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Lettische Volkslieder und Mythen/Verwaist und in der Fremde

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Lettische Volkslieder und Mythen
von Victor von Andrejanoff
Geburt und Grab
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[19]
1.

Gleich erkannte ich die Waise
In der ganzen Mädchenschar:
Hielt ein weißes Tuch in Händen,
Voll von Thränen war das Tuch.

[19]
2.

Schneeweiß war das Waisenmädchen,
War es denn mit Schnee beschüttet?
Nein, so weiß ist auch der Schnee nicht,
Nur des Waisenmädchens Tugend!

[19]
3.

„Guten Abend, Waisenmädchen!
Ist es wahr, daß du verlobt bist?“
     „Es ist nicht wahr, liebe Marja,
     Geh’ ich doch mit leeren Händen!“
„Gott sei mit dir, Waisenmädchen!
Helfen will ich dir getreulich:
Geb’ dir hundert braune Pferde
Und zweihundert bunte Kühe.“

[19]
4.

Wohl erkannte ich das Mädchen,
Dem die lieben Eltern starben:
Barhaupt und mit nackten Füßen,
Bleichen, eingefallnen Wangen,
Wuchs es auf zu Leid und Kummer,
Trägt sein Kränzlein[1] es voll Trauer.

[20]
5.

Schrei nur „Kuckuck!“, liebes Vöglein,
Schrei nur, während ich mich härme!
Trauerst du im Birkenwäldchen,
Wein’ ich still vor Mutters Thür.
Umgehaun ward dir dein Wäldchen,
Mir ist’s Mütterlein gestorben.

[20]
6.

Stehet auf, o Vater, Mutter!
Ich berühr’ die Rasendecke
Eures Grabes, euch zu klagen,
Was mir that die fremde Mutter.
Sandte mich zum Apfelbaum,
Daß ich Ruten schnitte dort;
Wie an mein lieb Mütterlein
Lehnt’ ich an den Baum mich innig,
Blüten fielen von dem Baume,
Thränen fielen mir vom Auge.

[20]
7.

Schuld am Morgen, schuld am Abend,
Schuld bin ich zu jeder Stunde;
Alles muß ich auf mich nehmen,
Seit mir Vater, Mutter starben.

[20]
8.

Eilig eilte fort die Sonne,
Ließ mich stehn im Schatten tief;
Ach, kein Mütterlein mehr hab’ ich,
Das mich in die Sonne führt!
Wart auf mich, du eil’ge Sonne,
Hör, was ich dir sagen will: –
Bringe tausend Abendgrüße
Meinem lieben Mütterlein!
Niedrig steht die Sonn’, wie niedrig,
Fern ist’s Mütterlein, wie fern!
Nie ereile ich die Sonne,
Nie erruf’ ich’s Mütterlein!

[21]
9.

Sag, wer sind die, welche singen
Abends, wenn die Sonn’ zur Ruh’?
Arme Waisenkinder sind es,
Von dem Fronherrn schwer bedrückt.
Frierend zünden Feuer draußen,
Weinend bittre Thränen, sie,
Knirschen in das quellbenetzte
Brot aus Rinde und aus Spreu.

[21]

Aus dem kleinen Bächlein steigen
Abends feuchte Nebelflocken;
Alle kleinen Brüder weinen
Thränen um die ferne Schwester.

[21]

Wie im Walde klagt die Wildgans,
Nach dem lieben See verlangend,
Klagt die Maid in weiter Fremde,
Sich nach Vaters Hause sehnend.

[21]

Nah beim Haus steht eine Weide,
Unter deren Laub ich aufwuchs;
Als ich in die Fremde mußte,
Brach der wilde Sturm die Weide.

Anmerkungen

  1. Die lettischen Mädchen tragen auf dem Kopf Kränze aus Perlen, Flittern oder Blumen.