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Evangelien-Postille (Wilhelm Löhe)/Advent 04

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Evangelien-Postille (Wilhelm Löhe)
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Am vierten Sonntage des Advents.

Evang. Joh. 1, 19–28.
19. Und dieß ist das Zeugnis Johannis, da die Juden sandten von Jerusalem Priester und Leviten, daß sie ihn fragten: Wer bist du? 20. Und er bekannte und leugnete nicht; und er bekannte: Ich bin nicht Christus. 21. Und sie fragten ihn: Was denn? Bist du Elias? Er sprach: Ich bins nicht. Bist du ein Prophet? Und er antwortete: Nein. 22. Da sprachen sie zu ihm: Was bist du denn? Daß wir Antwort geben denen, die uns gesandt haben. Was sagst du von dir selbst? 23. Er sprach: Ich bin eine Stimme eines Predigers in der Wüste: „Richtet den Weg des HErrn“; wie der Prophet Jesaias gesagt hat. 24. Und die gesandt waren, die waren von den Pharisäern, 25. und fragten ihn, und sprachen zu ihm: Warum taufest du denn, so du nicht Christus bist, noch Elias, noch ein Prophet? 26. Johannes antwortete ihnen und sprach: Ich taufe mit Waßer; aber er ist mitten unter euch getreten, den ihr nicht kennet. 27. Der ists, der nach mir kommen wird, welcher vor mir gewesen ist, des ich nicht werth bin, daß ich seine Schuhriemen auflöse, 28. Dieß geschah zu Bethabara, jenseit des Jordans, da Johannes taufte.

 DAs vorige Evangelium legte uns das Zeugnis JEsu von Johanne dem Täufer vor; das heutige bringt uns ein Zeugnis Johannis von JEsu. Bei dem dortigen Evangelium bemerkten wir am Schluß, daß JEsus, indem Er von Johannes Zeugnis gab, zugleich von Sich Selbst das herrlichste Zeugnis ablegte. Aehnlich finden wir in dem heutigen Evangelium, daß Johannes, aufgefordert, von sich selbst Zeugnis zu geben, eben damit die günstigste Gelegenheit bekommt, von seinem HErrn Christo zu zeugen. So geht immer mit dem Zeugnis des Menschen von sich selbst sein Zeugnis über andere Hand in Hand. Indem man sich mit andern vergleicht, lernt man sich von andern, andere von sich unterscheiden und kommt so zu jener gedoppelten Erkenntnis seiner selbst und anderer außer uns, zu jener Wahrhaftigkeit im Benehmen und Umgang mit andern, welche so nahe verwandt und fast eins ist mit Bescheidenheit und Gerechtigkeit. Möge uns das hohe Beispiel, welches unser Text zu diesem Satze liefert, dazu dienen, daß auch wir verlangend und begierig werden, uns und die Menschen um uns her richtig zu würdigen, gerecht und bescheiden zu werden.

 Unser Evangelium enthält das gedoppelte Zeugnis Johannis von sich und von JEsu. Zuerst jenes, dann dieses laßt uns betrachten. Je mehr wir von jenem zu diesem und in diesem selber vorwärts schreiten, desto mehr werden wir fühlen und erkennen, warum dieß Evangelium in der Adventszeit steht. Die Juden fragen Johannem, wie Johannes im Evangelium des vorigen Sonntags JEsum gefragt hat: „Bist dus, der da kommen soll?“ Johannes wies aber die Juden auf JEsum hin, welcher komme, bereits da sei und in nächster Zukunft sich ihnen offenbaren werde. „Er kommt, Er ist da“ − das ist der Ton, der einem nach Lesen dieses Textes im Ohre bleibt. Und wie gut paßt das in die nächste Nachbarschaft von Weihnachten, wo auch wir immer sehnlicher einander zurufen und zusingen:

Seid unverzagt, ihr habet
Die Hilfe vor der Thür;
Der eure Herzen labet
Und tröstet, steht allhier.

 Laßen wir uns aber durch die eigentliche Betrachtung des Textes in die Gedanken hineinführen, die wir angedeutet haben und die uns nun so sehr geziemen!


|  Das Zeugnis, welches Johannes in diesem Evangelium von sich selbst gibt, ist ein doppeltes: er sagt unverholen zuerst, was er nicht ist, dann erst, was er ist. Er sagt, was er nicht ist, nemlich nicht Christus, nicht Elias, nicht der von den Juden erwartete Prophet. Ob die Priester und Leviten und der hohe Rath der Juden, von welchem sie gesandt waren, im Ernste daran dachten, dem Täufer Johannes, auch wenn er sich selbst dazu bekannt hätte, die Würde Christi, oder auch nur Eliä oder des andern Propheten, der nach ihrer Einsicht vor der Ankunft des Messias kommen mußte, zuzugestehen: darüber laßen sich mancherlei Vermuthungen aufstellen: aber gewis können wir nichts sagen. Jedenfalls aber lag in der Botschaft und ihrer Frage eine Versuchung für Johannes, von sich selber Großes zu behaupten, − und diese Versuchung hätte um so lockender sein können, als Johannes wenigstens bei der Menge des jüdischen Volkes den geneigten Willen voraussetzen durfte, ihm eine hohe Würde im Reiche Gottes, wol gar die des Messias zuzugestehen. Gewis erwarteten viele aus dem Volke, welches bei der Frage anwesend war, sehnlich eine bejahende Antwort. Wäre Johannes nicht gewesen, der er war, − wäre er gewesen, wie der Betrüger Barcochba, der späterhin auch eine ähnliche Gesandtschaft der Juden zu empfangen, und eine ähnliche Frage zu beantworten hatte, − wäre er ein eitler Mann gewesen, so würde er eine hochmüthige Antwort gegeben, oder es würde ihm wenigstens einigen Kampf gekostet haben, die rechte Antwort zu ertheilen. Aber siehe, da ist auch gar kein Kampf bei dem Täufer zu merken: ohne Zögern, ohne falsches Bedauern, ohne Leid und Neid gibt er die bestimmtesten Antworten, durch welche er auf alles verzichtet, was ihm nicht gebührt. Bei andern Menschen findet man oft, daß sie das, was sie nie gehabt und nie besitzen können, mit größerem Jammer beweinen, als jeden Verlust, welchen sie wirklich erlitten haben. Johannes ist frei vom aufgeblasenen Jammer um Versagtes; einfach und einsylbig, einmal für allemal, mit einer Bestimmtheit, welche jeden Gedanken an eine Wiederholung der Frage, jeden Verdacht einer Falschheit in Johannis Herzen verbietet, spricht er: „Ich bin nicht Christus, ich bin nicht Elias, ich bin nicht der Prophet, auf den ihr wartet.“

 Und so einfach und klar er ihnen sagt, was er nicht ist, so einfach und klar sagt er ihnen auch, was er ist. Damit daß er verneinte, Christus, Elias, der Prophet zu sein, hatte er sich und seine eigentliche Würde noch nicht kenntlich bezeichnet. Wäre er eitel gewesen, so hätte er vielleicht nicht weiter geredet, so hätte er sich mit dunklem Schweigen umgeben, hätte die Leute rathen laßen, hätte lüstern gelauscht, was für eine Würde ihm etwa des Volkes Gunst und Verehrung ausdächte, hätte sich am Schattenwerk hoher Meinungen von seiner Person geweidet und sein Gewißen damit gestillt, daß ja nicht er selbst so etwas von sich gesagt hatte. Aber Johannes war kein solcher: er wußte, was er sein sollte, und das wollte er auch sein, und war es auch, und war damit zufrieden und konnte es allerdings auch sein; denn er hatte eine Würde, welche ihn über die gesammte Vorzeit des alten Bundes stellte und ihn wie eine lichte Pforte einer beßern Zukunft der Menschheit erscheinen ließ. Als ihn deshalb die Abgesandten der Juden, die Priester und Leviten, fragten: „Wer bist du denn? Daß wir Antwort geben denen, die uns gesandt haben. Was sagst du von dir selbst?“ da hatte er die Antwort schon bereit, da antwortete und bekannte er von sich selbst alsbald, ohne Verlegenheit, mit aller Ruhe: „Ich bin eine Stimme eines Predigers in der Wüste: Richtet den Weg des HErrn − wie der Prophet Jesaias gesagt hat.“ Laßt uns die Bedeutung dieser Antwort erwägen.

 Seine Zeit nennt Johannes eine Wüste, und an und für sich ist das jede Zeit. Wie in einer Wüste kein Säen noch Aernten, kein Keimen, Sproßen, Wachsen, keine Blüte und keine Frucht für Menschen ist, wie in der Wüste niemand wohnt, sondern der Wanderer eilenden Fußes hindurchzieht und nach dem Anblick fruchtbaren Landes verlangt, − wie da kein Bleiben, kein Behagen und Wolgefallen, ja auch kein Weg ist, auf dem man sanft einherziehen könnte, sondern Wildnis und Verlaßenheit sich überall zeigt und findet; so ist auch eine jede Zeit an und für sich selbst eine unfruchtbare, unwirtbare, unbehagliche, unwegsame, verlaßene Wüstenei für das Auge Gottes und seiner Heiligen. Mit demselben Rechte, mit welchem der einzelne Mensch, wie er von Natur zu sein pflegt, mit einem faulen, unfruchtbaren Baum oder Dornstrauch verglichen wird, mit eben demselben Rechte wird jedes Volk, ja die gesammte Menschheit eine unfruchtbare Wildnis genannt, von welcher der HErr niemals| Frucht und Freude nehmen kann, welche sich selbst überlaßen, auch unverändert bleiben wird, was sie ist. − Johannes nennt seine Zeit eine Wüste und die volle Bedeutung dieses Wortes, beßer, als wir sie kennen, war ihm klar, denn er lebte in der Wüste.

 Sich selbst nennt Johannes eine Stimme eines Predigers. In der verlaßenen, unwegsamen Wüste eine schallende Stimme, das zu sein bekennt er. Er nennt sich nicht einen Prediger, sondern eine Predigerstimme. Der Ausdruck ist nicht von Johannes, sondern er ist aus der Weißagung genommen, welche ihm seinen Lebenslauf anweist und sein Bild, wie es Gott geschaffen, vor die Augen hält. Darum ist es auch keine gesuchte Bescheidenheit, sondern eine männliche Ergebung in den vom Gotteswort ihm vorgezeichneten Beruf, ein heiliger Gehorsam in den Willen seines Gottes, wenn Johannes auf alle persönliche Würde verzichtet, kein Prediger zu sein begehrt, keines Predigers Ehre will, sondern zufrieden ist, Stimme zu sein und nur Stimme, ganz aufzugehen in den Inhalt seiner Stimme, seiner Predigt und ihren Inhalt verkörpert darzustellen. Er will von sich und seiner Person die Augen und Herzen völlig ablenken, völlig hinlenken auf seine Sendung, die sich in seiner Stimme, seiner Predigt ausdrückt. Die Herrlichkeit dieser will er nicht verringern, ihren Inhalt nicht verkleinern laßen; aber er selbst will zurücktreten − und nicht geachtet sein, wenn man seine Predigt nicht achtet, nur mit ihr geachtet und mit ihr auch verachtet sein.

 Weil ihm denn also nichts auf seine eigene Person, alles aber auf seine Stimme und Predigt ankommt, so wollen wir doch diese Stimme genauer kennen lernen. Johannes nennt sich nicht „die Stimme eines Rufenden“ in der Weise, daß ein jeder die Stimme sich andern Inhalts denken durfte. Seine Predigt ist nicht mancherlei, sondern Eine: er hat eine einzige Botschaft an Judäa, nur eine, und das eine sehr bestimmte, in kurzer Zeit zu erfüllende, aber jeden Falls hochwichtige. Diese Botschaft ist es, welche er als Inhalt seiner Stimme nennt, und ohne welche er die Stimme nicht gedacht haben will: er faßt sie kurz zusammen in die Worte: „Richtet den Weg des HErrn!“ Jesaias nannte einen Sohn Raubebald-Eilebeute, damit derselbe ein lebendiges Vorzeichen eines baldigen Raubes, einer eilenden Beute wäre. So liegt in den Worten „Richtet den Weg des HErrn“ wie in einem kurzen Namen Johannis der Inhalt seiner Stimme und sein ganzer Lebensberuf ausgesprochen. Wie vor einem großen König des Morgenlandes, welcher reisen will, die Läufer dahin eilen, seine Ankunft melden, zur Herstellung der Straßen auffordern; so war Johannis ganze Aufgabe, vor Christo herzulaufen, seine Ankunft zu melden, zur Bereitung der Seelen, zur würdigen Aufnahme Dessen, der da kam, anzumahnen. − Zwar wer will die Wüste bereiten? Wer wird in ihr Wege bauen? Wie kann sie schnell zum Paradiese werden, welches des kommenden Königs würdig wäre? − Aber gerade diese scheinbar trostlosen Fragen führen uns auf das, was der HErr begehrt, auf die Bereitung, die er von einer Wüste verlangen kann. Die Wüste soll erkennen, daß sie Wüste, also des HErrn unwerth ist; die Berge ihres Hochmuts sollen erniedriget und doch auch die Thäler ihres Unglaubens und Mistrauens erhoben, der schlichte, gerade Weg demüthigen, einfältigen Glaubens hergestellt werden. In aufrichtigem Bekenntnis des eigenen Unwerthes, demüthig und weinend über ihre Unfruchtbarkeit und Unwirtbarkeit, aber auch ohne Verzagen, in Hoffnung auf die Hilfe Deßen, der auch eine Wüste durch Seine allmächtige Gnadenkraft umwandeln kann zum fruchtbaren Gartenlande, − so sollte Judäa die geistliche Wüste, zur Zeit des Täufers Dem, der da kommen sollte, entgegenharren und entgegensehen. Das war die Bereitung, welche der HErr beabsichtigte, und diese Bereitung ist die Aufgabe des Täufers Johannes, die er mit aller Kraft umfaßt, der er lebt, die er vollbringt, nach deren Vollbringung er aufhört zu leben, eben weil er zu nichts anderem gesandt ist und nichts anderes in der Welt zu thun hat. Johannes erkennt auch die Lebensaufgabe, die ihm der HErr gesetzt hat: erkennt sie und von wannen sie ihm kam. Deshalb ist seine Rede voll einer so ruhigen Festigkeit, wenn er spricht: „Ich bin eine Stimme eines Predigers in der Wüste: Richtet den Weg des HErrn! wie der Prophet Jesaias gesagt hat.“ Wie wenn er hätte sagen wollen: „Mein Amt, mein Thun und Sollen, das ich auch will, stammt von oben: ich habe mir meinen Lebensberuf nicht selbst erwählt. Wie mich der HErr gewollt, wie mich seine Propheten zum voraus gezeichnet, so und nicht anders, das und gar nicht mehr oder weniger bin ich.“

|  Diese Antwort scheint freilich für die Frage und Erwartung der Juden zu gering. Nur Christus, nur der wieder erwartete Elias, nur der Prophet, welcher vor Christo kommen sollte, hatte ihrer Meinung nach die Berechtigung zu taufen. Den Titel „Stimme eines Predigers in der Wüste“, fanden sie für den hohen Beruf zu taufen zu unbedeutend. Das macht, sie erkannten eben doch nicht die Herrlichkeit und Majestät Deßen, der da kommen sollte, begehrten sie auch nicht zu erkennen: darum sahen sie nicht, was für eine große Würde es war, eine solche Predigerstimme vor Ihm her, und zwar unmittelbar vor Ihm her zu sein. Es fehlte ihnen an Adventserkenntnis, Adventserwartung und Adventsgefühl. Deshalb gehen sie so enttäuscht von hinnen, so herabgesunken von dem, was sie erwartet hatten. Johannes selber fühlte aber ganz anders. Er war durch sein Bekenntnis in seinen Augen nicht kleiner geworden, war auch nicht klein; Ihm däuchte es nicht etwas geringes, ein Diener und eine Botenstimme des HErrn zu sein und dicht vor Ihm her zu laufen; denn er kannte diesen HErrn, wußte, wie nahe Er war, und glaubte an Ihn. Er sah in seiner eigenen Person im Grunde nichts weniger, als Christus im vorigen Evangelium in ihr gesehen und von ihr gepredigt hatte: erkannte er sich doch als die Stimme „Richtet den Weg“ vor Ihm her, also doch jeden Falls als Boten und Engel, der Ihm den Weg bereiten sollte, als den Nächsten bei Ihm, weil er der Nächste vor Ihm war.

 Liebe Brüder! Wir erkennen in Johanne vor allem eine leuchtende Wahrhaftigkeit  − und sein Beispiel zeigt uns, daß Wahrhaftigkeit eine Mutter großer Tugenden ist. Ja, wer nur eins im Leben erreichen würde, wahrhaftig zu sein, wie Johannes, der würde in der That ein Ziel erreicht haben, an dem er einen leuchtenden Kranz vieler Tugenden fände. Oder ist es nicht so? Johannes ist wahrhaftig, damit ist er − daß ich nur einiges nenne − gerecht, damit ist er bescheiden, damit ist er demüthig. Er ist gerecht, indem er einem jeden − sich, den Propheten, dem HErrn läßt und gibt, was ihnen ziemt. Er ist bescheiden, indem er sich seines Maßes gegen jedermann bescheidet. Er ist demüthig, indem er sich vor seinem HErrn neigt. Wahrheit in Gerechtigkeit, Wahrheit in Bescheidenheit, Wahrheit in Demuth − welch ein Glanz, welch ein Reichtum von Mannestugend ist Johannes in der Wahrhaftigkeit gegeben!


 Doch wollen wir seine Demuth noch insbesondere kennen lernen, indem wir sein Zeugnis von JEsu betrachten.

 Sich selbst recht zu erkennen, ist schwer. Zwar wird es in manchen Fällen leicht, einzusehen, was man nicht ist; in den meisten Fällen aber bleibt uns, was wir nicht sind, lebenslang verborgen. Ach wie manches schreibt sich der Mensch zu, was ihn die zurückhaltende Schaar seiner Freunde nur mit schweigendem und bedauerndem Lächeln von sich rühmen, sagen oder voraussetzen läßt! Wie schwer ist es also, nur die erste Stufe der Selbsterkenntnis zu erreichen, welche doch die leichtere ist. Und nun erst die zweite, zu erkennen, was man ist. Wie unglückselig wäre der Mensch, wenn seine ganze Selbsterkenntnis nur in der Erkenntnis deßen bestände, was er nicht ist! Es muß doch jeder auch etwas sein, was er erkennen, deßen er froh werden darf und soll. Ohne die Erkenntnis deßen, was wir von Gottes Gnaden sind, würde uns ja die Erkenntnis deßen, was wir nicht sind, zu Boden drücken. Und doch ist es in der That sehr schwer, mit sicherem Auge zu erspähen und fest zu halten, was man ist. Wie wenige mögen wol im Leben sein, die da wißen, was sie von Gottes Gnaden in der Welt sein können, sein sollen oder sind! Wie viele dagegen, die bloß darum des Lebens weder satt noch froh werden können, weil sie beides nicht wißen − was sie nicht sind und was sie sind! − Wie schwer ist es also, zur Erkenntnis seiner selbst zu kommen! Ohne Vergleich schwerer ist und bleibt aber dennoch die Erkenntnis Gottes unsers HErrn. In der Selbsterkenntnis haben auch Heiden ein gewisses Maß erreicht: was aber außer seiner ewigen Kraft und Gottheit konnten je Heiden von Gott erkennen, − und wie viel geringer, sogar als sie hätte sein können, war insgemein die Gotteserkenntnis der Heiden! Gott, Sein Sohn und Geist war ihnen verborgen, bis sie Theil bekamen an der Offenbarung des neuen Testamentes. Die Erkenntnis Gottes ist darum doch das erste Zeichen und der erste Beweis von der Nähe Gottes, − und je größer ein Mensch ist in der Erkenntnis Gottes, desto näher ist er Gott und Gott ihm, desto mehr ragt er über andere hervor.

|  Johannes hat Erkenntnis Gottes, denn er hat ja Erkenntnis Gottes in Christo JEsu. Zwar übertrifft ihn der Kleinste im Himmelreich, welches am ersten Pfingsten seine Thüren für die Menschen öffnete, in derselben Erkenntnis, und es ist wahr, was einer sagte, daß ein Kind, welches den Inhalt des apostolischen Glaubensbekenntnisses erfaßt hat, viele herrliche Dinge weiß, welche Johannes noch nicht wißen konnte, sondern erst im Zwielicht der Zukunft und im Morgenroth der Weißagung sah. Aber anderer Seits ist es doch gewis, daß Johannes größer war nicht bloß als alle heidnischen Weisen vor Christo, sondern auch als alle Kinder des alten Testaments. Wer unter allen, die vor ihm gewesen, stand JEsu näher, erkannte Ihn mehr, war also auch größer, als der Täufer, der nicht allein ein Prophet, sondern der Engel und Vorläufer Christi war? Seine Erkenntnis der Gnade Gottes in Christo JEsu hat sich noch nicht über JEsu Leiden und Verherrlichung und über des heiligen Geistes Macht und Werk erstrecken können, wie es jetzt bei den Gläubigen des neuen Testaments der Fall ist; aber auch schon unser Text kann uns Beweis liefern, welch eine Fülle Johannis herrliches Bekenntnis von Christo in sich hält. Höret mir noch ein wenig zu, meine Theuern, so werdet ihr mir Recht geben, wenn ich behaupte, daß Johannis Erkenntnis zu der unsrigen sich verhält wie eine herrliche Blüte zu ihrer reichen Frucht.

 Die Juden hatten sich getäuscht: Johannes war nicht Christus. Das gibt Johanni Gelegenheit von Christo zu predigen. Neidlos, leidlos, − würdevoll, demuthsvoll, − friedenvoll, freudenvoll, wie es dem Freunde des Bräutigams geziemte, spricht er gleichsam zu den Juden: „Ihr irrt euch, aber nur in der Person, nicht in der Zeit. Ich bin zwar nicht Christus, aber: Er ist mitten unter euch, − noch kennt ihr Ihn nicht, bald werdet ihr Ihn kennen, − den, der vor mir gewesen ist, des Diener ich bin, des Schuhriemen ich auflöse, obschon ich es nicht werth bin.“

 Das ist im Kurzen Johannis Erkenntnis und Bekenntnis von JEsu. Und wie viel liegt in den kurzen Sätzen dieses Bekenntnisses!

 Er ist mitten unter euch getreten! Ueberraschende Rede für die Juden, für alle Juden, für die, welche eines guten, wie für die, welche eines bösen Willens waren! Ja eine überraschende Rede für die wachenden, träumenden und schlafenden Seelen, eine erschreckende Rede für die, welche dem Heiligen in Israel und Seinem Auge nicht begegnen durften, − ein Freudenwort aber auch für die, welche auf das Reich Israel warteten! Jeden Falls war also nach des Täufers Predigt die Zeit der Verheißung zu Ende, die Zeit der Erfüllung gekommen, der alte Bund geschloßen, aller Patriarchen Trost von Adam her, aller Propheten Gesicht und Predigt, aller Psalmen Lied und Lob gekommen. Es war die Zeit des großen Advents, der schöne Frühling der Welt vorhanden. − Wie mag dieß Wort: „Er ist mitten unter euch getreten“, also schon geboren, bereit, gerüstet − wie mag es in die Herzen der jüdischen Hörer gedrungen sein!

 Aber wie mag auch die Fortsetzung des Wortes ihre wogenden Herzen, je nachdem sie beschaffen waren, von Freud in Leid, von Leid zu Freud geschaukelt haben. „Ihr kennt Ihn nicht!“ so rief Johannes. Also ist Er zwar da, aber in einer Gestalt, daß man Ihn miskennen kann, − da, aber so, daß Ihn möglicher Weise Sein eigenes Volk übersehen könnte, − da, aber vor ihren Augen verborgen, von ihnen gar nicht aufzufinden, wenn Er sich nicht selbst offenbart. Das war unerwartet. Unerwartet war es, daß Er da sein sollte, − und nun da, aber verborgen, das war doch noch unerwarteter. Nicht bloß die Juden, alle Völker erwarteten einen Heiland, und endlich gekommen, verbirgt Er sich, wie einst Saul, nachdem Er König geworden war! Ist Er nicht der Held, dem die Völker anhangen sollen, und Er verbirgt sich? − Siehe da, wie wahr ist, was die Kirche lehrt, wie stimmt Johannes so völlig mit ihr ein, da auch er, wie sie, eine Erniedrigung Christi lehrt, eine Verborgenheit, einen stillen Aufgang der Sonne, die aller Welt zum ewigen Leben leuchten sollte!

 Aber St. Johannes lehrt nicht bloß eine Erniedrigung. Er weiß die frommen Herzen unter seinen Zuhörern nicht bloß traurig, sondern auch wieder fröhlich zu machen. Denn er setzt hinzu: „Er kommt nach mir!“ − Er ist da, sagt er − und gleich darauf: „Er kommt“: wie ist das? Ist er da, so scheint er nicht erst zu kommen. Kommt er erst, so ist er noch nicht da. Ein scheinbarer Widerspruch, der sich leicht löst. Er ist da, aber ihr kennet ihn nicht; er wird kommen, d. i. er wird sich euch zeigen und| zu erkennen geben, bald, unaufgefordert; er wird öffentlich auftreten, sein Amt und Werk selbst übernehmen. „Ich taufe mit Waßer“ − aber „Er kommt nach mir!“ spricht der Täufer ahnungsvoll und Herrliches verheißend. Ich taufe mit Waßer, − aber harret: Er kommt und wird euch Größeres erweisen. Auch meine Taufe ist nicht von dannen, aber Er wird taufen mit dem heiligen Geiste, nicht in meiner Weise und in meinem Maße, − und am Ende wird Er auch kommen und mit Feuer taufen, wenn Er den Weizen von der Spreu wird geschieden haben. Segnen − strafen wird Er, erlösen und richten, sammeln und zerstreuen, selig machen und verfluchen. „Er kommt“! – Sieh da, einen hellen Blick in JEsu Aemter und die Zeit Seiner Verherrlichung öffnet Johannes den Juden, die ihn fragten, und dem horchenden Volke. Von ihm aus, von seinen Lippen aus gieng Ahnung, Schauer, Ehrfurcht vor dem großen, noch unbekannten Gegenwärtigen, der Johannem überstrahlen wird, − und den Johannes anbetet.

 „Er ist mitten unter euch“ − „Er kommt“ − „welcher vor mir gewesen ist“, − „des ich nicht werth bin, daß ich Seine Schuhriemen auflöse.“ „Er ist mitten unter euch“ − also lebt Er in der Gegenwart. „Er kommt“ − also Sein ist die Zukunft. „Er ist vor mir gewesen“ − Ihm gehört die Vergangenheit. JEsus ist ein halb Jahr jünger als Johannes, und ist doch vor Johannes gewesen. Johannes weiß ganz genau, daß JEsus später geboren ist, als er selbst, und sagt doch, Er sei vor ihm gewesen. So muß er Ihm ja ein Dasein vor der Menschwerdung zuschreiben! So muß er ja in Ihm erkennen den Mann, den HErrn, der da ist wahrhaftiger Gott, vom Vater in Ewigkeit geboren, und auch wahrhaftiger Mensch, von der Jungfrau geboren. So ist also der Täufer Johannes bekannt mit der Lehre des h. Apostels Johannes, des Theologen, welcher anbetend predigt: „Das Wort ward Fleisch und wohnete unter uns und wir sahen Seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit“! − Ja, das ists, und daher bei dem Täufer das Gefühl des tiefen Unwerths, Christo gegenüber. Es ist keine süßelnde Empfindelei und empfindelnde Verehrung eines Menschen, nein, es ist Anbetung, es ist Kniebeugung, es ist Händefalten, es ist Lob- und Preisgesang, was Johannes in dieser Adventszeit mit den Worten zu erkennen gibt: „Ich bin nicht werth, daß ich Seine Schuhriemen auflöse!“ Völlige, gründliche Wahrhaftigkeit, demüthige Gerechtigkeit ist es, was er sagt! Es ist auch nicht anders: Erzengel und Engel, alle seligen Seelen und alle Heiligen auf Erden reden gleich also, gleich wahr. Denn wer ist werth, dem, der war und ist und kommt, auch nur den geringsten Dienst zu erweisen?

 Das ist das Zeugnis, welches Johannes zeugete von JEsu, dem Sohne Gottes und Marien. Das gab er den Priestern und Leviten mit heim, daß sies dem hohen Rathe hinterbrächten. Das gieng freilich über alle Begriffe der Zeitgenoßen. Gott, Mensch, Gott und Mensch, von Seinem Vorläufer verehrt, ja angebetet, − und dem Volke, den Leviten, den Priestern, den Hohenpriestern nicht bekannt, − in der Welt, ohne sie zu beachten; in Israel, ohne nach den Aeltesten zu fragen! So hatten sies nicht gemeint, ganz anders hatten sie gehofft. Bekannt, hervorragend, wenn auch nicht Gott, nicht Immanuel, wenn nur ihnen gnädig, ihnen ergeben, ihnen mit Ehren entgegenkommend, das hätten sie eher zugelaßen! Aber Gott Lob, daß es nicht nach der Juden Sinn gieng! Das ist das Zeugnis Johannis und kein anderes. So spricht er von Christo, und so spricht die ganze heilige Kirche ihm nach. Gegenwärtig, mitten unter uns, nach Seiner Allgegenwart, − von Ewigkeit her, nach Seinem Wesen, − immer im Kommen, nach Seiner Gnade − das ists, was Johannes, was die Kirche erkennt. So sehen wir im Glauben unsern HErrn und fallen mit Johanne vor Ihm nieder in dieser Zeit des Advents, da unsre Augen, unsre Herzen gen Osten gerichtet sind und Seiner harren.


 Liebe Brüder! In die Versuchung Johannis kommen wir nicht. Wer wird, wer sollte zu unser einem kommen und ihn fragen: „Bist du Christus?“ Christus ist da, das weiß man, so weit es eine Kirche gibt; wir aber sind einander allzumal so weit bekannt, daß uns solche Gedanken niemals auch nur im Fiebertraume kämen. Das ist richtig. Aber auch etwas anders ist richtig, daß manchen unter uns der vorhandene, uns gepredigte, unter uns bekannte Christus nicht ist, was er Johanni war. Nicht da, nicht von Ewigkeit, nicht kommend, nicht kommend im Worte, nicht im| Tode, nicht am Ende der Tage − das ist das armselige Bekenntnis einer großen Anzahl von Menschen, die den Namen des Hochgelobten noch zu tragen, noch Christen zu heißen sich nicht entblöden. Sie kennen Ihn nicht. Und sich kennen sie auch nicht. Kenneten sie sich, so würden sie nicht genug an sich haben, so würden sie nicht so reich in sich, so würden sie nicht so selbstgenügsam, so wohl zufrieden mit sich selber sein, sie würden voll Schrecken über ihre Leere, ihre Schwachheit, Thorheit, Bosheit suchen gehen, ob sich einer fände, den sie anstatt ihrer selbst lieben, ehren, fürchten könnten; sie würden suchen − und finden. Aber der Hochmuth hat alles eingeborene Sehnen nach dem Ewigen ertödtet, und die Lebenszeit, die doch eine fortwährende Adventszeit JEsu ist, aller Hoffnung und Erwartung entledigt. Man wartet auf keinen Christus mehr, man hat ohne ihn alles genug, gleich jenen neuen Juden, die sich des großen Fortschritts freuen, auf keinen Heiland mehr hoffen zu müßen. Christus gilt Vielen nichts mehr, was soll ihnen Sein Geburtstag sein? Man freut sich Seiner nicht, wie soll man sich Seiner Geburt freuen? − Ach, es ist traurig, Freunde! Wenn die Zeit kein Advent mehr ist, wenn man des HErrn nicht mehr wartet und nicht mehr Seiner Geburt sich freuen kann: was ist denn das Leben, was der eigene Geburtstag, und was der eigene Todestag! Sind wir nicht für Ihn geboren, weil Er nicht für uns geboren ist, für wen und für was sind wir dann geboren? für was leben wir dann? und was ist dann unser Sterben?

 Wenden wir uns schaudernd von dem Theil der Menschheit weg, der sich alle Freude durch Unglauben raubt und freiwillig verarmt, indem er den HErrn der Herrlichkeit und Sein Reich aufgibt. Wenden wir uns langsam und für denselben betend weg − dem heiligen Johannes und seinen Gleichgesinnten zu, der seligen Schaar vollendeter Knechte und Mägde Gottes, die in JEsu Geburt ewige Freuden fanden, − zu den Gleichgesinnten in der noch streitenden Kirche, die im lieblichen Feste der Weihnachten mehr als ein bloßes Kinderspiel erkennen, die angelegentlich begehren das Dankfest für die Geburt ihres Heilandes zu feiern, die sich mit Johannes vor Ihm niederwerfen und nichts rühmen wollen, als Ihn und Seine Gnade. Was sollen wir thun, Freunde, weil es Weihnachten wird, weil wir das Geburtsfest JEsu mit Seiner Kirche feiern dürfen? Was sollen wir thun? Was können wir thun? Wenn wir uns und alle unsere Habe Ihm darbringen zum Opfer: was ists? Wir sind ja zuvor sein: indem wir uns und was wir haben, Ihm geben, empfängt Er nichts, der ewig reiche Gott, nur wir haben Opferfreuden! Ich will euch sagen, was wir thun wollen. Wir wollen Ihn anbeten von ganzem Herzen und wollen Ihn bitten, daß ER uns armen Bettlern, die wir von Seiner Gnade leben, verleihen wolle, immer gerne Seine Güter, Sein Wort, Sein Sakrament, Seinen Geist − und was Er gibt, zu empfangen. Ja, weil wir Ihm so gar nichts geben können, nichts vergelten, nichts verdanken; so wollen wir anbetend immer nehmen, hier, in der Stunde des Abschiedes, ewig − das wollen wir und das helf ER uns! Wenn wir nur immer nehmen können; das ist zwar demüthigend, aber es ist auch genug zum Seligwerden und Seine Ehre wird damit erhöhet. Geben ist seliger als nehmen − das ist Seine Seligkeit. Unsre ist − immer nehmen. Dazu helf uns der gnädige und barmherzige Herr! Amen.




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