Boii. 1) Boii, bei den Griechen Βοῖοι, Βόιοι, Βοιοί. Dieser vielgeprüfte und viel umhergekommene keltische Volksstamm war den Römern frühzeitig bekannt. Bereits Plautus Capt. 888 erwähnt den Namen im Wortspiel Boius est – boiam terit. Nach der aus Liv. V 34f. bekannten Sage hatten sie ihre ursprünglichen Wohnsitze in Gallien verlassen und waren mit den Lingones über den Poeninus (Gr. St. Bernhard) in die Poebene gewandert; da sie alles Land zwischen Alpen und Po besetzt fanden, überschritten sie den Fluss und besetzten nach Verdrängung der Etrusker und Umbrer das Land bis zum Apennin, also die heutige Romagna, wo die alte Etruskerstadt Felsina, von ihnen Bononia umgenannt, ihre Hauptstadt wurde (Polyb. II 17, 7 τὰ δὲ πέραν τοῦ Πάδου, τὰ περὶ τὸν Ἀπεννῖνον, πρῶτοι μὲν Ἄνανες, μετὰ δὲ τούτους Βοῖοι κατῴκησαν. Strab. IV 195. V 216. Liv. XXXIII 37 primum Boiorum agrum usque ad Felsinam oppidum populantes peragraverunt. XXXVII 57. Plin. n. h. III 115 Bononia, Felsina vocitatum, cum princeps Etruriae esset. Plut. Romul. 17. Serv. Aen. X 198; vgl. Nissen Ital. Landeskunde I 477. Bormann CIL XI p. 132). Sie zählten in diesem Strich (reg. VIII, welche determinatur Arimino Pado Apennino) 112 Gaue (Cato bei Plin. III 116; zu Plinius Nachricht III 124, die B. hätten auf ihrer Wanderung auch Laus Pompei in Transpadana gegründet, vgl. Mommsen CIL V p. 196). Ihre Nachbarn an der adriatischen Küste südlich von Ariminum waren die Senonen (ager Gallicus). Ob sie an den früheren Streifzügen der Senonen in das südliche Italien teil genommen haben, ist nicht erwiesen, aber wahrscheinlich. Nach der Vernichtung ihrer Stammesgenossen (283) eröffneten die B. mit den Etruskern einen Rachekrieg gegen Rom, der mit ihrer Niederlage am vadimonischen See und im Jahr darauf (282) bei Populonia endigte (Polyb. II 20; vgl. Frontin. strat. I 2, 7). Im J. 238 erneuerten sie vereint mit anderen keltischen Stämmen, besonders den Insubrern, den Krieg, mussten sich aber nach der Niederlage bei Telamon den Römern ergeben, im J. 224 (Polyb. II 20ff. Mommsen R. G. I⁸ 554ff.). Die bald darauf erfolgte Anlage zweier römischer Colonien (Cremona und Placentia) veranlasste aufs neue der Abfall der Boier (218 v. Chr., Liv. XXI 25. Mommsen I 575. 588), der ohne Erfolg war (vgl. Frontin. strat. I 6, 4 [aus Liv. XXIII 24]. Sil. It. IV 148ff. u. ö. Appian. Hannib. 5. 8). Doch konnten sich die Römer während des zweiten punischen Krieges nur mit Mühe in Placentia halten. Auch nach dem Kriege blieben sie Feinde der Römer (Liv. XXXI 2), erstürmten sogar Placentia (Liv. XXXI 10); nach wechselnden Erfolgen wurden sie endlich durch die Schlacht bei Mutina (193) definitiv niedergeworfen (Liv. ΧΧΧII 29–31. XXXIII 22f. 36f. XXXIV 22. 46f. XXXV 4. 5. 40. XXXVI 38–42; vgl. CIL I² p. 48 [a. 557]. Plin. IIΙ 116 in hoc tractu interierunt Boii. Oros. IV 20 [aus Liv.]. Mommsen a. O. I 665ff.). Ihre Stadt Bononia war im J. 196 römisch geworden (Liv. XXXIII 37 nennt sie noch Felsina), 189 wurde sie latinische Colonie (Liv. XXXVII 57. Vellei. I 15); 191 mussten sie ihre halbe Feldmark an die Römer abtreten (Liv. XXXVI 39) und auch auf dem Gebiet, was [631] ihnen blieb, verschwanden sie bald und verschmolzen mit ihren Besiegern (Nissen a. Ο. Ι 482). Ihr Name haftete aber auch später noch an diesen Gegenden (vgl. Festus ep. p. 36 Boicus ager dicitur, qui fuit Boiorum Gallorum. is autem est in Gallia citra Alpes, quae togata dicitur; in quibus sunt Mediolanenses. Ptol. III 1, 20). Über die Kämpfe der Gallier in Italien vgl. ausser verschiedenen Darstellungen der römischen Geschichte Leop. Contzen Wanderungen der Kelten (1861) 97ff. Strabon V 213. 216 berichtet nun, die Boier seien von den Römern aus Italien über die Alpen verdrängt worden, hätten sich an der Donau mit den Tauriskern festgesetzt und mit den Dakern Krieg geführt. Das ist schwerlich richtig. Nach Liv. V 34 zog ein gallischer Haufe über den Rhein nach dem herkynischen Bergwald. Wahrscheinlicher ist, dass in diesen Gegenden von alters her Kelten sassen, die später von den Deutschen verdrängt wurden (Zeuss Die Deutschen 245. Müllenhoff D. Alt. II 267f.). Dass Boier in Germanien sassen, dafür haben wir drei deutliche Zeugnisse. Nach Poseidonios bei Strab. VII 293 sassen die B. zur Zeit des Cimberneinfalles am herkynischen Wald (Βοΐους τὸν Ἑρκύνιον δρυμὸν οἰκεῖν πρότερον), die Cimbern wurden von ihnen abgewehrt und wandten sich nach der Donau und gegen die Taurisker. Caesar b. g. I 5 wusste noch, dass die B. trans Rhenum incoluerant et in agrum Noricum transierant Noreiamque oppugnarant. Und Tac. Germ. 28 berichtet igitur inter Hercyniam silvam Rhenumque et Moenum amnes Helvetii, ulteriora Boii, Gallica utraque gens, tenuere. manet adhuc Boihaemi nomen signatque loci veterem memoriam quamvis mutatis cultoribus. Alle drei stimmen darin überein, dass sie von der Ansässigkeit der B. in Deutschland als von etwas Vergangenem sprechen (Much Deutsche Stammsitze 1ff.). Der Name Boihaemum (d. i. Heim der Boier, s. d.) zeigt, dass ihre Sitze in Böhmen waren, die sich wahrscheinlich südwärts bis an die Donau erstreckten (vgl. Boiodurum und s. Much a. O. 2). Wenn Tac. Germ. 42 weiter berichtet, die Markomannen hätten sie von hier vertrieben, so ist das nicht richtig (Müllenhoff a. O.). Denn die Markomannen zogen erst zu Anfang unserer Zeitrechnung nach Böhmen. Die B. dagegen verliessen ihre Sitze in Böhmen etwa ums J. 60 v. Chr. und wandten sich nach Noricum und Pannonien (Caes. b. g. I 5; vgl. Strab. IV 206, wo die Räter und Vindeliker als Nachbarn der Helvetier und Boier bezeichnet werden). In Noricum schlossen sich 32000 B. den Helvetiern an und zogen mit diesen nach Gallien (Caes. b. g. I 5. 25. 29). Der übrige Teil an der Donau wurde durch den Dakerkönig Boerebistas, einen Zeitgenossen des Augustus, vernichtet (Strabon VII 304 Βοίους δὲ καὶ ἄρδην ἠφάνισε τοὺς ὑπὸ Κριτασίρῳ καὶ Ταυρίσκους. VII 313. 315. V 212. Zeuss a. Ο. 244ff.). Ihre damaligen Wohnsitze werden als ‚Boierwüste‘ bezeichnet, Strabon VII 292 Ἑλουήττιοι καὶ Οὐινδελικοὶ … καὶ ἡ Βοίων ἐρημιά, μέχρι Παννωνίων πάντες. Plin. n. h. IV 146 Noricis iunguntur lacus Peiso (lies Pelso, der Plattensee, Mommsen CIL III p. 523), deserta Boiorum. Dimensuratio provinciar. 18 ed. Riese desertis in quibus habitabant Boi et Carni, ein Name, der sich nicht auf [632] die Ausrottung des Volkes bezieht, sondern von der Beschaffenheit des Landes hergenommen ist (Müllenhoff a. Ο. II 267. Much a. O. 3). Dass Boierreste in dieser Gegend (um Stein am Anger und am Plattensee) noch späterhin vorhanden waren, bezeugen ausser Ptol. II 14, 2, der im Norden von Pannonia superior Ἄζαλοι, im Süden Λατόβικοι ansetzt [ἐν δὲ τοῖς μεταξὺ Βόϊοι [Βοιοί die Hss.] μὲν πρὸς δυσμὰς καὶ ὑπ’ αὐτοὺς Κολαιτιανοι, einige Inschriften der römischen Kaiserzeit: CIL IX 5363 (vgl. 5364) = Dessau 2737 praef(ecto) ripae Danuvi et civitatium duar(um) Boior(um) et Azalior(um). VI 3308 (= Dessau 2210) D(is) M(anibus) Ulpi Titi eq. sing. Aug. n. tur(ma) Emeriti nat(ione) Boius … allect. ex ala I Thr(acum) ex Pann(onia) sup(eriore); vgl. die Inschrift von Ebersdorf CIL IIΙ 4594 (= 11311) Ariomanus Iliati f(ilius) Boi, die Militärdiplome von Weissenburg CIL III p. 867 nr. XXIV (vom J. 107) Mogetissae Comatulli f. Boio (= Dessau 2002, seine Frau eine Sequanerin) und von Carnuntum CIL III p. 869 m. XXVI (= Suppl. p. 1975 nr. XXVI vom J. 114) Nertomaro Irducissae f. Boio; ferner CIRh 1600 exploratores Triboci et Boi; vgl. Westd. Ztschr. 1887, 51. Die hier genannten Boier gehören eher den gallischen als den pannonischen Boiern an, s. weiter unten. Zu trennen von diesen Boiern sind die Boisci an der unteren Donau (C. Müller Ausg. des Ptol. I 1 p. 291. Holder Altcelt. Sprachsch. s. Boisci) und die späteren Baioarii (Holder a. O. s. Boii Sp. 471f.). Zu Mela III 45, wo Botorum, nicht Boiorum überliefert ist, vgl. Riese Rh. Mus. XLIV 346. Much Stammsitze 19. Über die Boier in Deutschland Contzen Wanderungen der Kelten 97ff. Mommsen R. G. I⁸ 668. II⁸ 166f. 171. CIL III p. 525. 588. Jung Die romanischen Landschaften 353f. Schiller Gesch. d. röm. Kais. I 322.
Den Boiern, welche sich in Noricum den Helvetiern angeschlossen hatten und mit diesen nach Gallien gewandert waren (Caes. b. g. I 5), erlaubte Caesar auf Bitten der Aeduer, sich im Gebiet der Aeduer anzusiedeln (b. g. I 28; vgl. I 25. 29 Mommsen R. G. II⁸ 244. 248f. 282). Sie waren 32000 Köpfe stark. Ihre Stadt Gorgobina (nicht Gergovia) wird b. g. VII 9 genannt (vgl. VII 10. 17). Bei dem allgemeinen Gallieraufstand mussten sie 2000 Bewaffnete stellen (VII 75). Ihre Wohnsitze sind nicht genauer bekannt; Desjardins (Géogr. de la Gaule II 478) vermutet sie zwischen Loire und Allier, Holder (a. O. s. Boii Sp. 465) im heutigen Nivernois, in Bouhy. Boi in Gallia Lugudunensis zählt Plin. n. h. IV 107 auf mit Aeduern, Senonen u. s. w. Auf diese gallischen Boier scheinen sich die oben angeführten Inschriften zu beziehen, und e plebe dieser Boier stammte Mariccus, welcher im J. 69 eine kurze Rolle spielte (Tac. hist II 61). Weitere Reste des Volkes sassen in der Umgegend von Bordeaux (s. Nr. 2 und Boiates), wobei aber die Frage ist, ob die Boier die man hier, am Po, in Böhmen findet, wirklich auseinandergesprengte Zweige eines und desselben Stammes sind und ob nicht blos eine Namensgleichheit obwaltet (Mommsen R. G. I⁸ 668).
Über die Deutung des Namens gehen die Ansichten gleichfalls auseinander. Nach Glück steht Boii für Bogii, nach Ernault bedeutet [633] der Name terribles (s. Holder a. O. Sp. 463), nach Much (Ztschr. f. D. Alt. 1895, 34f.) die ‚jungen Rinder‘ (= bovii; vgl. Corp. gloss. Lat. II 31, 1 Bosbuc βοτεγεροι. ωςοι. γαλλοι d. i. nach Scaliger bos βοῦς Boi ἑτεροίως οἱ Γάλλοι). Der Eigenname Boius ist auf Inschriften mehrfach bezeugt, auch Boicus; derselbe Stamm in Boiocalus, Boiorix (= König der Boier, Liv. XXXIV 46; der Name des Cimbernkönigs nach Müllenhoff Gallische Umformung vom deutschen Bajariks, Holder a. O. s. v.), Boionius, Boiodurum (s. d.).