Noch einmal die alte deutsche Puppenkomödie

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Autor: A. Sch.
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Titel: Noch einmal die alte deutsche Puppenkomödie
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aus: Die Gartenlaube, Heft 47, S. 769–770
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[769] Noch einmal die alte deutsche Puppenkomödie. Die hervorragende Bedeutung, welche die alten Puppenspiele für unsere Literatur und Culturgeschichte haben und welche Fr. Helbig in Nr. 21 dieses Blattes eingehend besprochen hat, ist von den Literaturhistorikern stets anerkannt, und es ist kaum zu begreifen, daß uns dieselben nicht schon lange im Druck vorliegen. Hat man doch längst begonnen, mit wahrem Bienenfleiß und schätzenswerther deutscher Gründlichkeit die alten Volkslieder, Märchen und Sagen aus allen Winkeln und Ecken zusammenzutragen; sollte das alte deutsche Volksdrama weniger Berechtigung haben, gesammelt und durch die Druckerschwärze der Welt erhalten zu werden? Dieses Stück echter deutscher Vokspoesie schien bis jetzt ernstlich Gefahr zu laufen, der Literatur und dem Volke vollständig abhanden zu kommen. Den Hauptgrund hierfür müssen wir wohl in dem strenggewahrten Zunftgeheimniß der Puppenspieler suchen, welches jede Vervielfältigung durch Druck und handschriftliche Aufzeichnung verbietet und ausschließlich eine mündliche Ueberlieferung der Stücke von dem „Meister“ auf den „Gesellen“ bedingt, welch letzterer nach dem Tode des Meisters dessen volle Erbschaft antritt und mit derselben namentlich auch die Figur des „Hanswurst“, jetzt „Kasperle“, übernimmt.

Fleißige und bedeutende Forscher auf dem Gebiete altdeutscher Literatur, wie Oskar Schade und Karl Simrock, haben nur das Puppenspiel „Doctor Johann Faust“ im Druck herausgegeben; dem Simrock’schen soll der Text des bekannten Puppenspielers Geißelbrecht zu Grunde liegen.

Geißelbrecht, ein Wiener Mechanikus, zog mit seiner Marionettenbühne im ersten Decennium dieses Jahrhunderts in Deutschland herum und hatte seinen Hauptsitz in Frankfurt am Main. Er gab vorzugsweise moderne Stücke; die eigentlichen Puppenspiele hatte er nicht in so alter, unverfälschter Ueberlieferung, wie die Gesellschaft „Schütz und Dreher“, welche ihrer Zeit viel Aufsehen machte und nach dem Urtheile verschiedener Schriftsteller die Puppenspiele in ältester, möglichst unverfälschter Form gegeben haben soll. Diese Marionettenbühne war so vortrefflich, daß man im Jahre 1804 zu Berlin fast alle Abende die geistreichsten Männer und Frauen, Philosophen, Dichter und Kritiker dort zu finden pflegte. – Fr. Heinrich von der Hagen sagt über den Schütz-Dreher’schen „Faust“ Folgendes:

„Die älteste Gestalt trägt ohne Zweifel noch jenes Spiel, das sich seit etwa vierzig Jahren wohl Mehrere mit uns erinnern, hier in Berlin und Breslau gesehen und gehört zu haben durch die unter dem Namen ‚Schütz und Dreher‘ von Zeit zu Zeit erscheinende Gesellschaft.“

Diese mit ihrem „Kasperle“ aus Oberdeutschland kommende Gesellschaft gab eine ganze Reihe von guten älteren Stücken, ritterliche Schauspiele, romantische Umdichtungen antiker Mythen, auch geistliche Stücke aus Bibel und Legende und geschichtliche Stücke, wie „Der Raubritter“, „Der schwarze Ritter, „Medea“, „Alceste“, „Judith und Holofernes“, „Haman und Esther“ (auch von Goethe benutzt), „Der verlorene Sohn“, „Genoveva“, „Fräulein Antonia“, „Mariana oder der weibliche Straßenräuber“, [770] „Don Juan“, „Trajanus und Domitianus“, „Die Mordnacht in Aethiopien“, „Fanny und Durman“ (eine englische Geschichte) u. a. Der nun auch schon verstorbene Schütz war zuletzt alleiniger Besitzer dieser Bühne und spielte immer mit größtem Erfolge den durch alle Stücke gehenden und auch in einem eigenen Stücke („Kasperle und seine Familie“) verherrlichten lustigen Diener (vor Gottsched, der ihn unbarmherzig von der Bühne verbannte, „Hanswurst“ genannt) und zugleich die Haupthelden, wie Faust, Don Juan etc. Das Haupt- und Zugstück blieb aber immer Doctor Faust, wie wir es auch bei späteren bekannten Puppenspielern, wie Thieme, Eberle, Gebrüder Lorgin, sowie bei den gegenwärtigen Principalen Bonneschky, E. Wiepking, Schwiegerling, C. Dietrich u. A. finden.

Lange Zeit hindurch erfüllte das Marionetten- oder Puppentheater die Aufgabe, das dramatische Bedürfniß des deutschen Volkes zu befriedigen. Es ersetzte während des dreißigjährigen Krieges die Darstellungen der aus Deutschland verschwundenen englischen Schauspielertruppen und rettete in jener bedrängten Zeit das deutsche Drama vor dem gänzlichen Verfall und Untergang. Die früher von den Marionettenbühnen vorzugsweise aufgeführten und gerne gesehenen biblischen Stücke und Burlesken bezeugen, daß die Puppenkomödie es ist, welche die directe Erbschaft des geistlichen Schauspieles und der Fastnachtsbühne angetreten hat, und Stücke wie „Der Sündenfall“, „Goliath und David“, „Haman und Esther“, „Judith und Holofernes“, „König Herodes“, „Der verlorene Sohn“ etc. sind sicherlich unmittelbar von dem geistlichen Theater unter die Marionetten gegangen. Das übrige weltliche Repertoire bestand vorzugsweise aus den vorhin bereits genannten Stücken.

Wenn auch nicht alle, so doch wohl die besten der angeführten Puppenspiele sollen uns jetzt gerettet und durch den Druck bleibendes Eigenthum des deutschen Volkes und der Literatur werden. Es ist dies das Verdienst des kaiserlich russischen Concertmeisters außer Diensten Karl Engel in Dresden, eines Oldenburgers, den sein gründliches Studium der Faustsage und unermüdliches Sammeln der Faustliteratur – er hat eine „Bibliotheca Faustiana“ von nahezu achthundert Nummern zusammengestellt – naturgemäß auch auf das Sammeln der alten deutschen Puppenspiele lenkte. Theils auf stenographischem Wege, theils mit vieler Mühe direct aus den Händen der Puppenspieler, „als Heiligthum vermacht“, sind ihm eine Reihe alter Volksschauspiele zu eigen geworden, die er jetzt nebst seinem größeren Faustwerk im Verlage der Schulze’schen Buchhandlung in Oldenburg erscheinen lassen und damit der Oeffentlichkeit übergeben wird. Der regsten Theilnahme aller Freunde deutscher Dichtung und kernigen deutschen Humors kann er sicher sein.
A. Sch.