RE:Claudius 123

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Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Crassus Inregillensis Sabinus, Ap. cos. I 471 cos II 451 v. Chr.
Band III,2 (1899) S. 26982702
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123) Ap. Claudius Crassus Inregillensis Sabinus. So reichlich auch die Quellen für die Geschichte dieses Mannes fliessen, so sind es doch nur die spätesten Berichte, die uns vorliegen. Bei dem Versuche, über sie hinaus zu der geschichtlichen Wahrheit vorzudringen, bleibt nichts übrig als das Ergebnis: Appius war Consul I 283 = 471, Consul II 303 = 451 und nach der Niederlegung des zweiten Consulats in demselben und in dem folgenden Jahre Decemvir consulari imperio legibus scribendis. Der Consul von 283 = 471 heisst bei Liv. II 56, 5 und Dionys. VIII 90. IX 42 Sohn des Appius Nr. 321 und führt wie dieser bei dem Chronogr. den Beinamen Inregillensis, bei Dionys. Idat. und Chron. pasch. Sabinus; das Consulat bezeugen Chronogr. Idat. Chron. pasch. Liv. II 56, 5. Cassiod. Diod. XI 67, 1. Dionys. IX 42. 43. Ohne Wert sind die früheren Erwähnungen bei Dionys. VIII 90 zum J. 272 = 482 (Absicht der Patricier, den C. zum Consul zu wählen, durch die Plebeier vereitelt) und IX 1, vgl. X 30 zum J. 273 = 481 (von Liv. II 44, 2, vgl. IV 48, 6 zum J. 274 = 480 erzählt: Rat des C., einen Tribunen durch die Intercession seiner Collegen unschädlich zu machen), sowie die Berichte über sein Consulat. Da das J. 283 = 471 ohne Zweifel höchst bedeutungsvoll, ja epochemachend für die Entwicklung des Volkstribunats war (vgl. Mommsen St.-R. II 276. III 152. Ed. Meyer Rh. Mus. XXXVII 616; Herm. XXX 5ff. 17 Anm.), konnte die Erfindung der Annalisten, soweit sie den C. betraf, hier anknüpfen. Liv. II 56, 5–58, 1 und Dionys. IX 43–49, die nur geringe Abweichungen von einander aufweisen, verlegen hierher das publilische Gesetz, wonach die Beamten der Plebs in plebeischen Sonderversammlungen gewählt werden sollten, schildern die daraus entspringenden Kämpfe der beiden Stände und zeichnen dabei ganz schablonenmässig den Consul Appius als den erbittertsten Gegner der Plebeier, während sein Amtsgenosse T. Quinctius die Vermittlerrolle erhält. Daran schliessen sich die übereinstimmenden Berichte über den Feldzug gegen die Volsker, wobei sich erst das Heer aus Hass gegen den Feldherrn Appius ohne Kampf in die Flucht jagen und dann Appius zur Strafe die Officiere und je den zehnten Mann von den Gemeinen hinrichten liess (Liv. II 58, 3–59, 11. Val. Max. IX 3, 5. Frontin. strat. IV 1, 34. Flor. I 22, 2. Dionys. IX 50. Appian. Ital. 7. Zonar. VII 17), und die über die Katastrophe des Appius (Liv. II 61, 1–9. Dionys. IX 52–54): Er habe auch im folgenden Jahre den Hass der Tribunen durch seinen Widerstand gegen ihr Ackergesetz auf sich geladen, sei von ihnen vor Gericht gezogen worden, habe hochmütig alle Mittel, das Volk für sich zu gewinnen, verschmäht (vgl. Suet. Tib. 2) und sei noch vor der Fällung des Urteils plötzlich gestorben, nach Dionys und Zonaras durch Selbstmord, nach Livius (und der Angabe seiner Verwandten bei Dionys) an einer Krankheit. Diese ganze Darstellung ist eine consequente und einheitliche Erfindung; der einzige Zug, der nicht hineinpasst, ist der, dass die Plebs ihrem ärgsten [2699] Feinde sogar gegen den Willen der Tribunen ein ehrenvolles Begräbnis gewährte. Die vollständige Haltlosigkeit der ganzen Erzählung ergiebt sich aus der einfachen Thatsache, dass der Consul von 283 = 471 im J. 303 = 451 noch einmal Consul wurde und infolge der Einsetzung der Decemvirn sein Amt mit deren Würde vertauschte. Die Identität ist klar ausgesprochen in den Fasti Cap. zum J. 303 = 451: Ap. Claudius Ap. f. M. n. Crassinr[i]gill. Sabin. II. T. Genu[cius L. f. L. n.] Au[gu]rinus abdicarunt ut de[c]emviri consular[i imperio fier]ent. decemviri consular[i imp]erio legibus s[cribundis fact]i eod. anno Ap. Claudius Ap. f. M. n. Crassin[rigill. Sab]in. qui cos. fue[rat]. T. Genucius L. f. L. n. Augurin[us q]ui cos. fuerat (vgl. Chronogr. zum J. 303: Sabino II; zum J. 304: Sabino III); sie ist aber auch noch deutlich zu erkennen an mehreren Stellen des Livius (III 33, 7. 35, 3. IV 48, 5f.; vgl. Niebuhr R. G. II 377, 54. Schwegler R. G. II 568ff.). Ap. f. war auch nach der gewöhnlichen Annahme ebenso der Consul von 283, wie der Decemvir; nur machte man jenen zum Vater des Decemvirs. Dessen Beinamen, die freilich selbst schon spät hinzugefügt sind, sind von denen des Consuls nicht verschieden. Diod. XII 23, 1 (Πόπλιος Κλώδιος Ῥηγιλλανός; hinter Πόπλιος muss ein dazu gehöriger Gentilname [Curiatius nach Liv., Horatius nach Dionys.] und der zum Folgenden gehörige Vorname [Ἄππιος, vgl. Diod. XII 24, 1] ausgefallen sein) und Suet. Tib. 2 geben die Form Regillanus; daher vermutet Mommsen (CIL I² p. 32 zum J. 392), dass die Fasti Cap. bei den Jahren 303. 304 die alte Abkürzung Crassinrigill., d. h. Crassinus Regillanus erhalten haben, während sie sonst schon deren falsche Auflösung Crassus Inregillensis bieten. Die bekannteste Darstellung der Geschichte des Decemvirats ist die des Livius III 33–58: Appius habe in so hohem Masse die Gunst der Plebs zu erwerben verstanden, dass er das Haupt der Regierung wurde; nachdem das erste Collegium das Gesetzgebungswerk noch nicht zu völligem Abschlusse gebracht hatte und die nochmalige Wahl von Decemvirn beschlossen war, habe er, gestützt auf die Plebs, durch eifrige Bemühung seine Wiederwahl und die Wahl von Genossen, auf die er sich verlassen konnte, durchgesetzt und dann plötzlich die Farbe gewechselt. Jetzt erst habe er sein wahres Gesicht gezeigt und mit seinen Amtsgenossen eine Schreckensherrschaft begonnen, die mehr und mehr auf den Plebeiern lastete, während die patricische Jugend auf seiten des Tyrannen stand. Widerrechtlich behielten die Decemvirn ihr Amt auch im nächsten J. 305 = 449 und fuhren fort, in derselben gewaltsamen Weise zu herrschen. Die Bedrohung Roms durch die Aequer und Sabiner nötigte sie zwar, den Senat zu berufen, aber da es nun als das dringendste erschien, der Gefahr von aussen zu begegnen, so erhielten sie das Recht der Aushebung und den Oberbefehl. Acht von ihnen seien ins Feld gerückt, Appius und Sp. Oppius zur Verwaltung der inneren Angelegenheiten in Rom geblieben. Die Erzählung wendet sich dann den unglücklichen Kriegen und der frevelhaften, von den Decemvirn befohlenen Ermordung des L. Siccius zu und erreicht endlich ihren Höhepunkt [2700] in der berühmten Sage von Verginia, die schon Livius selbst als das Seitenstück zu der von Lucretia bezeichnet (III 44, 1). Der Aufstand der Gemeinde und der Sturz der Decemvirn erscheinen als die Folgen dieses Verbrechens, und Appius tritt von dem Schauplatz ab, um erst wieder nach Herstellung der alten Ordnung als Angeklagter vor dem Volke zu erscheinen; noch ehe die von L. Verginius erhobene Anklage zur endgültigen Verhandlung gekommen war, habe er im Gefängnis durch eigene Hand seinen Tod gefunden. In dieser ganzen Darstellung macht sich, wie Mommsen richtig erkannte (Röm. Forsch. I 298; übereinstimmend Ihne R. G.² I 182ff.), eine doppelte Auffassung des Appius geltend, eine ältere, die in ihm den Vertreter der plebeischen Interessen erblickte, und eine jüngere, für die er der Typus des plebeierfeindlichen Claudiers war. Es ist der zweiten hier nicht gelungen, alle Spuren der ersten zu verwischen; namentlich zeigen die Worte, die Liv. III 33, 7 beim ersten Auftreten des Appius im J. 303 = 451 von ihm gebraucht, dass dieselbe Tradition einerseits den Decemvir noch nicht von dem Consul von 283 = 471 schied, andererseits ihn als plebicola zeichnete. Die jüngere Anschauung tritt in der Erzählung vom Beginn des J. 304 an hervor, sehr deutlich z. B. III 36, 7. 37, 6. 38, 13. 49, 8. Verglichen mit dem Bericht des Livius erscheint der unvollständig erhaltene des Dionys (X 54–XI 44) als ein Versuch, die schärfsten Widersprüche auszugleichen oder abzuschwächen. Zwar wird vom ersten Decemvirat gerühmt, dass es zum Vorteil der Plebs und überhaupt sehr gut verwaltet worden sei (X 57), aber Dionys weiss weder etwas davon, dass Appius seine Wiederwahl namentlich der Plebs verdankte (X 58), noch davon, dass er sich später gerade gegen diese wandte (nur eine ganz beiläufige Bemerkung XI 22 Ende) und durchaus auf die jungen Patricier stützte (vgl. besonders die völlig entgegengesetzte Schilderung von der Haltung der iuniores patrum und des νέον τῆς βουλῆς μέρος in der Senatssitzung bei Liv. III 41, 1 und Dionys. XI 21). Wenn Dionys XI 1 seine Schilderung einleitet: ποιήσομαι δὲ τὸν περὶ αὐτῶν λόγον οὐκ ἀπὸ τῶν τελευταίων ἀρξάμενος ἅ δοκεῖ τοῖς πολλοῖς αἴτια γενέσθαι μόνα τῆς ἐλευθερίας, λέγω δὲ τῶν περὶ τὴν παρθένον ἁμαρτηθέντων Ἀππίῳ διὰ τὸν ἔρωτα, so hat er Schilderungen im Auge, denen die ganze Ausmalung der Gewaltherrschaft, die Episode des Siccius u. s. w. noch fremd war, dagegen die Sage von Verginia schon geläufig. Älter als die bisher erwähnten Berichte ist der Diodors. Er enthält erstens eine schlecht überlieferte Liste der Decemvirn (XII 24, 1), zweitens eine Sage, deren echt volksmässigen Ton der Anfang genügend zeigt (ebd. 2: εἶς δ’ ἐξ αὐτῶν ἐρασθεὶς εὐγενοῦς παρθένου πενιχρᾶς), drittens Nachrichten über die beide Stände versöhnende Gesetzgebung (XII 25, 2). Wenn dieser letzte Teil Bedenken erregt, so trifft die Schuld den griechischen Compilator (vgl. Mommsen Röm. Forsch. II 287f.); und keinesfalls berechtigt dies zu ungünstigen Schlüssen für den zweiten, damit gar nicht zusammenhängenden Teil. Dieser giebt ohne Frage die älteste Fassung der Sage vom Sturze der Decemvirn wieder (vgl. noch Maschke Freiheitsprocess im [2701] classischen Altertum [Berlin 1888] 41ff.); es ist Volkssage in ihrer ursprünglichen Form, die noch keine bestimmten Namen ihrer Helden kennt und noch keine bestimmte und klare Vorstellung von dem Charakter der Tyrannis hat. Bei der weiteren Entwicklung der Tradition wurde diese Tyrannis nach griechischen Mustern ausgemalt: durch die Hülfe des niederen Volkes kommt ein Demagog empor, missbraucht seine Gewalt zur Befriedigung persönlicher Begierden und wird deshalb von denen selbst, die ihn erhoben hatten, wieder gestürzt. Diese Ausgestaltung der alten Sage dürfte der Gracchenzeit angehören, in der man ähnliche Dinge erlebt hatte, in der z. B. die verfassungswidrige Verlängerung der Amtsgewalt in ein zweites Jahr hinein von Tib. Gracchus versucht worden war. Damals hat ein Appius Claudius, der Schwiegervater dieses Ti. Gracchus, die demokratische Bewegung auf das entschiedenste unterstützt (vgl. Nr. 295), und damals schrieb Piso, der zu den heftigsten Gegnern der Bewegung gehörte, sein Geschichtswerk. Auch die Endredaction der Magistratstafel, auf die die capitolinischen Fasten zurückgehen, mag in derselben Zeit erfolgt sein, als die Pontificalannalen zum Abschluss kamen und vornehmlich namhafte, angesehene Männer sich dem Studium der älteren Geschichte Roms widmeten. Erst ihre Nachfolger, die Annalisten der sullanischen Zeit, haben dann den Consul Appius von dem Decemvir getrennt und die Erzählung von dem unnatürlichen Ende während des noch schwebenden Processes zweimal erzählt, haben das Bild des Appius mit neuen Farben ausgemalt und den breiteren Hintergrund ausgeführt, von dem es sich abheben sollte. Vielleicht giebt Livius im wesentlichen die Darstellung des Valerius Antias und Dionys die des Licinius Macer wieder. Eine selbständige Stellung nimmt unter den erhaltenen Berichten noch der Ciceros (rep. II 63) ein; er steht zwischen den Darstellungen der ältesten und der sullanischen Annalistik, ohne sich jedoch mit der pisonischen näher zu berühren (vgl. das ähnliche Verhältnis bei der Geschichte des Sp. Cassius oben S. 1749 Nr. 91). Dagegen sind die sonstigen Erwähnungen der Geschichte des Appius ohne eigenen Wert (Cic. fin. II 66. Liv. VI 20, 3. Val. Max. VI 1, 2. Ascon. Cornel. p. 68. Suet. Tib. 2. Flor. I 24, 2. Eutrop. I 18. Ampel. 25, 2. Auct. de vir. ill. 21, 2. Pompon. Dig. I 2, 2, 24. Zonar. VII 18 u. a.); höchstens verdient noch erwähnt zu werden, dass über seinen Tod wieder zwei Versionen existierten, Selbstmord oder Hinrichtung auf Befehl der Tribunen im Gefängnis (vgl. Dionys. XI 46. 49 [Angabe der Verwandten]. Auct. de vir. ill. 21, 4). Eine Kritik der verschiedenen Auffassungen des Decemvirats gehört nicht hierher (vgl. über die diodorische F. Cauer Jahrb. f. Philol. CXXIX 171), wo es sich nur um Appius Claudius handelt. Dessen Name, der in der Liste der Decemvirn an der Spitze stand, und die alte Sage, deren Grundmotiv zweimal in der römischen Geschichte wiederkehrt (Lucretia und Verginia), und deren Tendenz Mommsen (St.-R. II 717, vgl. Ed. Meyer Rh. Mus. XXXVII 618, 1) scharf und richtig beurteilt hat, waren die einfachen Elemente, die mit einander verbunden wurden und die sich von den zahlreichen [2702] späteren Zuthaten noch in den jüngsten Darstellungen abhoben. Wenn die Sage (noch bei Cicero, von dem dies Ascon. Cornel. p. 68 ausdrücklich hervorhebt, und Diodor) keine bestimmten Persönlichkeiten kannte, so konnten die Geschichtschreiber sich damit nicht begnügen; aus der Jungfrau schlechthin (virgo) wurde eine Verginia und der erste, den die Liste der Decemvirn verzeichnete, konnte leicht als deren Haupt und als der Held der Sage angesehen werden.