Im Gottesländchen/Landeinwärts

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Am kurischen Strande Im Gottesländchen
von Edgar Baumann
Wieder im Abautale
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Landeinwärts.

16. Juli. In der Morgenstunde verließen wir Angern. Am Rande der Lichtung, wo das Dorf lag, warf ich bei einem goldenen Kornfelde noch einen Blick auf seine Kirche und Häuser. Darauf fuhren wir in Wald hinein. Allmählich wurde die Gegend hügeliger. Der Wald, der uns lange begleitet hatte, hörte wieder auf, und der Weg führte durch gutes Getreide- und Wiesenland. Das erste größere Gut am Wege war Riddelsdorf, das bis vor kurzem einem Grafen L. gehört hatte, der ein ausgezeichneter Landwirt gewesen sein und selbst täglich alles inspiziert haben soll. Weiterhin fiel uns durch seine schöne Lage in bergiger Gegend an einem Teiche, wo stolze Schwäne schwammen, das vorzüglich gehaltene, einem Engländer gehörige Gut Rinseln auf. Das weidende Vieh war hier mit Herdenglöckchen versehen, die harmonisch durcheinanderklangen. Nun wurde die Gegend sehr bergig, romantisch. Bald erblickten wir in der Ferne die hochgelegene, stattliche Kirche vom Selgerben. Dort kehrten wir beim Lehrer, einem großen Bienenzüchter, ein, der uns mit echtem kurischen Honig an Ort und Stelle bewirtete. Zum Bau der Kirche habe, wie man mir erzählte, Graf L., der bei der Bevölkerung sehr beliebt gewesen sei, 20,000 Rbl. gespendet. Der Silberkranz, den die Gemeinden der Umgegend auf sein Grab gelegt hatten, hing rechts vom Altare. Vom Kirchberge aus hatte man eine [68] schöne Aussicht auf den reizenden Selgerbenschen See, der sich unten im Tale hinzog. Lohnend war ein Spaziergang zu den nahen Kolterbergen. Dort gab es noch einen Eichenwald, einen Teil von dem großen, der hier einst früher überall die Berge bedeckt haben soll.[1] Durch die romantischen, mit Laubwald bewachsenen Berge floß zwischen steilen Talwänden ein Bächlein zum Selgerbenschen See. Bei einem Gehöfte bildete es einen kleinen Fall, wo nach dem Regen das Wasser stark rauschte. An dem einen Ende des sich weit bis Livenhof hinziehenden Sees lag das Gut Selgerben. In der Mitte des Wasserspiegels befand sich dem Gutsgebäude gegenüber eine kleine mit Schilf und Gebüsch (auch Birken) dicht bewachsene Insel. Über ihre Entstehung hörte ich folgende Sage. Eines Tages habe der Teufel in einem Seitentale beim See geschlafen. Da habe er plötzlich die Glocke der Livenhöfschen katholischen Kirche läuten gehört. Dadurch sei er in die Flucht gejagt worden und nach den Kolterbergen entflohen. Als er über den See gelaufen, sei er gestrauchelt und habe sein Kissen, das er unter dem Arme getragen, fallen gelassen. Das sei nun diese kleine Insel. Auf den Kolterbergen habe er einen weitern Anlauf genommen, wobei er seine Fußspur in einem noch vorhandenen Steine zurückgelassen. Auf dem See, wo wir zu Boot fuhren, war es sehr schön. Still ruhte er, vom Abendscheine überstrahlt. Am Himmel sah man rosig angehauchte, schöngeformte Wolken. Auf einer Anhöhe stand die hübsche Kirche mit dem schlanken Turme. Ringsum waren grüne Ufer, Hügel, Täler und dunkler Wald. Am Ende das Sees schaute das dunkelrotgedachte Gutshaus aus grünem Gebüsch hervor. Die kleine Insel, „des Teufels Kopfkissen,“ lag lieblich mitten in der Flut. Leise bewegte sich das Uferrohr im Winde. Über den See flogen in kühnen Schwingen Schwalben. [69] Alles das verlieh dem Landschaftsbilde einen eigenen Reiz. Der See soll bis 4 Faden tief und fischreich sein; ein vom Pächter des Gutes gefangener Hecht habe 22 Pfund gewogen.

17. Juli. Der Lehrer führte mich mit seinem Gefährt weiter. Die Gegend blieb bergig. Links lag das Teufelstal, wo der böse Gesell dazumal geschlafen haben sollte. Überall Lehmboden. In einem grünen Tale, wo einst ein Flüßchen zum Selgerbenschen See geflossen, jetzt aber nur ein kleines Bächlein zu sehen war, lag das Mühlengesinde. Von der Mühle war schon längst keine Spur mehr vorhanden. Als wir wieder bergan fuhren, waren überall Wiesen und Felder zu sehen. Oben auf dem Berge lag der wohlgepflegte Friedhof von Livenhоf. Er war mit einem großen Eingangstore versehen, über dem eine Glocke hing. Ein Gang in der Mitte teilte ihn in zwei Hälften: einen lutherischen und einen katholischen. (In Livenhof soll es noch gegen 100 Katho­liken geben.) Friedlich ruhten hier Gläubige und Ketzer beisammen. Nun führte der Weg bergab, vorüber am katholischen Pfarrhofe und Schulhaufe, wie auch der Kirche. Einige Werst weiter lag hinter Wäldern das fürstlich Livensche Schloß Senten, ein sehr großes Gebäude. Ein merkwürdig kleiner, dicker Kastellan führte uns in seinen Räumen, wo es viel zu sehen gab, umher. Mächtige Säulen schmückten die Veranda an der Parkseite. Schöne Blumen und Gewächse in großen Behältern erfreuten dort das Auge. Im großen Saale hätten, nach der Aussage unseres Führers, früher, als der vor 7 ober 8 Jahren verstorbene alte Fürst seine Silberhochzeit gefeiert, Spiegel die Wände gebildet. Die derzeitigen Besitzer wohnten in Fockenhof und Kabillen. Bekanntlich führen die Livens nach einer alten Überlieferung ihr Geschlecht auf den Livenkönig Kaupo zu­rück. Daher habe der alte Fürst zuweilen im Gespräche mit seinen Leuten gesagt: „Ich bin ja auch eures Stammes.“ Eines alten mit Leder bezogenen Stuhles, der uns auf dem [70] Dachbalkone gezeigt wurde, muß ich erwähnen. Sobald früher ein Glied des hier ansäßigen Geschlechts seinen Tod herannahen gefühlt, habe es auf dem Stuhle Platz nehmen müssen, um dort zu verscheiden. Also ein Familien-Sterbestuhl! Ein großer Park umgab das Schloß. Dort sollte sich eine Hauskapelle des verstorbenen Fürsten befinden. In der Grotte am verwachsenen Teiche hielten sich jetzt Schlangen und anderes Getier der Nacht auf. Selten wird, wie der Aufseher sagte, das Schloß von seinen gegenwärtigen Herren besucht. Ihre letzte Ruhestätte haben die verstorbenen Besitzer von Senten in der Kirche zu Balgaln gefunden. Der Verwalter des Gutes, ein Baron H., wohnt in einem nahen Beigute. — Bis Zehren führte der Weg durch Wald und Feld über hügeliges Land. An einer Stelle sahen wir ganze Schwärme von Zitronenfaltern. Mein Führer erzählte mir manches Interessante. Bekanntlich findet zurzeit bei uns auf dem Lande eine Verminderung der Bauerngemeinden statt, indem die kleineren den größeren angeschlossen werden. Das führe oft zu Intrigen innerhalb der Gemeindeverwaltungen. Inbezug auf die Feier des Johanniabendes sagte er, es sei früher hier zu Lande eine Lust gewesen, zu sehen, wie sich jung und alt am Lihgosingen beteiligt, seine Zimmer mit Grünwerk und Blumen geschmückt, Hof und Haus und Felder umzogen und besungen hätte, wobei bei eintretender Dunkelheit auf den Bergen Freudenfeuer aufgeleuchtet seien. Die Leute in Selgerben seien geistig recht rege, läsen gerne Bücher und Zeitschriften. Auch noch folgende Erinnerung aus einer vergangenen Zeit unserer Heimat sei hier wiedergegeben. Als in den siebziger Jahren die „Balß“ (ein lettisches Wochenblatt „Die Stimme“) zu erscheinen begonnen, hätte ein Propst sie zu einer Predigersynode als „ein vom Teufel im höchsten Grade besessenes Blatt“ gekennzeichnet; ein anderer deutscher Pastor dagegen versichert, daß er den Redakteur (Herrn A. Weber) als einen sittlich unbescholtenen [71] Mann kenne und in sittlicher Hinsicht nichts gegen das Blatt einzuwenden hätte. — Gut Zehren besaß einen ansehnlichen Park und ein schönes Herrenhaus. Beim Friedhofe standen zu beiden Seiten des Einganges große, schöne Trauereschen. Hinter diesem Gute wurde die Gegend ebener: man konnte weithin über die niedrig gelegenen Wälder in die Ferne schauen, wo sich am Himmelsrande im Nebelgeflimmer der Kandausche Kirchturm zeigte. Hinter größeren Wäldern kreuzten wir die Tuckum-Talsener Chaussee. Drei Werst vor Kandau lag links das Gesinde Wehwern, wo sich der charakteristische große Backofen einer Ziegelei erhob. Bald darauf blickte man hinab auf das nach Puhren hin weit zu überschauende Abautal. Wir passierten noch die freundlich gelegene Liegensche Wassermühle und fuhren dann auf der Landstraße parallel der Abau im herrlichen Tale Kandau zu.

  1. Selgerben heißt auf lettisch „Dsirziems,“ Dorf im (großen) Walde.