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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Nach Sevilla, nach Sevilla!
Eine literarische Erinnerung.

Es giebt Lieder und Melodieen, die wie der Gesang der Lerche immerdar erfreuen, wo und wann sie auch erklingen mögen, die von den Wogen der Zeit für Monden und Jahre überfluthet und verdrängt werden können, die aber dennoch wie der Gesang der Lerche nach kurzem Winterschnee aus dem Saatengrün zu neuer, keimender Frühlingslust sich emporschwingen – um Lust und Freude zu bringen oder altvergessene Jugendträume und Erinnerungen zu wecken oder auf’s Neue erblühen zu machen. Solch ein Lied, solch eine Melodie ist das altbekannte, oft gesungene: „Nach Sevilla!“ Wer kennt es nicht? Wer hätte es nicht gesungen oder nicht gehört?

Das Lied ist von Clemens Brentano, dem Verfasser der Geschichte vom „Braven Kasperl und dem schönen Annerl“, gedichtet, während die Melodie von Louise Reichardt, der Tochter des Musikdirectors Johann Friedrich Reichardt, herrührt, des Componisten der Worte Clärchens aus Goethe’s Egmont: „Freudvoll und leidvoll, gedankenvoll sein“; des genialen, feurigen Lebemanns, der in seinem schönen Garten zu Giebichenstein bei Halle an der Saale, in der Nähe des jetzt vielbesuchten Soolbades Wittekind, die bedeutendsten Männer seiner Zeit um sich zu versammeln wußte, in dessen Familienkreis Jeder gern trat, sich wohl fühlte und zu neuen Ideen und Arbeiten sich angeregt fand. Was die Salons der Rahel und der Herz den Männern und einzelnen Frauen Berlins, das war kurze Zeit vorübergehend und vorüberrauschend der Garten zu Giebichenstein denselben Geistern. Hier im Anblick der schönen, reichgesegneten Natur, bei Harfenspiel und Gesang, zur Seite der meist schönen Töchter und der liebenswürdigen Frau des genialen, excentrischen Reichardt, rauschte die Zeit dahin. Aber während die Schwestern als Gattinnen berühmter Männer später oder früher in den Kreis stiller, einfacher Häuslichkeit zurücktraten und vergessen wurden, ist es die an Gestalt so schöne, aber durch Blatternarben im Gesicht entstellte geistreiche, von eigenthümlichen schweren Herzens- und Schicksalsschlägen hin- und hergeworfene, reichbegabte Louise, die als Componistin einfach schöner Lieder nicht vergessen wurde und der im Leben die geistreichsten und bedeutendsten Männer ihrer Zeit, selbst ein Goethe, nahetraten, um an ihrer Seite sich wohl und angeregt zu fühlen. Der aber, der besonders gern an der Seite des meist trüb schwermüthigen Mädchens weilte, war Schleiermacher, seit 1804 Professor der Theologie zu Halle; der echt christliche, der einem Sack, als derselbe ihm einen Vorwurf wegen seiner fortdauernden Freundschaft zu Fr. Schlegel machte, nachdem derselbe seine berüchtigte Lucinde geschrieben hatte, antwortete: „Nie werde ich aus Menschenfurcht einem unschuldig Geächteten den Trost der Freundschaft entziehen, nie werde ich meines Standes wegen anstatt nach der wahren Beschaffenheit der Sache zu handeln, mich von einem Schein, der Andern vorschwebt, leiten lassen. Einer solchen Maxime zufolge würden ja wir Prediger die Vogelfreien sein im Reiche der Geselligkeit.“

Und auch heute, als des Tages, dessen wir gedenken, steht er droben im Garten an einen Baum gelehnt, während Louise an seiner Seite weilt. Er blickt zur Saale nieder, die in kühner Biegung sich durch die reichgeschmückten, buntgeformten Felsufer dahindrängt. Der Petersberg mit seinen Ruinen glänzt im Abendsonnenschein, während darüber hinaus nur gutem Auge erkennbar der Brocken sich lagert. Halle mit seinen Thürmen und dampfenden Salzwerken liegt im Rücken. O, es lohnte schon, Rundschau zu halten von diesem Punkte aus! Heinrich Steffens weilte mehrere Schritte entfernt an der Seite seiner Johanna, der er von seiner Heimath Stavanger in Norwegen, das er ja so prächtig in seinen Romanen geschildert, erzählte, währenddeß Karl von Raumer die Hand der Friederike, der Schwester Johanna’s, hält, vielleicht, um den noch leichten Springinsfeld abzuhalten, seinen Worten zu entschlüpfen. Er gedenkt Achim’s von Arnim, der ein so gern gesehener Gast in diesem Kreise war. Die schelmische Friederike will des Lobes nicht Wort haben, das dem Entfernten gespendet wird; Widerspruch regt sich im Herzen, und sie kann es nicht lassen, zu gestehen, daß der kleine, wohlgebildete Brentano ihr besser gefalle, daß der schöne, ausdrucksvolle Kopf mit den glänzend lebhaften Augen, die den innewohnenden Schalk trotz aller Schwärmerei und Düsterheit, die sie kund geben, doch nicht verleugnen könnten, für sie etwas ungemein Anziehendes habe. Das muthwillige Mädchen fand nun einmal Gefallen daran, den, dem sie später Herz und Hand zu dauerndem Lebensbunde reichte, in diesem Augenblicke zu necken und ein Weniges eifersüchtig zu machen. Leise hob sie des Gelobten Worte zu singen an: „Durch den Wald mit raschen Schritten“; hatte die Schwester Louise doch zu dem Liede erst vor wenigen Tagen eine so prächtig schöne Melodie ersonnen.

Schleiermacher, wie bekannt, klein von Wuchs, ein wenig verwachsen, in hellen Beinkleidern, kurzer, grüner Jacke und die ziemlich unförmliche Botanisir-Blechbüchse von kurz vorher beendeter Fußwanderung noch auf der Schulter, vernahm die Melodie. Sein lebhaft feuriger Blick, der bisher auf der ihm zur Seite stehenden hochgewachsenen Jungfrau geruht hatte, hob sich auf, und ihrem Blicke begegnend, der, wie er sah und fühlte, aus einem Meer von trüben Gedanken seinen feuchten, wehmüthigen Glanz erhalten hatte, sagte er, den Kopf der jugendlichen Sängerin zuwendend: „Hören Sie nicht? Wie ein Kind den kindischen Schmerz erstickt und die Seufzer zurückdrängt und die Thränen einsaugt, wenn ihm eine kindische Freude gemacht wird, so lassen Sie auch uns an größerer Freude den größeren, unvergänglichen Schmerz besänftigen. Ihnen wurde die Musik, mir die Wissenschaft zur Trösterin gegeben. Mit frohem Auge schaue ich auf Alles, auch auf das Tiefverwundende. Wie Christus keine Braut hatte, als die Kirche, keine Kinder, als seine Freunde, kein Haus, als den Tempel und die Welt, und doch das Herz voll himmlischer Liebe und Freude, so lassen Sie auch uns geboren sein, eben danach zu trachten. Nur die Arbeit, die Liebe zum Beruf, die Freude an den Freunden muß uns aufrecht erhalten.“

So sprach der christliche Denker. Und wer Schleiermacher jemals sprechen gehört, und sei es auch nur in späterer Zeit als Prediger an der Dreifaltigkeitskirche zu Berlin, der wird noch empfinden und nachfühlen können, wie diese Worte zum Herzen dringen mußten. Sein gesprochenes Wort war überaus größer, andauernder, als sein geschriebenes. Sein Blick, der Ton seiner Stimme gab den Worten erst den rechten Nachhall, die tiefeinschneidende Wirkung.

Auch Louise empfand den Zauber seiner Rede; ihr Auge verklärte sich und über die sonst unschönen Züge des Gesichts zog ein Hauch verklärender Freude und geistiger Schönheit.

Schleiermacher sagte weiter: „Aus jedem Kunstwerk strahlet mir, was Menschliches darin ist abgebildet, weit heller, als des Bildners Kunst entgegen. Ich gebe frei mich hin der freien Natur, und wie sie ihre schönen bedeutungsvollen Zeichen mir darbeut, wecken sie alle in mir Empfindungen und Gedanken, ohne daß mich’s je gewaltsam drängte, was ich geschaut, umbildend anders und bestimmter zum eigenen Werke zu gestalten. Drum darf ich auch nicht, wie der Künstler, einsam bleiben; es trocknen mir in der Einsamkeit die Säfte des Gemüths, es stocket der Gedankenlauf, ich muß hinaus in mancherlei Gemeinschaft mit den andern Geistern, immer fester durch Geben und Empfangen das eigene Wesen zu bestimmen!“

Louise hatte ernst zugehört, sie erwiderte nichts; aber man sah es an ihrem ganzen Wesen, ihrem leuchtenden Auge, wie tief die Worte des Freundes in ihr Herz drangen und wie der Schmerz, der mehr und mehr ihr Herz zu verbittern und zu verhärten drohte, sich in sanfte Wehmuth auflöste und der Bitterkeit den Stachel abbrach. Louise war geliebt worden, trotz ihres unschönen Gesichts. Ein junger Mann, Namens Eschen, den Voß schätzte und hochachtete, war für kurze Zeit ihr Bräutigam gewesen. Wissens- und Reisetrieb hatte ihn kurz vor der Hochzeit nach der Schweiz geführt. Von Genf eilt er dem Buet, in der Nähe des Montblancs, zu und stürzt hier, von unachtsamer Hand geführt, in einen mehrere hundert Fuß tiefen Schlund. Ehe Hülfe möglich, war der Unglückliche erfroren.

Sie hatte des Todten gedacht, heute mehr, denn je, daher ihr Stillesein, das Herbe ihres ganzen Wesens, bis die Worte des Freundes sie stiller, ruhiger machten. Sie war im Begriff, zu antworten, als der Vater, unerwartet von seiner Reise zurückgekehrt,

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