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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Die Geschlechtsregister der wahrhaft großen Menschen muß man nicht im Almanac de Gotha suchen. Es ist Ausnahme, nicht Regel, wenn auf den sogenannten „Höhen der Gesellschaft“ ein tüchtiger, geschweige ein wirklich edler und großer Mann sich entwickelt. Eher noch gedeihen dort bedeutende Frauen. Nicht die Gunst, sondern vielmehr die Ungunst der Verhältnisse schmiedet den Mann. Die Kinder des Glücks, und nun gar vollends die „im Purpur geborenen“, erfahren nur selten oder nie jenen schmerzlichen, aber heilsamen Druck der Noth, welcher die Muskeln der Seele stählt und ihre Federkraft erhöht. Ja, die „große Meisterin“, die Noth, sie ist es, welche den kategorischen Imperativ der Pflicht lehrt und willensstärke Charaktere bildet. Man braucht fürwahr kein Schmeichler der Menge zu sein, um Herder ’s Ausspruch, daß alles wahrhaft Gute und Große aus dem Volke komme, als vollkommen gerechtfertigt anzuerkennen. Nur muß man dabei sich hüten, nach dem Vorgang französischer und deutscher Scribenten, welche die Worte Socialisten und Narren zu gleichbedeutenden gemacht haben, Volk und Proletariat zu identificiren.

Im Dorfe Rammenau in der Oberlausitz wurde am 19. Mai 1762 dem Bandweber Christian Fichte ein Sohn geboren, Johann Gottlieb Fichte, der zu einem stillen, träumerischen, nachdenklichen Knaben heranwuchs, nicht eben besondere, glänzende Fähigkeiten verrathend, in keiner Weise zu den „Wunderkindern“ gehörend, aus welchen gewöhnlich nur sehr ordinäre Menschen werden. Man sagt, ein uralter Großoheim habe dem Kinde in der Wiege einen bedeutenden Namen prophezeit; gewiß ist, daß in dem weichen, gern einsam durch Wald und Flur schweifenden, die Blicke in vager Sehnsucht nach der Ferne richtenden Knaben Niemand den Mann von unbeugsamem Willen, den Begründer der tapfersten aller Philosophieen ahnen konnte. Aber das Feuer der Widerwärtigkeit und der Hammer der Armuth härten edles Metall, während unedles dabei allerdings oft in die Brüche geht.

Es war keine Aussicht vorhanden, daß der junge Johann Gottlieb in der Welt einen andern Platz würde einnehmen können, als den an einem der Webstühle, die unter dem Dache seines Vaterhauses klapperten. Er war, wie gesagt, kein Wunderkind, doch mitunter blitzte ein Funkenschlag des Genius aus der Seele des Weberjungen. Dem Ortspfarrer entging das nicht, und der würdige Mann begann nicht nur den Knaben zu unterrichten, sondern lenkte auch die Aufmerksamkeit eines wohlwollenden Edelmanns, des Freiherrn von Miltitz, auf denselben. Die Güte dieses Gönners erschloß unserm Johann Gottlieb die wissenschaftliche Laufbahn, denn Herrn von Miltitz’s Fürsorge machte es möglich, daß sein junger Schützling die Stadtschule zu Meißen, dann Schulpforta und zu Michaelis 1780 die Universität Jena beziehen konnte, zunächst in der Absicht, Theologie zu studiren. Da aber unser der Gottesgelahrtheit Beflissener mit der schon damals ihm eigenen Energie daran ging, das Glauben mit dem Wissen, die Offenbarung mit der Vernunft in Uebereinstimmung zu bringen oder, mit anderen Worten, sich eine „haltbare Dogmatik“ zu schaffen, so ging sein Theologismus erst langsam, dann rasch und rascher bergab. Eine „haltbare Dogmatik“, gerechter Himmel, wo ist die zu finden, wenn nicht im Lande des absoluten Denknichts?

Auf diesem Boden sich anzusiedeln war Fichte nicht gemacht. In Wahrheit, er hatte die Linksschwenkung von der Theologie zur Philosophie bereits vollzogen, während er noch von dem idyllischen Glück eines dorfpfarrherrlichen Daseins träumte. Träumen war sonst zu dieser Zeit, wo der Jüngling sein philosophisches Talent in die strenge Schule Spinoza’s gab, nicht eben mehr seine Sache. Aber seine Lage in der Gegenwart war so, daß man begreift, wie er zu seinem Trost ein Zukunftsidyll der erwähnten Art sich ausmalen mochte. Denn zu den inneren Bedrängnissen des Strebenden, der unter hartem Ringen zwischen Glauben und Zweifel den Kern seiner nachmaligen Philosophie, die freie Selbstbestimmung, in seiner Seele reifen fühlte, kamen äußere, da der gütige Freiherr von Miltitz inzwischen gestorben war. Von jetzt an hat der junge Fichte lange Jahre sein Brod, und zwar häufig im herbsten Wortsinne das trockene Brod, dem Leben abkämpfen müssen. Das Ergebniß dieses Kampfes war jene herrliche Mannhaftigkeit, die wir an Fichte so sehr zu bewundern und leider an so vielen Gelehrten so sehr zu vermissen haben. Es gab von jeher und giebt noch heute in Deutschland eine Menge von armen und bitterarmen Studenten- und Candidaten-Existenzen, aber kaum dürfte eine zweite mit solcher Kraft und solchem Stolz sogar getragen worden sein, wie die Fichte’sche.

Zu den geplagtesten Sterblichen damaliger Zeit gehörten die Hauslehrer. Wen nicht etwa, was freilich häufig der Fall war, eine angeborene und lakaienhaft entwickelte Gemeinheit darüber wegbrachte, der konnte in einem solchen Magisterdasein den Unterschied von Ideal und Wirklichkeit in seiner bittersten Schroffheit kennen lernen. Es war das auch Fichte’s Loos, denn vom Jahre 1784 an that er in verschiedenen sächsischen Familien Hauslehrerdienste. Er machte auf dieser Laufbahn kein Glück. Seine Orthodoxie, d. h. Nichtorthodoxie, erregte „höheren Ortes“ Bedenken und zudem war er nicht der Mann, welcher sich, wie Thümmel’s Magister Sebaldus, vorkommenden Falls dazu hergegeben hätte, ein abgetragenes Kammermädchen zu heirathen. Im Jahre 1788 finden wir unsern angehenden Philosophen in einem elenden Dachkämmerchen zu Leipzig, ohne Stelle, ohne Aussicht, am Hungertuche nagend. In dieser Noth wird ihm durch den wackeren Steuereinnehmer Weiße, den „Kinderfreund“, eine Hauslehrerstelle in Zürich angetragen, und im August g. J. macht sich Fichte zu Fuß auf den Weg nach der Schweiz.

In dem an der alten Limmatbrücke gelegenen Gasthof „zum Schwert“, damals und noch etliche vierzig Jahre lang nachher dem ersten Zürichs, hat Fichte die Kinder des Besitzers Ott, einen Knaben und ein Mädchen, unterrichtet und nebenbei, weil dies nöthig, auch die Mutter seiner Zöglinge erzogen. Vorübungen zur Schriftstellerei füllten die kärglich zugemessenen Mußestunden des Hauslehrers, der sich zugleich auch wieder als Candidat der Theologie sehen ließ, da ihm Lavater’s Verwendung den Zutritt zur Kanzel im Münster eröffnete. Auch in der Gemeinde Flaach und in sonstigen Ortschaften des Cantons hat er etliche Male gepredigt. Klarheit und Kraft, wie sie später seinen akademischen Vortrag so vortheilhaft auszeichneten, wurden auch diesen Kanzelreden nachgerühmt.

Fichte’s damalige Lage war nicht ohne geselliges Behagen. Zürich hat sich vor den meisten übrigen Schweizerstädten von jeher durch ein lebhafteres Interesse für geistige Regung und Bewegung hervorgethan. Im vorigen Jahrhundert war die Stadt sogar eine Weile lang einer der vortretendsten Mittelpunkte deutscher Culturentwicklung. Einige sehr interessante, selbst an’s Pikante streifende Capitel unserer Literaturgeschichte spielten in Zürich. Auf der Höhe über dem Hirschengraben, wo sich zur Zeit, wo ich dieses schreibe, der Prachtbau des eidgenössischen Polytechnicums allmählich erhebt, stand und steht noch heute das Haus, welches Bodmer bewohnte und in welches am 23. Juli 1750 der fünfundzwanzigjährige Klopstock als Gast eintrat. Aus den Fenstern desselben genoß er des ersten entzückenden Ausblicks über die Stadt hinweg auf den See und den Kranz der Hochalpen. Wenige Tage darauf fand jene Fahrt nach der Au statt, welche, von dem Messiassänger in der herrlichen Ode „der Zürichsee“ verewigt, eine der anmuthigsten Episoden der Sittengeschichte des Jahrhunderts ausmacht. Zwei Jahre später war Wieland Bodmer’s Gast, und das lebhafte gesellige Getriebe, in welches er während seines Aufenthalts in Zürich verwickelt wurde, hat zweifelsohne mitgewirkt, den nachmaligen deutschen Ariost und Lucian von der seraphischen Schwindel- und Schwarmgeisterei, an welcher er damals noch laborirte, zu heilen. Später, in der Sturm- und Drangperiode, zog Lavater, der es bekanntlich liebte, sein Christenthum mit Kraftgenialität wunderlichst zu verquicken, durch die seltene Anziehungskraft seiner Persönlichkeit manchen Stürmer und Dränger zeitweilig nach seiner Vaterstadt. Es kam der wirkliche Titan Goethe, es kamen auch die Pseudotitanen Stolberg. Mit den Letztern, die ihr Bischen Kraft in allerhand burschikosen Auslassungen verteilten, hatte Sanct Lavatus seine liebe Noth. Man zeigt noch jetzt die Stelle hinter dem „Sihlhölzli“, wo der Gute die Züricher Bauern nur mit Mühe abhielt, die gräflichen Dioskuren, welche nach genommenem Bade in griechisch-bacchantischer Nacktheit am Flußufer umherpäanten, auf gut „züribieterisch“ an landesüblichen Anstand zu erinnern …

Zur Zeit, als Fichte in Zürich im Schwert hauslehrte, war freilich der Most seraphischer und kraftgenialer Ueberschwänglichkeit daselbst bereits nicht so fast zu Wein, als vielmehr zu Essig geworden. Indessen hatte sich doch immer noch ein Kreis von Männern erhalten – Lavater, Pfenninger, Tobler, Steinbrüchel, Hottinger – deren Umgang für Fichte anziehend und anregend sein

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 156. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_156.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)