Selbstbiographische Studien

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Autor: Kurd Laßwitz
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Titel: Selbstbiographische Studien
Untertitel: Prolegomena zur Einleitung in den Versuch jeder Selbstbiographie.
aus: Seifenblasen. Moderne Märchen. S. 244–258.
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Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Leopold Voß
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Erscheinungsort: Hamburg und Leipzig
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Quelle: UB Düsseldorf, Deutsches Textarchiv und Commons
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[244]

Selbstbiographische Studien.


Prolegomena
zur Einleitung in den Versuch jeder Selbstbiographie.




Einführung.

Gründlichkeit ist die Toilette des Gelehrten. Ohne dieselbe vor das Publikum zu treten, wird er nie wagen.

Nun aber ist es eine der wichtigsten Aufgaben jedes Autors, insofern er sich selbst als einen Kulturfaktor betrachtet, die Stellung seiner eigenen Persönlichkeit in der Geschichte des europäischen Denkens so weit zu klären, daß den künftigen Geschichtsschreibern kein Zweifel darüber mehr entstehen kann, wie wichtig für die Möglichkeit der Kulturentwickelung seine eigene Existenz gewesen ist. Schon die Rücksicht darauf, daß sich möglicherweise kein kongenialer Biograph finden könne, muß im Interesse der Vollständigkeit der Litteraturgeschichte jeden Autor, sobald ihm der Litteraturkalender die Unsterblichkeit gesichert hat, dringend veranlassen, für alle Fälle seine Selbstbiographie vorzubereiten. Daß dies gründlich und sachlich geschehen muß, ist in Deutschland selbstverständlich; [245] es ist auch leicht zu begreifen, daß man für schmückende Beiwörter wie „geistreich,“ „wirkungsvoll,“ „hochbedeutend,“ „genial“ und so weiter aus Bescheidenheit im Manuskript nur einen leeren Raum läßt. Insoweit muß man der Mit- und Nachwelt vertrauen. Im Übrigen aber bedarf die Einrichtung einer Selbstbiographie doch eines gewissenhaften Studiums, und da es unter den Autoren viel mehr Selbstbiographen als Philosophen giebt, so glauben wir durch unsere Untersuchung eine wesentliche Lücke in der Litteratur auszufüllen. Es fragt sich, welchen Teil einer möglichen Einleitung aus dem ungeheuren Stoffe der vorbereitenden Fragen wir aussuchen sollen, um ihn mit der uns unerläßlichen Vollständigkeit behandeln zu können.

Vor die Aufgabe einer Selbstbiographie gestellt, erwächst dem Autor weniger die Frage, ob derselben ein Inhalt überhaupt zukommen kann, als vielmehr, nach welcher Methode sie abzufassen ist; und diese Frage wird um so wichtiger, je unwichtiger das Objekt bleibt. Ja, bei weiterem Nachdenken erschien mir das Problem der Methode so bedeutsam, daß ich beschloß, mich auf dieses zu beschränken, um es ein für allemal zum Besten aller Autobiographen zu lösen. Zwar ward es mir schwer, meine natürliche Bescheidenheit soweit zu überwinden, daß ich auf mich selbst zu exemplifizieren wagte; aber hier mußte meine Schüchternheit dem Interesse der Wissenschaft weichen. Und so schrieb ich diese Prolegomena, um eine Methode zu finden, welche die Autobiographie [246] von dem willkürlichen Einfalle eines Dichters zur Höhe einer wissenschaftlichen Leistung zu erheben vielleicht nicht ganz ungeeignet zu scheinen erachtet werden dürfte.

Zugleich erkläre ich, daß etwaige Widersprüche, welche sich in den einzelnen Teilen der Prolegomena finden sollten, lediglich auf das mangelhafte Verständnis des Lesers über den im entsprechenden Augenblicke vom Autor eingenommenen Standpunkt zurückzuführen sind.


I. Die statistische Methode.

Der bekannte traurige Verfall, in welchem sich unsere Jugenderziehung jedesmal befindet, wenn bewährte Pädagogen das Bedürfnis fühlen, die Welt mit einem Epoche machenden Verbesserungseinfall zu beglücken — diese Versumpfung der nationalen Bildung hat es mit sich gebracht, daß unsere Kinder noch immer nicht gewohnt und gezwungen sind, biographische Jahrbücher ihres Erdenwallens herauszugeben. Wenn derartige Berichte von den Eltern bereits vor der Geburt der Sprößlinge begonnen und von diesen selbst, sobald sie mit dem Aufsteigen nach Quarta die mittlere stilistische Reife des gebildeten Deutschen errungen haben, gewissenhaft fortgesetzt würden, welche Fülle biographischen Materials würde dann geschaffen sein! Nicht eher werden wir es zu einer wissenschaftlichen Psychologie, Anthropologie und Sociologie bringen, bis wir nicht durch genaue Selbstbeobachtung der Individuen [247] imstande sind anzugeben, warum gerade Fritz Müller am 10. August 1888, nachmittags 3 Uhr 12 Minuten, an dem Hause Gartenstraße 99 vorbeiging, und wann Auguste Schultze ihre erste zarte Seelenregung in ihr Tagebuch niederschrieb. Denn bekanntlich muß heutzutage jede Wissenschaft induktiv sein, wenn sie etwas gelten soll; darum brauchen wir zuerst den autobiographischen Stoff, Stoff und wieder Stoff, dann werden wir auch die richtige Verwertung finden.

Ich will nur daran erinnern, wie leicht es auf diesem Wege wäre, das wichtige Problem des wahren Normalmenschen zu lösen. Der Fortschritt der Menschheit hängt davon ab. Bekanntlich hat niemand mehr Zeit, individuell zu sein; Generalisierung und Massenproduktion, das ist das Kulturziel. Man kam von der Familie zum Staate, von der häuslichen Brotbereitung zur Dampfmühle und Dampfbäckerei, vom privaten Kienspan zur Gasanstalt, vom lehrenden Haussklaven zur Volksschule und zur Staatsuniversität, von der Einzelwanderung zur Gesellschaftsreise. Man muß auf diesem Wege fortschreiten. Centralheizung und Centralspeisung sind nur eine Frage der Zeit. Welche volkswirtschaftliche Ersparnis aber müßte gewonnen werden, wenn es gelänge, die für das Gefühlsleben so unentbehrlichen Zustände der lyrischen Produktion, der Liebesschwärmerei und der Katerstimmung der Sorge des Individuums abzunehmen und zu centralisieren, sei es nun durch Verstaatlichung oder durch [248] Gründung von Produktivgenossenschaften. Wieviel Mühe und Not macht es nicht dem Einzeljüngling, die nötigen Reime für seine zarten Gefühle aufzufinden, unter den Fenstern seiner heimlichen Flamme einherzustolzieren, die trüben Stunden, welche auf zu reichlichen Biergenuß folgen, mit Grübeleien über das zweifelhafte Los der Menschheit auszufüllen! Und wieviel kostbare Zeit der unwiederbringlichen Jugend geht dadurch verloren! Es ist einleuchtend, daß eine Organisation dieser sogenannten unentbehrlichen Jugendthorheiten dringend not thut, damit dieselben im großen betrieben werden können, was jedem Einzelnen bedeutend billiger kommen würde. Alle volkswirtschaftlichen Analogien sprechen dafür.

Um aber derartige Anstalten gründen zu können, müßte man zunächst auf statistischem Wege genau festgestellt haben, wieviel Zeit der Normaljüngling mit lyrischen Gedichten, mit Fensterpromenaden und mit grauem Elende konsumiert. Und das ist nur möglich durch obligatorische Einführung autobiographischer Jahresberichte. Dieselben sind nach einem Normalschema anzulegen, und das statistische Bureau für Normalpsychologie hätte dann aus allen Einzelbeobachtungen das arithmetische Mittel zu nehmen. Die so gewonnene lyrische, erotische und katerologische Normalzeit wird alsdann in den zu gründenden Centralanstalten in gemeinschaftlichen Übungen verbracht, und es würde allen statistischen Ansichten Hohn sprechen, wenn nicht dadurch für die künftige Generation eine wesentliche Vereinfachung [249] und Beschleunigung des Entwickelungsprozesses erreicht werden sollte.

Dieses Beispiel, dem sich viele weitere Anwendungen der statistischen Normalmethode anschließen ließen, mag ausreichen, um die Wichtigkeit der autobiographischen Jahrbücher zu beweisen. Wüßte man nun aber durch dieselben erst genau, wieviel Zeit für den Normalmenschen zu jeder psychischen Arbeit erforderlich wäre, so würde sich durch die Abweichung vom Mittel sogleich für das Individuum ein Maß seiner psychologischen Eigenart ergeben. Fände man z. B. für die jährliche lyrische Normalzeit eines Zwanzigjährigen 325,6897 Stunden, und beobachtete man dann bei einem Individuum einen sehr bedeutenden Überschuß von lyrischer Zeit, so würde daraus mit Sicherheit auf die hervorragende lyrische Neigung desselben zu schließen sein, und man würde ihn in die lyrische Fachschule versetzen. Leider kennen wir trotz aller Goetheforschungen noch immer nicht Goethes poetische Zeit, d. h. das in Stunden und Minuten ausgedrückte Mittel seiner täglichen litterarischen Produktion. Es gäbe dies offenbar die poetische Idealzeit, und man könnte sofort in Ziffern angeben, inwieweit ein Dichter dem großen Meister nahekomme. Die Ansprüche, welche Neuere in dieser Hinsicht erhoben haben, ließen sich dann leicht mathematisch prüfen, und es ist nicht ausgeschlossen, daß die oft gehörte Klage, unsere Zeit produziere keine großen Dichter, ein für allemal durch die statistische Methode gründlich widerlegt würde. Die Zukunft wird derartige traurige Nergeleien [250] über die litterarische Bedeutung der Schriftsteller nicht kennen. Das litterarisch-statistische Centralbureau wird alljährlich im Litteraturkalender die poetische Zeit neben dem Geburtsdatum der Autoren veröffentlichen, und der Dichterwert derselben wird gewiß sein. Die zu verteilenden Orden und Titel werden alsdann mit noch größerer Sicherheit an den Würdigsten fallen.

Leider ist es auch bei mir und von mir versäumt worden, meine litterarische Zeit festzustellen; und wenn ich dies auch künftig thun wollte, es fehlt ja die Hauptsache, die Kenntnis der poetischen Normalzeit. Da nun bekanntlich keinem Autor daran liegt, auf Grund nicht völlig sicherer oder gar eigener Angaben herausgestrichen zu werden, ich aber in Ermangelung statistisch-mathematischer Grundlagen nicht imstande bin, einen Anspruch auf schriftstellerische Geltung nachzuweisen, so muß ich für meine Selbstbiographie die Anwendung der statistischen Methode verwerfen.


II. Die historische Methode.

Die historische Methode für Autobiographien ist die gebräuchlichste. Man erzählt, ebenso wie es in den Annalen der Weltgeschichte geschieht, einiges, was man weiß, vieles, was man sich denkt, und alles, von dem man wünscht, daß die Nachwelt es glauben möchte. Es genügt jedoch nicht, etwa die Zeit des eigenen Lebens, an welche man sich erinnert oder über welche man Urkunden besitzt, dem Leser vorzuführen. Der ernstere [251] Autor geht tiefer. Er beginnt vor seiner Geburt, meistens schon vor der Geburt seiner Eltern oder Großeltern, und in günstigen Fällen vor der Geburt seiner sämtlichen Vorfahren. Indem man nämlich sich selbst als Erzeugnis einer biologischen Entwickelung auffaßt, wird man seine persönlichen Eigenschaften aus denjenigen seiner Voreltern zu erkennen vermögen, und dies um so besser, je weniger man von seinen Vorfahren weiß. Dies ist das Geheimnis der genealogisch-historischen Methode, welches ich den Lesern nicht vorenthalten will. Bekanntlich wird der historische Blick um so weiter und erhabener, je größer der überschaute Umkreis wird; mehr und mehr verschwinden die störenden kleinen und individuellen Züge, und das freie Auge erblickt den bestimmenden Charakter des Ganzen. Ist man nun auf einen so hohen historischen Standpunkt gelangt, daß man von der Wirklichkeit wenig und von seinen Vorfahren garnichts mehr sieht, so hat man erst ein unbefangenes Urteil gewonnen. Man wird jetzt mit Leichtigkeit seine eigenen Charakterzüge in dem Geschick seiner Ahnen bedingt finden, weil diese Ahnen unter dem Gesichtswinkel des Enkels sich zeigen und sich ihm daher anbequemen. Dieser Standpunkt ist von hohem ethischen Werte: Was unsere Ahnen einst uns gaben, wir geben es ihnen dankbar zurück. Sie erzeugten uns, und wir erzeugen sie wieder. Aber wir sind die besseren; sie erzeugten uns, wie sie mußten, aber wir erzeugen sie, wie wir wollen. Wir können ihnen darum nicht böse sein, sie wußten ja nicht, was [252] kommen würde, wir aber wissen, was vielleicht gewesen ist.

Ich habe Versuche gemacht, die genealogisch-historische Methode auf meine Selbstbiographie anzuwenden. Da ich ein geborener Schlesier bin, so würde es nicht schwer fallen, einen der alten Vandalenhäuptlinge als Urahnen anzusprechen; aber das kann mir nicht viel nützen. Daß diese Herren direkt von den Göttern abstammen, scheint mir historisch einigermaßen fragwürdig; sie müssen also irgend anders woher gekommen sein. Aber woher? Ich habe nun festgestellt, daß der Skythe Anacharsis, der Freund Solons und einer der 7 bis 22 Weisen Griechenlands, einer meiner direkten Vorfahren war; daß wir von seinen Söhnen nichts wissen, liegt nur an den mangelhaften standesamtlichen Einrichtungen der Skythen. Sicher ist, daß sein Vater Gnur hieß, und wenn man diesen Namen mit Anacharsis zusammenhält, so wird jeder Etymologe die Identität mit meinem Familiennamen sofort nachzuweisen imstande sein, wenn er gleich den letzteren garnicht kennen sollte. Außerdem bin ich im Besitz eines Briefes, in welchem König Krösos von Lydien dem Anacharsis zur Geburt eines Söhnchens gratuliert und ihm die Absendung von 50 000 Pfund Gold als Patengeschenk anzeigt. Letzteres hat sich leider nicht erhalten. Dagegen ist es wichtig, daß nunmehr die bisher noch fragliche arische Abstammung der Skythen wenigstens für die südlichen Stämme sicher ist und auf die Wanderungen germanischer Stämme ein neues Licht fällt.

[253] Anacharsis hatte eine Abneigung gegen Faustkämpfe und gegen das mit Seekrankheit verbundene Befahren des Meeres, worin ich mich ihm völlig verwandt fühle. Außerdem schrieb er ein Gedicht von 800 Versen, welches sich mit den erwähnten griechischen Gewohnheiten satirisch beschäftigte und über die Folgen des Weingenusses philosophierte. Daß dasselbe nicht länger war, ist allerdings ein mir fremder Zug, erklärt sich aber aus den damals bedeutend höheren Papierpreisen; im übrigen scheint mir die anacharsische Abstammung dadurch auch charakterologisch zweifellos erwiesen; das Gedicht war jedenfalls eine Art Bierzeitung.

Ich könnte somit meine Selbstbiographie mit einer Besprechung der Küsten des Schwarzen Meeres und jener vorphilosophischen Zeit beginnen, welche durch die Namen der griechischen Weisen bezeichnet ist. Aber was würde dies nützen? Die Gründlichkeit verlangte, auf den Ursprung der Skythen zurückzugehen, die eigenen Vorfahren vor der Trennung der ersten Urvölker aufzusuchen und endlich jene Familie der Säugetiere zu entdecken, welche zu meinen speziellen Stammesgenossen durch Auslese und Zuchtwahl sich zu entwickeln die Ehre hatte.

Und noch weiter! Sollte man nicht bestrebt und imstande sein, nicht bloß Gattungsmerkmale, sondern auch spezifisch individuelle Eigentümlichkeiten bereits im Häckelschen Stammbaum des Menschengeschlechts aufzusuchen? Ja es ist kein Zweifel, daß die Selbstbiographie nach historischer Methode mit einer Untersuchung über den Ursprung der Organismen [254] überhaupt einsetzen müßte. Man könnte etwa so beginnen: „Die erste Kunde meines Geschlechts erhebt sich dort, wo in den Tiefen des Urmeeres der laurentischen Periode eine behäbige Amöbe auf den Gedanken kam, sich zu halbieren. Die dickere Hälfte wurde mein Urahn. Sie erfreute sich eines stattlichen Zellkerns in kräftiger Protoplasmamasse und setzte die Methode der Teilungen mit Erfolg fort. In meinem Geschlechte war es auch, wo zuerst die Sitte aufkam, daß die Tochterzellen nach der Teilung nicht ihre eigenen Wege gingen, sondern zusammenblieben und sich gegenseitig unterstützten; damit geschah der unermeßlich wichtige erste Schritt zur Bildung von Zellgenossenschaften, von entwickelungsfähigen höheren Organismen. Seitdem blieb unserem Geschlechte eine dauernde Freude, Vereine zu gründen und im Kreise gleichgesinnter Genossen mit behaglicher Rede sich mitzuteilen.“

Aber wohin komme ich? Ich beginne persönlich zu werden und habe den Ursprung des Geschlechtes noch keineswegs gründlich erforscht. Denn jene Amöbe mit dem Zellkern stammte von einem kernlosen Moner, und dieses Urprotoplasma — woher stammte dies? Wir stehen vor der Frage nach dem Ursprung des Lebens und sehen uns genötigt, die historische Methode unmittelbar in die metaphysische überzuführen.


III. Die metaphysische Methode.

Ein philosophischer Freund machte mich auf eine Auffassung der Welt aufmerksam, welche viel für sich [255] hat, und die ich daher hier zu erwähnen nicht unterlassen will; ich muß aber ausdrücklich bemerken, daß weder ich, noch mein Freund, sondern ein mir unbekannter Freund dieses Freundes die fragliche Entdeckung gemacht hat, daß ich auch nicht weiß, ob dieselbe nicht vielleicht schon irgendwo veröffentlicht ist, und daß ich genauere Quellen nur darum nicht anführe, weil ich sie nicht ermitteln konnte. Nach dieser Ansicht ist nämlich die Welt nichts Anderes als ein Schweizerkäse, und wir Menschen sind die Löcher darin. So wahrscheinlich diese Hypothese ist, so müßte ich sie, wie das unter Metaphysikern üblich ist, doch schon darum energisch bestreiten, weil ich sie nicht selbst aufgestellt habe. Aber ich bin imstande, die Richtigkeit derselben mit einer kleinen Änderung zu beweisen; ich behaupte nämlich, die Welt ist kein Schweizerkäse, sondern absoluter Käse schlechthin; und die Menschen sind keine Löcher, sondern die Menschheit ist das absolute Loch als solches schlechthin.

Schon in den uralten indischen Geheimvedas sagt der ehrwürdige Oberbrahmine Wischtanischtarumnubummarappaltasdaja:

„Wäre die Welt
Bodenlos
Auch nicht zerschellt
Als Käsekloß,

So wäre das Nichts
Immer doch
Am Himmel des Lichts
Ein großes Loch.“


Die Deutung ist klar. Die Welt ist Käse, aber sie ist zugleich — und das ist der Tiefsinn, welcher das ziemlich unästhetische Bild zur metaphysischen Wahrheit symbolisiert — die Welt, als Käsekloß, ist „bodenlos“ [256] und „zerschellt“; das bedeutet, die Welt als Materie, als roher, ungeformter Stoff (Kloß = Chaos), ist ohne Zusammenhang, ohne Grund und Ziel, ein bodenloses Trümmerwerk, zerschellt im absoluten Ozean des Seins. Aber wäre sie auch nicht unrettbar verloren, so würde schon der bloße Umstand, daß es ein „Nichts“ giebt, ausreichen, um „ein großes Loch am Himmel des Lichts“ zu konstatieren, d. h. ein unersetzliches, unausfüllbares Defizit in der Rechnung, welche freundliche Erwartung auf die Welt setzt. Der indische Weise vermochte eben in dem „Nichts“ nichts als das Negative zu sehen, ihm schließt sich das Sein als das rettungslose Nichts des Pessimismus und der Weltflucht. Anders wir! Indem wir das Nichts als Loch fassen, erkennen wir den Unterschied zwischen beiden. Das Loch ist das limitativ gedachte Nichts, es ist nicht das reine Nichts, sondern das Nichts, welches die Grenze des Stoffes voraussetzt, in welchem es ein Loch ist. Und insofern ist es nicht Nichts, sondern im Gegenteil Alles, die Verbindung des Seienden, die formgebende und formbestimmende Bedingung der Gestaltung des Urstoffes. Der absolute Weltkäse als solcher wird durch das Loch als formsetzende Macht zur Weltgesetzlichkeit, zur objektiven Natur differenziert, während sich zugleich das absolute Loch als solches zur Vielheit der Löcher individualisiert. Diese formsetzende Macht aber ist die Menschheit, als die transcendentale Bedingung der Natur, als die grenzbestimmende Gewalt in dem Chaos des Gegebenen, und die individualisierten Löcher sind die einzelnen Menschen, [257] jeder mit den anderen eine unerläßliche Gestaltungsbedingung des Weltkäses (Käse = Chaos), und doch für sich nur ein kleines Nichts, eine Höhlung im All, ein aufgeblasenes Loch in der Fülle des Seins. Welch erhabener Gedanke! Je mehr Löcher, um so weniger Käse! Also: je mehr Menschheit, um so weniger Welt, je mehr Geist, um so weniger Stoff — das eröffnet den hoffnungsreichen Prospekt in den Vergeistigungsprozeß des Daseins, die Unterwerfung und Vernichtung der trägen Masse durch die sich entfaltende Kraft des Geistes, die Aufzehrung des Weltkäses durch das Loch.

Damit haben wir endlich festen Boden gefunden. Die Selbstbiographie eines gewissenhaften und gründlichen Autors muß beginnen mit der metaphysischen Position seines transcendentalen Ich, sie muß beginnen mit dem vorzeitlichen Moment, in welchem das noch raumlose Loch seiner Individualität in dem absoluten Käse seine erste absolute Setzung erfuhr. Machen wir uns dies ganz klar, in dem wir das Gesagte kurz in populärer Sprache zusammenfassen: Indem die Negation durch die Limitation in die Realität übergeht, setzt die absolute Synthesis durch Schematisierung der Kategorien in der Sinnlichkeit die centralisierte Individuation des Konkreten und beginnt damit die transcendentale Genesis des autonomen Individuums als empirischen Charakters zur biologischen Evolution, indem die fundamentale Bedingung autobiographischer Konzeption sich unbeschadet statistischer und historischer Impotenz in [258] der begrifflichen Analyse des reinen Ich als absolute Lochheit erfüllt.

Sobald ich die Überzeugung gewonnen habe, daß der gebildete Leser sich über die dargelegten, eigentlich selbstverständlichen Grundgedanken völlig klar geworden ist, werde ich die Einleitung in meine eigene Selbstbiographie nach der metaphysischen Methode diesen Prolegomenen folgen zu lassen in gründliche Erwägung ziehen.