Vollmondzauber/Neuntes Kapitel

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aus: Vollmondzauber
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Neuntes Kapitel.

Eine einzige Bedingung hatte Zdenko an seine Verlobung geknüpft, und zwar, daß diese Verlobung geheimgehalten werden solle. Auf diese Bedingung waren die Schwestern eingegangen, und so hatte man niemand eingeweiht als Graf und Gräfin Zell. Die Gräfin hatte versprochen, nicht darüber zu reden, der Graf hatte die ihm höchst uninteressante und widerwärtige Angelegenheit bereits zwei Stunden, nachdem sie ihm mitgeteilt worden war, vergessen.

In der Gegend redete man wohl dies und jenes, Swoyschins tägliche Besuche in Zdibitz mußten auffallen, aber schließlich wurden die ewigen Variationen über dasselbe Thema eintönig, man suchte sich einen andern Gesprächsstoff.

Er hielt das Emma gegebene Wort, er hatte sich mit Gina verlobt, er that, was er konnte, ihr Liebe zu heucheln.

Jeden Tag ging er zu ihr und saß bei ihr [51] Stunde um Stunde, ihre heiße, vor Fieber zitternde Hand in der seinen. Und wenn er nach Hause kam, warf er sich auf sein Bett hin und vergrub das Gesicht in die Polster. Manchmal verging die Nacht, ohne daß er daran dachte, sich auszukleiden. Die geballten Fäuste rechts und links vor seinem Kopf, lag er da und rührte sich nicht. Er aß so gut wie nichts und ernährte sich fast ausschließlich durch den Genuß starker Spirituosen, er, dessen Mäßigkeit im ganzen Regiment sprichwörtlich gewesen war. Dabei war er matt wie eine Fliege, zeigte sich abwechselnd stumpf und krankhaft reizbar und versah den Dienst nicht mehr mit der alten Pünktlichkeit.

Eine merkwürdige Beobachtung machten seine Kameraden, die nämlich, daß seine Pferde, die ihm sonst wie alle Tiere eine ungewöhnliche Zuneigung bewiesen, jetzt vor ihm zurückschauderten, sobald er sich ihnen näherte, so zwar, daß er Mühe hatte, sich hinaufzuschwingen, und wenn er einmal im Sattel saß, so zitterten und schnaubten sie, wie Pferde, wenn sie an einer Menschenleiche vorübergehen sollen.

Der Arzt hatte gesagt, über einen Monat hinaus kann sie nicht leben, das ist der äußerste Termin. Aber Ärzte irren sich. Der Juli war vorüber, und sie lebte noch immer. Ja, es ging sogar ganz merkwürdig besser mit ihrer Gesundheit. Sie konnte das Bett verlassen, sie erschien bei den Mahlzeiten im [52] Schloß, ihr bleiches Gesicht hatte gesündere Farben, ihre Stimme einen stärkeren Klang.

Anfangs, als sie noch recht elend war, so daß ihr Tod und seine Erlösung ihm nahe schienen, da hatte das Mitleid Zdenkos Grauen vor seiner Braut gedämpft. Aber je gesünder sie wurde, um so größer wurde das Grauen. Manches Mal nahm dieses Grauen die Form eines wilden Hasses an; er wäre im stande gewesen, sie zu töten, wenn ihn nicht eine recht unheimliche Überzeugung daran gehindert hätte, die Überzeugung, daß sie aus dem Grabe auferstehen würde, um ihn zu quälen. Und jede Faser in ihm strebte nach allem, was lebenswarm, gesund und frisch, nach allem, was heißes, rotes Blut in den Adern und ein fröhliches, unbefangenes Lächeln auf den Lippen hat. Er, den die Kameraden abwechselnd mit seiner Unwiderstehlichkeit und seiner spröden Troubadournatur geneckt, hatte jetzt Anfälle der derbsten, prosaischen Sinnlichkeit.

*      *      *

„Zu Fuß, Doktor? Was ist denn das? Haben die Kräfte der Füchseln nicht mehr gelangt, oder ist am Ende eins davon krumm?“

Es war der Oberst, der die Worte dem ihm altbefreundeten Arzt von Zdibitz, dem Doktor Mratschek, zurief. Der Oberst kutschierte seine Schimmel, der [53] Doktor ging zu Fuß und befand sich momentan in einem aufreibenden Kampf mit seinem Regenschirm, der ihm den Dienst verweigerte und alle seine acht Spieße gegen den Himmel streckte, so daß er sich wie ein großmächtiger Trichter ausnahm.

Oberst und Doktor, der eine zu Fuß, der andre zu Wagen, waren von einem starken Gewitterregen überrascht worden. Dazu blies ein heftiger Wind, und auf der Straße standen die Wasserlachen mehrere Meter lang.

„I, krumm sind meine Füchse immer,“ erklärte der Doktor, „aber deswegen müssen s’ für gewöhnlich doch laufen, nur heut haben sie erstens eine lange Nachttour gemacht, zweitens sind sie Vormittag auch noch zwei Stunden gerannt. Und da die Sonne schien, als ich jetzt Nachmittag hinauswollt’, da hab’ ich mir gedacht: Gönnst den armen Füchsen für einmal Ruh’, laufst das Stückl selber. Wenn ich geahnt hätte, wie das Wetter wird, so hätt’ ich mir’s überlegt. Aus einem kleinen Schauer mach’ ich mir ja nichts weiter, dazu hat man seinen Regenschirm, aber dieses Spektakel!“

„Das nimmt schließlich auch der Regenschirm übel,“ rief lachend der Oberst. Dann setzte er freundlich hinzu: „Na, springen S’ nur herauf, Doktor; so weit Ihre Schusterrappen Sie gebracht hätten, treffen’s meine Schimmerln wohl auch. Sind ohnedies [54] übermütig, die Schimmerln; eine kleine Extratour wird ihnen gut thun!“

„Herr Oberst sind wirklich zu gütig,“ entgegnete der Doktor, indem er zugleich auf den hohen Kutschierbock neben Baron Stahl hinaufkletterte. „Ich muß schon sagen, daß ich dankbar bin.“

„Na, ich auch,“ erklärte der Oberst, „dem glücklichen Zufall nämlich, der mich in die Lage versetzt hat, Ihnen den kleinen Dienst zu erweisen. Und jetzt, wohin befehlen Sie?“

„Nach Sobjetuch, wenn der Herr Oberst so freundlich sein wollen.“

„Gut. Hat’s Eile, oder … kann man sich Zeit lassen? Wie viele Minuten per Kilometer?“ scherzte Baron Stahl.

„O, es hat keine große Eile – eine alte Frau, die an Gesichtsschmerzen leidet, und die ich trösten muß. Zu helfen ist ihr nicht.“

„Und wie geht’s in Zdibitz im Schloß? Was macht die Ginori?“

Der Doktor zog die Brauen zusammen. „Im Lauf meiner ganzen Praxis,“ erklärte er energisch, „hab’ ich mich noch nie so vollständig in einer Diagnose geirrt. Ich habe sie für lebensunfähig, für gänzlich lebensunfähig gehalten; ein Fieber, knapp an der Grenze der Möglichkeit, geschwollene Füße, elende Verdauung, alle Anzeichen des angehenden [55] Zersetzungsprozesses, und jetzt … Wenn es so weitergeht, ist sie in einem Monat gesund, das heißt, wenn man eine Person von ihrer kuriosen Beschaffenheit überhaupt gesund nennen kann.“

„Nun, von was für einer Beschaffenheit sprechen Sie denn, Doktor?“ drang der Oberst in ihn. „Glauben Sie, Sie Mann der Wissenschaft, wirklich daran, daß sich bei ihr während ihres scheintoten Zustandes die Seele vom Körper trennt und frei auf der Erde herumspaziert?“ Der Oberst zog verächtlich die Mundwinkel herab.

„Hm, diese Erscheinungen entziehen sich meiner Beobachtung,“ entgegnete der Doktor. „Ich bin kein Spiritist, was nicht verhindert, daß ich zugestehen muß, es kommen auf der Welt Dinge vor, die zu erklären der Verstand nicht ausreicht. Aber das Kurioseste bei ihrer Beschaffenheit sind ja ihre Zustände in jeder Vollmondnacht.“

„Wieso?“ fragte der Oberst, dem eine unangenehme, vor widerwärtigen Enthüllungen zurückschaudernde Neugierde kalt über den Rücken fuhr.

„Nun, wissen Sie’s denn nicht, die Emma ist ja deshalb aus Italien fort mit ihr, weil die schöne Gina dort ein Gegenstand des Grauens geworden war.“

„Was Sie sagen! Aber worum handelt sich’s eigentlich?“ fragte der Oberst.

[56] „Wenn Sei mir versprechen, dem Grafen Swoyschin nichts davon zu verraten. Übrigens, hol’s der Teufel – ich bitte um Verzeihung, Herr Oberst – ich wollte sagen, ’s ist auch kein Schade, wenn die Verlobung auseinandergeht,“ meinte der Doktor, der offenbar darauf brannte, seine Weisheit auszukramen.

„Nur los!“ munterte ihn der Offizier auf, und der Doktor begann seinen Bericht.

„Wenn sie bei Vollmondnächten nicht zur rechten Zeit in den magnetischen Schlaf versetzt wird, in dem sich ihre Kräfte erneuern, so verfällt sie plötzlich, sobald es Mitternacht schlägt. Ihr Gesicht erhält das Aussehen einer Leiche, ihr Körper wird starr und kalt und ganz übergossen von eiskaltem Schweiß. Um das vierzehnte Lebensjahr herum sollen sich die Zustände zum erstenmal bei ihr eingestellt haben. Die Schwester trachtet, die Sache geheimzuhalten; selbst die Gräfin Zell wurde nur in den interessanten, ästhetischen Teil der Abnormitäten ihrer Nichte, die übrigens ihre Stiefnichte ist, eingeweiht. Aber ich bitte Sie, wie können Sie etwas derartiges vor einer Kammerjungfer geheimhalten! Die Kammerjungfer schwört Verschwiegenheit und plaudert alles aus an den ersten Mann, in den sie sich verliebt hat. Die Kammerjungfer der Ginoris hat sich in den Apotheker verliebt. Die sonderbaren Mittel, die selbige Zofe sich manches Mal bei ihm abholte, hatten ihn [57] neugierig gemacht, und wie mancher geschickte Detektive verlegte er sich darauf, ihr den Kopf zu verdrehen, was ihm auch gründlich gelang. Hierauf bekam er aus ihr heraus, was er wollte.

Sie können sich denken, daß die unheimlichen Zustände des Mädchens nicht ohne Kommentar geblieben sind; in Rom hat man einen ganzen Sagenkreis darum gewoben. Na, die Kammerjungfer schwört, daß die Sache buchstäblich wahr und von glaubwürdigen Persönlichkeiten bezeugt worden ist. Aber ich für meinen Teil glaube natürlich nicht an diese Räuber- und Gespenstergeschichten; nur wenn der Unsinn Sie interessiert, Herr Oberst …“

„Gewiß interessiert er mich – gewiß!“

„Nun, Herr Oberst wissen vielleicht, daß der Marchese Ginori, dessen Namen die Mädchen tragen, zweimal verheiratet war, und zwar das erste Mal mit einer Schwester der Gräfin Zell, einer braven, soliden Frau, der Mutter der Komtesse Emma, die ihr nachgeraten zu sein scheint. Als der Marchese Witwer wurde und zum zweitenmal heiratete, zählte die Gräfin Emma zwölf Jahre. Die zweite Frau war eine große Schönheit. Sie hatte noch als junges Mädchen ein Verhältnis mit einem bildschönen jungen Römer, dem sie den Laufpaß gab, um den alten Ginori heiraten zu können. Der junge Römer – er hieß Guido Varini – soll bei diesem Anlaß eine [58] leidenschaftliche Aufregung bewiesen haben, wie solche öffentlich zu zeigen in seinen Kreisen nicht üblich ist. Schließlich brachte man ihn dazu, sich kurz vor der Hochzeit seiner ungetreuen Braut einzuschiffen. Der alte Ginori zog sich nach der Trauung mit seiner jungen Frau auf eines seiner Schlösser, Kastell San Vitale im Neapolitanischen, zurück.

Die Sachen gingen anfangs ganz gut; die schöne Marchesa schien etwas nervös, aber nicht von Belang. Da, in einer Vollmondnacht im Januar, kam ein furchtbarer Sturm, ein Sturm, daß man geglaubt hätte, er würde das ganze San Vitale ins Meer hineinblasen, und daß alle die, welche einen Angehörigen auf der See draußen wußten, die Nacht auf den Knieen verbrachten, um für ihn zu beten. Im Schloß betete der Kastellan für seinen einzigen Sohn. Er ging bis in die Kapelle, um den Schutz Gottes für ihn anzuflehen. Da, als es ein Uhr schlägt, hört der Sturm plötzlich auf, so plötzlich wie ein abgeblasenes Trompetensignal. Der Alte tritt aus der Kapelle. Im Korridor draußen begegnet ihm ein hoher, dunkeläugiger Mann, sehr bleich und in von Wasser triefenden Kleidern. Der Kastellan weiß nicht, was er thun soll, besonders, da die Erscheinung der Richtung nach aus den Gemächern der Marchesa kommt. Schließlich drückt er sich in den Schatten einer Thürnische hinein, der Mann schreitet an ihm vorbei und verschwindet.

[59] Als der Kastellan sein Versteck verläßt, sucht er die Fußspuren, die der von Nässe Triefende hinterlassen haben muß, findet aber nichts. Den nächsten Tag stellt es sich heraus, daß die Marchesa Ginori über Nacht irrsinnig geworden ist. Der Kastellan verriet einigen Vertrauenspersonen die nächtliche Erscheinung. Alle waren darüber einig, daß in jener Nacht die Gräfin ihren Liebhaber empfangen habe.

Da, kurze Zeit darauf, liest man in der Zeitung, daß der junge Varini bei einem Seesturm ertrunken ist, und zwar während derselben Vollmondnacht, in der der alte Kastellan in den Gängen von San Vitale die Erscheinung erblickt hatte. Genau dreiviertel Jahr danach kam Gina Ginori zur Welt und kostete der Mutter das Leben. Alle, die den verstorbenen Guido Varini gekannt haben, behaupten, daß sie ihm wie aus dem Gesicht herausgeschnitten sei.

Da haben Sie die ganze Räubergeschichte. Genier’ mich eigentlich, so was nachzuschwätzen, aber Sie waren neugierig, und unheimlich ist die Sach’, meinen S’ nicht? Bei mir freilich geht das in ein Ohr hinein und zum andern hinaus, aber die Leut’ erklären sich daraus alles mögliche. Für mich ist das einzig’ Interessante bei der G’schicht nur der Umstand, daß die Mutter vor der Entbindung wahnsinnig war … Aber hier sind wir, Herr Oberst, [60] wenn’s gefällig wäre, anzuhalten. Danke für die freundliche Beförderung! Ergebenster Diener!“

*      *      *

Ende August rückte das ganze Regiment in die Manöver, die unter den Augen Seiner Majestät im östlichen Böhmen abgehalten wurden.

Gina flehte den Obersten an, ihr den Bräutigam nicht zu nehmen, ihn für diesmal des Dienstes zu entheben. Aber der Oberst blieb gegen ihre einschmeichelndsten Bitten taub. Die Gräfin Zell, die der Jammer der Braut rührte, erklärte ihn für einen alten Gamaschenknof. Der Oberst ließ sie reden. Ihm war darum zu thun, Zdenko wenigstens für einige Zeit von seiner unheimlichen Braut zu befreien.

So trabte denn Swoyschin neben dem Obersten in die Welt hinaus. Mit jeder Meile, die er zwischen sich und die Braut legte, schien er ein Stück Gesundheit und Seelenruhe zurückzugewinnen. Nach drei Tagen hatte er sich vollkommen erholt, war ganz der alte, nur mit einer Spur Ausgelassenheit und Übermut mehr, immer der erste auf dem Posten, eifrig im Dienst, vergnügt mit den Kameraden, durch keine Einquartierungsunbequemlichkeiten zu beirren.

Da kam der Tag des großen entscheidenden Manövers. Das ganze Regiment, vom Obersten bis herunter [61] zu dem bescheidensten Dragoner, hatte sich auf den Tag gefreut. Um drei Uhr früh war man ausgerückt. Die grauen Dämmerungsschleier schwebten noch über den taunassen Wiesen, den frisch abgeräumten Stoppeln und über den wenigen Feldern, auf denen das abgeschnittene Getreide noch in dicken Schwaden lag. Alles sah poetisch, malerisch, verwischt aus, auch die krummstämmigen Zwetschgenbäume an dem Straßenrand und die bleichen Armensünderblumen zu ihren Füßen und der Fluß, der sich blauschimmernd zwischen kurios verschnittenen Weiden durch die Landschaft schlängelte.

Der Oberst war aufgeregt wie eine Primadonna vor ihrer Benefizvorstellung; die schrill durch die stille Morgenluft gellenden Trompetensignale, der Lärm der durcheinandertrappelnden Pferdehufe versetzten ihn in gehobene Stimmung. Er erinnerte sich an den Morgen vor Custozza, an den glorreichen Todes- und Siegesritt, den er damals als ganz junger Offizier mit seinem Zug ausgeführt hatte. Wie schön das gewesen war. Wenn nur die Nachricht von der Schlacht bei Königgrätz nicht darauf gefolgt wäre. Die hatte den Jubel totgeschlagen.

In diese Gedanken vertieft, führte er sein Regiment durch die breite, unebene Hauptstraße eines böhmischen Dorfes mit abwechselnd ebenerdigen, strohgedeckten und einstöckigen, schindelgedeckten, mit hölzernen [62] Freitreppen und Galerieen versehenen Häuschen und frischen Mädchengesichtern hinter mattblinkenden Fensterscheiben.

Aus dem Dorfe heraus ritten die Dragoner über eine steinerne Brücke, an deren einem Ende eine „heilige Johannes“-Statue stand mit einem Kreuz im Arm und einem welken Blumenkranz auf dem Kopf.

Die Brücke war schmal. Plötzlich kam das ganze Regiment ins Stocken. Das Pferd Swoyschins wollte nicht vom Fleck. Es stellte sich auf die Hinterbeine und drehte sich wie ein Kreisel; man glaubte, es sei ganz unmöglich, daß er sich darauf behaupte. Endlich war er damit fertig geworden. Aber nun stand das Pferd still wie hypnotisiert; der Oberst merkte, daß Pferd und Reiter nach derselben Stelle hinsahen. Swoyschins Atem kam schwer. „Herr Oberst, sehen Sie nichts?“ stöhnte er.

„Nichts!“

Swoyschin biß die Zähne aufeinander.

Die Dämmerung verschwebte wie dünner Rauch, bläulich, silbern sah man sie in einem langen Streifen über die Wiese hinschleichen, auf welche die Brücke hinausmündete.

Groß und rot schien jetzt die Sonne über den flachen, grünen Horizont, die ganze Erde schimmerte verklärt, wie mit Gold übergossen; dann war der Tag gekommen, alles teilte sich nüchtern in Licht und Schatten.

[63] Swoyschin trabte weiter neben seinem Vorgesetzten dem Manöverterrain entgegen. „Was war’s?“ fragten ein paar Bekannte aus der Gruppe von Offizieren, die den Obersten umgab. „Vor was hat der Gaul gescheut?“

Swoyschin blieb stumm.

Der Oberst warf einen Blick auf das Pferd seines Adjutanten; er bemerkte; daß dasselbe den Hals steif hielt, und daß sein Fell glanzlos und struppig aussah.

Swoyschin bemerkte den staunenden, mißbilligenden Blick des Obersten. „Sie wollen mir eine Ausstellung machen in Bezug auf mein Roß, Herr Oberst,“ sagte er; „ich versichere Ihnen, als mir mein Bursch heute das Pferd aus dem Stall zuführte, glänzte es nur so, daß man sich in dem Fell hätte spiegeln können. Jetzt ist das Fell matt wie ein schlechtgeputzter Silberlöffel. Armes Tier, zittert mir unter dem Sattel, als ob’s vom kalten Fieber gepackt worden wäre.“

„Aber was ist denn los, Swoyschin?“

Dieser schwieg, es hörten zu viele Menschen zu außer dem Obersten.

Aus der Ferne tönten Alarmsignale, die Truppen waren in der Nähe.

Vorwärts! Und in einem wundervollen Galopp, so daß das ganze Regiment sich ausnahm wie eine [64] golddurchblitzte, blaue Wolke, die der Wind über die Wiese wehte, strebten die Dragoner den Kameraden zu.

*      *      *

Es war ein heißer Tag geworden für Roß und Mann, aber die 32er Dragoner hatten ihn mit Ehren bestanden. Das ganze Regiment war belobt, der Oberst von allerhöchster Seite ausgezeichnet worden.

Jetzt war’s vorbei, die Dragoner waren fertig geworden mit dem Trockenreiben und Füttern; Pferd und Reiter streckten sich aus ins Stroh.

Der Oberst und sein Adjutant saßen noch beim Souper. Sie waren in einer Pfarrei einquartiert. Die Pfarrersschwester, eine gutmütige, umfangreiche Finanzbeamtenwitwe, hatte sich diesmal ganz ausnehmend bemüht mit einer Wildpastete und wundervoll gebratenen, von Kompott und Salat begleiteten Hühnern. Der Oberst sprach den Leckerbissen eifrig zu. Er war aufgeregt von seinen Erfolgen und merkte nicht, daß Swoyschin das Abendessen unbeachtet ließ.

Endlich fiel es ihm auf und auch, wie elend Swoyschin aussah. Von einem Augenblick zum andern vergaß er seine Erfolge und erinnerte sich der merkwürdigen Scene auf der Brücke in Sobjetuch.

„Was war das denn eigentlich, Zdenko?“ fragte er. Wenn sich die beiden allein befanden, pflegte er den Adjutanten oft bei seinem Vornamen zu nennen.

[65] Swoyschin stieß ein hartes, unangenehmes Lachen aus. „Was es war?“ rief er. „Sie ist mir entgegengekommen, sie! … Das war alles. Sie duckte sich erst zwischen den Weiden, dann schwebte sie hin über die Wiese, sie schwebte hin über die gelben und lila Kelche, und ihre Füße waren leicht und verbogen keinen Grashalm, aber die Blumen, über die sie hinwegschwebte, welkten, von einem Augenblick zum andern welkten sie, als ob sie ein Reif gestreift hätte. Ich sah es genau, und plötzlich hörte ich ein leises, grausames Lachen – sie stand vor meinem Pferde und streckte die Arme nach mir aus. Sie war in dem schwarzen Mantel, und man konnte nur ihre gierigen Augen sehen, – aber ich weiß, daß sie es war.“

Er stützte den Ellbogen auf den Tisch und ließ den Kopf schwer in die Hand fallen.

„Mensch! Ihre Nerven sind krank! Sobald die Manöver beendigt sind, müssen Sie die unsinnige Verlobung lösen und etwas für Ihre Gesundheit thun, damit Sie wieder auf andre Gedanken kommen,“ erklärte der Oberst.

„Lösen? – wie soll ich die Verlobung lösen? Sie gibt mich ja doch nicht mehr frei,“ erwiderte Swoyschin dumpf. „Ich lebte auf, als ich sie nicht mehr sehen mußte, ich fühlte mich so frisch und vergnügt, ich wollte ein Ende machen, ich hab’ ihr auf drei Briefe nicht geantwortet. Da sehen Sie die [66] Folgen davon – sie kam einfach selbst. O, Herr Oberst, ich bin ein unglücklicher Mensch! Mir ist nicht mehr zu helfen.“ Er ließ das Gesicht in seine verschränkten Arme auf die Tischplatte fallen und stöhnte.

„Das alles sind Dummheiten,“ verwies ihn der Oberst, indem er einen barschen Ton annahm, nur um den armen Teufel aufzurütteln. „Sie sind nicht der erste, der an Hallucinationen leidet, aber solche Sachen gehen vorüber. Sie haben sich in einen Engpaß veirrt, aus dem Sie so schnell als möglich herauszufinden trachten müssen.“

Swoyschin hob den Kopf. „Es ist kein Engpaß, es ist eine Sackgasse!“ rief er verzweifelt, „und es gibt keinen Weg hinaus. Frieden gibt’s keinen mehr für mich auf der Erde, vielleicht im Himmel, aber manches Mal glaube ich an keinen Himmel mehr, ich glaube nur noch an eine Hölle, wo ich sie wiederfinden muß.“

„Unsinn! Trachten Sie, Vernunft anzunehmen, vor allem fassen Sie einen festen Entschluß und trinken Sie ein Glas Bier und legen sich schlafen.“

Er blickte den Obersten ängstlich an. „Nur nicht schlafen, nur nicht schlafen,“ murmelte er, und es war etwas so Flehendes in seinem Blick, daß es dem älteren Mann durch Mark und Bein ging.

„Mir ist schlecht, Herr Oberst,“ murmelte er, „ich möchte …“

[67] „Was denn?“

„Schwarzen Kaffee, starken, schwarzen Kaffee; ich werde Sie gar nicht belästigen, ich will mir ihn selber brauen.“

Er erhob sich, der Oberst hielt ihn am Handgelenk fest. „Gehen Sie mir zum Teufel mit Ihrem schwarzen Kaffee!“ rief er, „um zehn Uhr in der Nacht.“

„Aber ich will, ich muß … Schließlich bin ich ein erwachsener, zurechnungsfähiger Mensch, der vorläufig zum wenigsten noch nicht unter ärztlicher Kuratel steht.“ Er starrte den alten Freund an, als wolle er ihm an die Kehle springen.

Der Oberst dachte bei sich, daß es eigentlich recht gut wäre, ihn unter vernünftige ärztliche Vormundschaft zu stellen, ins Gesicht sagte er ihm das jedoch nicht, sondern nur: „Swoyschin, wenn Sie sich vor dem Einschlafen fürchten, so will ich recht gern die Nacht mit Ihnen wachbleiben. Ich will Sie auch für morgen Ihres Dienstes entbinden, damit Sie bei Tag ausschlafen können. Spielen Sie eine Partie Schach mit mir. Wenn Sie das zu sehr anstrengt, so spielen wir Trick-Track oder bauen Kartenhäuser zusammen, mir ist’s einerlei, aber den schwarzen Kaffee trinken Sie nicht.“

So spielten sie denn Trick-Track miteinander, eine Partie nach der andern, bis gegen Mitternacht.

[68] Der Oberst blieb vollkommen wach, dem Adjutanten fielen nach der fünften Partie die Augen zu und die Würfel aus der Hand. Der Schlaf kam unabweislich, er kam in der Verkleidung eines Freundes, die Gedanken in der gepeinigten Seele auslöschend, das wunde Gefühl in den müden Gliedern lösend.

Diesmal wehrte ihm Swoyschin nicht. „Wenn Sie gestatten, Herr Oberst, leg’ ich mich jetzt nieder,“ murmelte er, sich ein letztes Mal aufraffend, „ich glaube übrigens, Sie haben die bösen Geister gebannt, ich werde gut schlafen, ich freu’ mich auf den Schlaf.“

„Na, gute Ruh’, mein Alter,“ entgegnete ihm der Freund. „Ich für meinen Teil will noch ein wenig aufbleiben. Ich habe gar keinen Schlaf heute und möchte das Buch hier auslesen. Wenn’s Ihnen recht ist, so lass’ ich die Thür zwischen unsern Zimmern offen.“

Der dankbare Blick, mit dem er den Obersten ansah, er, der schneidigste Offizier im Regiment!

Zdenko ging in sein Zimmer; der Oberst merkte, daß er bereits im Gehen schlief, wie manches Mal Infanteriesoldaten während eines langen, ermüdenden Marsches schlafen. Kaum, daß er die Kleider von sich heruntergestreift hatte, taumelte er auf sein Bett nieder.

Der Oberst machte es sich indessen in seinem [69] Großvaterstuhl bequem, schraubte seine Lampe zurecht, sah nach, ob das Petroleum noch bis in den Morgen hinein vorhalten würde, worauf er sich in eine Broschüre über die österreichische Artillerie vertiefte. Von Zeit zu Zeit horchte er in das Nebengemach hinein auf Swoyschins Atemzüge. Sie kamen ruhig und regelmäßig, wie die eines Menschen, unter dem die Welt versunken ist, und der sich in gänzlicher Vergessenheit von einer großen Erschütterung erholt.

„Gott sei Dank! Armer Bursch! Vielleicht schüttelt er doch noch den Alp von sich ab,“ murmelte er vor sich hin.

Da – es mochte gegen ein Uhr sein – auch nicht der fahlste Dämmerstreifen brach sich durch die Gardinen, hörte der Oberst gegen Swoyschins Fenster etwas wie das Streifen eines leichten Flügelschlags, so, als ob ein Vogel durch eine Glasscheibe herein will, dann … mit einemmal war sein Zimmer dunkel, die Lampe ausgelöscht. Er wollte aufspringen, Licht machen, konnte aber keine Zündhölzer finden. Er stand da wie gebannt, und deutlich hörte er das Rascheln und Schleifen eines lang nachschleppenden, seidenen Frauengewands, dann ein leises Lachen, leise, höhnisch, siegesgewiß und grausam … jetzt noch einmal!

Ihm stockte der Atem. Sein Bewußtsein verwirrte sich; was weiter geschah, darüber vermochte er sich keine Rechenschaft zu geben. Als er endlich [70] die Zündhölzer fand, die Lampe angezündet hatte, war es drei Uhr morgens.

Er trat in Swoyschins Zimmer; das Fenster stand offen, Zdenko lag auf seinem Bett, kreideweiß, den Angstschweiß auf der Stirn, mühsam röchelnd, im festen Schlafe.

Es dauerte mehrere Minuten, ehe es dem Obersten gelang, ihn zu wecken.

„Ich hielt es für gut, Sie aufzurütteln; ich glaube, Sie haben schwer geträumt,“ rief er ihm zu, als Swoyschin endlich die Augen öffnete.

„Sehr schwer geträumt,“ wiederholte er, „sehr schwer!“ und ließ den Kopf auf die Brust sinken.

„Haben Sie gestern das Fenster offen gelassen, Zdenko?“ fragte der Oberst.

„Nein, gewiß nicht!“ rief Swoyschin heftig, indem er sich in seinem Bett aufsetzte und nach dem geöffneten Fenster umsah. „Ich lasse es ja gern offen, aber gestern saßen zwei Käuzchen auf dem Birnbaum, und die krächzten mir so häßlich in das Zimmer herein, daß ich das Fenster schloß. Es schloß fest.“

„Jetzt ist es offen.“

„Ich weiß.“

Eine lange Pause.

„Swoyschin, wovon haben Sie geträumt?“

Statt aller Antwort drehte er den Kopf gegen die Wand.