Rosen-Monate heiliger Frauen/Hildegard

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XLVI.
17. September.
Hildegard.


 Im Jahre 1098 wurde zu Bockelheim im Nahethale aus edlem Geschlechte eine Tochter geboren und darauf im Kloster Dissibodenberg erzogen, die in ihren Zeiten vor allem Volke als eine große Heilige glänzte, von Päpsten und Kaisern und Fürsten, wie von andern Gliedern der Kirche geehrt, geliebt und gesucht war, und deren Name auch jetzt noch seinen Klang und Werth nicht verloren hat. Es ist Hildegard, die wir meinen, die zwar niemals von der römischen Kirche in das Verzeichnis der Heiligen eingetragen wurde, dennoch aber in allen Kalendern genannt wird.

 Diese Hildegard war von Natur ein zartes Mägdlein, aus deren Körperbau kein Mensch den Schluß gezogen haben würde, daß sie ein Alter von 82 Jahren erreichen würde; denn das geschah, sie starb am 17. Sept. 1179. Da sie von Kindheit auf beständig krank| war und an den Nerven litt, wurde es ihr wie manch anderer Tochter derselben körperlichen Anlage gegeben, daß ihr inneres Leben desto sehnsüchtiger nach oben gieng, desto offener für Einflüße des göttlichen Geistes wurde, auch daß sie sich zu Gesichten und Visionen mehr als andere neigte. Ihre Offenbarungen sind heute noch zu lesen, ihre Briefe und anderen Werke liegen vor uns, und wenn man nun auch von ihr und ihren Leistungen nicht mit derselbigen Begeisterung sprechen kann, wie ihre Zeitgenoßen, der Abt Bernhard von Clairvaux, Papst Eugenius III. und andere, welche ihr jene Gabe der Weißagung zuschrieben, in welcher die alten Propheten geweißagt haben; so wird man doch schon bei Lesung ihrer Briefe eine so hohe Meinung von ihr und ihren Gaben bekommen, daß man es entschuldigen kann, wenn irgend wer den Zweifel ausspricht, ob sich wohl in unseren Zeiten irgend wo eine Jungfrau von gleich hohen Gaben finden möchte. Man darf nur zum Beispiel diejenigen Briefe lesen, welche der edle Bischof Sailer in seiner 4ten Sammlung der „Briefe aus allen Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung“ übersetzt hat, um so von Hildegard zu denken.
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 Man muß jedoch nicht glauben, daß Hildegard| blos ein Leben in Visionen und Entzückungen geführt habe. Wer 270 solche Briefe hinterlaßen kann, wie wir sie von Hildegard haben, der hat der Nachwelt den überzeugendsten Beweis einer thatkräftigen und wahrhaft praktischen Seele zurückgelaßen. Die körperlich schwache Hildegard wurde nicht blos nach dem Tode ihrer Erzieherin, der Aebtissin Jutta, im Jahre 1136 selbst zur Aebtissin gewählt; nicht blos vertrauten ihr die ausgezeichnetsten Familien ihre Töchter an; nicht blos regierte sie ihr Kloster mit fester Hand nach Einem Ziele hin; sondern sie trat auch in weitere Kreise hervor. Bei der Oeffnung des inneren Auges, die ihr sehr frühzeitig zu Theil geworden war, hatte sie anfangs geglaubt, auch andere müßten sehen und hören, was sie sah und hörte. Mit Schrecken bemerkte sie, daß es nicht der Fall war, und verschloß nun die ganze Welt von Licht und Wahrheit, die sich ihr erschloß, bis in ihr fünfzigstes Jahr tief in ihr Inneres. Da aber war es ihr nicht mehr möglich. Schwer erkrankt durch die Last ihres Geheimnisses, kam sie zu dem Entschluße, von nun an ihren Mund aufzuthun und genaß sofort. Von da an richtete sie ihre Reden, Bestrafungen, Mahnungen und Warnungen kühn an alle, für welche sie ihr gegeben| wurden, und gewann dadurch einen mächtigen reichen Einfluß auf die Leiter des Staates und der Kirche ihrer großen Zeit. Sie, selbst eine unsträfliche Persönlichkeit, deren Anerkennung, je länger sie lebte, desto allgemeiner und größer wurde, vereinigte sich mit dem heiligen Bernhard, das Volk zum Kreuzzug anzumahnen; ganze Stämme und Stände sprach sie auch in anderen Angelegenheiten an und übergoß sie durch ihre Worte und Schriften mit reichem Segen. Bedrängte und Verfolgte aller Art wendeten sich von diesseits und jenseits des Rheins an sie und empfiengen durch sie Licht, Trost und Stärkung. Auf ihr Gebet und das Auflegen ihrer Hände wurden viele Kranke gesund. Alles an Hildegard ist außerordentlich, von ihrer Jugend auf, bis sie in ihrem Alter in ihrem Kloster St. Rupertsberg bei Bingen starb. Ihr nachahmen wird man um so weniger wollen, je mehr man sie kennen wird, zumal ihre Tugenden von ihren seltenen Gaben und ihrem Einfluße noch überstrahlt werden. Ohne Zweifel aber wird sie unter den großen Frauennamen, die man im Abendlande und insonderheit in Deutschland nennt, immerdar genannt werden dürfen und müßen. Wenn es recht wäre, sich irgend eines Menschen zu rühmen, so würden wir| Deutschen uns der Aebtissin Hildegard mit weit größerem Rechte rühmen dürfen, als wir uns vieler Helden oder Künstler u. dgl. rühmen, die in der Kirche weder gut noch groß genannt werden können, und deren Namen im Himmel nicht geschrieben stehen.




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