Hundertjährige Wandlungen in den Zielen der Polarforschung

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Autor: J. Loewenberg
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Titel: Hundertjährige Wandlungen in den Zielen der Polarforschung
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 16, S. 291–292
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Hundertjährige Wandlungen in den Zielen der Polarforschung.

Zur Säkularfeier John Franklin’s, geb. 16. April 1786.

Am 16. April 1786 wurde John Franklin in Lincolnshire in England geboren, der Polarreisende, der durch seinen grauenvollen Untergang Jahrzehnte lang die Theilnahme der ganzen civilisirten Welt in dem Maße rege hielt, daß zur Erforschung seines tragischen Geschicks wie nie zuvor viele Millionen theuersten Guts und Tausende unschätzbarer edler Menschenleben geopfert wurden.

Es ist hier nicht die Absicht, wie sonst bei säkularer Erinnerung an einen großen, seltenen Mann, eine Biographie demselben zu geben und seinen Lebensgang wie seine Schicksale zu rekonstruiren. Franklin’s Leben und tragisches Ende sind schon in den verschiedensten Schriften jedem Alter vorgeführt und bekannt geworden. In unseren Zeilen sollen statt dessen die Wandelungen markirt werden, welche die Ziele und Methoden der Reisen und Forschungen in der Polarzone in dem Jahrhundert seit Franklin’s Geburt erfahren haben: darauf soll hingewiesen werden, wie, im Gegensatze zu den früheren materiellen Zwecken und Zielen, welche von einzelnen Staaten selbstsüchtig verfolgt wurden, nunmehr bei Polarreisen unserer Tage die Lösung wissenschaftlicher Probleme eine Aufgabe aller civilisirten Völker geworden ist.

Im Jahre 1786, also im Geburtsjahre John Franklin’s, schloß Georg Forster eine kritische Uebersicht der bisherigen nordwestlichen Polarreisen mit den Korten: „Fest steht das Faktum, daß die Unmöglichkeit einer nordwestlichen Durchfahrt in eine schiffbare Meeresgegend erwiesen ist, und fest wird es stehen, bis eine neue Katastrophe der Erde Neptun’s und Pluto’s Reichen neue Grenzen absteckt.“

Auch Kapitän Clerke, der zweite Befehlshaber auf Cook’s dritter Reise, erklärte um dieselbe Zeit die Versuche, durch die Beringsstraße vorzudringen, als „hellen Wahnsinn“, und der Herausgeber der Beschreibung dieser dritten Reise sagt: „Die letzten Reisen haben endlich der Welt die Wohlthat erwiesen, sie für immer von dem Wahne derartiger Entdeckungsreisen zu heilen.“

Und in der That wurden seitdem bis zum Jahre 1818 keine neuen Polarreisen ausgerüstet und entsendet, woran freilich auch die damaligen Kriege nachdrücklich hinderten. Aber Forster’s und Clerke’s Warnung war allmählich verhallt, und es bestätigte sich auch jetzt die alte Wahrheit: daß ganze Nationen wie Individuen, wenn sie einmal Opfer und bedeutende Kraftanstrengungen an die Erreichung eines Zieles gesetzt haben, fast eigensinnig auch dann noch in ihren Bestrebungen beharren, nachdem sich längst herausgestellt hat, daß die Erreichung des vorgesetzten Ziels unmöglich ist.

So kam es denn, daß bereits 1818, als der Walfischjäger Scoresby Nachrichten von den günstigen Eisverhältnissen im hohen Norden heim brachte, die englische Regierung die alten Pläne zur Aufsuchung einer nordwestlichen Durchfahrt nach dem Stillen Ocean wieder aufnahm. In Folge dessen entdeckte John Roß unter Anderem den magnetischen [292] Nordpol, und Parry drang westwärts bis zur Melville-Insel, jenseit des 110. Grades vor.

Wichtiger und folgenreicher als alle früheren Reisen versprach aber jene Entdeckungsfahrt zu werden, die im Jahre 1845 von dem englischen Marine-Ministerium ins nördliche Eismeer hinausgesandt wurde. Ihr Befehlshaber war der schon vielfach bewährte John Franklin. Er sollte mit den beiden Schiffen „Erebus“ und „Terror“ aus der Baffinsbai über die Melville-Insel hinaus westwärts vordringen und erst bei 98 Grad westlicher Länge eine südwestliche Richtung nach der Beringsstraße einschlagen.

Am 26. Mai verließ Franklin mit den genannten Schiffen und einer Bemannung von l40 Mann die Themse, seine letzten Berichte datiren vom 12. Juni 1845 aus der Baffinsbai.

Als über drei Jahre alle weiteren Nachrichten ausblieben, begann die schier endlose Reihe der Nachforschungen von Osten, Süden und Westen, die als unvergängliches Denkmal von Menschenliebe und selbstloser Aufopferung in allen Zeiten glänzen werden. Allein in den ersten sechs Jahren, 1848 bis 1854, wurden 19 Expeditionen unter dem Kommando der tüchtigsten Officiere, mit 31 Schiffen und einem Kostenaufwand von weit über eine Million Pfund Sterling ausgesandt. 1859 fand man zwar die Nachricht vom Tode Franklin’s; aber erst nach weiterer 20jähriger mit großen Opfern und Anstrengungen ausgeführter Forschung gelang es Schwatka im Jahre 1879, die Unglücksstätte des Untergangs der letzten Gefährten Franklin’s zu finden, jene grauenvolle Stätte, welche Payer in seinem berühmten, so erschütternden Bilde auch uns veranschaulicht hat.

So waren die Resultate aller Anstrengungen der bisherigen Polarforschung nur negative: die gefundenen Durchfahrten waren unpraktikabel, und die Rettung Franklin’s war nicht gelungen. Aber dadurch wurde der Eifer, den Pol zu erreichen, nicht gedämpft, und endlich verliefen alle Anstrengungen der Engländer und Nordamerikaner in eine Hetzjagd, in einen wahren Sport, sich dem Pol zu nähern, um festzustellen, ob derselbe von Eis, offenem Meer oder Land umgeben sei, wobei man durch den Smithsund bis über den 82. Grad vordrang.

Inzwischen hatte August Petermann in Deutschland für Polarreisen zu agitiren begonnen. Diese Reisen sollten indeß nicht, wie die bisherigen, im Westen, sondern im Osten von Grönland ausgeführt werden. Was die deutschen nordischen Argonauten Koldewey, Payer, Weyprecht geleistet haben, ist noch in frischem Andenken. Wohl standen die beiden Letztgenannten in österreichischem Dienst; aber ob dieselben Käppis oder Helme, blaue oder graue Hosen trugen, ob das neuentdeckte Land Franz Joseph oder Wilhelm, ob ein eisumwalltes Vorgebirge auf den Namen Andrassy oder Bismarck getauft wurde, was verschlägt das bei einer Unternehmung, die von Deutschen angeregt, in deutschem Geiste geleitet, von Deutschen ausgeführt wurde. Auch Nordenskjöld, der glücklich die ganze Nordküste Sibiriens befuhr und durch die Beringsstraße drang, ist germanischen Stammes.

So befriedigend auch die letzten Resultate für die Kenntniß der Nordpolarzone waren, brach dennoch Weyprecht 1875 den Stab über alle bisherigen Ziele und Methoden der Polarreisen, wies darauf hin, daß die Erforschung physikalischer Verhältnisse wichtiger sei, als topographische Entdeckungen, und daß Beobachtungsstationen zu diesem Zwecke das geeignetste Mittel wären. Seine Anregungen wurden im Jahre 1881 durch die vereinigten Regierungen Europas verwirklicht und somit die internationale Polarforschung der Zukunft inaugurirt. In weiterem Verfolg der Bestrebungen in diesem Sinne wurde auch die Nothwendigkeit anerkannt, der Erforschung der Südpolarzone die gleiche Aufmerksamkeit zuzuwenden, wie der nordpolaren.

Wir bringen am heutigen Tage diese gedrängte Uebersicht der Wandlungen in den Zielen und Methoden der Polarforschung in den letzten 100 Jahren, um an den großen Märtyrer der Polarforschung, John Franklin, zu erinnern und in gewissem Sinne einen warnenden Spiegel vorzuhalten vor menschlichen Irrthümern, aber auch die leuchtende Fackel für die idealen und wissenschaftlichen Bestrebungen der nächsten und späteren Zeiten. J. Loewenberg.