Pioniere des Deutschthums im fernen Westen

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Autor: unbekannt
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Titel: Pioniere des Deutschthums im fernen Westen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 38, S. 597–599
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Pioniere des Deutschthums im fernen Westen.
Friedrich Münch. – Carl Riotte. – Eduard Degener. – Löwe-Calbe. – Rudolph Dulon.


Zehntausend in einer Woche, viertausend an einem Tage, tausend mit einem Schiffe, hundertundfünfzig Tausend, welche sich in Deutschland allein noch zur Beförderung gemeldet haben – so lautet das neueste Bulletin der Einwanderung. Seid uns willkommen, ihr Tausende! Es ist hier Raum genug für Alle; habt ihr die Kraft und den Willen zu einem Riesenkampf mit widrigen Elementen, so kann es euch kaum fehlen. Euch ist die Aufgabe minder schwer, als Denen, die einige Decennien vor euch kamen, aber seid ihr nicht besondere Lieblinge des Glücks, so bleibt euch dennoch ein Ringen nicht erspart, welches schwieriger ist, als ihr es euch vorstellen könnt. Die Meisten gehen glücklich aus der Prüfung hervor, aber Viele brechen auch unter der Last zusammen, die Einen mit, die Andern ohne Schuld, und unter den Opfern befinden sich nicht Wenige der Edelsten. Ließe sich auf das Grab jeder im Sturm zerschellten Hoffnung ein Leichenstein setzen – Amerika gliche einem großen Kirchhof und es wären gar rührende Dinge zu erzählen von den Träumen, die nicht in Erfüllung gingen.

Reinhold Solger hat in seinem Romane „Anton in Amerika“ ein wahres Wort gesprochen, wenn er sagt: es gehöre mehr dazu, wenn ein Deutscher in Amerika, als wenn er im alten Vaterlande sich hervorthun und Einfluß ausüben wolle. Wahrlich, die hiesigen Achtundvierziger haben diese Wahrheit allesammt an sich selbst empfunden. So Mancher unter ihnen, der drüben mit seinem Worte und seiner That Hunderttausende beeinflußte und, falls die politische Bewegung zu etwas dauernd Neuem geführt hätte, einen weltgeschichtlichen Namen davontragen mußte, sank nach seiner Einwanderung hierher zu einer blos localen Größe, ja zum ungenannten Privatmanne herab. Hier konnte es nicht gelten, etwas Neues in Staat und Gesellschaft herzustellen; man fand fertige, durchaus geregelte Zustände vor, in welche man sich mit allen anderen eingewanderten Landsleuten erst einleben mußte. Hier herrschten in erwerblicher und gewerblicher Hinsicht nicht jene kleinlichen, spießbürgerlichen deutschen Verhältnisse, aus denen man hergekommen war, sondern großartige, gewaltig vorwärts drängende, aus welchen man selbst gar viel zu lernen, bei denen man ganz neue, drüben ungewöhnliche Maßstäbe anzuwenden hatte. Hier konnte der Genialste und Gelehrteste zunächst nur als Schüler und Nachahmer, nicht als Lehrer und Neuerer figuriren, ganz wie seine weniger hervorragenden Landsleute, die sich in der That rascher in das neue Leben fanden und ihm Vortheile abgewannen, weil sie von Haus aus praktisch verständiger geblieben waren, und die deshalb bald auf ihre ideeller ausgebildeten ehemaligen Führer von einer gewissen Höhe herabsahen. Im Erlernen der Landessprache freilich, ohne welche hier kein Gedeihen des Einzelnen möglich, hatten es die Letzteren leichter; aber für ihr drüben Erlerntes, für ihre Wissenschaft und Kunst, ihre Reformgedanken und Denkerfindungen und Fertigkeiten gab es hier so gut wie keinen Markt, während die rüstigen Arme deutscher Bauern und Handwerker überall gesucht waren. So rächte sich die einseitige Mitgift des alten Vaterlandes, der Stolz des echten Deutschthums, gerade an seinen gebildeteren Söhnen auf’s Empfindlichste. Ach, wie bitter war diesen lange, lange Zeit das Exil! Wie viele gingen leiblich und geistig zu Grunde! Und die sich schließlich zur Selbstständigkeit und einer höheren Bedeutung für die neue Heimath emporarbeiteten – wie viel höher ist ihr Verdienst zu würdigen, als dasjenige gleich hervorragender Männer im alten Vaterlande!

Unter den verdienstvollsten Deutschen Amerikas muß Friedrich Münch[1], jetzt Staatssenator von Missouri, genannt werden. Sein Name und seine Vergangenheit sind allerdings Vielen im alten Vaterlande bekannt genug, zumal seinen Zeit- und Strebensgenossen aus der burschenschaftlichen Periode. Arnold Ruge hat in seinem interessanten Buche „Aus alter Zeit“, und er selbst hat in seiner Selbstbiographie (in den „deutsch-amerikanischen Monatsheften von C. Butz, jetzt Lexow“) die Erinnerung an seinen Antheil an Deutschlands Wiedergeburt im Gedächtniß jüngerer Geschlechter wieder aufgefrischt. Man kann als bekannt voraussetzen, daß Friedrich Münch mit den beiden Follen, seinen Schwägern, und mit den beiden Wesselhöft jene ältere deutsche Einwanderung nach den Vereinigten Staaten organisirt hat, die der Reaction von 1833 und 1834 entsprang und durch Wort, Schrift und Beispiel das Meiste dazu beigetragen hat, daß die deutsche Bevölkerung Amerikas seitdem um mehr als zwei Millionen gewachsen ist. Er war es ganz besonders, welcher die deutsche Einwanderung nach dem fernen Westen, nach Missouri und Illinois, gelenkt und ihr dadurch einen hervorragenden Einfluß gesichert hat. Wenn St. Louis eines vorwiegend deutsche Stadt geworden ist; wenn diese deutsche Stadt alsdann im Sonderbundskriege den Staat Missouri der Union gerettet und dadurch von vorn herein der Unionssache eine günstige Wendung gegeben hat; wenn auch im anstoßenden Illinois, Indiana, [598] Wisconsin und Iowa die deutsche Einwanderung riesige Verhältnisse angenommen und auf die freiheitliche Wendung der Unionspolitik und die energische Betreibung des Krieges gegen den Sonderbund großen Einfluß gewonnen hat: so ist von alledem und von den unabsehbaren Folgen alles dessen Friedrich Münch der Haupthebel geworden, indem er für die Besiedelung Missouris durch Deutsche seit mehr als dreißig Jahren gewirkt und die erste deutsche Colonie selbst dahin geführt hat. Die ganz unvergleichlichen Hülfsquellen dieses Staates verheißen ihm eine sehr große Zukunft, und die Geeignetheit seines Bodens und Klimas für deutsche Colonisation müssen ihn umsomehr zu einem vorwiegend deutschen Staate machen, da schon seit einigen Jahren seine deutsche Bevölkerung mindest doppelt so rasch wie jede andere zuzunehmen angefangen hat. Hier, wenn irgendwo in der Welt, wird ein deutscher Colonie-Staat entstehen können, in welchem deutsche Wissenschaft, Kunst, Schule und Geselligkeit Gesetze geben und Vorbilder zur Nachahmung aufstellen.

Alle Hochachtung vor dem Manne, der, obwohl hinter Büchern aufgewachsen, doch als Pionier die Axt, den Pflug und den Spaten in die Urwälder am Missouristrome getragen und mit seiner Hände Arbeit sich eine unabhängige Existenz gegründet und eine zahlreiche Familie wacker herangezogen hat, indeß sein Geist unermüdlich dem Fortschritt der Wissenschaften folgte und auch bei dem großen Werke deutscher Civilisation in der Fremde überall als Pionier Hand anlegte! In der deutschen und englischen Presse Amerika’s war er seit mehr als einem Jahrzehent unter dem Schriftstellernamen Far West (der ferne Westen) fleißig bemüht, bald über Verbesserungen im Ackerbau, oder über den Weinbau, bald über Tagespolitik, über religiöse, naturwissenschaftliche und viele andere Fragen von höchster Bedeutung klares Licht zu verbreiten. Gediegene Kenntnisse und ein besonnenes Urtheil zeichnen alle seine schriftstellerischen Arbeiten aus, denen außerdem eine kräftige, gedrängte Sprache Anziehungskraft verleiht. Sein Englisch ist so mustergültig, wie sein Deutsch. Ihm verdankt Missouri den Weinbau, durch welchen es bald genug fast alle weinerzeugenden Länder der Welt in den Schatten stellen wird. Ihm verdankt es viel in politischer Beziehung in der großen Zeit, da es sich gegen den rebellischen Süden in die Bresche warf, und wiederum, da es voriges Jahr eine Staatsverfassung gründlich im Sinne der Freiheit umgestaltete. Und wie er opferfreudig seine Söhne in den Krieg um die Union schickte, von denen einer in der Schlacht an Wilson’s Creek gefallen ist, so hat sein ganzes Leben seit dreiunddreißig Jahren den höchsten Gütern der Menschheit gegolten. Geachtet von Jedermann, steht er an der Schwelle des Greisenalters fast noch so rüstig da, wie als er den ersten Axthieb im Urwalde führte, und wer ihn in seinem durch deutschen Fleiß und Unternehmungsgeist blühenden Heimwesen besucht, findet an ihm den echten, einfachen, deutschen Biedermann, der durch die liebenswürdigste Gastfreundschaft bei einem Glase selbstgezogenen Weine vergessen macht, daß man sich mehr als eintausend zweihundert englische Meilen jenseit des atlantischen Weltmeeres befindet.

Unter denjenigen Deutschen, welchen die Union wegen der schließlichen Rettung von Westtexas aus den Klauen der Sonderbündler soviel verdankt, müssen zwei als besonders verdienstvoll genannt werden, Carl N. Riotte und Eduard Degener. Jener ist gebürtig aus Trier und war 1848 Beisitzer des Appellationsgerichts und Eisenbahndirector in Elberfeld, von wo er wegen seiner politischen Thätigkeit nach Texas zu flüchten gezwungen war. Ihm gehört das Verdienst an, die politisch ganz indifferenten Deutschen von Westtexas schon zu einer Zeit zur Bekämpfung der Sclaverei angeregt zu haben, da selbst im Norden der Union und unter den Angloamerikanern nur sehr Wenige dasselbe Streben kundgaben. Mit klarer Voraussicht eines unvermeidlichen Kampfes zwischen Freiheit und Sclaverei innerhalb der Union suchte er mitten im Sclaverei-Gebiete selbst eine Partei der Freiheit zu organisiren, welche das letztere zurückdrängen und die Sclavenhalter aus ihrer allmächtigen Offensive in eine ohnmächtige Defensive versetzen sollte. Zu diesem Zwecke gründete er die „San Antonio-Zeitung“ unter der Redaction Douai’s von Altenburg und gab den Anstoß zu einer politischen Convention von Abgeordneten aller deutschen Ansiedelungen von Texas, welche am 14. Mai 1854 zu San Antonio abgehalten wurde und sich entschieden für Abschaffung der Sclaverei aussprach. Es war ein kühner, aber wohlberechneter Plan, dem zum Gelingen blos eins fehlte – andauernde Einigkeit unter den Deutschen selbst. Sobald ein deutscher Verräther sich fand, der sich eine Gegenpartei bildete und den Sclavenhaltern die Thatsache denuncirte, daß es unter den Deutschen neben der Freiheitspartei auch noch eine der Sclaverei günstige gebe, war der Zauber gebrochen. Der alsbald beginnenden Verfolgung durch deutsche und angloamerikanische Sclavereiverfechter mußten die Wortführer der Freiheit nacheinander unterliegen. Der letzte von ihnen, der Stand gehalten hatte, Riotte, mußte im Frühling 1861 nach dem Norden entfliehen. Abraham Lincoln belohnte seine Dienste für die gute Sache durch den Gesandtschaftsposten in Costarica, welchen er noch inne hat.

Allein die von ihm ausgestreute Saat reifte, wenn auch für ihn zu spät, unter seinen Landsleuten in Westtexas. Beim Beginn des Sonderbundskrieges waren die dortigen Deutschen fast ohne Ausnahme entschiedene Unionisten und Feinde der Sclaverei geworden. Freilich zu spät auch für sie, denn, ihrer kühnen Führer beraubt, mußten sie in dem ungleichen Kampfe gegen einen wohlgerüsteten, überlegenen Feind den Kürzeren ziehen. Es ist bekannt, daß ihrer Hunderte meuchelmörderisch getödtet, Tausende außer Landes getrieben wurden. Zu denen, welche in dieser schweren Zeit der Verfolgung Stand hielten, gehörte Herr Ed. Degener, früher in Dessau Landtags-Abgeordneter und politischer Flüchtling, nachmals in Westtexas einer der Begründer der Freistaatsbewegung. Zwei seiner Söhne, herrliche, wohlerzogene Jünglinge, fielen tapfer kämpfend bis zum letzten Blutstropfen gegen die Secessionisten; er selbst saß lange in harter Haft. Endlich nach Niederwerfung des Sonderbundes von den dankbaren Deutschen von Westtexas zum Staatssenator gewählt, vertrat er jüngst auf der Staats-Convention zu Austin die Bürgerrechte der Farbigen und den Radicalismus in allen seinen Richtungen mit solcher Furchtlosigkeit und Beredsamkeit, daß dies durch die ganze Union hindurch das freudigste Aufsehen erregte. Dort, wo die meuchelmörderische Waffe in Jedermanns Tasche ist und freie Rede bis dahin ein unbekanntes Ding war, dort mußte ein Deutscher die Redefreiheit und den Mannessinn retten! Glücklicherweise stehen jetzt dreißigtausend Deutsche einmüthig hinter ihm, und der endlich befreite Norden streckt über ihn und sie die schützende Hand aus. Auch Texas hat eine schöne Zukunft. Dereinst, wenn sie in voller Wirklichkeit angebrochen sein wird, werden C. N. Riotte und Ed. Degener als „Väter des Vaterlandes“ ihre geehrten Namen der dankbaren Geschichte überliefert sehen.

Unter den Männern des Geistes, welche zeitweilig in Amerika ihre Heimath suchten und fanden, blickt wohl Keiner mit ungetrübterer Empfindung nach Amerika zurück, als der Doctor Löwe aus Calbe. Keinen sahen wir mit größerem Bedauern scheiden, Keinem wird ein freundlicheres Andenken bewahrt. Kein Lebenskampf konnte die vollendete Harmonie dieser Erscheinung stören, und es war in der vollsten Bedeutung des Worts ein Hochgenuß, ihn zu beobachten. Ein durch und durch volksthümlicher Charakter, verleugnete er nie eine gemessene Würde, welche die Gemeinheit zwang, das Haupt vor ihm zu beugen. Sich mit Vorliebe und enthusiastischem Interesse am öffentlichen Leben betheiligend, hielt er vollständig das Unschöne von sich fern, welches hier nur zu sehr dem Treiben auf der politischen Arena anklebt und dem selbst die Mehrzahl von Denen, welche dergleichen anwidert, sich accommodiren zu müssen glaubt. Nie ließ die Schärfe seines Urtheils da, wo es galt schonungslos die Wahrheit zu sagen, etwas zu wünschen übrig; aber nie konnte ihn nur für einen Augenblick die Leidenschaft übermannen, nie trat im Feuer der Debatte ein unedles Wort über seine Lippen. Mehr als ein Mal habe ich gesehen, wie in stürmischer Versammlung er allein die Ruhe des römischen Senators beibehielt und durch die Würde seiner Haltung den Sturm beschwichtigte. Im Privatleben hatte sich ihm ein segensvoller Wirkungskreis eröffnet, im öffentlichen trug er so viel wie irgend Einer dazu bei, dem Deutschthum von der edelsten Seite in Amerika Geltung zu verschaffen. Nur Lauteres durfte an ihn herantreten, nur Lauteres ging von ihm aus. So hat er auch unter uns gelebt, so ist er von uns geschieden, so hat er sich drüben wiederum bewährt, so zeugt er im lieben Deutschland von den in Amerika zurückgelassenen Brüdern, und so steht er vor uns als das Ideal eines deutschen Mannes.

Ein minder freundlicher Stern hat einem nicht weniger begabten Träger der Intelligenz geleuchtet. Rudolph Dulon kam [599] vor vierzehn Jahren nach Amerika, und es ist nicht ohne Nutzen, ihm auf seiner hiesigen Laufbahn zu folgen. Ihn umgab der Nimbus des durch Verfolgungen zum Märtyrerthum beförderten politischen und religiösen Agitators, und mit Wärme wurde er aufgenommen. Noch entsinne ich mich lebhaft des Sonntags, an welchem er im Shakespeare-Hotel, dem damaligen bevorzugten Sammelpunkte der gebildeten Deutschen in New-York, seinen ersten Vortrag hielt. Eine schöne, stattliche, majestätische Gestalt, trat er uns gegenüber, und majestätisch, prächtig, feurig verfloß der Strom seiner Rede. Stürmischer Beifall wurde ihm zu Theil, und mancher warme Händedruck kündete ihm den Dank der Hörer. Auf der kleinen Orchestertribüne aber, wo die verneinenden Geister sich gesammelt hatten, lautete das Urtheil: „Er spricht wie ein Pfaff!“ Ich weiß nicht, ob dies Herrn Dulon zu Ohren kam; sehr bald aber sollte er bemerken, daß die Elemente, welche ihn jetzt umgaben, weit von denen verschieden seien, an die er gewöhnt war, und es fehlte ihm durchaus die Gabe, diese Elemente zu beherrschen.

Ein wohlbestallter protestantischer Pfarrer als Redacteur der „Tageschronik“, als Herausgeber des „Wecker“, als Verfasser des Buches „Vom Kampf für Völkerfreiheit“, als republikanischer Redner und als politischer Flüchtling – das war in Deutschland ein Phänomen, welches in seiner Art nur von der, freilich vorübergehenden, Naturerscheinung des liberalen Papstes übertroffen wurde. Aber im liberalen Agitator war der Pfarrer, welcher gewohnt ist, Lesern und Hörern eine Autorität zu sein, nicht untergegangen, der freisinnige Theil des deutschen Elements in Amerika, unter dem ein Dulon allein wirken und auf den er allein rechnen konnte, hat sich vom Begriff jeglicher Autorität total losgesagt, und darum mußte der Pfarrer sehr bald Anstoß erregen, ohne daß ihm selbst oder sonst irgend Jemandem ein Vorwurf daraus zu machen war. Es wurde eine „freie Gemeinde“ gegründet, die ihn zu ihrem Sprecher wählte. Ich habe noch nie einen begabteren Redner gehört als Dulon, und es war eine Freude, seinen sonntäglichen Vorträgen beizuwohnen; aber an den Discussionsabenden, wo philosophische Themata von allen Seiten frei behandelt wurden, merkte Dulon sehr bald, daß er seiner Gemeinde keine Autorität, daß er nicht ihr Prediger, sondern eben nur ihr erwählter Sprecher sei. Statt diesen Verhältnissen tactvoll die rechte Seite abzugewinnen, war er thöricht genug, sich die fehlende Autorität erzwingen zu wollen.

Das ging nicht, es mußten Reibungen eintreten, bei Dulon machte sich eine immer größere Reizbarkeit geltend; die Verstimmung wuchs, und bald mußte der dem Sprecher warm befreundete Präsident, Doctor Aschenbrenner, in einer Generalversammlung das Geständniß ablegen, daß die Persönlichkeit des Herrn Dulon dem Gedeihen der Gemeinde hinderlich sei. Auch auf einem andern Felde sollte ihm der Beweis zu Theil werden, daß er seine Stellung in Amerika falsch erfasse. Es wurde auf Actien eine Zeitung, ein Sonntagsblatt, gegründet und Dulon’s Redaction übergeben. Er war felsenfest überzeugt, daß das Blatt in Amerika dasselbe Glück machen werde, wie einst die Tageschronik und der Wecker, daß sein Name hinreichen werde, dem Unternehmen die glänzendste Aufnahme zu sichern. Gaben wohlmeinende Freunde sich Mühe, diese kühnen Erwartungen auf ein den Verhältnissen entsprechendes bescheidenes Maß herabzustimmen, so war er sehr geneigt, das als ihm gebotene persönliche Beleidigung aufzufassen. Es kam, wie es kommen mußte. Das Blatt erschien, der theoretisirende Inhalt konnte unter dem Gezweig des grünen Lebensbaums, wo jegliche Theorie längst grau geworden, keinen Beifall finden, die Abonnentenzahl hob sich nur auf einige Hunderte, und nach Erschöpfung des kleinen Actiencapitals war es mit dem Sonntagsblatte vorbei. Den furchtbarsten Schlag aber versetzte Dulon sich dadurch, daß er in der letzten Nummer erklärte, die Deutschen in Amerika verdienten nicht, daß ihnen ein solches Blatt geboten werde, und das Zugrundegehen desselben gereiche ihnen zur unauslöschlichen Schande.

Ein solcher Abschied mußte Dulon die Bahn des öffentlichen Lebens in Amerika für lange Zeit, wenn nicht für immer, verschließen. Er gründete ein Kosthaus und gerieth, als es auch hiermit nicht ging, endlich in die Carriere, für die er nach meiner Ueberzeugung geschaffen ist, nämlich er etablirte eine Schule. Die Erfahrungen, welche er auf diesem Felde gesammelt, hat er selbst kürzlich in einem Werke, das ich als bekannt voraussetzen darf, dem. deutschen Volke vorgelegt. Leider hat er auch hieraus die persönliche Leidenschaftlichkeit nicht fern halten können, welche ihm in Amerika so manche bittere Prüfung eingebracht. Aber um das deutsche Schulwesen in Amerika hat Rudolph Dulon sich große Verdienste erworben und die Gerechtigkeit fordert, daß er den Lohn dafür ernte.

Kürzlich traf ich nach einer Reihe von Jahren wieder einmal mit Dulon zusammen. Sein Anblick erschütterte mich tief. Die majestätische Gestalt war unter der Last der Leiden gebeugt, die energische Stimme langsamer geworden. Auf meine Aeußerung, daß es mir sei, als hätte ich ihn erst vor Kurzem gesehen, erfolgte die schmerzlich betonte Antwort: „Es liegt doch viel dazwischen!“ Aber in den Augen glühte das alte Feuer, und greift ein friedliches Geschick hülfreich ein, dann wird der gebeugte Nacken des alten, braven, hochverdienten Mannes noch einmal wieder so gerade werden, wie je zuvor. Mögen die Deutsch-Amerikaner diese Kraft nicht rosten lassen! Nicht leicht ist sie zu ersetzen, und Dulon hat es verdient, daß er seine Laufbahn in dem segenvollen Wirkungskreise, in den er gehört, geliebt und geschätzt beschließe. Er ist ein großes Rednertalent und viele seiner Zuhörer hängen mit unendlicher Liebe an ihm.

Verweilen wir jetzt noch kurz bei einem Manne, welcher allerdings nicht werth ist, an der Seite der Andern genannt zu werden, und hier nur des Contrastes wegen seinen Platz finden möge. Vor etwa einem halben Jahr stellte sich eine Persönlichkeit bei mir ein, welche jemals gesehen zu haben ich mich nicht entsinnen konnte. Ein aufgedunsenes Gesicht, abgerissene Kleidung, das leibhaftige Bild geistiger und physischer Verkommenheit. Schüchtern trat er auf mich zu und sagte leise: „Erschrecken Sie nicht vor meinem Namen, ich bin – Dowiat!“ In der That erschrak ich und blickte ihn prüfend an. Und er war es, der früher so hoch angesehene Prediger der deutsch-katholischen Gemeinde in Danzig; mit Mühe ließ sich noch eine Spur von den sonst so schönen Zügen entdecken. Leise fuhr er fort, mir seine überstandenen Leiden zu schildern und um Mitleid, um ein freundliches Wort, einen Händedruck, eine nachsichtige Aufnahme zu bitten – er, der die herrlichsten Gaben ruchlos verzettelt, der an sich selbst zum frevelhaften Lügner geworden, der, zum Höchsten berufen, sich in den Pfuhl des Lasters stürzte, zuletzt sich den südlichen Freiheitsschändern anschloß und selbst ihnen noch zu schlecht war. Es wurde ihm kein Händedruck, kein freundliches Wort zu Theil, und leise, verstohlen, unbemerkt, wie er gekommen war, verschwand er wieder. Kurz darauf erschien seine Erklärung, daß er, des Jagens nach politischen Phantomen überdrüssig, wieder in den Schooß der Kirche zurückkehre und sich geduldig der unendlichen Gnade Gottes empfehle. Will er selbst seinen Gott noch betrügen, nachdem er die Welt betrogen? Diese Menschenruine fällt weder Amerika, noch seinen Verhältnissen zur Last, wohl aber hat man es vielleicht diesen zu verdanken, daß der Heuchler entlarvt worden ist.




  1. Unsere Leser kennen diesen trefflichen Mann aus seinem Beitrag in Nr. 27.
    D. Red.