Aiolie (Αἰολίη), die schwimmende (πλωτή), von steilen glattfelsigen Ufern und einer ehernen unzerstörbaren Mauer umgebene Insel, welche Aiolos, der Beherrscher der Winde, in Zeus Auftrag in üppigem, seligem Leben bewohnt mit seinen 12 Kindern (Hom. Od. X 1ff). Sie wird zweimal von Odysseus besucht, das erste Mal vom Kyklopenland aus, das zweite Mal nach zehntägigem Umherirren nach dem vorwitzigen Öffnen des Windschlauches durch die Gefährten V 55ff., vor dem Eintreffen bei den Laistrygonen, die 6 Tagereisen später erfolgt. Eine Controle dieser Reiseroute hat nach v. Wilamowitz (Homer. Unters. 164) der Dichter, welcher Kyklopie und Aiolos-Abenteuer in den heute vorliegenden Zusammenhang brachte, durch den geschickten Kunstgriff unmöglich machen wollen, dass er die Insel als πλωτή bezeichnete (wie sonst von Delos und Rhodos erzählt wurde). Auch Eratosthenes (bei Strab. I 24) war dieser Ansicht, als er in seiner Polemik gegen die Localisierungsversuche auf Sicilien bemerkte, man werde dieses Local der rein mythischen Irrfahrten des Odysseus nicht eher finden, bis man den σκυτεύς nachgewiesen habe, der den Schlauch des Aiolos verfertigt habe. Vgl. den Spott über den Schlauch bei Aristot. Meteor. I 13. Auct. π. ὕψους IX 14. Polybios aber, der diesen Ausspruch und die Beweisführung für die sicilische Localisierung dem Strabon vermittelt, behauptet, dass hinter den poetischen Ausschmückungen des Dichters ein realer Kern geographischer Anschauungen sich verstecke. Ihm stand nur die zuerst bei Antiochos von Syrakus frg. 2 (aus Pausan. X 11, 3, FHG I 181) auftretende Identificierung der Αἰολίη νῆσος Homers mit den nordsicilischen sieben Αἰόλου νῆσοι oder einer von diesen zu Gebote. Allerdings wird diese Localisierung der Sage zugleich mit der Ansetzung der Kyklopen am Aitna, der Laistrygonen bei Leontinoi, der Lotophagen bei Akragas oder Kamarina, der [1033] Skylla und Charybdis bei Zankle schon durch die Colonie der Chalkidier vorgenommen sein, also vor der Colonie der Knidier nach Lipara und den ‚liparischen Inseln‘ (Antiochos a. a. O. Poseidonios [?] bei Strab. VI 276. v. Wilamowitz a. a. O. 169, 5), da diese schon an einer lykischen Insel (Plin. n. h. V 131) den an einer der Liparen wiederkehrenden Namen Στρογγύλη kannten und wohl auch den Namen Λιπάρα selbst mit den ostfahrenden Rhodiern zusammen nach dem kilikischen Fluss Λιπαρίς übertragen haben werden (Kallimachos, Plinius). Dann kann aber doch nur eine der später s. g. Λιπάραι (Λιπαραῖαι νῆσοι) den alten homerischen Namen Αἰολίη vor der chalkidischen Besiedelung geführt haben; entweder Thermessa-Ἱερὰ Ἡφαίστου (so Kallias von Syrakus frg. 4 aus Schol. Apoll. Rhod. III 41, FHG II 383 und Poseidonios frg. 78 aus Strab. VI 276, FHG III 285), da deren vulcanisches Verhalten den Liparaiern das Ende einer Windstille zu verkünden pflegte (Strab. a. O.); oder Strongyle (so Agathokles frg. 9 aus Schol. Apoll. Rhod. IV 761, FHG IV 290, im Gegensatz zur Ἱερὰ Ἡφαίστου, und Plinius n. h. III 94; vgl. Schol. T Od. X 20, welcher jedoch von Lipara wenigstens das vulcanische Windsignal ausgehen lässt). ‚Einige‘ andere bei Strabon (II 123, vgl. VI 275. I 57. 129. Schol. Od. X 1 u. a.) nannten überhaupt die Liparen Αἰόλου νῆσοι, oder nach Eustath. Od. p. 1644, 43 Αἰόλειαι νῆσοι = αἱ τοῦ Αἰόλου, zum Unterschied von den kleinasiatischen Αἰολίδες νῆσοι = αἱ τῶν Αἰολέων (Skylax 97: Αἰολίς = Lesbos), trotzdem sie von jenen Αἰόλειαι eine gerade als Αἰολίς bezeichneten und offenbar die Αἰολίη Homers meinten. Diese künstliche Trennung war so wenig allgemein anerkannt, dass Diodor V 7 gerade wieder die Liparen Αἰολίδες νῆσοι nennt; und die Schwierigkeit, beide Localisierungen dieses Namens, so lange dabei der alte homerische Terminus im Spiele ist, auseinanderzuhalten, scheint ihre historischen Gründe zu haben. Jedenfalls brachten die Chalkidier den Odysseestoff von den aegaeischen Meeresküsten mit, denen sie entstammten, und zwar den westlichen, von denen aus auch die Laistrygonensage in nordöstlicher Richtung weiter übertragen ward. Und in den Gegenden um Euboia und Thessalia-Aiolis muss die Vorstellung von der Insel A. auch ursprünglich gelebt haben. Ob ihr auch da ein bestimmtes Local entsprochen habe, ist fraglich; zwar würden gewisse einzelne Bestandteile der Vorstellung von dieser Odyssee-Insel hier gegeben sein: so etwa ein Kult der Winde. Wenn z. B. 480 vor Artemision die Perser auf den Rat der Ioner der Thetis von Magnesia-Sepias, den Nerëiden und τῷ ἀνέμῳ opferten (Herod. VII 191), nachdem z. B. bei Meliboia auf Magnesia ihre Schiffe gescheitert waren, so könnte man sich erinnert fühlen an den Windgott Aiolos auf Μελιγουνίς, der später (durch die Knidier) Λίπαρα umgetauften Insel. Wahrscheinlich ist aber, dass in der Insel A. nur eine Erscheinungsform des Jenseits der aiolischen Religion vorliegt, welche ihr Totenreich als eine Insel zu denken liebte (H. D. Müller Myth. d. griech. Stämme II 339. 336; vgl. Philol. N.F. II 1889, 124. IV 1891, 618ff.). Dafür spricht einerseits das eigentümliche, von [1034] den Scholiasten nicht verstandene τεῖχος χαλκέον ἄρρηκτον, welches die unterweltliche Erz- und Unzerbrechlichkeitssymbolik vereinigt (vgl. H. D. Müller Ares pass.), andererseits das an die Μακάρων νῆσοι erinnernde selige, üppige Leben der auf diese ‚treibende Insel‘ Entrückten (vgl. die Μάκαρος νῆσος Lesbos-Aiolis), und endlich vielleicht die dämonische Natur der Ἄνεμοι, die in der magischen Kuhhaut oder nach der bei Vergil (Aen. I 52ff.; vgl. Qu. Smyrn. XIV 475. Ovid. met. I 262 pass. Valer. Flacc. I 576) vorliegenden Anschauung in einem Bann vom Beherrscher Aiolos gefangen gehalten werden (s. d.); denn diese spukhaften Winde bringen den in vieler Beziehung mit dem Heroen-, Toten- und Seelenkult übereinstimmenden Kult der Ἄνεμοι in Erinnerung, der auf der Vorstellung der Menschenseele als eines Hauches zu beruhen scheint.