die Bevölkerung im Auftrage der Vereinigten Staaten, denen das betreffende Gebiet schon gehörte, stattfand.

b) Häufig hat sich ein Staat in geschichtlicher Zeit entwickelt aus einem engern organisierten, genossenschaftlichen oder herrschaftlichen Verbande, indem, sei es bewusst oder unbewusst, die Zwecke der Gemeinschaft und der Kreis der ihr unterworfenen Angelegenheiten sich erweiterten bezw. neben den Interessen des Herrschenden die der Beherrschten Berücksichtigung fanden, und indem auch die Herrschaft über ein Territorium, soweit sie noch fehlte, erworben wurde. Die fortdauernde Unterordnung unter eine höhere Staatsgewalt schliesst eine solche Umwandlung eines nicht staatlichen Verbandes in einen Staat richtiger Ansicht nach nicht aus. So haben sich im Mittelalter vielfach städtische Gemeinden zu Stadtstaaten ausgebildet; als der entscheidende Punkt in dieser Entwickelung muss die Vereinigung der gesamten öffentlichen Gewalt innerhalb der Stadt in den Händen von Organen des städtischen Gemeinwesens angesehen werden. Nicht selten haben auch Religionsgemeinschaften zugleich den Charakter von Staaten angenommen oder gleichsam einen Staat aus sich hervorgebracht. Beispiele der ersteren Art bieten der Mormonenstaat in Utah; das Chalifenreich, allerdings mit Hilfe von Eroberung; annähernd auch die katholische Kirche in der Höhezeit ihrer mittelalterlichen Machtstellung. Als Beispiele der zweiten Art können der Kirchenstaat, der Staat des deutschen Ordens in Preussen und der Jesuitenstaat in Paraguay angeführt werden, wenn auch im ersten Fall Verleihung staatlicher Hoheitsrechte durch den Träger der weltlichen Gewalt, im zweiten Fall kriegerische, im dritten Fall friedliche Unterwerfung mitgewirkt hat. In einer den letzterwähnten Fällen ähnlichen Weise haben auch Kolonial- und Handelsgesellschaften zur Entstehung von Staaten auf den von ihnen besiedelten oder unterworfenen Gebieten geführt; als Beispiele mögen der Negerstaat Liberia und der Kongostaat genannt werden. Aus privaten Grundherrschaften, freilich unter Mitwirkung der Übertragung öffentlichrechtlicher [69] Befugnisse, sind in Deutschland die landesherrlichen Territorien erwachsen, die dann allmählich seit Ausgang des Mittelalters den Charakter wirklicher Staaten annahmen.

Bei solchen aus engeren Verbänden hervorgegangenen Staaten ist es regelmässig schwer festzustellen, wann die Staatsbildung als vollendet anzusehen ist, und auch nach vollendeter Entstehung pflegen die so entstandenen Staaten noch längere Zeit in ihren Einrichtungen und in ihrem Leben tiefgreifende Nachwirkungen ihres Ursprungs zu bewahren.

4. Sehr mannigfach sind die Arten der tatsächlichen Entstehung eines neuen Staates aus einem schon vorhandenen Staate oder mehreren schon vorhandenen Staaten, und für die meisten dieser Entstehungsarten liegen zahlreiche geschichtliche Beispiele vor. Hierher gehörige Entstehungsarten sind: Gliederung bezw. Kolonisation; Teilung; Lossagung; Eroberung; Konföderation; Union im engeren Sinne.

a) Von der Entstehung eines Staates durch Gliederung sprechen wir, wenn von einer bestehenden Staatsgewalt aus einem Teil des Volkes und Landes ein neuer Staat geschaffen wird, der dann regelmässig dem alten Staate untergeordnet sein soll. So hat die Türkei 1878, allerdings infolge kriegerischen Zwanges, den Vasallenstaat Bulgarien in das Leben gerufen; so ist Elsass-Lothringen auf dem Wege, von der deutschen Reichsgewalt aus einer Provinz des Reiches zu einem Einzelstaate desselben gemacht zu werden; so hat der brasilianische Staat 1889 nach Abschaffung der Monarchie seine bisherigen Provinzen in Gliedstaaten umgewandelt. Fortdauernd geht in Nordamerika die Erhebung von Territorien zu Staaten durch einen Willensakt der Unionsgewalt vor sich; allerdings wird auch die Bevölkerung des Territoriums bei dieser Staatsgründung beteiligt.

b) Nahe verwandt mit der Entstehung von neuen Staaten durch Gliederung ist diejenige durch Kolonisation. Die Kolonisation als Ansiedelung eines Volksteils in einem bisher von diesem Volke nicht bewohnten Lande führt allerdings, auch wenn sie von dem betreffenden Staate geleitet bezw. geschützt wird, in den meisten Fällen wenigstens nicht unmittelbar zur Errichtung eines neuen Staates. Die von den alten hellenischen Staaten entsandten Kolonien aber erhielten von vorneherein den Charakter besonderer, sogar vom Mutterstaat rechtlich völlig unabhängiger Staaten.

c) Durch Teilung entstehen Staaten, indem an Stelle eines bisherigen Staatsverbandes, regelmässig kraft des Willens desselben, eine Mehrzahl von neuen Staaten tritt. So hat sich die Teilung des römischen Reiches in ein west- und ein oströmisches Reich, die des fränkischen Reichs, allerdings unter Mitwirkung kriegerischer Vorgänge, nach dem Tode Ludwigs des Frommen in drei verschiedene Staaten vollzogen. Besonders häufig kommen Erbteilungen deutscher Territorien, die freilich noch nicht zu Staaten in vollem Sinne erwachsen waren, im späteren Mittelalter und im Beginn der Neuzeit vor.

d) Die Lossagung, d. h. die einseitige Abtrennung eines räumlich zusammenwohnenden Volksteils mit dem betreffenden Gebiete von dem Staate, zu dem er bisher gehörte, führt möglicherweise nur zur Vergrösserung eines anderen schon bestehenden Staates. Meist aber geschieht sie zu dem Zwecke und mit dem Erfolge der Bildung eines neuen besonderen Staates. Auf diesem Wege sind, um nur Beispiele aus der neueren Zeit anzuführen, die Königreiche Belgien und Griechenland sowie sehr zahlreiche neue Staaten in Nord-, Mittel- und Südamerika entstanden.

e) Die Eroberung, d. h. die dauernde Unterwerfung eines Volks oder eines grösseren Volksteils mit dem von ihm bewohnten Gebiete durch Anwendung kriegerischer Gewalt von selten eines anderen Volkes, hat häufig nur eine Vergrösserung des siegreichen Staates zur Folge. Nicht selten aber errichtet dieser in dem neu erworbenen Lande einen neuen Staat, sei es nur oder wesentlich nur aus der unterworfenen bisherigen Bevölkerung, sei es mit Einschluss des siegreichen Volkes oder zahlreicher Angehörigen desselben, die auf dem gleichen Gebiete sich dauernd niederlassen. Geschichtliche Beispiele der letzteren Art geben die von zahlreichen west- und ostgermanischen Völkern auf römischem Boden errichteten sowie die später von den Normannen in der Normandie, in England, in Unteritalien und Sizilien gegründeten Staaten. Als geschichtliche Beispiele der [70] ersteren Art können die von Napoleon I. geschaffenen Staaten, wie das Königreich Westphalen, das Herzogtum Warschau, angeführt werden; in gleicher Weise hat der russische Kaiser Alexander I. aus dem eroberten Finnland und dessen Bevölkerung einen neuen, wenn auch mit dem russischen Reich dauernd verbundenen, Staat gebildet.

f) Durch Konföderation, d. h. freiwillige Vereinigung mehrerer Staaten zu einem höheren Gemeinwesen ohne Aufgeben ihrer staatlichen Individualität, entsteht dann, aber auch nur dann ein Staat, wenn das neue Gebilde nicht den Charakter eines Staatenbundes, sondern den eines Bundesstaates trägt, also Bund und Staat zugleich ist. In dieser Weise ist insbesondere der Norddeutsche Bund (Bundesstaat) 1866/67 durch Zusammentritt der norddeutschen Staaten entstanden. Aber auch der schweizerische und der nordamerikanische Bundesstaat haben den gleichen Ursprung, wenngleich derselbe in diesen beiden Fällen weniger deutlich und sicher hervortritt.

g) Auch die Union im engeren Sinne des Wortes, d. h. die freiwillige Vereinigung mehrerer Staaten zu einem Staate mit Aufgeben der bisherigen Individualität wenigstens eines der beteiligten Staaten, bringt nicht immer, aber doch möglicherweise einen neuen Staat hervor. Für die Beantwortung der Frage, ob diese Wirkung oder nur die Vergrösserung eines schon bestehenden Staates eintritt, wird es in Ermanglung anderer zwingender Gründe vor allem auf die relative Grösse der Bevölkerungen und der Gebiete der beteiligten Staaten ankommen. Unzweifelhaft hat der Anschluss der Fürstentümer Hohenzollern an das Königreich Preussen 1849/50 nur eine Vergrösserung des letzteren Staates bewirkt. Aber aus dem eben angeführten Gesichtspunkt wird man auch die sogen. Union Schottlands mit England ebenso wie die spätere Irlands mit Grossbritannien nicht als Schaffung eines neuen Staates zu betrachten haben, ebenso wenig den Anschluss der süddeutschen Staaten an den Norddeutschen Bund; dagegen wird es richtiger sein, das Königreich Italien als einen neuen Staat, nicht als eine blosse Erweiterung des Königreichs Sardinien, obgleich es dessen Verfassung unverändert übernommen hat, aufzufassen.

Auch durch allmähliche Verschmelzung kann eine Mehrzahl von Staaten zu einem Staat zusammenwachsen. So haben sich der brandenburgisch-preussische Staat und der österreichische Staat aus einer grösseren Zahl unter demselben Landesherrn stehender wenigstens staatsähnlicher Territorien gebildet.

III. Tatsächlicher Untergang von Staaten.[Bearbeiten]

1. Von den antiken Schriftstellern wird der Staat nicht selten als unsterblich bezeichnet. Dieser Ausspruch ist insofern berechtigt, als das Zusammenleben in Staaten einen notwendigen Ausfluss der menschlichen Natur bildet. Auf die einzelnen konkreten Staaten bezogen scheint er zunächst durch die geschichtliche Erfahrung gänzlich widerlegt zu werden, denn, wie ein neuerer Schriftsteller mit Recht hervorgehoben hat, die Erde ist überdeckt mit den Trümmern untergegangener Staaten. Trotzdem kommt jener Anschauung auch hinsichtlich der geschichtlichen Staaten eine gewisse Wahrheit zu. Der einzelne Staat setzt sich von vornherein keine zeitliche Grenze und erstrebt auch später regelmässig in erster Linie seine Selbsterhaltung. Er kann ferner mannigfache und tiefgehende Veränderungen überdauern und muss solche überdauern können, weil seine Aufgaben nur durch längere zusammenhängende Tätigkeit unter vielfach wechselnden Umständen einigermassen erfüllt werden können. Insbesondere wird seine Existenz, entgegen Aristoteles’ Auffassung, nicht berührt durch einen Wechsel der Staatsform, denn ein solcher setzt vielmehr gerade die Fortdauer derselben Staatsindividualität voraus. Ebensowenig geht der konkrete Staat unter durch den unaufhörlichen Wechsel der einzelnen Mitglieder, die vor allem eine natürliche Folge der Geburten, Heiraten und Todesfälle ist und heutzutage auch in erheblichem Umfange durch Naturalisation und Ausbürgerung stattfindet. Aber auch nicht durch jeden friedlich oder gewaltsam auf einmal erfolgenden Verlust eines grösseren Volksteils und des von demselben bewohnten Gebietes oder durch jeden auf einmal erfolgenden bedeutenden Zuwachs an Volk und Land verliert ein Staat seine Individualität. So ist Preussen 1807, obgleich es ungefähr die Hälfte seiner Bevölkerung und seines Gebietes durch den Tilsiter Frieden verlor, derselbe Staat geblieben, besonders weil der Verlust [71] sich nicht auf die historischpolitisch als Kernlande des Staats zu betrachtenden Gebietsteile erstreckte; ebensowenig haben die Einverleibungen von 1866 die Individualität des preussischen Staates aufgehoben.

2. Den tatsächlichen Untergang eines Staates bewirken daher nur Vorgänge, welche seine bisherige Zusammensetzung völlig aufheben oder in überwiegendem Masse ändern. Hierher gehören insbesondere folgende Fälle:

a) Durch Vernichtung oder völlige Zerstreuung des Volks, wie sie im Altertum z. B. bei der Zerstörung von Tyrus, Sagunt, Karthago erfolgte, geht der betreffende Staat unter. Die gleiche Wirkung wird dem – nicht leicht praktisch werdenden – Untergang des Staatsgebietes zukommen. Aber auch durch ein völliges Aufgeben des bisherigen Gebietes geht der bisherige Staat unter. Dasselbe Volk auf einem ganz neuen Gebiete wird einen neuen Staat bilden.

b) Durch die Teilung eines Staates in mehrere Staaten (oben II 4 c) erlischt der erstere, auch wenn ein gewisser Zusammenhang zwischen den mehreren neuen Staaten fortbesteht. Gleiche Wirkung hat die Verteilung von Volk und Gebiet eines Staates unter mehrere schon bestehende Staaten; insofern dieser Vorgang, wie bei dem Untergang des polnischen Staates, ein gewaltsamer ist, findet ein Zusammenwirken von Eroberung und Teilung statt. Ein aus mehreren Staaten zusammengesetzter Staat geht auch unter, wenn die letzteren sich sämtlich von der Unterordnung unter die Zentralgewalt frei machen bezw. diese aufhört zu fungieren; in solcher Weise hat insbesondere die Auflösung des alten deutschen Reichs 1806 stattgefunden.

c) Infolge von Eroberung (oben II 4 e) geht ein Staat unter, wenn das ganze Volk mit seinem Gebiete in den siegreichen Staat einverleibt oder für die Errichtung eines neuen Staats verwendet wird (so z. B. das Kurfürstentum Hessen 1866 durch Einverleibung in Preussen; dasselbe – wenn auch nicht endgültig – 1807 durch Einfügung in das neu gegründete Königreich Westphalen).

d) Durch freiwillige Vereinigung mit einem anderen Staat (oben II 4 g) verliert ein Staat seine Existenz, wenn dadurch nur der erstere vergrössert oder ein neuer Staat gegründet wird.

Ein Staat würde auch erlöschen durch Anarchie, d. h. wenn die Angehörigen aufhören würden, in dem bisherigen Staatsverband zu leben, ohne dass für sie ein neuer an die Stelle träte; jedoch wird ein solcher Vorgang höchstens ganz vorübergehend eintreten können.

IV. Rechtliche Entstehung von Staaten.[Bearbeiten]

1. Die Frage, wie Staaten rechtlich zur Entstehung gelangen, ist vielfach dadurch verwirrt worden, dass man den Rechtsgrund der konkreten Staaten nicht oder nicht genügend von dem allallgemeinen psychologischen Erklärungsgrund und von dem allgemeinen ethischen Rechtfertigungsgrund des Zusammenlebens der Menschen in Staaten unterschied. Psychologisch liegt der Existenz aller Staaten ein den Menschen innewohnender Trieb, ein „Staatstrieb“ zugrunde. Ethisch rechtfertigt sich die geschichtliche Tatsache wie die Forderung staatlichen Zusammenlebens der Menschen durch die Vernunftsnotwendigkeit des Staats. Diese philosophischen Erkenntnisse sind aber für die juristische Betrachtung der Existenz der einzelnen Staaten bedeutungslos. Andererseits kann jedoch auch die Ansicht, dass das Bestehen oder wenigstens die Entstehung der einzelnen Staaten überhaupt kein Gegenstand rechtlicher Qualifikation sei, nicht als zutreffend anerkannt werden. Recht und Staat sind überhaupt zwei auf das engste mit einander zusammenhängende hohe Güter der Menschheit, der Bereich des Rechts aber würde eine überaus tiefgreifende Einschränkung, der Begriff des Staats eine wesentliche Minderung erleiden, wenn auf die Vorgänge der Bildung von Staaten oder sogar überhaupt auf das Bestehen der einzelnen Staaten die Herrschaft des Rechts sich nicht erstrecken sollte. Für eine solche Annahme ist selbst die Theorie, dass alles Recht staatlichen Ursprungs sei, keine ausreichende Grundlage; denn immerhin kann ja ein neuer Staat durch den Willen eines schon bestehenden Staats bezw. mehrerer schon bestehender Staaten entstehen.

[72] 2. Vielfach hat man einen allgemeingültigen Rechtsgrund für die Existenz aller einzelnen Staaten aufgestellt. Von den hierher gehörigen Theorien haben die Patriarchal- und die Patrimonialtheorie niemals eine bedeutende Verbreitung erlangt, und sie bedürfen auch keiner eingehenden Widerlegung, da sie eine zuweilen vorgekommene Art faktischer Entstehung von Staaten (vgl. oben II 2 und 3 b) irrig für eine allgemeine rechtliche Entstehungsart erachten. Eine grosse Bedeutung haben dagegen zeitweise gewonnen die Theorie der göttlichen Stiftung, die Machttheorie und die Vertragstheorie.

a) Die Theorie der göttlichen Stiftung behauptet, dass Gott, indem er durch seine Fügung einen Staat entstehen bezw. längere Zeit fortbestehen lasse, demselben und dem darin herrschenden Willen seine Sanktion verleihe, wodurch die Mitglieder zum rechtlichen Gehorsam gegenüber der bestehenden Staatsordnung verpflichtet würden. Diese Theorie aber verwechselt vor allem die religiöse Verpflichtung mit der rechtlichen. Ferner ist nicht einzusehen, weshalb Gott den bestehenden Zustand, auch wenn dieser in einer vom Standpunkt des menschlichen Rechts nicht rechtmässigen Weise entstanden ist und wenn er zudem vielleicht den konkreten vernünftigen Bedürfnissen der betreffenden Menschengruppe widerspricht, in seinen besonderen Schutz nehmen soll.

b) Die Machttheorie in ihrer rohesten Gestalt kann nur als eine Verhöhnung der Rechtsidee bezeichnet werden. Die meisten neueren Anhänger dieser Theorie aber gründen ihre Behauptung, dass jeder faktisch bestehende Staat auch rechtmässig sei, auf die allgemeine Vernunftsnotwendigkeit des Staats und nehmen demgemäss in ihre Definition der Macht bezw. des konkreten Staates das Erfordernis der Verwendung der Macht im allgemeinen Interesse auf. Aber dadurch wird noch nicht erklärt, weshalb die faktisch der konkreten Staatsgewalt unterworfenen Menschen ihr gegenüber zum Gehorsam rechtlich verpflichtet sein sollen, zumal wenn die neue Staatsbildung sich im Widerspruch zum bisherigen Rechte vollzogen hat.

c) Die aus alten Wurzeln entsprossene, in der Neuzeit lange Zeit vorherrschende Vertragstheorie nimmt an, dass ein Staat rechtsgültig nur durch einen Vertrag resp. durch mehrere Verträge von Individuen entstehen könne. Insofern eine solche Entstehung geschichtlich höchstens ganz vereinzelt für konkrete Staaten nachgewiesen werden kann, erscheint die Annahme, dass die konkreten Staaten zumeist (nämlich soweit ihnen überhaupt eine rechtliche Existenz zukommt) auf einem solchen Rechtsgrund beruhen, als eine Fiktion. Irrig ist auch die dieser Theorie zugrunde liegende Voraussetzung, dass der menschliche Wille in keiner anderen Weise als mit seiner freien Zustimmung rechtlich beschränkt bezw. einem anderen Willen unterworfen werden könne. Immerhin bekundet sich in dieser Theorie die richtige Erkenntnis oder Empfindung, dass die staatlichen Beziehungen zwischen den Menschen keinen von allen übrigen rechtlichen Verhältnissen spezifisch verschiedenen Rechtsgrund haben können. Dagegen erscheint die in neuester Zeit von hervorragenden Philosophen und Juristen verfochtene Behauptung, dass die Entstehung eines Staates durch Vertrag unmöglich sei, als Ausfluss teils einer unrichtigen Würdigung des Vertrags, indem man diesen als einen Akt reiner Willkür statt als ein Mittel zur Befriedigung der vernünftigen Bedürfnisse der Menschen auffasst, teils einer zu engen Begrenzung des Vertragsbegriffs, indem man dem Vertrage nur eine obligatorische Wirksamkeit oder nur eine Bedeutung für die Anwendung, nicht auch für die Entstehung objektiven Rechts zuerkennt.

3. Rechtlich kann ein Staat nur in derselben Weise zur Entstehung kommen, wie überhaupt unter den Menschen rechtliche Beziehungen sich bilden und insbesondere juristische Personen zur Existenz gelangen, d. h. vermöge eines Rechtssatzes. Insofern aber nicht leicht Rechtssätze im voraus die Entstehung von Staaten in zukünftigen unbestimmten Fällen regeln werden, erlangen Staaten rechtliches Dasein regelmässig unmittelbar durch einen Rechtssatz. Ein solcher Rechtssatz kann ein Ausfluss jeder Rechtsquelle sein; er kann demgemäss auf bewusster oder unbewusster Rechtsbildung beruhen und insbesondere, insofern es sich um bewusste Schaffung eines staatlichen Verbandes und Gesamtwillens handelt, sowohl Inhalt eines Vertrags als eines Gesetzes sein.

[73] a) Vertrag ist Rechtsgrund eines Staates nicht nur in den historisch höchstens vereinzelt nachweisbaren Fällen der Staatsgründung durch freiwillige Übereinkunft von Individuen (oben II 3 a), sondern namentlich auch in den Fällen der Schaffung eines Bundesstaates bezw. eines einfachen Staates durch Konföderation oder Union mehrerer Staaten (oben II 4 f und g). Hinzukommen muss aber in den letzterwähnten Fällen ein Gesetz jedes einzelnen beteiligten Staates, durch welches er seine Angehörigen zum Gehorsam gegenüber dem neuen Staatswesen verpflichtet und überhaupt der Rechtsordnung des letzteren für sie verbindliche Kraft erteilt.

b) Auf Gesetz wird insbesondere dann die rechtliche Existenz eines neuen Staates beruhen, wenn die Schaffung desselben durch den Willen eines bestehenden Staates auf dem Wege der Gliederung oder der Kolonisation oder der Teilung (vgl. oben II 4 a, b und c) erfolgt. Dagegen kann kein Staat sich selbst durch Gesetz die ihm sonst mangelnde rechtliche Existenz geben. Freilich wird nicht selten ein neu sich bildender Staat die Gesetzesform für seine Konstituierung – die Erklärung seines rechtlichen Daseins und die grundlegenden Bestimmungen seiner rechtlichen Ordnung – anwenden, aber dadurch kann eine rechtliche Verpflichtung der ihm bisher nur tatsächlich unterworfenen Menschen nicht entstehen, sondern der ihm und folglich seinen Vorschriften anhaftende Mangel wird regelmässig erst im Laufe der Zeit durch Einwirkung des Gewohnheitsrechts geheilt werden.

c) Auf dem Wege des Gewohnheitsrechts wird insbesondere die rechtliche Bildung eines Staates aus einem engern genossenschaftlichen oder herrschaftlichen Verbande in innigem Zusammenhange mit einer derartigen tatsächlichen Entwicklung (oben II 3b) erfolgen. Aber auch in den zahlreichen Fällen, wo ein Staat zunächst rein tatsächlich und insbesondere im Widerspruch mit dem bisherigen Recht durch eine Lossagung oder Eroberung (oben II 4 d und e) entstanden ist, wird, soweit nicht etwa ein Friedensvertrag oder ein sonstiger nachträglicher Akt des verletzten Staates als rechtliche Grundlage des neuen Staats anzusehen ist, durch die Kraft des Gewohnheitsrechts der neue Zustand zu einem rechtlichen werden, indem die rechtliche Überzeugung und Übung des Volks sich dem tatsächlichen Zustande, falls dieser fortdauert und sich befestigt, allmählich anpasst.

V. Rechtlicher Untergang von Staaten.[Bearbeiten]

1. Wie die rechtliche Existenz eines Staats immer auf einem Rechtssatz beruht, so wird auch der Untergang eines Staats rechtlich im allgemeinen nur durch einen Rechtssatz erfolgen können. Dem staatsvernichtenden Rechtssatz steht aber gleich die dauernde faktische Unmöglichkeit der Wiederherstellung eines tatsächlich untergegangenen Staates. Wenn ein Staat tatsächlich aufgehört hat zu bestehen und es, etwa infolge der Vernichtung des Volkes oder der Verschmelzung desselben mit einem andern Volke, sicher ist, dass er in der bisherigen Zusammensetzung oder mindestens einer wesentlich gleichen nicht wieder wird bestehen können, so ist auch rechtlich sein Dasein erloschen. Eine nur vorübergehende Unmöglichkeit der faktischen Wiederherstellung eines Staates, wie sie z. B. durch Übermacht eines fremden Volkes bewirkt wird, hebt dagegen sein rechtliches Dasein nicht auf.

2. Ein Rechtssatz, wodurch das Aufhören eines konkreten Staates bestimmt wird, kann sich, ebenso wie ein staatsschaffender Rechtssatz, gründen auf Vertrag, Gesetz oder Gewohnheitsrecht. Jedoch wird durch Vertrag auch aller einzelnen Staatsangehörigen die über ihnen stehende Gesamtpersönlichkeit des Staates nicht aufgehoben werden können, und auch ein Staatsvertrag resp. Staatsgesetz, durch den der betreffende Staat selbst sein Sonderdasein aufgibt, wird infolge der Gewöhnung des Volks und vermöge des Selbsterhaltungstriebs der staatlichen Organe nur selten, insbesondere im Fall einer freiwilligen Einverleibung in einen grösseren Staat oder einer freiwilligen Vereinigung mehrerer Staaten zu einem neuen umfassenderen Staatswesen (vgl. oben II 4 g und III 2 d), zustande kommen; ein den Staat aufhebendes Gewohnheitsrecht aber kann sich während seines tatsächlichen Bestehens nicht bilden. So wird noch häufiger als die Entstehung der Untergang eines Staates zunächst rein tatsächlicher Natur sein und erst nachträglich auf dem Wege des Gewohnheitsrechts rechtliche Geltung erlangen.