Entwicklung des Parlamentarismus in Österreich-Ungarn

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Autor: Friedrich Tezner
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Titel: Entwicklung des Parlamentarismus in Österreich-Ungarn
Untertitel:
aus: Handbuch der Politik Erster Band: Die Grundlagen der Politik, Sechstes Hauptstück: Der Parlamentarismus, Abschnitt 28, S. 409−415
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
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[409]
d) Entwicklung des Parlamentarismus in Österreich-Ungarn.
Von
Hofrat Dr. Friedrich Tezner,
Professor an der Universität Wien.


Literatur:[Bearbeiten]

Bernatzik, Die österreichischen Verfassungsgesetze mit Erläuterungen, 2. Auflage (1911);
Tezner, Der Kaiser 1909;
Derselbe, Die Volksvertretung (1912), und die daselbst s. IX. f. angeführte Literatur:
Derselbe, Das staatsrechtliche und politische Problem der österreichisch-ungarischen Monarchie im 31. Bd. des Archivs des öffentlichen Rechts.

Die Entwicklung des österreichischen wie des ungarischen Parlamentarismus hat darunter gelitten, dass durch die österreichische Politik nicht rechtzeitig die Unterstellung der historischen zentralen Einrichtungen unter den Einfluss eines zentralen repräsentativen Kollegiums, wenn selbst nur von ständischem Anstrich, angebahnt worden ist. Ein darauf gerichteter, vom Fürsten Metternich dem Kaiser Franz I. im Jahre 1811 vorgelegter Entwurf wurde von dem Kanzler nicht ernstlich betrieben und endete wie manche dem Kaiser unerwünschte Vorlage in der Schublade seines Schreibtisches.

Infolge dieses verhängnisvollen Versäumnisses erhielt die gleichzeitig in Österreich wie in Ungarn im Jahre 1848 ausbrechende revolutionär-konstitutionelle Bewegung einen geradezu chaotischen Charakter. Sie entwickelte sich ohne jegliche oder mindestens ohne deutliche Beziehung zu den historischen zentralen, den elementarsten staatlichen Funktionen, wie der militärischen Verteidigung, der äusseren Verwaltung dienenden Einrichtungen und lieferte dadurch politisch lebensunfähige Torsi. Man denke sich zwei Sonderstaatsverfassungen, die der historischen Monarchie nur für den Zweck gedenken, um ihren Fortbestand auszusprechen, ohne ihr Wesen zu bestimmen und ohne auch nur die Konstitutionalisierung ihrer Einrichtungen in Aussicht zu nehmen. Und doch hatten die beiden grossen nach ungarischem Staatsrecht als die Länder der ungarischen Krone und als die „übrigen Länder Se. Majestät“ zu bezeichnenden Länderkomplexe das Bekenntnis ihres Unvermögens zur Selbstbehauptung in der pragmatischen Sanktion deutlich genug abgelegt und eine Änderung der dieses Unvermögen begründenden Verhältnisse war nicht eingetreten. So sind denn die beiden Verfassungen, die Kaiser Ferdinand I. oder richtiger der für ihn im Stillen fungierenden Regentschaft abgerungen worden sind, nämlich der hier allein in Betracht kommende, in konstitutioneller Form ergangene ungarische Gesetzartikel III: 1848 und die in der Form eines landesfürstlichen Patentes oktroierte Verfassungsurkunde des österreichischen Kaiserstaates vom 25. April 1848 (April- oder Pillersdorfverfassung) mit einem grossen Fragezeichen behaftet, wenn der erstere höchst lakonische Andeutungen über die Aufrechthaltung des Reichsverbandes enthält, während das Patent sich gar nur darauf beschränkt, den konstitutionell organisierten Kaiserstaat als Bestandteil eines nicht näher bestimmten Kaiserreiches zu erklären.

In der Epoche der Kompromissvorhandlungen der Jahre 1861–1867 haben sich die österreichische Regierungspolitik und die ungarisch nationale Politik wiederholt die Schuld an diesem verkehrten und verderblichen Vorgang und an den durch ihn hervorgerufenen unvermeidlichen katastrophalen Verwicklungen wechselseitig zugeschoben. Um ein gewissenhaftes Urteil in diesem Streite abzugeben, wäre eine objektive, auch auf ungarischen Quellen wurzelnde Darstellung der ungarischen Abfallsbewegung der Jahre 1848/49 erforderlich, die bis zum heutigen Tage nicht vorliegt. Sicher ist, dass, wenn der Weg zur Konstitutionalisierung der zentralen Einrichtungen von allen politischen Faktoren gleich von vornherein in’s Auge gefasst und ernstlich gesucht worden wäre, Ströme von Blut erspart worden wären. Man wird sich dabei zu bescheiden [410] haben, dass ungewöhnliche technische Unbeholfenheit, die Plötzlichkeit des Ausbruchs der Revolution in Ungarn und in Wien jene allgemeine verhängnisvolle Verwirrung hervorgerufen haben, die im Falle planmässiger Anbahnung des Konstitutionalismus durch die österreichische Regierungspolitik nie eingetreten wäre.

Aus dem gleichen Grunde war der Verfassungsentwurf des Ausschusses des ersten konstituierenden österreichischen Reichstages, der infolge des Widerstandes gegen das Oktroi auf Grund eines nahezu allgemeinen Wahlrechts aber mittels indirekter Wahlen zuerst nach Wien berufen, nachher aber nach Kremsier verlegt worden war, zur Unfruchtbarkeit verdammt. Auch er enthielt keinen weiteren Hinweis auf die historische Monarchie, als dass er die Länder des Kaiserreiches bezeichnete, die nach der neuen Verfassung das Kaisertum Österreich als konstitutionelle Erbmonarchie bilden sollten; wobei die naive Erwartung obwaltete, es werde sich Ungarn um die Aufnahme in das durch den Entwurf geplante bundesstaatsähnliche Gemeinwesen bewerben.

Es verstand sich darum von selbst, dass die Reaktion sowohl im Kampfe gegen die revolutionäre Bewegung als auch nach deren Niederringung bei der Unvollziehbarkeit sowohl des ungarischen Gesetzartikels III.: 1848 als auch des Entwurfes der Kremsierer Verfassung im Hinblick auf die die Unteilbarkeit und Untrennbarkeit aller Länder des Hauses Österreich fordernde pragmatische Sanktion und die hierdurch gebotene Kontinuität der historischen Verbandseinrichtungen ansetzte. Hatte schon das Manifest über den Regierungsantritt Kaiser Franz Joseph I. vom 2. Dezember 1848 den Entschluss des jungen Herrschers, die Gesamtmonarchie ungeschmälert zu erhalten und dessen Hoffnung auf Vereinigung aller Länder und Stämme zu einem grossen Staatskörper ausgedrückt, so rechtfertigte das kaiserliche, die Reichsverfassung für das Kaisertum Österreich vom gleichen Tage verkündigende Manifest vom 4. März 1849 die am 7. März erfolgte Sprengung des Kremsierer Reichstags nicht bloss mit dessen durch die Festsetzung der Volkssouveränität bekundeten Doktrinarismus sondern auch mit dessen Unzuständigkeit für die Beratung einer von den Völkern Österreichs als unabweisbare Notwendigkeit empfundenen, das ganze Reich im Gesamtverbande umschliessenden Verfassung. In der Reichsverfassung vom Jahre 1849 (Märzverfassung Schwarzenberg-Stadionsche Verfassung) war die bei Vilagos am 13. August 1849 erfolgte Kapitulation der ungarischen Revolutionsarmee gewissermassen eskomptiert.

Die ungarische Verfassung wird nur im engen Rahmen ihrer Vereinbarkeit mit der neuen Reichsverfassung aufrecht erhalten (§ 71). Der Verband der sogenannten Nebenländer mit dem engeren Ungarn wird als gelöst behandelt. (§§ 68, 72–75.) Man pflegt diese Liquidation mit der Anwendung der von Hugo Grotius gelehrten Verwirkung der Verfassung eines gegen seinen Monarchen sich erhebenden Volke im Falle seiner Überwältigung zu erklären. Allein auch vom Standpunkte modernen Staatsrechts durfte der Verband der Nebenländer mit Ungarn – und hierbei kommt vornehmlich das Königreich Kroatien – Slavonien – Dalmatien in Betracht – zum mindesten von dem Zeitpunkt als erloschen betrachtet werden, in welchen die ihm zugrunde liegende monarchische Verbindung durch die unter Ludwig Kossuth’s Führung am 14. April 1849 vom ungarischen Reichstag ausgesprochene Absetzung des Kaisers und der ganzen Dynastie gelöst worden war. Findet doch auch die Erhebung der Südslaven gegen die ungarische Verfassung des Jahres 1848 unter der Führung des kroatischen Banus Jellacic ihre staatsrechtliche Erklärung in der Unzuständigkeit des ungarischen Reichstags, ohne Zustimmung des kroatischen Landtags eine fundamentale Änderung der rechtlichen Beziehung Kroatiens zu Ungarn durch Unterstellung des Banus unter eine dem Reichstag verantwortliche konstitutionelle Regierung zu beschliessen. Mit der Ausdehnung (des in der österreichischen Aprilverfassung zum erstenmal ausgesprochenen) auf die Rousseau’sche Staatslehre zurückzuführenden Grundsatzes der Gleichberechtigung aller Nationalitäten und Sprachen auf das ganze Reich und mit der Forderung eines Statutes für die Regelung dieser Verhältnisse (§§ 5, 71) wird ein Staatsrecht formuliert, das mit Modifikationen der modernen [411] politischen Bewegung für den Aufbau der ganzen Monarchie auf dem Grundsatze autonomer Organisation seiner Nationen als Ziel vorschwebt. Für die Sicherung einer modernen Anforderungen entsprechenden Aktionsfähigkeit des Ganzen erschien die Festsetzung der Einheit des gesamten Heereswesens, also auch des Heeresergänzungswesens, eines Reichssteuern umfassenden Reichsfinanzwesens, die Erhebung des ganzen Reichs zu einer Wirtschaftseinheit und die Berufung des allgemeinen österreichischen Reichstags zur parlamentarischen Behandlung dieser Reichsangelegenheiten unentbehrlich (§§ 7, 36 e – h, 37, 38). Die historischen Länder, teils ehemalige Nationalstaaten, teils ehemals ständisch organisierte Territorien, die durch Landtage auf halb ständischer, halb konstitutioneller Grundlage repräsentiert werden sollen, dauern, wie dies auch nach der Aprilverfassung der Fall gewesen wäre, als Kronländer fort (§§ 1, 9, 70 ff, 77, 78). Die Zuständigkeit dieser Landtage wird jedoch im Einklange mit den Festsetzungen des Entwurfs des Kremsierer Verfassungsausschusses auf die ihnen ausdrücklich zugewiesenen Angelegenheiten beschränkt (§§ 35, 36 k). Vom Standpunkte der modernen Lehre von den Staatenverbindungen wäre das Kaisertum Österreich als ein Länderstaat, als ein Komplex autonomer Provinzen zu charakterisieren, sofern der Monarch nicht bloss dem Reichstag sondern auch den Landtagen als Kaiser (§ 37) und nicht, wie der Kremsierer Entwurf in Aussicht genommen hatte, als Landesoberhaupt gegenübertritt, die vollziehende Gewalt im ganzen Reiche und in allen Kronländern als eine, unteilbar und ausschliessend dem Kaiser zustehende (§ 84) und jede, welcher Körperschaft immer übertragene vollzieherde Gewalt als widerrufliche, zur Disposition der Krone stehende erklärt wird (§§ 84, 85). Die Abneigung des Hofes und der militärischen Kreise gegen ein konstitutionelles Regiment, die Skepsis der Berater des Kaisers hinsichtlich der Durchführbarkeit der Reichsverfassung führten zu dem kaiserlichen Patent v. 31. Dezember 1851 (Silvesterpatent) mittels dessen die Verfassung vom 4. März 1849 als unausführbar ausser Kraft gesetzt wurde. Ein Kabinetschreiben vom gleichen Tage stellte beratende Ausschüsse nach Art der russischen Adelsversammlungen an der Seite der Kreisbehörden und Statthaltereien in Aussicht.

Erst im Jahre 1860 führte das Bedürfnis, das durch eine klerikale innere und durch eine unglückliche äussere Politik gesunkene politische Ansehen der Monarchie und den gesunkenen Staatskredit zu heben, zur Wiederaufnahme der Experimente für eine Repräsentativverfassung durch den Kaiser. Sie beschränken sich zunächst darauf, einen in der Märzverfassung vorgesehenen Kronrat, den Reichsrat für den Zweck der Teilnahme an der Finanzgesetzgebung durch Repräsentanten der Länder, die vom Kaiser auf Grund eines Ternavorschlags der Länder ernannt werden sollen, zu verstärken. Sie schreiten von da aus zur Umgestaltung des verstärkten und noch weiter zu verstärkenden Reichsrates in eine halb legislative, halb beratende für die Reichsangelegenheiten zuständige Reichsversammlung mittels des Diplomes vom 20. Oktober 1860 (Oktoberdiplom oder Goluchowskiverfassung), um schon mittels des Patentes vom 26. Februar 1861 (Februar- oder Schmerlingverfassung) vorläufig mit der Einführung des Zweikammersystems durch Zerlegung des Reichsrates in ein auf ständischer Grundlage ruhendes Herrenhaus und ein aus der Wahl der Landtage hervorgehendes Abgeordnetenhaus zu enden. Beide Verfassungsexperimente sehen, das Oktoberdiplom minder klar, das Februarpatent deutlich, eine Ausscheidung der Repräsentanten der nichtungarischen Länder als engeren Reichsrates aus dem weiteren oder gemeinsamen Reichsrat vor, während die Frage nach der Gestaltung der Repräsentation der ungarischen Länder für die Nicht-Reichsangelegenheiten offen bleibt. Oktoberdiplom wie Februarpatent enthalten für die Abgrenzung der Reichsangelegenheiten eine schillernde Formel nach Art der in den Verfassungskompromissen zwischen König und Ständen über ungarische Verfassungsfragen üblichen. Sie bieten einen Katalog der Reichszuständigkeiten, der den Schein erschöpfender Aufzählung erregt, ausserdem aber die dehnbare Formel der Zuständigkeit des Reiches für alle Gegenstände der Gesetzgebung, die allen Königreichen und Ländern (den sogenannten historisch-politischen [412] Individualitäten) gemeinschaftlich sind. Die nach dieser unklaren Scheidung verbleibenden Angelegenheiten werden für die nichtungarischen Länder zwischen dem engeren Reichsrat und den Königreichen und Ländern aufgeteilt. Im Oktoberdiplom erfolgt die Aufteilung durch die gleichfalls unbestimmte Formel, dass der Gesamtvertretung der nichtungarischen Länder die bisher für sie einheitlich behandelten Angelegenheiten vorbehalten bleiben und die Erweiterung dieser Zuständigkeit durch kaiserliche Verfügung erfolgen sollte. Das Februarpatent fordert umgekehrt für die Zuständigkeit der Landtage ausdrückliche Zuweisung durch Gesetz und bietet sie in den 15 nach einer Schablonen ausgefertigten Landesordnungen, die zugleich mit dem Februarpatent und dem durch das Patent eingeleiteten Grundgesetz über die Reichsvertretung verlautbart wurden.

Die Beschickung der Landtage hatte sich auf Grund der gleichfalls mit dem Patent verlautbarten Landtagswahlordnungen zu vollziehen, die nach dem Vorbilde der Landtagswahlordnungen der Jahre 1849/50 auf dem Grundsatze der Interessenvertretung oder dem Kuriensystem beruhten, die Wähler zumeist nach den Gruppen des Grossgrundbesitzes, der Städte und Märkte und der Landgemeinden zur Wahl beriefen und den Deutschen Österreichs eine ega monische Stellung sicherten. Oktoberdiplom und Februarpatent wissen nichts von einer verantwortlichen Regierung, von Immunität, von staatsbürgerlichen Rechten.

Dem 1860 wieder hergestellten ungarischen Reichstag oder Landtag werden die beiden Verfassungsurkunden des Oktoberdiploms und des Februarpatents trotz ihres grundverschiedenen Inhalts als Massstab für die von ihm zu vollziehende Revision der 1848er Verfassung und als unerlässliche Form der Sicherung der Zwecke der pragmatischen Sanktion mit den Mitteln des konstitutionellen Staatsrecht vorgelegt. Die Möglichkeit einer solchen Revisionsforderung des Königs ist im ungarischen Krönungseid vorgesehen.

Der nach ständischem Recht übliche Schriftenwechsel zwischen dem den weiteren Reichsrat nicht beschickenden ungarischen Landtag und dem König begann im Jahre 1861. Um jede Störung der Verhandlungen durch Kundgebungen der Repräsentanten der nichtungarischen Länder hintanzuhalten, wurden mittels des vom Staatsminister Belcredi gegengezeichneten und durch ein Manifest erläuterten kaiserlichen Patents vom 20. September 1865 (Sistierungspatent) zugleich die Funktionen des weiteren und des engeren Reichsrates sistiert. Nach dem unglücklichen Feldzuge gegen Preussen im Jahre 1866 wurden die durch ihn unterbrochenen Verhandlungen wieder aufgenommen und fanden ihren Abschluss durch den am 12. Juni 1867 sanktionierten ungarischen Gesetzartikel XII. einer in aller Eile in Paragraphe zerlegten Staatsschrift der Führer der Majorität des ungarischen Landtags, zu der eine vor der Sanktion befragte Repräsentation der österreichischen Länder nie zugestimmt hätte.

Der G.A. XII hat für die konstitutionelle Organisation der nicht ungarischen oder wie sie von nun an hiessen , der im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder eine unüberschreitbare Schranke gezogen, die von dem durch die kaiserliche Botschaft vom 4. Februar 1867 also aus kaiserlicher Machtvollkommenheit zum verfassungsmässigen Reichsrat der Reichsratsländer erhobenen engeren Reichsrat in dem von ihm beschlossenen Gesetz vom 21. Dezember 1867 betreffend die allen Ländern der österreichischen Monarchie gemeinsamen Angelegenheiten und die Art ihrer Behandlung ängstlich eingehalten wurde. In den beiden konstituierenden Akten sind die bedeutsamsten organisatorischen Ideen der Märzverfassung, nämlich: die Einrichtung eines die Repräsentantion beider Ländergruppen umfassenden einheitlichen repräsentativen Kollegiums oder eines Zentralparlaments, eines staatseinheitlichen Finanzrechts und Rekrutenbewilligungsrechts, eines einheitlichen Wirtschaftsgebietes fallen gelassen worden. Die gemeinsamen Angelegenheiten sind auf den Heeresbefehl und die Heeresorganisation, auf die äussere Verwaltung, auf die Verwaltung des gemeinsamen Finanzvermögens, auf den wohl unpraktischen Fall der Verwaltung eines gemeinsamen Anlehens und auf die Geltendmachung der Verantwortlichkeit der gemeinsamen Minister beschränkt. Die Parlamente der beiden Ländergruppen vereinbaren unter Vermittlung ihrer Regierungen den Schlüssel für die Verteilung der gemeinsamen Lasten (die Quote), ferner die Regelung der finanzwirtschaftlichen und handelspolitischen Beziehungen [413] sei es in Form der Konstituierung einer Zollunion (eines Handelsbündnisses), sei es in Form eines Zoll- und Handelsvertrages. Der in beiden Gesetzen vorgesehene Verkehr zwischen den beiden Legislativen durch Deputationen hat sich infolge staatsrechtlicher Bedenken der Ungarn nicht entwickelt. Die Aufstellung des sogenannten gemeinsamen, wesentlich nur den Heeresaufwand umfassenden Budgets ist den Delegationen der beiden Legislativen vorbehalten, die sich wegen dieser ihrer Zuständigkeit und wegen ihrer Zuständigkeit zur Geltendmachung der konstitutionellen Verantwortlichkeit der gemeinsamen Minister als die beiden Legislativen im verkleinerten Massstab darstellen. In jeder der beiden Delegationen sind die von beiden Häusern Gewählten zu einem Kollegium vereinigt. Für die Wahrung ihrer schärfsten Sonderung in der Beratung und Beschlussfassung ist ängstlich Sorge getragen. Die Ungarn sind darauf bedacht, dass es zu der rechtlich zulässigen Vereinigung beider Delegationen für Abstimmungszwecke wegen obwaltenden Dissenses nicht mehr komme. Das Rechtsinstitut der Delegationen bedeutet wegen ihrer kurzen Tagungen, wegen ihrer Zuständigkeit zur Feststellung des Heeresbudgets, wegen der mit ihrem Bestande verknüpften Ausschliessung eines unmittelbaren Einflusses beider Vollparlamente auf die gemeinsamen Minister, die im wesentlichen fachtechnische Organe der Krone sind und sich zu keiner Regierung im konstitutionellen Sinn d. W. zusammenschliessen, eine weitgehende Einschränkung des konstitutionellen Prinzips in beiden Ländergruppen. Nur so ist es erklärlich, dass die Bevölkerung hüben und drüben während des Balkankrieges über die Ziele der äusseren Politik in beängstigende Ungewissheit dauernd und ohne fühlbare parlamentarische Gegenwirkung erhalten werden konnte. Aber auch die Finanz- wie die Wirtschaftspolitik wird, soweit sie den Gegenstand der Vereinbarung zwischen beiden Ländergruppen bildet, nicht durch die Parlamente sondern durch die Regierungen oder richtiger durch die auf sie drückenden ausserparlamentarischen wirtschaftlichen Parteien bestimmt. Ein organischer Zusammenhang zwischen der sogenannten gemeinsamen Regierung und den Sonderregierungen besteht nicht. Die organische Einheit ruht nur im Monarchen. Die gemeinsame Regierung ist eine konstitutionell fast vollständig indifferente Einrichtung.

Der durch das Bedürfnis der Wiedergewinnung der historischen Stellung des Monarchen in Deutschland geförderte Drang zur Beschleunigung des Friedens mit dem ungarischen Volke hat bewirkt, dass der verfassungsrechtlich begründeten und wiederholt durch den Monarchen anerkannten Rechtsstellung Kroatiens als eines mit Ungarn paritätischen Paziszenten nicht Rechnung getragen und die Auseinandersetzung des engeren ungarischen Reichstages mit dem kroatischen Landtag als eine interne Angelegenheit der Länder der ungarischen Krone behandelt wurde. Sie erfolgte durch den ungarischen G.A. XXX: 1868 und den kroatischen G.A. I 1868, den sogenannten ungarisch-kroatischen Ausgleich, der zwar dem um den österreichischen Teil verkürzten Königreich Kroatien, Slavonien, Dalmatien die äusseren Attributs eines Gliedstaates der Union der Länder der Stefanskrone verleiht, die Bedingungen seiner wirtschaftlichen Entwicklung aber allenthalben unterbindet.

Der österreichische Reichsrat hat eine kurze Blütezeit erlebt, während deren er mittels des Staatsgrundgesetzes vom 21. Dezember 1867, betreffend die Änderung des Grundgesetzes über die Reichsvertretung die fundamentale konstitutionelle Organisation der nichtungarischen Ländergruppe, soweit für sie nach dem ungarischen Ausgleich Raum blieb, die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen dem Reichsrat und den Landtagen vollzogen, mittels weiterer Staatsgrundgesetze und einfacher Gesetze die Herstellung der durch das Konkordat vom 18. August 1855, wenn nicht verloren gegangenen so mindestens erheblich geschmälerten staatlichen Souveränität gegenüber der katholischen Kirche herbeigeführt, und bedeutsame, leider nicht mehr fortgebildete Ansätze zum Aufbau des Gemeinwesens auf rechtsstaatlicher Grundlage geschaffen hat. Nach dieser Kraftleistung, der keine ebenbürtige mehr nachgefolgt ist, beginnt der Verfall des parlamentarischen Lebens, den weder die erfolgreiche Abweisung des vom Grafen Hohenwart geförderten Versuchs der Wiederherstellung des böhmischen Staats in der technisch nicht vollziehbaren Form der von einer Kommission des böhmischen Landtags im [414] Oktober 1871 beschlossenen Fundamentalartikel, noch die Einführung der direkten Wahlen in den Reichsrat an Stelle jener durch die Landtage mittels der Wahlreform vom 2. April 1873, noch endlich, die fortschreitende, durch die Wahlreform vom 26. Jänner 1907 bis zum allgemeinen gleichen und direkten Wahlrechts geführte Demokratisierung des Wahlrechts aufzuhalten vermocht hat.

Der Grund für diese ungünstige Entwicklung ist ebensowohl in den Hemmungen zu erblicken, die der parlamentarische Dualismus einer naturgemässen Ausbildung des Konstitutionalismus in beiden Ländergruppen der Monarchie bereitet, als auch darin, dass der nationale Gegensatz zwischen Deutschen, Slaven und Romanen, der Gegensatz zwischen dem magyarischen Nationalstaat und der Bewegung zur Anerkennung der Gleichberechtigung aller Nationalitäten der Monarchie alle anderen parteipolitischen Gegensätze in den Hintergrund drängt. So müssen die Regierungen bei der Lösung staatlicher Kardinalfragen die sachlichsten Erwägungen der Forderung der Sicherung der Majorität für die von ihnen mühsam hergestellten Entwürfe der periodisch zu erneuernden Auseinandersetzung beider Ländergruppen über ihre vitalsten Interessen opfern, bei denen die unsterblichen staatsrechtlichen Gravamina aus dem Titel des magyarischen Nationalstaates eine grosse Rolle spielen, während die politischen Parteien ihre Stellung zu jeder beliebigen Frage darnach einrichten, welche nationale Konzessionen sie für eine gouvernementale Haltung zu gewärtigen haben? Darum kann sich eine auf das Ganze gerichtete Politik, die – sie sei gut oder schlecht – Voraussetzung eines wahrhaften Konstitutionalismus bildet, nicht entwickeln und das politische Leben erhält einen peinlichen Zug von Kleinlichkeit, Unaufrichtigkeit, Unzuverlässigkeit und Schwäche sowohl der Regierungen als auch der politischen Parteien, die sich im Besitze der erlangten Zugeständnisse gerne ihrer unsachlichen Zusagen entledigen möchten. Darum auch die wechselseitigen Vorwürfe unterlaufener Illoyalität. Dazu kommt noch, dass das Zentralparlament in den Landtagen von Böhmen und Galizien, trotzdem diesen die Zuständigkeit zur Geltendmachung der konstitutionellen Verantwortlichkeit der staatlichen Landesregierungen abgeht, wenn sie funktionsfähig sind, seine Autorität beschränkende Rivalen besitzt. Es kann nicht Wunder nehmen, wenn staatliche Verwaltung und Selbstverwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit gegenüber der Gesetzgebung, die aus Kompromissen mit politischen Eintagskombinationen hervorgeht, ihre eigenen Wege gehen, um nicht blosse Schergen des krassesten Egoismus und der hinterhältigsten Parteipolitik zu sein, die sich in einem Momente zufällig in der Form der Gesetzgebung durchgesetzt hat. Gegenüber den unleugbaren Talenten, die alle Nationen der Monarchie zu Beginn der konstitutionellen Epoche für den parlamentarischen Dienst beigestellt haben, bietet uns die moderne parlamentarische Welt der Monarchie das Bild eines die Vorfahren an wirtschaftlichen, historischen und sozialen Kenntnissen überragenden aber politisch recht mittelmässigen Geschlechts, was bei dem Umstande, als auch das aristokratisch-oligarchische ungarische Parlament im Gegensatz zu seiner ruhmvollen Vergangenheit keine imponierende, grosszügige, mitreissende staatsmännische Persönlichkeit aufzuweisen vermag, mit der Demokratisierung des Wahlrechts nicht erklärt werden kann. Es muss dahin gestellt bleiben, ob hier nicht politische Skepsis und Illusionsunfähigkeit eine grosse Rolle spielten. Allenthalben bildet, die Obstruktion, die ödeste und mit der geringsten Geistesarbeit herzustellende Form der Opposition, das wichtigste parlamentarische Kampfmittel und nagt an den Wurzeln des doch ohnedies kümmerlichen Konstitutionalismus. Das österreichische Abgeordnetenhaus gelangt vor lauter nationalen Debatten und Obstruktionen nicht einmal zur ordnungsmässigen Wahrung seiner budgetären Befugnisse. Schon hat die Krankheit der funktionellen Lähmung den böhmischen Landtag erfasst und bedroht auch den galizischen. Alle diese Erscheinungen legen den Charakter der Monarchie als eines für eine wahrhaft konstitutionelle Gestaltung wenig geeigneten, wesentlich monarchischen Gemeinwesens auf. Ob die Persönlichkeit des Monarchen gross oder klein ist, das funktionelle Element der monarchischen Gewalt füllt alle Lücken des Rechtes aus, die der blind wütende Kampf der Nationen reisst oder die die Nationen, soweit sie von vornherein gegeben sind, von sich aus nicht auszufüllen vermögen. Der Kaiser hat dem ungarischen Landtage die Auflage der Revision der 1848er ungarischen Verfassung gemacht, das von ihm genehmigte Revisionsergebnis als unüberschreitbare [415] Verfassungsschranke der österreichischen Ländergruppe aufgestellt, den ehemals engeren Reichsrat zum verfassungsmässigen Reichsrat der nichtungarischen Länder erhoben und zur Konformierung ihrer Verfassung mit seinem bei den Ungarn durchgesetzten Kompromiss berufen, er hat die deutsch-zentralistische Partei den modernen Rechtsstaat errichten lassen und sie zertrümmert, als sie sich als parlamentarische Macht aufspielte, er hat die Arbeiterbataillone vor den tagenden Reichsrat vorüber ziehen lassen, um für die Notwendigkeit des allgemeinen gleichen Wahlrechts zu demonstrieren und Ungarn durch das Aufwerfen des gleichen Problems zur Besinnung gebracht; er hat die Notverordnung zur subsidiären, die Unschädlichkeit der Obstruktion sichernden Gesetzgebung erhoben; seine Annexionsakte allein sind es, die Bosnien und die Herzegowina mit der Monarchie verbinden, da die beiden Parlamente sich für ihre staatsrechtliche Perfektion unfähig erweisen; er hat eine Verfassung für die annektierten Länder erlassen, ohne sich auf eine ausdrückliche Verfassungsermächtigung berufen zu können und für die durch die deutsche Obstruktion zerstörte Landesselbstverwaltung Böhmens sofort durch Ordonnanz ein Ersatzorgan geschaffen. Er vermag, die Monarchie als Staat den Staaten entgegenzustellen, ungeachtet die formale Jurisprudenz diesen Staat nirgend sehen will.

Jedenfalls ist die Monarchie für die politische Schätzung als eine patrialarchalisch, in den äusseren Formen des Konstitutionalismus regierter und nur den Schein zweier Staaten bietender monarchischer Einheitsstaat zu betrachten. Weil die Völker der Monarchie trotz ihres durch ethnische, kulturelle, wirtschaftliche und politische Gründe bewirkten Zusammenschlusses bis nun kein für eine Konstituante fähiges Staatsvolk geworden sind, bilden sie nur ein Organisationsobjekt. Der Dualismus ist das vorläufige Ergebnis organisatorischer, mittels diktatorischer und halbdiktatorischer Akte vollzogener Experimente des Monarchen. Er findet ganz wie die als seine unselbständige Reflexwirkung zu wertende österreichische Dezemberverfassung seine Garantie in der Zersplitterung der national-föderalistischen Programme, die nur vom Standpunkte der einzelnen Nation aufgestellt werden und das Ganze aus den Augen verlieren, und gibt, was seltsamer Weise die der ungarischen Unabhängigkeitspartei angehörige Minorität des Ausschusses zur Beratung des Ausgleichs in ihrem Gegenentwurf geradezu ausdrücklich gefordert hat, dem Monarchen den Stichentscheid in die Hand, der nicht nach Rechtsnormen sondern gemäss der jeweiligen Gestaltung der politischen Verhältnisse gefällt wird. Das Rechtsleben der Monarchie bietet uns nicht Verfassungsänderungen und Verfassungswandlungen, sondern unberechenbare äussere Verfassungsfluktuationen, die jedoch an ihrem inneren Wesen nichts zu ändern vermögen. Die Erinnerung an das unorganische Leben des Ständestaates mit seinen durch ständische Rivalitäten zerklüfteten, von Sezessionen heimgesuchten Landtagen, mit seinen stetigen Verfassungsrevisionen taucht unwillkürlich auf. Hier ist darum, was allmählich auch die magyarischen Publizisten einzusehen beginnen, kein Boden, auf dem formal juristische Konstruktionen und die Theorie vom absoluten Rechts- oder Verfassungsstaat zu gedeihen vermöchte, es sei denn, dass man die durch die pragmatische Sanktion dem Monarchen in die Hand gelegte koerzitive Funktion, diese welthistorische, an das Caveant consules erinnernde, aus dem Urquell des Rechts der Monarchie und deren Mysterium fliessende Generalvollmacht, kraft deren er alle Länder des Hauses Oesterreich unzertrennt und ungeteilt beisammenhalten, oder wie sich die Proklamation des österreichischen Kaisertitels vom 11. August 1804 ausdrückt, Regent der Monarchie von Oesterreich (Monarchiae Austriacae regnans princeps) sein soll, als zwingendes Recht anerkennt, dem gegenüber alles dieser Funktion widerstrebende Recht als rechtlich unmöglich oder nichtig oder mindestens als unvollziehbar zu behandeln ist.