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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859)

niemals rein und vollkommen, wie viel weniger erst ihre Erscheinung in der Welt der Gestalten! Nichts auf Erden, das Reinste und Schönste nicht, kommt zu einem auch nur annähernd vollkommenen Dasein; darum ist auch nichts Irdisches unsterblich. Wenn die Idee als Erscheinung ihre Tragweite erreicht hat, wenn die der körperlichen Gestalt innewohnende Kraft verbraucht ist, sprossen aus dem nützlich gewesenem Bau, der nun allmählich verfällt, junge Geistesgebilde von neuer und höherer Kraft, von weitergreifendem, höher strebendem Inhalt. die das alte Mauerwerk vollends zersprengen und eine tiefe schöne Geistesschöpfung begründen. Diese allgemeine Wahrheit mag Dich mit den in ihrer ersten Anlage schon sichtbaren Unvollkommenheiten Schnepfenthals versöhnen.“

„Gewiß“ rief Otto feurig. „Dein vermittelnder, überall das Gute aussuchender und anerkennender Geist behauptet auch hier seine Eigentümlichkeit, und ich danke Dir für sein Bestreben, mich keine Ungerechtigkeit gegen verdienstvolle, ehrenwerthe Männer begehen zu lassen. Aber weder Deine sanfte Gemüthsart und Deine Bieneneigenschaft, aus jeder Blume Honig zu holen, noch die Wahrheit, daß alles Irdische unvollkommen sei, können der Kritik ihr Recht nehmen, abgelebte und noch bestehende Institute unter die Loupe zu nehmen.“

„Unbestritten, wenn sie die Mängel der Dinge nicht vergrößert, wie es doch der Loupe Natur mit sich bringt.“

„Das thut die meinige gewiß nicht, am wenigsten bei geachteten Namen unseres thüringischen Vaterlandes. Du wirst aber doch zugeben müssen, daß Christian Gotthilf Salzmann, der Gründer dieser Erziehungsanstalt, und seine Gehülfen und respective Schwiegersöhne – ich weiß ihre Namen nicht mehr –“

„Sechs der ersten Lehrer, die drei Brüder Ausfeld, Lenz, Weißenborn und Märker, wurden Salzmanns Schwiegersöhne, und die Lehrerschaft an der Anstalt bildete bald eine einzige einmüthige Familie, welcher eigentümliche Umstand zu ihrem Gedeihen nicht wenig beitrug.“

„In Bezug auf das materielle Gedeihen magst Du Recht haben, nicht so hinsichllich des ideellen, das doch bei einer Erziehungsanstalt von solcher Bedeutung vorzüglich in’s Auge zu fasse ist. Gerade dieses enge Verwandtschaftsband legte dem weiterlebenden Geiste Zaum und Zügel an, und die notwendige Folge davon war, daß er in einer gewissen ängstlichen und beängstigenden Förmlichkeit erstarrte. Was aber kann einer Erziehungsanstalt Schlimmeres begegnen? Genug, ich wollte nur sagen, daß jene Herrn Schwäger mit dem Schwiegervater doch nur sehr schwache Träger eine' großen Idee waren. Dies erhellt klar genug aus Salzmann’s zwar gut gemeinten, aber doch wahrlich schwachen Schriften. Wenn man daran denkt, daß zu derselben Zeit Weimars Sternenhimmel seine Strahlen ausgoß, daß Jean Paul’s prächtiger Komet seinen lichtsprühenden Schweif über des deutschen Geisteshorizont ausstreckte, kurz, daß Salzmann’s und seiner Schwiegersöhne schriftstellerische Wirksamkeit in die große Periode des Aufringens des deutschen Geistes zur vollsten Mündigkeit fällt, so –“

„Sprich kein bitteres Wort und bedenke, daß Salzmann ein Volksschriftsteller war und zwar gerade für seine Zeit, wo der Begriff Volk noch ein weit engerer war, als heut zu Tage. Von einer geistigen Mündigkeit dieses Volkes konnte um so weniger die Rede sein, da wir heute, 70 Jahre später, noch nicht davon zu sprechen wagen dürfen. Nur die höchsten Kreise der Gesellschaft waren für Herder, Goethe, Schiller, Wieland zugänglich, nur die feinsten Geister empfänglich für Jean Paul’s fesselloses Briliantenfeuer. Die großen Massen verlangten nach der ihnen angemessenen Kindernahrung, nach geistiger Milch, und diese gab ihnen Salzmann mit der wohlwollenden Gesinnung eines treuen Freundes, oder vielmehr eines besorgten Vaters, und mit dieser Milch hat er großen Segen gestiftet.“

„Wem sie nur weniger wässerig gewesen, nur mehr Zuckerstoff, d. h. Poesie enthalten hätte! Wenn ich Jean Jacques Rousseau’s Emile lese, der den ersten großen reformatorischen Wurf im unglückseligen, ganz trostlosen Erziehungswesen that, der das Zauberwort fand und aussprach, das die in todter Förmlichkeit eingeschlafene europäische Menschheit allmählich wieder zum Leben wach rief, wie da die praktische Erziehungsweisheit mit dem erfrischenden, verklärenden, erhebenden und stärkenden Hauche der Poesie überkleidet ist, so meine ich immer, der Salzmann’schen hausbacknen Verständigkeit hätte etwas Poesie doch auch Vorschub geleistet.“

„Wer weiß! Salzmann war kein Rousseau. Dieser ein anregendes Weltgenie, jener ein praktisch ausführendes Haustalent, wenn dieses Wort im Gegensatze zu jenem erlaubt ist, d. h. er verstand es vortrefflich und war dazu geboren, eine weltbefruchtende Idee in weiser Beschränkung im kleinen Kreise von und Hof bis in die kleinsten Details, die eben das wirklich häusliche Leben erfordert, auszuführen. Das hätte der wunderliche Gefühlsmensch Jean Jaques, wie er sich selbst schildert, nie vermocht. Der fürchtete sich ja vor der Erziehung seiner eigenen Kinder und schickte sie deshalb in’s Findelhaus. Ob nur je ein solcher Gedanke in unseres Salzmann’s Seele hätte aufsteigen können! Als dieser unser wackerer Landsmann – es war 1744 in Sömmerda bei Erfurt geboren und, wie Lessing und Jean Paul, der Sohn eins Pfarrers – schon eine Reihe von Jahren Prediger und Seelsorger mehrerer Gemeinden gewesen war, wurde er, der sich als praktischer Volksschriftsteller auszeichnet, schon als reifer Mann von Basedow zum Lehrer an dessen neuerrichtete Erziehungsanstalt nach Dessau berufen; aber er blieb nur wenige Jahre dort. Es ging ihm zu rousseauisch genial zu; es drängte ihn, die Sache nach seinen eigenen Einsichten und auf eigene Faust einzurichten. Er legte dem an Geist und Herz gleich hochgebildeten Herzog Ernst II. von Gotha seinen Plan vor, in welchem wohl die rousseauischen Principien beibehalten waren, weil diese ewige, aus der Natur des Geistes selbst entsprungene Wahrheiten sind; die Gestaltung der Idee aber war sein Werk. Und der Herzog, der doch ein großer. Verehrer Rousseau’s war und auf dessen Leben sogar dieser geniale Denker entschiedenen Einfluß ausgeübt, erkannte mit seinem Scharfblick den praktisch tüchtigen Mann und unterstützte ihn mit einer namhaften Geldsumme. Und so ist diese durch und durch zweckmäßige Schöpfung entstanden. Das Rousseau-Basedow’sche Institut ist längst wieder eingegangen, die Salzmann’sche Erziehungsanstalt besteht heute noch, ja, sie ist fast überall besetzt. Das ist der thatsächliche Beweis für Salzmann’s praktische Tüchtigkeit.“

„Das Alles ist sehr anerkennenswerth,“ versetzte Otto nach einer Pause, „und dich hat von vornherein der frei fluthende, stets in Wandlung und höherer Entwicklung begriffene Geist gefehlt, der nirgends nöthiger thut, als im Erziehungswesen. Das Salzmann’sche Institut hat am entgegengesetzten Fehler gelitten, wie das Basedow’sche, es ist zu praktisch, zu prosaisch steif und förmlich gewesen. Nichts hat mich an der ganzen Einrichtung mehr verletzt, als die Nachäfferei des Soldatenthums, die die Zöglinge sogar in rothe Uniformen steckt, wie die englische Armee.“

„Und Du billigst es doch, daß unsere Turner in Uniform gehen, wenn auch nur von grauer Leinwand!“

„Dem Turnwesen liegt auch die große Idee zu Grunde, daß es die Jünglinge zu Vaterlandsvertheidigern ausbildet. Turner sind künftige Krieger in der Vorschule.“

„Das sind ja aber eigentlich alle Knaben und die Schnepfenthäler Zöglinge in’s Besondere. Sie waren von Anbeginn der Anstalt Turner und war die Ersten in Deutschland. Jahn’s Turnerei stammt ja aus Schnepfenthal.“

Otto sah den Freund mit ungläubig verwundertem Blicke an. Sie waren während des Gesprächs an der auf der Bergterasse hochgelegenen Erziehungsanstalt zur Rechten vorübergegangen, ebenso im Thale am Salzmann’schen Gutsgebäude und den ersten Häusern des schmucken Dorfes und hatten auf traulichem Fußpfade bald den Wald der sanften Anhöhe auf der rechten Thalseite erreicht. Nach wenigen Minuten auf einer kleinen grünen Ebene dicht am Walde angelangt, sahen sie die hintere Seite des stattlichen Gasthofes in kleiner Entfernung vor sich. Hier war, von prächtigen Bäumen überschattet, ein Turnplatz wie die Einrichtung zeigte.

„Sieh Dir diesen eherwüdigen Raum an“ sprach Bernhard; „er ist der erste Turnplatz in Deutschland, von Salzmann gegründet und vom trefflichen Guts Muths eingerichtet, der Jahn’s bedeutender Vorläufer und Vorarbeiter war. In der Vorrede zu seinem „Turnbuch für die Söhne des Vaterlandes“ erzählt Guths Muths (und er zog auch dieses Buch hervor und las): Im Jahre 1785 betrat ich als Jüngling Schnepfenthal, da führte mich Salzmann auf einen hübschen Platz mit den Worten; hier ist unsere Gymnastik. Auf diesem Plätzchen, am Rande des Eichenwäldchens, entwickelte sich nach und nach die deutsche Gymnastik; ein erzdeutscher Mann – das war Salzmann – gewährte ihr da Schutz, und nur wenige Schritte davon ruht der irdische Theil des Vortrefflichen. Hier belustigen wir uns täglich mit fünf Uebungen in ihren ersten ungeregelten Anfängen. Diese stammen von Dessau, wo Salzmann zuvor gewesen. Ob dort Basedow oder sonst Jemand den Gedanken gefaßt hatte, die Körpererziehung der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 214. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_214.jpg&oldid=- (Version vom 11.4.2023)