Leo Gambetta todt!
[40] Leon Gambetta todt! Noch wenige Tage vor der Mitternacht des 31. December erregte der Name dieses Mannes in Deutschland bei den Meisten, welche ihn nannten oder nennen hörten, ein sehr gemischtes Gefühl: es war halb Zufriedenheit mit der Kampfunfähigkeit unseres gefährlichsten Feindes, halb Neugierde, die das Dunkel zu durchdringen suchte, in welches der Ursprung seines Leidens gehüllt war, und vielleicht hier und da sogar ein Anflug von Mitleid mit dem in der blühendsten Kraft vor den Scheideweg gestellten Mann. Unser Urtheil war von seinen politischen Mißgriffen der letzten Zeit so beeinflußt, daß die lächerlichen Bilder, welche seine politischen Gegner von ihm verbreiteten, selbst in diesen seinen Leidenstagen nicht ganz für unsere Augen verblaßt waren.
Ein einziger Augenblick, ein rasch vollbrachtes, aber ewiges Augenschließen – und die gehässigen, spottenden Blätter versinken vor dem einen Bilde, das in der Ruhmeshalle von Frankreich seine Stelle gefunden hat und behaupten wird. Der Mann der Geschichte steht plötzlich wieder da, wie er in Frankreichs schlimmster Stunde den Gedanken an die Befreiung seines Vaterlandes von der siegreichen Uebermacht zu fassen vermochte und zu nicht geringer Gefahr für unsere Heere in’s Leben rief. Man hat Gambetta diese kriegerischen Rettungsversuche zum Vorwurf gemacht, weil sie mißlungen sind. In die Hand der Erfolganbeter soll aber die Geschichte kein Richteramt legen. Erinnern wir uns vor dem Grabhügel, der ihn nun bedeckt, des Urtheils, das ein berufener Gegner über Gambetta’s Thätigkeit gesprochen: Prinz Friedrich Karl. Bewunderungswürdig nannte er die Schnelligkeit und Sicherheit, mit welcher Gambetta immer neue Armeen zu schaffen vermocht, und ebenso anerkennend sprach er sich über die Feldherren aus, die der Dictator an die Spitze derselben gestellt, ja, er äußerte sogar: „Hätte man den Mann Gambetta in eine Generalsuniform gesteckt, er würde ohne Zweifel sie noch weit übertroffen haben.“ Und ein andermal, als in seiner Gegenwart geringschätzig über den Rachemann geurtheilt wurde, entgegnete er: „Wir dürfen Gott danken, daß die Franzosen nur den einen Gambetta hatten, zwei solche hätten leicht zu viel für uns werden können.“
Diese Ehrenerklärung waren wir unserem Feinde schuldig, dem übrigens die „Gartenlaube“ längst die Beachtung gewidmet, die er bei seiner zeitgenössischen Bedeutung beanspruchte; man vergl. Jahrg. 1877, S. 15; 1878, S. 15 („Der Bannerträger der französischen Republik“) mit Gambetta’s Bildniß; 1880, S. 566.
Was Gambetta für Frankreich gethan, wird auch dort seine Anerkennung finden, wenn die Zeit ruhiger Prüfung seiner Leistungen gekommen sein wird. Voran steht sein Kampf gegen das Napoleonische Kaiserthum. Noch als armer Advocat und Kaffeehausredner begann er denselben und setzte ihn in einem Augenblicke fort, wo er dadurch Das, was einem französischen Politiker am höchsten zu stehen pflegt, seine Popularität, auf das Spiel setzte: er war neben dem alten Thiers der Einzige, der in jener stürmischen Kammersitzung vom 15. Juli 1870 gegen den Krieg gesprochen und gestimmt hat, aber nicht etwa in dem Sinne des erfahrenen, das Kriegsunglück vorahnenden Thiers, sondern weil er gerade vom Gegentheil überzeugt war. In ihm stieg nicht der geringste Zweifel auf, daß der ganze Krieg nur ein Siegeslauf von Schlacht zu Schlacht, ein Triumphspaziergang nach Berlin sein werde. Das aber war es ja eben, was dieses Kaiserthum nicht erleben durfte. Wie sollte „Napoleon der Kleine“, wie er ihn nannte, beseitigt werden, wenn derselbe als Sieger, als „der Große“, nach Paris zurückkehrte? Würde ein solcher Siegereinzug nicht die letzte Hoffnung der freisinnigen Männer und vor Allem der Republikaner zu Grabe tragen?
Welcher Zwiespalt muß in dem heißen Herzen dieses Mannes getobt haben, als mit jeder Schlacht, mit jedem Tag die Waffenehre Frankreichs tiefer darniedergedrückt wurde und doch wieder mit diesen empörenden Niederlagen die Hoffnung stieg, das Kaiserreich zu verderben! Erst die Entscheidung bei Sedan erlöste ihn: er war Sieger geblieben und führte den Triumphzug der Republik von den Tuilerien zum Stadthaus an.
Da Gambetta in dem eingeschlossenen Paris nicht leben konnte, während Frankreich nur noch von seinen vom Feinde unbetretenen Provinzen aus zu retten war, so unternahm er ein Wagniß, das als eine Heldenthat zu achten ist: seine Luftballonfahrt am 7. October, die ihn ebenso rasch in den Tod stürzen, wie in deutsche Gefangenschaft bringen konnte. Das Glück war mit dem Muthigen; der Vater der Republik wurde zugleich der Vater der „nationalen Vertheidigung“; er entfaltete den Geist der Männer der großen Revolution von 1792; daß zu unserem Glück ihm ein Carnot mit seiner Feldherrenschaar fehlte, haben wir bereits ausgesprochen.
Gambetta war, gleich den Bonapartes, ein italienischer Franzose, das leidenschaftliche Blut, das den ersten Napoleon beherrschte, rollte auch in Gambetta’s Adern, der, trotz alles Hasses gegen den letzten Napoleon, alle Ruhm- und Herrschbegierde des ersten in sich trug. Und wie bei diesem ist es bei ihm geschehen, daß manche seiner Bestrebungen dem Volke zu Gute gekommen sind. An seinen gehaßtesten Feinden hatte er erkannt, daß die Tüchtigkeit einer Armee festere Zukunft nur durch bessere Volksbildung, durch gute Schulen gewinne, und so hat der Revanche-Eifer gegen die Deutschen wenigstens gute Früchte für die Nation getragen.
Wohin Gambetta’s Ehrgeiz noch geführt hätte, wenn ihm ein längeres Leben vergönnt gewesen wäre, kann nunmehr eine müßige Frage bleiben. Das Eine ist sicher: daß mit dem Manne nicht sein Geist gestorben ist, daß Gambetta’s Tod nicht unsere Friedenssicherheit bedeutet, sondern daß wir leider nach wie vor darauf angewiesen sind, unser Pulver alle Zeit trocken zu halten.
Ein wunderliches Mißgeschick ist dem Manne allzu treu geblieben: eine abbrechende Degenklinge brachte ihn um ein Auge und eine verirrte Kugel um’s Leben.
So ist wieder einer von den seltenen Männern dahingegangen, deren Geist eine ganze Nation leitete, von dessen Willen das Schicksal von Millionen abhing und der, als die hohen Wogen der Zeit fielen, allein darnach rang, oben zu bleiben. Er erlebte es nicht. Ob sein Beispiel Nachstrebenden zur Lehre dienen wird? Schwerlich! Weder Völker noch Einzelne lernen aus der Geschichte, und so wiederholen sich in Einigkeit die alten Erfahrungen.