Im Gottesländchen/Von Talsen nach Rohjen
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Allein setzte ich am 7. Juli meine Wanderungen fort. Mit K. fuhren wir noch einmal nach Waldegahlen hinaus, um dort nach rechts abzubiegen. Das nächste Gütchen am Wege war Wigrieschen. Wersteweit führte der Weg durch [51] Wald und Feld. Als wir nach einer geraumen Zeit das auf einer Anhöhe unweit des Erwahlenschen Sees gelegene Saßmacken erblickten, fielen uns schon von weitem inmitten der rotgedachten Häuser die lutherische Kirche und die Synagoge auf. Der Hauptweg in Saßmacken war die breite Marktstraße. Juden gab es hier noch mehr als in Talsen. Die lutherische Kirche war alt und verwittert. (In einem Grabgewölbe derselben sollen noch die wohlerhaltenen Särge und Leichname früherer Besitzer von Saßmacken, derer „von Saß“, zu sehen sein.). Bei einer Mühle am Rande des Städtchens befand sich der armselige Friedhof. Hier hatte man einen weiten Ausblick auf den langen, schmalen Erwahlenschen See, der von einem Kranze von Gütern umzogen wurde, die zwischen Wald und Wiese zerstreut lagen. Erwähnenswert ist, daß ein Wirtshaus in Saßmacken „Nadelruh“ heißen soll, welchen Namen angeblich ein ehemaliger Schneider, jetzt Gasthausbesitzer, seinem Etablissement aus Pietät gegeben habe. Hinter dem Städtchen machte der Weg eine Wendung um den See, um in der Richtung zum Meere weiterzuführen. Die Gegend war sehr bebaut und bewohnt. Da kam zunächst rechts das rechtgläubige Gotteshaus, ein Ziegelbau, und das Haus des rechtgläubigen Geistlichen, bald darauf eine Bierbrauerei unweit des Gutes Saßmacken und dann das Erwahlensche Gemeindehaus. Diese Gebäude lagen, von Gebüsch umrahmt, in nächster Nähe des Sees am Wege. Dort, wo bei Erwahlen der See ein Ende hat, teilte sich der Weg: links nach Windau, rechts nach Rohjen. Unweit dieser Stelle fiel uns das schöne Doktorat auf. Der Weg führte über einen Bach, die Rohje, die hier als Abfluß des Erwahlenschen Sees ihren Anfang nimmt. Links sah man hinter einem Walde den schlanken Turm der Erwahlenschen Kirche aufragen; dann erblickte man das Gut Poperwahlen und das Pastorat. In Erwahlen haben in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts [52] zwei bemerkenswerte Prediger gewirkt. Von Matschewsky sagt Baron Schlippenbach in seinen „Malerischen Wanderungen durch Kurland“ 1809 : „Wer liebt und kennt nicht in meinem Vaterlande diesen Mann, der sein geistliches Gewand durch Herz und Sinn, durch Lehre und Wandel ehrt und es durch sein Beispiel beweist, daß der geistliche Stand den höchsten Grad der Achtung und Ehrerbietung erringen kann, wenn er diese durch Tat und Lehre zu verdienen weiß und den Himmel, auf den er hinweist, in reiner Seele spiegelt.“ Ein Nachfolger dieses Predigers war Pastor Hugenberger, der wegen seines tiefen Verständnisses für die lettische Sprache und Poesie — er hat unter anderem gelungene Übersetzungen hervorragender deutscher und russischer Gedichte hinterlassen — in der lettischen Literaturgeschichte eine geachtete Stellung einnimmt. Hinter dem Pastorate kam links das Gut Esern, wo die Feldarbeit in vollem Gange war. Die Gegend wurde freier; es waren wieder mehr Felder und Wiesen zu sehen. Langsam ging es eine Anhöhe hinauf, wo uns der Wind frischer umwehte. Von neuem zeigten sich Güter in der Nähe: Ihwen und Tingern. Wir passierten Oschenhof und Oschendorf, weiterhin Lubbenhof, wo alte Eichen wuchsen; dann fuhren wir waldwärts und bei einer Wassermühle über die hier schon breitere Rohje. Der Fichtenwald beim Mühlenkruge verbreitete einen starken Harzgeruch. Weiterhin lag auf einer Lichtung inmitten eines großen Waldes Rudenhof, wo wir die Rohje zum dritten Mal passierten. Hier hielten wir bei freundlichen Leuten Rast.
Viel Interessantes erzählte uns der Sohn des alten Wirts. Er war lange Seemann gewesen und hatte auch England und Belgien besucht. Seine Vorfahren stammten aus dem nahen Dumburgesinde, das fünf Menschenalter hindurch ihnen gehört haben soll. Er hatte einen deutschen Namen. Bei der Namengebung nach der Freilassung im Jahre 1818 [53] seien, wie er erzählte, die Gemeindeschreiber sehr eigenmächtig verfahren.[1] Daher heiße er nicht nach dem Gesinde der Vorfahren Dumburs, sondern D—l. Ein Wirt in dieser Gegend habe einen ganz sonderbaren Namen. Vom Schreiber dazumal (1818) gefragt, wie er heißen wolle, habe dessen Großvater erwidert, er wolle keinen Familiennamen haben, und dabei mehrmals, um seine Weigerung zu bekräftigen, „Negribbu“ (ich will nicht) gesagt. Da sei ihm denn der Familienname „Negribb“ (will nicht) zuteil geworden. Vor Jahren, schon vor der großen Pest des Jahres 1709, müsse hier das Land bebaut gewesen sein, denn oft finde man noch jetzt mitten im Walde, wo weit und breit kein Mensch wohne, Spuren von ehemals gezogenen Furchen. Nach der Pest, so erzähle der Volksmund, hätten sich die Wölfe und Bären sehr vermehrt. Da habe sich hier zuerst ein Pole niedergelassen, nachher ein Litauer, der Böttcher gewesen und einmal beinahe durch einen Bären ums Leben gekommen wäre. Noch seine (D—ls) Vorfahren hätten sich gegen Wölfe zu wehren gehabt. Damals seien die Leute noch „pieguljah“ d. h. bei den Pferden auf der Weide schlafen gegangen, um sie gegen Wölfe zu schützen. Die Pferde selbst seien dazumal auch nicht dumm gewesen. Wenn sie von den Bestien angefallen worden seien, hätten sie ihre Füllen in die Mitte genommen und sich mit den Hinterfüßen verteidigt. In dankbarem Andenken steht beim Volke, besonders am kurischen Strande, Christian Waldemar (geb. 1825, gest. 1891), ein Sohn der Erwahlenschen Gegend, der so viel für die Entwickelung der vaterländischen Küstenschiffahrt getan hat. D—ls Vater sei Waldemars Schulgefährte von der Gemeindeschule her gewesen. Das Volk erzähle sich von einem Stabe, in dessen hohlem Innern [54] Waldemar eine selbst verfertigte ausgezeichnete Karte unseres Strandes versteckt hatte und den er dem Generalgouverneur Fürsten Suworow geschenkt habe. Aus Dankbarkeit habe der Fürst den strebsamen Jüngling ausbilden lassen. Bekanntlich wurde Waldemar später in den sechziger Jahren vom Großfürsten General-Admiral abgesandt, die Küsten der Ostseeprovinzen hinsichtlich ihrer Tauglichkeit für die Schiffahrt zu untersuchen. Damals sei er hier am Strande inkognito vorübergefahren, aber der Wirt Dreimann, sein früherer Schulkamerad, der ihn geführt, habe ihn doch erkannt. Da habe Waldemar die prophetischen Worte gesprochen: „Wenn euch Strandbewohnern später die Schiffahrt Nutzen bringt, so denkt an mich.“ Sein Wort sei in Erfüllung gegangen: längs der kurischen Küste von Domesnäs an seien viele Kauffahrteischiffe vom Stapel gelassen worden, und mancher arme Fischerwirt sei durch die auf Waldemars Anregung hin gegründete Schifffahrt ein wohlhabender Mann geworden. — Von Rudenhof gelangten wir durch Wald und über Wiesenland zum Fichtenwalde, der sich längs den Stranddünen hinzieht. Hinter der Rohjenschen Kirche kehrten wir bei einem Schiffseigentümer und Fischerwirt ein.
- ↑ Vordem haben die lettischen Bauern keine stehenden Familiennamen gehabt.