Vollmondzauber/Zehntes Kapitel

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aus: Vollmondzauber
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[71]
Zehntes Kapitel.

Die Fahne, welche die Anwesenheit der Herrschaft verkündete, wehte von dem rechten Turm des Schlosses Radin. Sie war zerrissen wie eine Kriegsfahne, die ein Dutzend Schlachten mitgemacht hat.

Das Schloß war groß, malerisch, imposant. Im Viereck um einen weiten Hofraum gebaut, hatte es vier kreisrunde Türme, deren Dächer die spitzige Form von Löschhütchen aufwiesen. Diese vier Türme verliehen dem Schloß das Aussehen einer Festung. Überhaupt machte es den Eindruck, als ob es seiner Zeit ein rechtes Raubritternest gewesen wäre.

Hinter der breiten, mit mächtigen Quadern gepflasterten Terrasse gähnte ein weiter Wallgraben, in dem das Wasser stand, und über den sich der steinerne Bogen einer Brücke spannte, welche die ursprüngliche Zugbrücke ersetzte. Nach den in bauschige Gewänder gehüllten, in Tanzposen gestellten Statuen zu schließen, welche die Brücke zierten, mußte die Herstellung derselben [72] in den Anfang des achtzehnten Jahrhunderts fallen, während die ursprüngliche Erbauung des Schlosses sehr viel weiter zurück zu suchen war. Auch die Terrasse und der Park mußten um dieselbe Zeit entstanden sein wie die Brücke, denn der Park war, wenngleich verwildert, im Lenôtreschen Stil angelegt, und die an der Hauptfront des Schlosses gelegene Terrasse war ebenso wie die Brücke mit Rokokostatuen geschmückt, die auf der aus kleinen, dickbäuchigen Säulen bestehenden Balustrade in allen möglichen Stellungen kauerten und hockten, nur daß sie im Gegensatz zu den Standbildern auf der Brücke keine ausgewachsenen Menschen, keine Helden und Götter, sondern allerhand großköpfige Kobolde und Zwerge männlichen und weiblichen Geschlechts darstellten.

Es war Ende September und seit einer Woche der erste erträgliche Tag. Endlose Regengüsse hatten den Wallgraben gefüllt, ein schlammiger Hauch stieg aus ihm empor. Die von Feuchtigkeit dampfenden Wände des Schlosses zeigten eine trübselige, dunkelgraue Farbe, auf der Terrasse standen die Pfützen an den Stellen, wo im Laufe der Zeit Vertiefungen in die Quadern hineingetreten worden waren.

Heute schien die Sonne, und dort, wo ihre Strahlen hinfielen, war es warm. Aber das reichte nicht weit, die Schatten waren jetzt immer lang, selbst um die Mittagszeit, und wuchsen rasch in das [73] Dunkel der langen Abende hinein. Trübe Herbstahnungen schwebten in der Luft, hinter dem Wallgraben im Park drüben zitterten die Bäume, leise, leise, als fürchteten sie sich, und die ersten gelben Blätter sanken von den Bäumen in das von der Nässe wie Smaragden funkelnde Gras.

Mit einem leisen, aufatmenden Seufzer sanken sie hin. Sie waren müde, weil sie sich auf nichts mehr zu freuen hatten, darum starben sie. Die Singvögel waren alle verschwunden, aber die Frösche in dem Wallgraben quakten, und aus der Ferne tönte das Krächzen der Krähen, die in langen Zügen mit schwerfällig humpelndem Flügelschlag über die abgeräumten Felder flogen.

In dem breiten Lichtstreifen, den die Sonne über die Terrasse warf, lehnte der alte Graf Swoyschin in seinem Krankensessel. Er klagte über irgend etwas, und seine Stimme klang genau wie die der Unken im Wallgraben. Neben ihm saß ein junges Mädchen mit einem runden Gesichtchen, das so trotzig und tapfer in die Welt hinaussah, wie das eines gesunden, lebensmutigen Jungen. Ein weicher Zug um die vollen Lippen milderte die knabenhafte Herbigkeit und verlieh dem Antlitz etwas unbeschreiblich Reizvolles.

Man sah, daß dieses junge Geschöpf den Kampf mit dem Leben wohl mutig aufnehmen, aber ihn [74] nicht herausfordern würde. Annie Binsky war nicht zänkisch, sie war nur tapfer. Sie trug eine leichte Bluse und einen derben, ziemlich kurzen grauen Lodenrock. Trotz des sie umgebenden Frühherbstgefröstels war ihr warm, und trotz der mißmutig über ganz Radin brütenden Trauer schien sie vergnügt.

Emsig an einer Handarbeit nähend, ließ sie den alten Herrn weiter klagen, so lange, bis es ihn zu ärgern anfing, daß sie ihm nicht widersprach. Dann lenkte sie durch eine geschickte Frage seine Gedanken der Vergangenheit zu.

Dantes Worte über jene traurigste Traurigkeit, die daraus entsteht, wenn man aus dem gegenwärtigen Elend heraus vergangener Freuden gedenkt, sind zwar sehr schön, aber nicht immer zutreffend. Den alten Herrn zerstreute die Erinnerung an seine schöne Vergangenheit zusehends und auf das angenehmste. Herrliche Bilder rollten sich vor ihm auf. Er schwelgte in längst bestandenen romantischen Gefahren, erlebte merkwürdige Abenteuer, Jagdabenteuer und auch andre, in deren Bericht er sich plötzlich unterbrechen mußte, um die Ohren des jungen Mädchens zu schonen.

Manchmal unterbrach er sich zu spät, aber das schadete auch nichts, an Annies reiner Seele glitt alles ab; nicht daß ihr das, was er ihr vorplauderte, unverständlich gewesen wäre; sie verstand ganz gut, aber [75] sie hielt sich nicht weiter dabei auf, es interessierte sie nicht. Er erzählte von dem Meisterschuß, den er gemacht hatte unter den Augen Seiner Majestät, er erzählte von den Herzen, die er in Petersburg einem Großfürsten wegerobert hatte, er erzählte ohne Geckenhaftigkeit, warm, lebendig, als ob es sich um einen ganz andern als ihn selber handelte. Seine blauen Augen sprühten, sein altes, verrunzeltes Gesicht wurde schön, und als er wieder in die Gegenwart zurückkehrte, war’s, als hätte er sich an einem tüchtigen Schluck kräftigenden Weins gestärkt und vermöchte nun mit mehr Mut die Gegenwart zu ertragen.

„’s war schön damals, wenn ich mich erinnere, in meiner Jugend, die Jagden um jene Zeit, tausend bis zweitausend Rebhühner an einem Tag. Und die lustigen, gemütlichen Abende nachher, die Jagddiners. Wie einem der Wein geschmeckt hat nach dem Herumhetzen in den Feldern. Da hatte mein Vater so einen weißen Bordeaux, einen Chateau d’yquem, irgend jemand aus dem Hofstaat Karls X. hatte ihm ihn besorgt, in ganz Österreich hatte keiner einen solchen Yquem. Gut eingekühlt mußte er sein, wie Sonnenstrahl floß er einem durch die Adern, je kälter er war, um so wärmer machte er einem. Und die Dienerschaft, immer vergnügt, wenig zu thun und Trinkgelder die Hülle und Fülle. Kein Sozialist unter den Dienern, kein Geizkragen unter den Herren. [76] Kein Mensch hat ans Geld gedacht. Sich irgendwie mit dem Geld zu beschäftigen, galt damals für schmutzig; man gab’s aus, man lernte es ausgeben, liebenswürdig und geschmackvoll ausgeben, es aufheben lernte man nicht, und es beschaffen auch nicht, dazu hatte man seine Beamten. Herr Gott, wenn ich mich so hätte behelfen sollen wie der Zdenko! Ich denke, der läßt seine Stiefel vorschuhen.“

„Und wenn!“ rief Annie trotzig, das Köpfchen hebend.

„Es schickt sich nicht, solche Sachen schicken sich nicht für einen Grafen Swoyschin,“ ärgerte sich der alte Herr.

„Würde es sich besser für ihn schicken, Schulden zu machen?“ fragte Annie.

„Es würde sich besser für ihn schicken, das Sparen nicht nötig zu haben,“ entgegnete der Graf.

„Aber wie soll er sich helfen?“

„I, du nimmst immer seine Partei, Schwarzblattl!“ rief der alte Herr; „von Jugend an habt ihr zu einander gehalten, seid gute Kameraden gewesen, – ich dank’ meinem lieben Gott, daß ihr euch nicht ineinander verliebt habt, das wäre eine Bescherung.“

Bei dieser scharfsinnigen Bemerkung stach sich Annie in den Finger, aber das merkte der alte Graf nicht, und das war ein Glück.

[77] „Du fragst, wie er sich helfen soll, meine liebe Annie. Heiraten soll er, ein reiches Mädchen soll er freien, dann hat alle Not ein Ende,“ nahm der alte Graf unbefangen den Faden des Gesprächs von neuem auf.

„Das wär’ allerdings ein Ausweg,“ murmelte Annie und zog etwas spöttisch die Mundwinkel herunter.

„Er braucht sich ja nicht zu verkaufen, und eine Mesalliance braucht er auch nicht zu machen, da soll er lieber Malteserritter werden, als seinen Nachkommen den Stammbaum verpfuschen. Aber es gibt ja auch liebenswürdige Komtessen, die Geld haben; warum soll er sich nicht in ein reiches, hübsches Mädel verlieben?“

„Ja, warum nicht?“ bekräftigte Annie ernsthaft; sie lächelte ein wenig schelmisch dazu, aber dabei wendete sie den Kopf ab aus Vorsicht. „Übrigens,“ erklärte sie plötzlich, „glaube ich, daß Zdenko auch mit einer armen Frau glücklich werden könnte. Er weiß einzuteilen, und er hat keine kostspieligen Bedürfnisse.“

„Das ist ja richtig,“ erklärte der alte Herr, „aber ein Swoyschin hat Verpflichtungen gegen seinen Stand, er soll sich nicht in kümmerlichen Verhältnissen glücklich fühlen.“ Die Augen des Grafen funkelten zornig. „Ich verlang’ mir ja keinen rothschildischen [78] Reichtum, nur ein Mädel mit einer Million, einer einzigen kleinen Million. Herr Gott, wär’ das ein Leben mit einer Schwiegertochter, die die Hypothekarschulden von Radin zurückzahlen könnte.“

Annie senkte den Kopf, die Million, die der alte Herr sich zu seiner Schwiegertochter wünschte, besaß sie entschieden nicht, und sie kam sich wie eine Verbrecherin vor, weil sie Zdenko daran hinderte, sich zu einer Millionenbraut zu entschließen.

„Und der Zdenko, der so ein riesiges Glück hat bei allen Frauen,“ fuhr der Graf fort, „wenn er sie nur zweimal anschaut, sind sie weg, und er kann mir die Freud’ nicht machen.“

„Aber warum muß es denn gerade Zdenko sein, der dir die Freude machen soll? Konrad könnte es ja ebensogut besorgen!“ rief Annie mit einer Lebhaftigkeit, die jeden unbefangeneren Zuhörer als den Grafen stutzig gemacht hätte.

„Ach, Konrad, Konrad! Der hat nicht das Zeug dazu wie Zdenko, der verdreht nun einmal nicht jeder, die ihm in den Weg läuft, den Kopf, drum ist er auch an der einen, die ihm weis gemacht hat, daß sie ihn anbetet, picken geblieben, wie die Fliege am Vogelleim. Mein Gott, der soll machen, was er will. Wenn der gar nicht heiratet, so fällt das Majorat an Zdenko, und da ist es gut aufgehoben. Nur ein bißchen Geld, Geld!“

[79] „Ach, das Geld ist nur Chimäre!“ trällerte Annie frei nach „Robert der Teufel“.

„Hm, das hab’ ich auch gemeint, solange mir’s nicht gefehlt hat,“ murmelte der alte Graf, „solange ich immer überzeugt davon war, daß es mir so natürlich zuflog wie die Luft zum Atmen.“

„Mir ist das Geld nie zugeflogen wie die Luft zum Atmen, und ich hab’s doch nicht besonders schmerzlich entbehrt,“ berühmte sich Annie.

„Ach was, du brauchst keins,“ erklärte der Graf großartig, „junge Mädchen brauchen überhaupt keins. Warte nur, bis du verheiratet bist, dann wirst du sehen, was es heißt, mit beschränkten Mitteln einen Haushalt führen.“

„Ich glaube, ich brächt’s doch zusammen,“ meinte Annie, indem sie mit einem halb träumerischen, halb trotzigen Blick in die Ferne starrte. „Aber vorläufig,“ setzte sie rasch hinzu, „vorläufig denke ich noch nicht ans Heiraten, Onkel Karl.“

„Na, da hast du auch recht, Mädel. Herr Gott! Wie gern ich dich ausgestattet hätte, wenn die Verhältnisse halbwegs normal geblieben wären. Aber wer hätte auch denken können, daß der Bernhard Swoyschin dieses verrückte Testament macht und alles dem kleinen Eugen hinterläßt, der eine Tingeltangelsängerin zur Mutter gehabt hat. So etwas ist doch nicht erbfähig in Österreich. Ich sagte mir: den Prozeß [80] mußt du gewinnen. Prosit! bin in der zweiten Instanz durchgefallen, ’s gibt keine Gerechtigkeit in Österreich. Aber einen letzten Versuch hab’ ich gemacht, ich kämpfe weiter bis zum Schluß, und wenn ich den letzten Heller daran setzen sollte. Lieber verhungern als nachgeben. Kommt da nicht die Post?“

Über die statuenbesetzte Brücke trabte auf einem lahmen Fuchs ein alter Mann, der eine lederne Tasche umgeschnallt hatte. Es war der ehemalige Stallmeister, der das ehemalige Lieblingspferd des Grafen dazu benutzte, alle Tage den Posteinlauf aus dem nächsten Städtchen zu holen.

Annie ging ihm entgegen und nahm ihm die Tasche ab. Der Stallmeister machte einen tiefen Diener und wandte sein Pferd den Stallungen zu, die am Anfang des Parks unweit dem Häuschen des Thorwarts gelegen waren.

Eifrig sortierte Annie die Briefschaften und kontrollierte die Recepisse, was ihres täglichen Amtes war. Eine kleine Enttäuschungsfalte zeichnete sich auf ihrer weißen Stirn. Den Brief, den sie seit vielen Wochen erwartete, den suchte sie in der Posttasche vergeblich. Warum hatten seine letzten Briefe so müde geklungen? Kein herzliches Wort mehr darin, der dürrste Bericht. Und warum schrieb er jetzt gar nicht mehr?

Der Posteinlauf für den alten Herrn war auch [81] nicht befriedigend. Rechnungen – Rechnungen! Er hütete sich, die bereits von außen unliebsam erkennbaren Dokumente zu öffnen, noch einmal Rechnungen, und zum Schluß ein Brief von seinem Advokaten mit einer unangenehmen Nachricht in betreff des großen Familienprozesses.

Ein Diener in Livree mit einer recht verschossenen goldknöpfigen roten Weste trat aus dem Schloß an Annie heran und meldete: „Ihre gräflichen Gnaden ließen Komtesse fragen, ob keine Briefe für Ihre gräflichen Gnaden angekommen seien?“

Annie sichtete noch einmal Zeitungen und Briefschaften. Ja, ein Brief war da, einer in einem großen, dicken, weißen, unangenehm stark parfümierten Umschlag, der mit einem von einer neunspitzigen Krone überschwebten Monogramm verziert war. Den sandte Annie durch den Lakaien mit der roten Weste an die Tante.

Der alte Herr war jetzt noch verstimmter als früher. Alle Tage zählte er die Stunden, bis die Post kam, und alle Tage erwartete er von der Post eine angenehme Überraschung. Aber die Post brachte nie etwas Gutes. Er sah sich nach Annie um. Aber mit Annie, die doch immer einen scherzenden Trost, einen kleinen Aufmischer für ihn in Bereitschaft hatte, war’s heute auch nicht weit her. Was hatte das Mädel nur? Sie konnte sich doch nicht am Ende doch [82] in den dummen Buben, den Zdenko, vergafft haben, wie sich alle Weiber in ihn verliebten? Ach nein, das war ausgeschlossen. Sie hatten sich ja beide immer nur verwandtschaftlich geneckt und gern gehabt wie Bruder und Schwester.

Aber immerhin, Herr Gott! Das auch noch! Der Verdacht war ihm plötzlich gekommen, ganz plötzlich, und nun er gekommen war, ließ er sich nicht mehr abweisen. Jedenfalls durfte er sich seiner Frau gegenüber nichts anmerken lassen, entschied der alte Herr eilig. Wenn die etwas von der Sache merkte, wäre sie im stande, die Kleine nach Tirol zurückzuschicken, und ohne seinen Sonnenstrahl konnte es der arme melancholische alte Graf in dem Eulennest nicht aushalten.

Zwei große graulila Tauben mit metallisch glänzendem Kropf spazierten gravitätisch, die zarten rosa Füßchen zierlich vor sich setzend, über die grauen Quadern der Terrasse und tauchten ihre Schnäbel in die seichten Pfützen. Mit krächzender Stimme und ungeschicktem Flügelschlag flog ein wundervoller Pfau herbei, und seinen schillernden Schweif ausbreitend hockte er zu Füßen eines der Sandsteingnomen auf dem Rand der Balustrade nieder. Zwei kleine Pfauen trippelten hinter ihm drein.

Aus dem Park unten trug der feuchte, frische Wind ein paar rote Blätter über den Wallgraben [83] und streute sie dem alten Herrn vor die Füße. Annie bückte sich nach einem der dürren Blätter.

„Du, Annie, Schwarzblattl –“ begann der alte Graf. Da, ein Rascheln von seidengefütterten Frauenkleidern, ein Duft von betäubenden exotischen Parfüms, in den sich der Dampf einer starken Cigarre mischte: auf die altertümliche Terrasse war eine außerordentlich moderne Erscheinung getreten, eine Frau von nahezu fünfzig Jahren, noch immer schön, in einem koketten Morgenanzug, eine brennende Cigarre in der einen, den soeben mit der Post angelangten Brief in der andern Hand.

„Sehr interessante Nachrichten!“ rief sie, indem sie gleich darauf die Cigarre an die Lippen setzte und ein paar kräftige Züge that. Der Rauch, den sie langsam genießend zwischen den vollen Lippen entschlüpfen ließ, schwebte in bläulichen Gewinden durch die feuchte Septemberluft.

„Was für Nachrichten?“ fragte mißmutig der Graf. „Nachrichten, die uns unserem Ziel näher bringen?“

„Was nennst du unser Ziel?“ fragte die Gräfin.

„Einen Ausweg aus unsern ewigen Geldverlegenheiten,“ erwiderte der Gatte.

„Darum handelt sich’s ja gerade,“ erwiderte die Gräfin. „Da lies, Annie, lies dem Onkel vor, der Brief ist von der Rosin’ Ronitz, sie schreibt über Zdenko.“

[84] Die Gräfin Therese Swoyschin war weitsichtig, da sie es aber womöglich vermied, vor Zeugen eine Brille aufzusetzen, ließ sie sich, wenn es anging, alle ihre Briefe von ihrer jungen Anverwandten vorlesen. Annies Hand zitterte, während sie ihrer Tante den Brief abnahm.

 „Meine liebe Resi!
Es ist recht lange her, seitdem ich …“

Die Gräfin unterbrach Annie mit den Worten: „Ach, das sind Phrasen, sie schreibt zu jedem Brief ein Vorwort, hier auf der zweiten Seite nach dem ersten Absatz.“

Annie las: „Was sagst Du zu der Verlobung Zdenkos?“

„Wie?“ fragte, den Kopf vorstreckend, der Graf, der etwas schwerhörig geworden war. „Du bist heute recht undeutlich, Annie; sonst versteh’ ich dich immer.“

„Was sagst Du zu der Verlobung Zdenkos?“ wiederholte mit erhobener Stimme Annie.

„Verlobung Zdenkos!“ rief, fast aus seinem Krankenstuhl herausfahrend, der Graf. „Verlobung? Mit wem?“

„Unterbrich nicht, so wirst du’s erfahren,“ verwies ihm ärgerlich die Gräfin. Sie hatte sich in einen bunt austapezierten Strandstuhl niedergelassen, von wo aus sie ruhig den Eindruck abwartete, welchen [85] die große Neuigkeit auf ihren Gatten, sowie auf ihre junge Anverwandte machen würde.

„Zdenkos Verlobung mit Gina Ginori,“ las Annie.

„Wer ist das?“ fragte etwas scharf der Graf.

„Nun, die Gina Ginori, eine von den zwei reichen Ginoris, den Töchtern der Marchese Ginori. Seine Mutter war eine Russin; von der stammt das Vermögen. Sie sind mit meiner guten Freundin, der Franziska Zell, verwandt, und bei Zells hat Zdenko die Ginori kennen gelernt. Lies nur weiter, Annie.“

Annie las: „Mit Gina Ginori. Oder hast Du noch nichts von der Verlobung gehört? Freilich, öffentlich ist noch nichts, und wenn ich die Franziska frag’, so antwortet sie ausweichend, die jungen Leute verkehrten gern miteinander, aber von einer Verlobung könne wahrlich nicht die Rede sein. Na, wenn ein bildhübscher junger Mann, wie dein Sohn Zdenko, Tag für Tag ein Haus besucht, in dem sich ein junges Mädchen befindet, das sich lebhaft für ihn interessiert, da weiß man, wie viel es geschlagen hat.

„Du weißt, die Zells haben Zdibitz gemietet, und das liegt nur eine Stunde von Breznitz entfernt; daher die Bekanntschaft Deines Sohnes mit der Ginori, die bei ihrer Tante Zell den Sommer verbringt.

[86] „Vor den Manövern steckte er alle Tage, die Gott gab, in Zdibitz oder wenigstens dreimal die Woche. Trotzdem war etwas Bestimmtes aus meiner Freundin Franziska nicht herauszubekommen, immer nur dasselbe: ‚Was dir einfällt, – Verlobung, – Unsinn, – als ob von einer Verlobung die Rede sein könnte bei dem angegriffenen Gesundheitszustand der Gina,‘ und so weiter.

Es war zum Kaminhinausfahren. Ich kann diese sogenannten diskreten Leute nicht ausstehen – macht mich nervös, die Geheimniskrämerei. In so einem Fall teilt mir eine gute Freundin die Thatsache einfach mit und fordert von mir, dieselbe nicht weiter zu erzählen. Aber mir so etwas geheimhalten! Und was sie von dem angegriffenen Gesundheitszustand der Gina sagt, ist auch nicht stichhaltig. Zdenko hat dem Mädel den Kopf verdreht, ehe sie krank war, das hab’ ich mitangesehen, und er hat kein Recht, sie nachträglich im Stich zu lassen, c’est mon opinion. Aber, wie gesagt, ich bin mir nicht klar über die Sache, und so wende ich mich an Dich mit der Frage: Ist Dein Sohn mit der Gina verlobt oder nicht?

Im übrigen, liebe Resi, hab’ ich Dir nicht viel zu erzählen …“

„Ist nicht weiter interessant,“ bemerkte, den Brief aus der Hand ihrer Nichte nehmend, die Gräfin. „Aber was sagt ihr denn zu der Neuigkeit?“

[87] „Hm! Es ist ja gar keine Neuigkeit, es ist ja nur eine Frage,“ murmelte unzufrieden der alte Graf.

„Eine Frage? Ich bin überzeugt, daß Zdenko thatsächlich verlobt ist.“

„Und ich bin überzeugt, daß er sich wieder einmal verbandelt hat und nicht aus und ein kann,“ brummte der alte Herr.

„Das ist auch möglich,“ erklärte die Gräfin, „aber ich finde es an der Zeit, daß Zdenko endlich einmal gezwungen wird, sich zu entschließen, sonst heiratet er sein Lebtag nie. Die Ginori ist ja alles, was wir wünschen könnten: gute Familie, schöne Person und sehr vermögend. Was willst denn du noch? Du hast es mir selber hundertmal erklärt, daß Zdenko nur reich heiraten darf.“

„Na ja, na ja,“ erwiderte übellaunig der Graf, „eine reiche Braut hab’ ich ihm gewünscht, aber nicht so eine verrückte Ausländerin, sondern ein nettes, frisches, österreichisches Mädel, das wir unter uns haben aufwachsen sehen, etwas, zu dem man Vertrauen hegen kann, das dem Buben eine gemütliche Zukunft verspricht. Was wissen wir von dieser Ginori?“

„Du hast doch genug von den Ginoris gehört; wie die Klara voriges Frühjahr aus Rom kam, sprach sie von nichts anderm.“

„Und was erzählte sie?“ rief der Graf scharf. „Daß die ältere Schwester alt und garstig ist und [88] die andre jung und schön, aber aus der älteren werde niemand klug und die jüngere habe Raupen im Kopf. Sie war, wenn ich nicht irre, ein ganzes Jahr in Paris, um sich von Charcot behandeln zu lassen. Wenn dir das besonderes Vertrauen einflößt, so gratulier’ ich dir zu deiner vertrauensseligen Natur.“

„Ach was, sie war ein wenig hysterisch, das gibt sich in der Ehe,“ erklärte die Gräfin.

„Selbst nach dem, was deine neugierige Freundin Rosin’ dir schreibt, steht es schlecht um ihre Gesundheit,“ wendete hartnäckig der alte Graf ein.

„Etwas Vorübergehendes,“ replizierte die Gräfin. „Bildschön muß sie sein,“ murmelte sie hierauf wie zu sich selbst, „eine Schwiegertochter, mit der man Staat machen könnte. Die ältere Schwester dürfte kaum mehr heiraten; man müßte zusehen, daß sie nicht unter den Einfluß der Geistlichkeit gerät. Hm! hm! Jedenfalls werde ich trachten, mich zu orientieren. Wo ist den Annie?“

Aber Annie war verschwunden. Die Gräfin verfügte sich in das Schloß zurück, um ihren Schlachtplan genau zu überlegen.

Kurze Zeit darauf trat Annie von neuem auf die Terrasse. Sie brachte dem alten Herrn sein Gabelfrühstück. Das that sie immer selbst. Sie stellte den leichten Imbiß, ein paar Sandwiches und ein Glas Wein, auf den kleinen Tisch aus Korbgeflecht, [89] der sich neben dem Krankensessel des alten Herrn befand, und auf den er seine Zeitungen gelegt hatte. Er blickte sie aufmerksam an – sie sah gerade so frisch und hübsch aus wie früher, nur mit etwas Feuchtem um die Augen, was ihrem Blick eine besondere Weichheit verlieh.

„Soll ich dir die Zeitung vorlesen, Onkel?“ fragte sie, nach derselben greifend.

„Ja, Schwarzblattl.“ Er nickte. Sie begann zu lesen wie alle Tage. Gewöhnlich unterbrach er sie gerade mitten im Leitartikel mit lauten Lamentationen über die österreichischen Zustände, die ihm nämlich nie recht waren, mochten die Konservativen oder die Liberalen, die Tschechen oder die Deutschen am Ruder sein. Heute schimpfte er nicht; dieser Umstand bewies, daß er gar nicht zuhörte.

Annie merkte das wohl, aber sie las weiter. Sie merkte auch, daß er sie öfter als sonst und mit ganz besonderer Zärtlichkeit betrachtete. Vielleicht erriet sie, was in ihm vorging.

Die Frage in betreff der reichen Braut, mit der Zdenko sich durchaus verloben mußte, war zum erstenmal in einer konkreten Form an ihn herangetreten. Er kam sich zum Bewußtsein, daß er dieselbe früher ganz akademisch behandelt, daß er sich eigentlich zur Schwiegertochter nie etwas andres als ein Mädchen gewünscht hatte, das genau so aussehen sollte [90] wie Annie – Annie mit einer Million in der Tasche.

Wie er seinem Buben ein solches Glück gegönnt hätte! Herrliche Visionen von in der Vergangenheit versunkenen Glanzepochen zogen durch seine alte, müde Seele. Er hörte Hifthörner schmettern, hörte lustiges Pferdegetrappel, sah die Jäger in roten Röcken heimkehren, erhitzt und kotbespritzt von einer Parforcejagd. Er sah die Lichtflut, die bewillkommend aus allen Fenstern des Schlosses den Heimkehrenden durch die Dämmerung entgegenstrahlte, und dann später die schönen Frauen, von Diamanten funkelnd, in hellen Gewändern, mit lächelnden Lippen und freundlichen Worten die Jäger begrüßend, in den Salons, in denen man sich vor dem späten Jagddiner versammelte, die leise Tafelmusik, der Duft von Trüffeln, der die Speisen durchwehte, die höflich gedämpfte Konversation, in der zwischen witzig und flüchtig erzählten Jagdabenteuern die anerkennenden Worte für die Jagdgeber regneten, der Toast einer sehr hohen Persönlichkeit, die neidischen Gesichter der Nachbarn, alles tauchte wieder vor ihm auf.

Und plötzlich versank das alles, alles. Er sah eine Dorfstraße vor sich im duftigen Zwielicht eines Frühlingsabends und auf der Schwelle eines zu beiden Seiten von Obstbäumen umblühten Bauernhauses ein junges Weib mit einem schönen, gesunden Kind auf [91] dem Arm. Das Weib streckte spähend den Kopf vor. Ein junger Mann kam auf die Hütte zu, ein schöner Bursch, dem die Lebenslust aus dem Auge leuchtete durch den Schleier der Dämmerung.

„Kommst du endlich?“ Wie der Schlag einer Amsel klang die Stimme des Weibes, dann ein lustiger Ausruf, ein Sprung, und er hielt Weib und Kind in seinen Armen.

Der Graf Swoyschin war für gewöhnlich nicht sentimental dem Volk gegenüber. Aber damals hatte er, von der Jagd heimkehrend, sich doch in den Schatten gedrückt, um die drei nicht zu stören.

Warum fiel ihm die kleine Scene ein? Warum war er sich plötzlich klar darüber geworden, daß aller Glanz der Erde nicht den Kuß wert war, den die zwei im duftigen Frühlingszwielicht miteinander getauscht hatten?

Unten im Park schauerten die Bäume, die gelben Blätter fielen in das Gras.

Der alte Mann sagte sich, daß es nicht mehr lange dauern würde, und der Winter legte seine kalte Hand um sie. Aber wenigstens hatten sie den Sommer gekannt, in ihren Zweigen hatten die Vögel gesungen, ihre Blätter hatten unter den Liebkosungen linder Winde geschauert, sich an den Strahlen der Sonne gefreut. Aber …

Was sollte so ein armer Baum, wenn er nicht [92] im Frühling geblüht, im Sommer Früchte getragen, wenn er, in den Tod hinüberfröstelnd, nicht ein letztes Mal sich an der Erinnerung des Sonnenscheins freuen durfte, der ihn einmal durchwärmt!

*      *      *

Die 32er Dragoner waren aus dem Manöver zurückgekehrt, und Zdenko hatte seine Liebeszwangsarbeit in Zdibitz von neuem aufgenommen. In dem Gesundheitszustand seiner Braut war neuerdings ein Rückschritt eingetreten. Sie sah hohläugig und bleich aus, hustete und war stark abgemagert. Der Ausbruch elementarer Leidenschaft, mit dem sie den Bräutigam begrüßte, wäre rührend für ihn gewesen, wenn er sie geliebt hätte; da er sie nicht liebte, wirkte er auf Swoyschin nur erschreckend.

Der Oberst ärgerte sich über den Fortbestand dieser höchst unnatürlichen und widerwärtigen Brautschaft; er redete stundenlang in seinen Adjutanten hinein, um ihn zu bewegen, das Verhältnis zu lösen. Aber ohne Erfolg. Es war, als ob er Steine in einen Brunnen geworfen hätte – Zdenko reagierte nicht einmal.

Endlich, auf das endlose In-ihn-hineindrängen, erwiderte er seinem alten Freunde: „Es ist umsonst, Herr Oberst, ich kann nicht von ihr los. Durch die paar Stunden, die ich am Tag opfere, erkauf’ ich [93] mir wenigstens die Ruhe meiner Nächte. Ich kann Ihnen nicht schildern, was ich gelitten hab’ die letzte Zeit in dem Manöver, die Zeit, nachdem sie den Weg zu mir gefunden hatte. Ach!“

Ein Frost schüttelte ihn, er legte die Hände über die Augen. Der Oberst begann ihn auszuforschen, er gab scheue, widerwillige Antworten.

War sie ihm öfters erschienen?

Ja, jede Nacht.

Das konnte er nicht aushalten, und darum ging er noch immer zu ihr, jeden Tag, dann hatte er in der Nacht Ruhe.

„Ewig wird’s ja nicht dauern,“ setzte er mit einem bösen, stieren Blick hinzu.

Der Oberst schüttelte den Kopf. Er hatte eine Wahrnehmung gemacht, die ihn sehr beunruhigte. So elend sie auch war bei Zdenkos Rückkehr, so rasch besserte sich ihre Gesundheit jetzt. Mit jeder Stunde, die er ihr widmete, blühte sie auf. Man sah es deutlich, wie seine Gegenwart ihre schwindenden Kräfte verjüngte, wie sie sich an dem Leben kräftigte, das sie ihm nahm.

*      *      *

Eine Woche verging. Im Park von Zdibitz schimmerten die Bäume in allen Prachtfarben des großen Herbststerbens. In der Luft war ein beständiges [94] leises Knistern: das Knistern der Blätter, die von den Bäumen fielen. Mit rauhem, heiserem Geschrei flogen die Raben über die kahlen Felder hin, um schwarz und mißtönend anstatt der Singvögel zu herrschen.

Es war ein Oktobernachmittag, einer von jenen Oktobernachmittagen, an denen man im Kamin Feuer anzündet und die Fenster dazu offen läßt. Es hatte den ganzen Tag geregnet; die Luft, die durch die hohen, eichengetäfelten Fensternischen in das Wohnzimmer drang, in dem sich die beiden Schwestern Ginori aufhielten, duftete süß, aber mit etwas Unheimlichem in der Süßigkeit darin, von dem jeder wußte, daß es Tod und Verderben bedeute.

Gina saß in einem tiefen Lehnstuhl neben einem Kamin aus rotem Marmor, dessen Gesims mit altväterischen Kupfervasen besetzt war, aus denen rote, gelbe und braune Chrysanthemen herausstrebten und sich in dem Hintergrund eines alten, hohen Empirespiegels verdoppelten. Sie trug ein loses, weißes Hauskleid, das gelbliche Spitzen zierten, und sah wunderschön aus. Ihre dunklen Augen schimmerten durch die langsam sinkende Dämmerung. Neben ihr saß Zdenko Swoyschin und den beiden gegenüber Emma.

Gina hatte ihr Möglichstes gethan, um durch finstere Blicke und stechende Worte die Schwester zu [95] entfernen, aber die Schwester ging nicht. Sie rührte sich nicht von dem Brautpaar, wenn Swoyschin nach Zdibitz kam. Ihm war es fast, als trachte sie, ihm sein Martyrium zu erleichtern.

„Zdenko, komm, reich mir die Hand, so, die rechte, und den linken Arm leg unter meinen Kopf, so, auf die Lehne meines Sessels, so, ach, das thut wohl, ach!“ hauchte Gina, dann nahm sie seine Rechte und wollte sie an ihre Lippen ziehen. Eine strenge, strafende Miene Emmas hielt sie auf.

„Emma, du bist unausstehlich!“ rief Gina heftig. „Wenn dein altjüngferlicher Neid es nicht über sich gewinnen kann, uns ruhig zuzusehen, so geh du deiner Wege!“

Aber Emma that, als höre sie die Worte der Schwester gar nicht; sie saß da und fuhr fort, den Faden aus ihrer häßlichen Stickerei zu ziehen.

Irgend ein Mißklang hatte die Harmonie des sonst rührenden schwesterlichen Verhältnisses getrübt.

„Ach, mir ist so wohl, seit du wieder da bist; ich werde völlig gesund werden, wenn du einmal ganz mein bist,“ murmelte Gina. „Weißt du, wir stehen zu einander wie die Erde zu der Sonne, ich und du. Wenn die Sonne die Erde bescheint, so lebt die Erde, und sobald die Sonne der armen Erde ihr Licht und ihre Wärme entzieht, muß die Erde zu Grunde gehen. Du bist meine Sonne, Zdenko.“ [96] Und mit einer Gebärde wahnsinniger Zärtlichkeit schlang sie plötzlich beide Arme um seinen Hals, und seinen Kopf an ihre Brust haltend, murmelte sie in sein Haar hinein: „Mein, mein, mein!“

Wieder richtete Emma die Augen auf sie. Sie waren nicht mehr kalt und bannend wie sonst, sondern unruhig und gequält.

Gina ließ den Bräutigam los, aber sie machte eine Bewegung nach der Schwester zu, als wolle sie dieser an die Kehle springen.

Die Schwester saß von neuem ruhig da, als wüßte sie von nichts, und fuhr fort, regelmäßig den Faden zu ziehen.

„Bist du nicht stolz darauf, ein Geschöpf durch einen Blick, ein Lächeln, eine Berührung so glücklich machen zu können, wie du mich machst?“

„Gewiß, Gina, gewiß.“ Er murmelte es müde, ohne Betonung, wie eine auswendig gelernte Lektion.

„Hast du dir’s schon überlegt, wohin wir unsre Hochzeitsreise machen werden?“ fragte sie.

„Nein.“

„Aber ich habe mir alles ausgedacht,“ murmelte Gina, „wir wollen hinunterreisen in das alte Schloß, wo ich geboren bin. Zwischen grauen Olivenwäldern liegt es auf einem Felsen, von dem aus man ins Meer hinuntersieht. Die Rosen blühen das ganze Jahr, bis in die Kronen der immergrünen Steineichen [97] in unserm Garten klettern sie hinauf, und ihr Duft mischt sich mit dem Geruch des Buchsbaums, und der große, frische, wilde Hauch der See streicht zu uns herüber und würzt alles. Kennst du die See? Liebst du die See, das wundervolle, blaue Mittelmeer? Ja, blau ist es am Tage, blau wie der Himmel, mit flimmernden Silbersternen besät. Aber gegen Abend, da ist es nicht mehr blau; wenn die Sonne hinein versunken ist und es angezündet hat, da leuchtet’s wie von Flammen durchlodert. Da ist es am schönsten, da werden wir hinausrudern, leise, leise wird sich unser Kahn schaukeln auf dem leuchtenden Flammenmeer, aus dem ein kühlender Hauch aufsteigt. Es ist ein Bild unsrer Liebe, das leuchtende Flammenmeer, aus dem ein kühlender, lindernder Hauch aufsteigt. Zdenko, Zdenko, freust du dich?“

„Ja, ich freue mich.“

Wie konnte sie ihn fragen! Sie mußte es doch erraten haben, wie ihm zu Mute war, wenn er so dasaß mit diesem traurigen Gesicht, wenn er ihr antwortete mit dieser müden Stimme.

War sie stumpf und blind? Er selber hatte die Empfindung, als ob sie in ihm läse wie in einem offenen Buche, sie wußte, daß er sie verabscheute, aber sie wollte ihn doch. Vielleicht dachte sie, ihn zwingen zu können, sie zu lieben, bis sie ihn einmal ganz haben würde, ganz.

[98] „Wenn du einmal mein bist, wird mein Elend hinter mir liegen wie ein böser Traum,“ murmelte sie. „Hast du schon an deine Eltern geschrieben, Zdenko?“

„Nein, ich habe gewartet, bis du wohler bist,“ murmelte er.

„Ich werde nie ganz gesund werden, ehe ich dein bin; deine Liebe wird mich gesund machen,“ flüsterte sie.

Die Dämmerung hatte sich verdichtet, die Chrysanthemen auf dem Kamin waren fast schwarz, die Kupfervasen glühten wie durch einen Schleier hindurch in das Zwielicht hinein, der Hauch, der durch das offene Fenster drang, wurde scharf und kalt, ein starker Wind hatte sich erhoben, die ganze Verzweiflung der Natur, die sich gegen das Sterben wehrte, schrie jetzt in den Büschen.

Emma stand auf, um die Fenster zu schließen. Sie bediente sich in vielen Dingen merkwürdig geschickt selbst und hatte überhaupt eine energische Unabhängigkeit in ihrem Wesen, die in Anbetracht ihres Standes verriet, daß sie mitunter darauf angewiesen war, die Dienerschaft selbst auf Kosten ihrer Bequemlichkeit fernzuhalten, vielleicht um sich und ihre Schwester der Beobachtung zu entziehen.

Swoyschin trat an sie heran, um ihr behilflich zu sein.

[99] „Verzeihen Sie meiner Schwester,“ murmelte sie leise, und Swoyschin bemerkte, wie ihr die Schamröte auf den sonst so bleichen Wangen stand. „Sie weiß nicht mehr, was sie sagt; die Krankheit hat ihr den Sinn verrückt. Von Heiraten kann nicht die Rede sein bei ihr. Aber haben Sie nicht einen Wagen ins Schloß rollen gehört?“

Swoyschin wendete den Kopf und horchte. Die Einfahrt befand sich auf der andern Seite des Schlosses. „Es scheint,“ sagte er.

Gina richtete sich auf. „Wenn’s ein Besuch ist, so …“

„Es wird ihn niemand hereinlassen,“ erwiderte Emma herb und drehte das elektrische Licht auf. Das elektrische Licht war der einzige moderne Luxus, über den das Schloß verfügte. Der letzte Besitzer, ein Elektromane, der viel Zeit in Amerika zugebracht, hatte Zdibitz damit versehen.

Was war das? Zdenko schrak zusammen, Geraschel von Frauenkleidern, Lachen, Durcheinanderrufen von drei weiblichen Stimmen im Korridor draußen, die Stimme der Gräfin Zell – und …

Plötzlich öffnete die Gräfin Zell die Thür. „Da sind sie, da sind sie. Du kannst sie gleich ertappen,“ rief sie.

Die Gräfin Zell trat, den Weg führend, voraus in das Zimmer. Hinter ihr – Zdenko traute seinen [100] Augen kaum – hinter ihr kamen seine Mutter und Annie.

*      *      *

Den Abend wachte der Oberst bis über Mitternacht hinaus, er konnte sich die lange Abwesenheit seines Adjutanten nicht erklären. Sollte ihm etwas zugestoßen sein? Sollte er seinem Leben ein Ende gemacht haben? Die seltsamsten Unglücksmöglichkeiten durchkreuzten das Hirn des besorgten Mannes. Gegen halb Eins hörte er ein Pferd über die Straße rasen. Die Gangart desselben war ungleich, als ob es ohne Führung dahineile; es war die Gangart eines Pferdes, das seinen Reiter abgeworfen hat.

Der Oberst eilte hinaus, zu sehen, was es gab, auf das Ärgste gefaßt.

Aber nein, das Ärgste war noch nicht eingetreten, wenngleich etwas sehr Arges.

Er hörte Swoyschins Stimme unten vor dem Hause, seine Stimme, aber mit etwas Fremdem in ihrem Klang.

Die Stimme war heiser, die Artikulation schwerfällig, unbeholfen.

„Herr Gott!“ rief der Oberst aus, „der Bursch ist betrunken.“

Was war vorgefallen, wie war es zu dem Rausch gekommen?

[101] Sein Schritt näherte sich und blieb vor der Thür des Vorgesetzten unschlüssig stehen. Der Oberst selbst öffnete die Thür.

„Kommen Sie herein!“ rief er.

Er trat ein, griff mit der rechten Hand an seine Stirn und hielt sich mit der linken an einem Möbel fest.

„Verzeihen Sie, Herr Oberst, ich bin nicht ganz bei mir, bin in einem Zustand, in dem ich mich Ihnen lieber nicht gezeigt hätte.“

„Ist weiter von keiner Bedeutung, setzen Sie sich,“ gebot ihm der Oberst. „Sie sind nicht der erste junge Offizier, den ich in diesem Zustand sehe, und werden wohl nicht der letzte bleiben. Den Weltuntergang führt etwas Derartiges nicht herbei, aber meines Wissens hat’s in der Gegend heute kein Fest gegeben, drum, wenn es Ihrem Gedächtnis momentan nicht zu viel zuzumuten heißt, möchte ich wissen, wo Sie sich diesen Zustand geholt haben?“

„Wo?“ Swyoschin war teilweise zu sich gekommen. Sein Gesicht war noch immer rot und aufgedunsen, aber seine wässerigen Augen hatten sich etwas geklärt, und je mehr sie sich klärten, um so mehr zeigten sie einen Ausdruck starren Entsetzens.

„Wo?“ murmelte er, „wo? In der Kneipe … dort unten am Fluß … der Kneipe ‚zu den drei Linden‘, dort hab’ ich mir den Rausch angetrunken.“

[102] „Wer war mit Ihnen?“

„Ich war ganz allein, mir war nicht nach Gesellschaft zu Mut.“

Er starrte vor sich hin, an dem Gesicht des Obersten vorbei, auf die Wand.

„Sie sind in der Kneipe ‚zu den drei Linden‘ eingekehrt und haben sich einen Rausch angetrunken mit ganz gewöhnlichem Fusel, Swoyschin? Nun, heute ist nicht mit Ihnen zu rechten. Legen Sie sich ins Bett; aber morgen!“

„Muß der Morgen kommen?“ Er fing an, am ganzen Leib zu zittern. „Es war, weil ich vergessen wollte, daß der Morgen kommen muß!“ Plötzlich bedeckte er sein Gesicht mit beiden Händen und fing an, krampfhaft zu schluchzen.

Der Oberst ließ ihn eine Weile, der junge Mensch mußte sich nüchtern geschluchzt haben, ehe er ihn weiter ausfragen konnte. Dann legte er ihm die Hand auf die Schulter. „Swoyschin, was ist geschehen?“ fragte er ihn.

„Was geschehen ist?“ wiederholte Swoyschin, indem er sich kerzengerade erhob, „was geschehen ist? Es ist geschehen, daß ich in drei Wochen heiraten soll!“

Er sah noch einen Moment starr vor sich hin, dann verließ er, ohne ein weiteres Wort zu sprechen, das Zimmer.

[103] Der Oberst hörte, wie er die Thür hinter sich zuschloß.

*      *      *

Die Gräfin Swoyschin war eigentlich bei ihrer Jugendfreundin, der bissigen Stiftsdame Rosin’ Ronitz eingekehrt und war, nachdem sie die ganze Affaire tüchtig durchgeklatscht, plötzlich als Überraschung in Zdibitz eingetroffen, um Zdenko, den ewig Unschlüssigen, zu einem Entschluß zu zwingen.

Sie hatte ihn zu einem Entschluß gezwungen, hatte, wie sie’s triumphierend nach Hause an ihren Gatten schrieb, sofort alles ins Geleise gebracht.

Der Oberst machte einen verzweifelten Versuch, den jungen Freund zu retten. Den Tag, nachdem Zdenko ihm die fürchterliche Nachricht mitgeteilt hatte, verfügte er sich nach Zdibitz und bat um eine Unterredung mit der Gräfin Swoyschin.

Er sah der Begegnung mit peinlicher Aufregung entgegen. Erstens fühlte er sich, trotz allem, was über seine Jugendliebe hinweggegangen war, eigentümlich davon berührt, daß er Therese Sensenheim, jetzt Gräfin Sowyschin, wiedersehen sollte. Zweites fürchtete er sich vor der bevorstehenden Auseinandersetzung.

Er hatte sich vorgenommen, ein sehr ernstes Wort mit der Gräfin zu sprechen. Kaum, daß sie ihm entgegentrat, eine hübsche, stattliche, etwas zu [104] starke Frau, die sich für ihr Alter zu jugendlich, für ihre Mittel zu kostspielig kleidete, wußte er, daß er sich vor einer Auferstehung seiner Jugendthorheit nicht zu fürchten brauche, aber er erriet zugleich, daß mit dieser Frau ein ernstes Wort überhaupt nicht zu reden war.

Nichtsdestoweniger versuchte er’s. Er that sein Möglichstes, ihr zu beweisen, daß diese Eheschließung die Existenz ihres Sohnes vernichten müsse, er gestand ihr, was ein Ehrenmann ihr von dem Abschau des Bräutigams, von den Eigentümlichkeiten der Braut mitteilen konnte, alles, was er sich zu sagen erlauben durfte, ohne Gefahr zu laufen, entweder selbst für einen Verrückten erklärt zu werden oder Swoyschin als einen solchen hinzustellen. Er sagte ihr, daß der Gesundheitszustand Ginas momentan eine Ehe undenkbar mache.

Die Gräfin war gegen alles taub.

Sie nahm eine erhabene Miene an: da Zdenko es nun einmal so weit hatte kommen lassen, stand ihm das Recht nicht zu, zurückzutreten. Er mußte heiraten, sobald seine Braut es wünschte. Wenn sie ihm einmal angetraut war, würde sich Gina beruhigen, und die Beruhigung mußte man ihr gönnen. Entweder würde das Glück sie gesund machen oder ihr den Tod erleichtern. Beide Möglichkeiten faßte die Gräfin mit derselben Gelassenheit ins Auge. Hierauf [105] lenkte sie das Gespräch von der Gegenwart ab, der Vergangenheit zu, schmeichelte sich mit allerhand retrospektiven Sentimentalitäten an der Obersten heran. Sie hatte aus ihrer gefeierten Blütenzeit allerhand veraltete Mätzchen und Männchen in ihre reiferen Jahre herübergenommen, die sie nun anwendete, um ihrem ehemaligen Anbeter neuerdings den Kopf zu verdrehen. Aber binnen sehr kurzem merkte sie doch, daß seine Leidenschaft verjährt und nichts mehr mit ihm anzufangen, und da er seinerseits zu der Überzeugung gekommen war, daß er dieser weltlichen und beschränkten Frau gegenüber nichts ausrichten könne, so trennten sich die beiden bald, und zwar recht unbefriedigt voneinander.

Und die Dinge gingen ihren Lauf.

*      *      *

Wenn der Oberst sich geradezu abgestoßen fühlte von seiner ehemaligen Flamme, so schloß er hingegen bald den engsten Freundschaftsbund mit ihrer jungen Anwerwandten, der Komtesse Annie Binsky.

Warum sie mitgekommen war, fragte er sich, ob aus einem eigensinnigen Wunsch, den Treulosen zu quälen, und sei’s auf Kosten ihrer eigenen Seelenruhe!

Die Grüne lagen nicht so tief. Die Gräfin Theres hatte durchaus ihre Nichte nicht zu Hause [106] lassen wollen, sie hatte nämlich erst kürzlich ihre Kammerjungfer gewechselt, und die neue machte alles verkehrt, war noch nicht eingeschult. Da konnte die Gräfin Annie wirklich nicht entbehren, und da Annie für eine energische Weigerung keinen Grund hätte finden können, ohne ihr armes Herzensgeheimnis preiszugeben, so hatte sie sich denn geduldig dazu bestimmen lassen, mit der Tante zu reisen.

Ein reizendes Geschöpfchen war sie und so natürlich, ohne jede Pose und Flause, ohne hypermixolydische Überspanntheit, gesunder Menschenverstand in einem reizenden, gesunden Körper, dabei keine Nüchternheit, sondern ein unendlich weiches, poetisches, aber ebenfalls durchaus gesundes Empfinden.

Wenn sie das Zimmer betrat, in welchem das Brautpaar sich befand, blickte Swoyschin jedesmal rasch nach ihr hin, dann heftete er die Augen eigensinnig zu Boden.

Sie zwitscherte indessen mit wohlgespielter Gleichgültigkeit lustiges Zeug, gab einem Teckel, der sich ihr gleich nach ihrer Ankunft verliebt an die Fersen geheftet hatte, Kosenamen, behandelte Swoyschin verwandtschaftlich, humoristisch, legte aber vom ersten Augenblick an die schroffste, ungeschminkteste Abneigung gegen seine Braut an den Tag.

Den andern Damen im Schloß bezeigte sie im Gegenteil tausend herzige Aufmerksamkeiten. Dabei [107] machte sie immer ein sehr vergnügtes Gesicht. Aber die Schatten unter ihren Augen wurden täglich tiefer, die Schatten, welche schlaflose Nächte unter den Augen der Menschen zurücklassen.

*      *      *

Wenn Annie der Braut ihre Abneigung offen bezeigte, so überbot sich im Gegenteil die Gräfin Therese Swoyschin, welche indessen mit Annie nach Zdibitz übersiedelt war, in anticipierten Schwiegermutterzärtlichkeiten, und Gina, welche die Absicht der selbstsüchtigen Frau ganz genau durchschauen mußte, ließ sie gewähren. Sie pflegte die Freundschaft der Gräfin Swoyschin, wie man die Freundschaft eines mächtigen Bundesgenossen pflegt.

Einen ganzen Vormittag blieben die Gräfin Swoyschin und Gina unsichtbar. Als aber jemand fragte, ob sich die Braut wieder angegriffen fühlte, hieß es: durchaus nicht, im Gegenteil erholt sich Gina jetzt merkwürdig, aber die Damen haben etwas Geschäftliches miteinander abzumachen. Hierauf bemächtigte sich aller Anwesenden eine große Verlegenheit, und Graf Zell, welcher die Auskunft gegeben hatte, lächelte vielsagend.

*      *      *

Und ein Tag folgte dem andern, und alle Morgen [108] kam die Sonne später, und jeden Abend ging sie früher unter.

Aber die kurzen Tage waren in Anbetracht der Jahreszeit wunderbar schön, von krankhafter herbstlicher Verfallspoesie durchweht.

Von einem Tag zum andern hatte der Oberst auf ein Wunder gehofft, auf einen Machtspruch des Schicksals, das zur rechten Zeit eingreifen würde, den jungen Freund zu befreien.

Heute hoffte er nicht mehr, denn es war der einundzwanzigste Oktober, der Vorabend von Gina Ginoris Hochzeitstag.

Sehr großartige Dinge hatte man, anbetrachts des prekären Gesundheitszustandes der Braut, nicht unternehmen können. Dennoch hatte sich die Gräfin Zell bemüht, der Feier ein heiteres Gesicht zu geben.

Sie hatte ein halbes Dutzend Komtessen eingeladen, welche Gina als Kranzeljungfern dienen sollten, die schöne Baronin Forstheim war mit der alten Gräfin Ronitz gekommen, die jetzt für sie schwärmte, und natürlich hatte man noch dementsprechend junge Herren und die unvermeidlichen Angehörigen all dieser Jugend gebeten.

Das sollte alles im Schloß übernachten, da es auch an einem Polterabend nicht fehlen durfte.

Bärenburg, der sich in die Verlobung so wenig wie alle andern nicht hinein verstand und den Obersten [109] nervös machte mit seinen ewigen Fragen, was er denn von der ganzen Komödie halte, behauptete, die Zells hätten diese überstürzte Heiraterei eingefädelt, nur um endlich die Ginoris los zu werden, und darum ließe sich die Gräfin es auch etwas kosten.

Aber er stand ziemlich vereinzelt mit seiner humoristischen Ansicht da.

In der ganzen Gegend wußte man, und dazu hatte die boshafte Ronitz ihr gutes Teil beigetragen, daß die Gräfin Theres die Hochzeit über das Knie gebrochen hatte, und man machte über die Sache recht unliebsame Bemerkungen.

Niemand sprach von der bevorstehenden Hochzeit, ohne zu erwähnen, daß die kranke Braut Zdenko Swoyschins ein steinreiches Mädchen sei. Es blieb vor dem Obersten nicht verborgen und war ihm sehr unangenehm. Aber thun ließ sich nichts mehr.

Und so war der einundzwanzigste Oktober gekommen, der Vorabend von Zdenko Swoyschins Hochzeitstag.

Die Herren waren auf der Jagd, die Damen, in ihre Vorbereitungen vertieft, hatten sich selbe ausdrücklich weggewünscht.

Nun war der Nachmittag hereingebrochen.

Annie beschäftigte sich damit, die letzten Rosen von den Bäumchen herunterzuschneiden, die in einer zierlichen Reihe den großen Rasenplatz vor dem Schloß [110] umgaben. Eine Blüte nach der andern fiel unter dem scharfen Zusammenklippen der Gartenschere.

Von Zeit zu Zeit schweiften ihre Blicke über ihre Umgebung hin.

Wie schön alles noch war, aber wie nahe der Verwesung schon.

Um die weißen Stämme der Birken schimmerte es wie goldene Schleier, die Linden waren fast gänzlich kahl, violettbraun streckten sie ihr Geäst in die feuchte Luft, unter ihnen bedeckte das fahle Laub den smaragdgrünen Rasen mit mattgoldenen Farben. An einigen Ahornbäumen und Büschen zitterten wie in Todesangst gelbe, mit Braun punktierte Blätter, die Adlersbeerbäume glühten und lohten wie Flammen in die allgemeine Auflösung hinein, während das Laub der Akazien dunkelgrün von der Sonnenhitze und Herbstkälte kaum berührt, dennoch des Todes gewärtig die Blätter senkte.

Annies Augen hefteten sich auf die Akazien. Das war das Allertraurigste, dieses gesunde, grüne Laub, das ohne Müdigkeit, ohne Krankheit sich dem Todesurteil der Jahreszeit fügte.

Die Luft war feucht, fast schwül, und den falschen Veilchenduft des Herbstes beherrschend wehte überall der Geruch von nasser Erde, der Geruch eines offenen Grabes.

Durchsichtige Nebel schlichen über den Rasen hin [111] und blieben in den Büschen hängen, mehr und mehr den Hintergrund verwischend. Bald war alles undeutlich außer der Reihe blühender, aber halb entblätterter Rosenbäumchen, die sich gegen einen dichten silbernen Schleier abhoben, hinter dem die bunten Herbstbäume phantastisch wie ferne Flammen hinter einem weißen Rauch lohten und flackerten, undeutlich, immer undeutlicher.

Und endlich hatte der weiße Nebel alles ausgelöscht, und hinter dem Nebel war ein Schaudern und Schauern, ein Rascheln und Rauschen, ein Knistern und Zittern, als ob das Herbstgespenst, leise zwischen den Bäumen hinschleichend, das Laub von den Bäumen streife. Ein klagender Wind wehte müde knapp an der Erde hin, die Dämmerung mische sich in den Nebel.

Annie langte nach einer Rose. Sie mußte sich auf die Fußspitzen stellen, um den Ast, an dem sie blühte, zu sich herunterzuziehen. Der Ast entwischte ihr, schnellte empor.

Ungeduldig wollte sie noch einen Versuch machen, als eine männliche Hand ober der ihren erschien und den Ast zu ihr niederbeugte.

„Ah!“ rief sie zusammenfahrend und wandte sich um. Sie hatte die Hand erkannt.

Zdenko war etwas früher als die andern von der Jagd heimgekehrt und stand neben ihr.

[112] „Zu was brauchst du die Rosen?“ fragte er.

„Für das Zimmer deiner Braut,“ erwiderte sie.

„Ach, laß das Zimmer ungeschmückt,“ gab er ihr zur Antwort.

Hierauf verfiel er in dumpfes Schweigen.

„Es wird feucht,“ meinte sie; „wir thäten besser, ins Schloß zu gehen.“

„Die Feuchtigkeit schadet weder dir noch mir, bleib noch,“ bat er, „es ist so schön draußen, wir wollen im Freien blieben, bis der Tag ganz tot ist, ganz.“

„Meinethalben,“ erklärte sie, „aber dann mußt du mir alle Rosen abpflücken, die ich nicht habe erreichen können.“

„Ja, Annie. Zeig mir welche.“

Sie zeigte auf eine gelbe, dann auf eine blaßrosa und auf eine weiße. Er schnitt eine nach der andern ab.

Der Nebel wurde unruhig, der dichte weiße Schleier bewegte sich, zerriß in phantastisch geformte Fetzen.

„Wie seltsam,“ flüsterte sie, „es ist, als ob ein neuer Tag anbräche, als ob die Sonne noch einmal aufgehen wollte.“

„Die Sonne geht nicht zweimal auf an einem Tag,“ murmelte Zdenko müde; „es ist der Mond, der aufgeht.“

[113] Und in der That, dort im Osten über einer Reihe rotgelber, aus dem Dunkel eines Fichtenwäldchens herausragender Lärchen sah man die Scheibe des Mondes erst kupferrot, dann immer blässer und glänzender am Himmel aufschweben.

„Es ist Vollmond heute,“ sagte Annie, und Zdenko wiederholte schaudernd:

„Ja, Vollmond!“

Die Nebel drängten sich jetzt alle der Erde zu, im regenbogenfarbigen Gewinde und Gewelle flogen sie am Boden hin.

Zdenko und das junge Mädchen standen in der phantastisch leuchtenden Nebelflut bis über die Kniee.

„Wie schön!“ murmelte Annie. Er schwieg, in tiefe Gedanken verloren.

Dann ging sie mit ihm ins Schloß und verfügte sich in das große Wohnzimmer, in dem irgend etwas, eine feierliche Kälte, der Umstand, daß die Möbel alle mehr oder minder aus ihrer gewöhnlichen gemütlichen Lage heraus gegen die Wand geschoben worden waren, verkündete, daß etwas Besonderes im Gange war.

Zdenko stellte die Rosen auf einen Tisch, es folgte eine beklommene Pause. Beide hatten das Gefühl, daß dies der letzte Moment zu einer gegenseitigen Aussprache war, den ihnen das Schicksal gönnte, und beide konnten das Wort nicht finden, das ihnen das Herz erleichtern sollte.

[114] Gab es überhaupt ein solches Wort? Er fragte sich’s. Er war der Linkischere von beiden.

„Läute, Zdenko, damit sie uns Wasser in die Vasen bringen,“ sagte Annie.

„Ja, ja, gleich, nur …“ er stockte.

„Und dreh das elektrische Licht auf; es wird dunkel.“

„Gleich, ich kann den Knopf nicht finden, Annie!“ Er war ganz nahe an sie herangetreten.

„Zdenko!“

„Du denkst schlecht von mir.“

„Nein, ich denke nur, daß du ein sehr schwacher Mensch bist, der seines Schicksals nicht Herr werden konnte.“

„Annie!“

„Ich hätt’s nicht sagen sollen, Zdenko; man hat nicht das Recht, so aufrichtig zu sein!“

„Mit Sterbenden soll man immer aufrichtig sein, und mir ist’s, als stünde ich an der Schwelle der Ewigkeit. Was aus mir wird von morgen an, kann ich nicht ausdenken; mir ist’s, als hätt’ ich nur mehr bis morgen zu leben!“

„Zdenko, das ist entsetzlich! Kein Ausweg … keiner? …“

„Nein, keiner!“

Eine lange, dumpfe Pause. „Wirst du morgen in der Kirche für mich beten, Annie?“ murmelte Swoyschin.

[115] „Um was soll ich beten?“

„Um was?“ wiederholte er tonlos; er hatte Angst, daß sie seinen Wunsch erraten könne, einen grausamen Wunsch, der wie eine fressende Gier sein ganzes Sein durchbrannte.

Plötzlich wendete sie den Kopf, ein eigentümlicher Laut hatte ihr Ohr berührt, etwas wie das leise Rauschen und Knistern eines lang hinschleppenden seidenen Gewandes.

„Was ist das?“ fragte sie.

„Irgend ein Fenster ist offen geblieben, und der Wind weht einen Vorhang hin und her.“

„Nein, nein, dreh doch das Licht auf, es ist ganz dunkel geworden, ganz.“

„Annie, nur ein Wort, gibt mir die Hand, beide Hände, Annie, ich will sie nur einmal küssen, nur ein einziges Mal!“ Er zog die Hände an seine Lippen.

Da, wieder das Knistern und Rauschen, und über das alles hintönend ein leises, höhnisches Kichern; dann plötzlich war das Zimmer voll Licht, und vor den zweien stand Gina Ginori, in weißem Brautgewand, den Myrtenkranz auf dem Kopf.

Sie legte Zdenko beide Hände auf die Schultern, lachte ihn an. „Mein!“ flüstere sie hastig, „mein!“ Dann drückte sie ihm ihre vollen Lippen auf den Mund, streifte Annie mit einem grausamen, [116] höhnenden Blick, und ehe Zdenko darüber hatte mit sich einig werden können, ob er träume oder wache, war das Zimmer von neuem dunkel.

Und wieder das Rauschen und Knistern rasch dahinschleifender Seide, ein leises, siegessicheres Kichern, nichts mehr … nichts!

Er tastete nach dem Knopf des elektrischen Lichts, – endlich hatte er ihn gefunden, das Licht aufgedreht.

Er sah sich nach Annie um, nach Gina – verschwunden, wie weggezaubert, von der Erde verschlungen, aber jemand andres stand neben ihm – Emma Ginori, aschfahl, mit bleichen Lippen. Sie sah ihm voll in die Augen. „Sie sind sehr unglücklich?“ murmelte sie.

Er lächelte bitter. „Wie können Sie fragen!“ rief er, „Sie, die alles wissen! Sie, die an allem schuld sind!“

„Ja, schuld, an allem schuld, ich nahm die Schuld auf mich, weil ich meine Schwester liebte, aber das ist vorbei, vorbei.“

Er blickte ihr eigentümlich forschend in die rätselhaften, schiefergrauen Augen, dann mit einem kurzen Achselzucken wendete er sich um und verließ das Zimmer.

Emma Ginori blieb noch wie angewurzelt stehen an der Stelle, an der sie mit ihm gesprochen hatte.

[117] „Entweder er oder sie, er oder sie,“ murmelte sie.

Dann trat sie an ein Fenster, öffnete es hastig und sah hinaus in den Park.

Sie fuhr zusammen, der Atem stockte ihr. Nein, sie hatte sich nicht geirrt, dort über dem dunklen Waldstreifen am östlichen Horizont, sein weißes Licht über die Erde gießend, so daß sie wie mit leichtem Schnee bedeckt flimmerte, stand der Vollmond.

*      *      *

Das Souper fiel glänzend aus; die Tafelmusik war entzückend; die Weine und Speisen vorzüglich, die Damen alle bei Schönheit, die jungen wie die alten.

Und dennoch lag’s wie ein Druck auf der Gesellschaft.

Später sagte alle, es sei ihnen zu Mute gewesen, als laure etwas Unsichtbares um den Tisch herum.

Die Braut überstrahlte alle Anwesenden, selbst die junge Baronin Forstheim, die so schön war, daß man sie trotz der Neuheit ihres Adels aufgefordert hatte, in Wien bei einem Karussell mitzureiten, zu dem, obzwar es eine Wohlthätigkeitsveranstaltung war, nur Prinzessinnen und Komtessen vom reinsten Adel geladen wurden.

Gina trug ein bauschiges, duftiges, bis zum [118] Hals schließendes Kleid – sie entblößte ihre Schultern nie – und reichen Schmuck von Diamanten und Perlen, dazu ihre brennenden Lippen und glühenden Augen. Es machte den Eindruck, als ob eine Flamme aus einer Hülle von Eis und Schnee herauslodere.

Auf dem Kopf trug sie einen jener phantastischen Kränze, mit denen sie sich zu schmücken liebte, und den sie diesmal aus buntem Herbstlaub und weißen Rosen zusammengeflochten hatte. Sie bot ein eigentümlich fesselndes Bild, dennoch merkten alle Anwesenden, daß etwas an ihr anders war als gewöhnlich.

Der Oberst von Stahl, welcher natürlich zur Tafel geladen worden war, wurde sich am raschesten darüber klar, was es war, das sie heute gegen sonst veränderte. Über den Tisch hinüber konnt er’s feststellen, daß sie sich stark geschminkt hatte. Und als er nach Tisch an ihr vorüberkam, rein zufällig, denn ihm war’s nicht darum zu thun, sich mit einem lügnerischen Glückwunsch an sie heranzudrängen, fiel ihm noch ein andrer Umstand unangenehm auf, daß sie nämlich von einem geradezu erstickenden Dunst der stärksten indischen Wohlgerüche eingehüllt war.

Und durch all diese Wohlgerüche drang etwas Entsetzliches, Schauerliches, ein ganz schwacher, aber deutlich wahrnehmbarer Leichengeruch.

[119] Nach der Tafel verfügten die Gäste sich in einen Saal, der nur bei feierlichen Gelegenheiten benutzt wurde.

Es war ein großer, länglicher Raum mit spiegelglattem Parkett, mit weißen, goldverzierten Vertäfelungen an den Wänden und einer irgend ein mythologisches Motiv darstellenden Freske an der Decke. Mitten aus der Freske hing ein herrlicher Kronleuchter herab, und viele Wandleuchter im selben Stil, mit geschliffenen Glastropfen geschmückt, hoben sich von der weißen Wandvertäfelung ab. Hohe, in der Mitte gestückelte Spiegel unterbrachen die Reihe der Fenster, unter jedem Spiegel stand ein Marmortisch, dessen Platte auf goldenem Gestell ruhte. An den andern Wänden standen schmale, geradlehnige Sofas und Lehnstühle. Tische, Spiegel und Sofas waren im strengsten Empirestil gehalten, und alle waren mit Chimären geschmückt, Chimären eigentümlicher Art. Sie hatten weibliche Köpfe und Brüste, kurze, wie zum Losfliegen aufgestellte Flügel und große, grausame Klauen, und sie trugen Krönlein auf dem Haupt. Die Chimäre mischte sich in ihnen mit der Sphinx.

In dem Lüster und den Wandleuchtern brannten Lichter.

Man hatte aus besonderer Pietät keine elektrischen Beleuchtungskörper in dem Gemach angebracht, [120] dessen großer und feierlicher Stil dadurch gestört worden wäre.

In einem der anstoßenden Räume spielten die Musikanten, welche auch die Tafel mit ihren bald munteren, bald elegischen Weisen begleitet hatten.

Man hatte ihnen aufgetragen, nicht zu viel Lärm zu machen. Sie spielten halblaut, aber mit bethörendem Rhythmus.

Die Gäste standen oder saßen in kleinen Gruppen beisammen und unterhielten sich, wie sie konnten. Aber es wehte eine unheimliche Luft im Schlosse an jenem Abend, niemand fand das rechte Wort.

Nur die Gräfin Theres Swoyschin hielt unermüdlich Vorträge darüber, wie sehr sie sich an dem großen Glück ihres Sohnes freue. Sie fragte alle Gäste, einen nach dem andern, ob sie nicht fänden, daß Gina prächtig aussähe, so daß ihre vergangene Krankheit ihr gar nicht mehr anzumerken sei. Die projektierte Hochzeitsreise an die Riviera sei ganz unnötig geworden, aber der Zdenko sei so verliebt, so schrecklich verliebt, infolgedessen so besorgt.

Auf diese Bemerkungen erhielt sie freilich recht ausweichende und meistens sehr kurze Antworten. Über Zdenkos Gefühle konnte sich niemand einen Vers machen, und was das gute Aussehen Ginas anbelangte, so vermochte ihr heute kein Mensch beizupflichten.

[121] Gina erbleichte sichtlich unter der dicken Schminke, rang mühsam nach Atem.

Immer müder lehnte sie in der Ecke eines der mit blaßgelbem Brokat überzogenen Empiresofas. Es fiel kaum eine Silbe von ihren Lippen.

„Gina, solltest du dich nicht niederlegen?“ fragte die Gräfin Zell. „Wär’s nicht besser, du schontest deine Kräfte für morgen?“

Aber Gina schüttelte nur den Kopf. „Gina, mein Liebling, vielleicht doch,“ flötete die Gräfin Swoyschin.

„Ach, uns folgt sie nicht, ich weiß, wie eigensinnig sie ist,“ erklärte nicht ohne Irritation die Gräfin Zell, der offenbar gar nicht darum zu thun war, daß die Hochzeit durch ein erneuertes Unwohlsein der Braut verschoben werden sollte. Sie hatte die beiden Ginoris wirklich lange genug genossen.

„Emma,“ wendete sie sich an diese, „trachte doch, Gina zu veranlassen, sich zurückzuziehen, sie hält sich kaum aufrecht.“

Aber Emma sah nicht nach Gina hin. „Sie soll machen, was sie will,“ erklärte sie. Sie war bleich wie der Tod, aber sie rührte sich nicht.

Die Musik spielte und spielte. Den Komtessen zuckte es in den kleinen Füßen. Es waren dieselben Komtessen, die damals beisammen gewesen waren in jener Mainacht, in der Gina Ginori Zdenko Swoyschin um seinen Verstand betrogen hatte. Und [122] dieselben Musikanten wie damals spielten dieselben Walzer.

Es war viel Champagner getrunken worden bei Tisch, alles befand sich in erhöhter Gemütsstimmung, die sich jedoch nicht in Lustigkeit, sondern in einer aufgeregten, von dem unheimlichen Druck Befreiung suchenden Unruhe äußerte.

Es war beschlossen worden, daß nicht getanzt werden sollte, wegen der Braut. Aber plötzlich umfaßten zwei Mädchen einander und begannen über das glatte Parkett hinzuwirbeln. Dann, nachdem sie einmal den Saal umkreist hatten, blieben sie vor Gina stehen, die noch immer, sich langsam fächelnd, neben ihrer zukünftigen Schwiegermutter saß.

„Ich bitte dich, Gina, sei nicht böse,“ riefen sie, „es ist abscheulich, zu tanzen, wenn du nicht tanzen kannst, aber wir hatten so eine Aufregung in den Füßen.“

„Gut, wenn die Aufregung nur in den Füßen war,“ erwiderte Gina mit einem Spott, durch den es wie leiser Neid hindurchklang, „nehmt keine Rücksicht auf mich, hüpft, soviel ihr wollt,“ und sie wendete gleichgültig den Kopf von den jungen Mädchen ab und sah nach der Thür, durch die er kommen mußte.

Die Komtessen ließen sich’s nicht zweimal sagen. Bald hatte alle Anwesenden eine Art Tanzwut erfaßt, [123] alles tanzte, die ältesten Herren, die ältesten Damen. Damen mit weißen Haaren fingen an zu tanzen, die Gräfin Zell tanzte.

Gina Ginori saß noch immer unbeweglich in einer Ecke des mit gelbem Brokat überzogenen Sofas und blickte nach der Thür, durch die er kommen mußte. Wie lange er wegblieb! Es schickte sich gar nicht für einen Bräutigam, sich so lange im Rauchzimmer aufzuhalten. Die alten Damen begannen schon darüber zu tuscheln.

Endlich kam er, einer der letzten von allen. Der Oberst sah ihm sofort an, daß er ungewöhnlich verstört war, vielleicht hatte er etwas von dem häßlichen Gerede, das seine Heirat heraufbeschwor, vernommen. Der Oberst selbst hatte nach der Richtung hin Dinge gehört, die ihn aus dem Rauchzimmer vertrieben hatten. Gina war nicht beliebt, und man deutete Zdenko seine überstürzte Trauung sehr übel.

Zwei Herren hatten im Rauchzimmer miteinander gewettet, ob die Braut veranlaßt worden war, vor der Trauung ein Testament zu machen, oder nicht. Sollte ihm das zu Ohren gekommen sein?

Vielleicht!

Er ging an Gina vorüber, ohne sich bei ihr aufzuhalten. Die Gräfin Theres, welche bei der Braut sitzen geblieben war, suchte ihn durch Zeichen herbeizulocken, vergeblich.

[124] Bärenburg, dessen unverwüstlicher Humor auch diesmal standhielt, hatte indessen eine Art Kotillon improvisiert.

Konrad Swoyschin, Zdenkos älterer Bruder, der, blaß, blond, lang und mager, vornehm, aber ohne Liebenswürdigkeit, mit seinem Monocle, seinem Diener und seinem Mops aus Abbazia nur für vierundzwanzig Stunden heraufgekommen war, um bei der bevorstehenden Hochzeit den kranken Vater zu vertreten, trat an Gina heran und reichte ihr ein Kotillonbouquet.

Sie dankte, aber an dem blonden, schattenhaften Konrad vorüber blickte sie nach ihrem Bräutigam.

Es fing an, spät zu werden. Man hatte erst um halb Zehn angefangen zu soupieren, jetzt ging’s auf Mitternacht.

„Ginerl, du thätest wirklich besser, dich zurückzuziehen,“ drägte die Gräfin Theres. „Komm, ich geh’ mit dir hinauf. Emma, red ihr doch zu!“

Aber Emma sprach kein Wort. Sie war noch bleicher geworden, aber sie rührte sich nicht, machte keine Miene, sich der Schwester zu nähern.

Zdenko hatte sich indessen in den Reigen gemischt. Er tanzte, und zwar tanzte er mit seiner Cousine Annie.

Anfangs tanzten die beiden miteinander, wie alle Leute tanzen, nicht mit mehr, nicht mit weniger [125] Feuer, als junge Österreicher bei einem Walzer an den Tag legen. Nach einer Weile erwärmten sie sich. Der Zwang, den sie sich so lange auferlegt hatten, schmolz, sie lebten nur noch in dem Augenblick; Zukunft, Vergangenheit gab es für sie nicht mehr. Das war kein tanzendes Paar, das waren zwei Liebende, die sich in seliger Freude aneinander schmiegten.

Dieser Walzer war von beiden Seiten ein Waffenstillstand mit der Verzweiflung, und es war eine öffentliche Beichte.

Gina Ginori hatte sich erhoben, den starren Blick auf das tanzende Paar gerichtet stand sie mühsam atmend da.

Wie von ihrem Blick gelähmt blieben die beiden stehen.

Was nun geschah, wie sie’s von ihm erzwang: im nächsten Augenblick war’s Gina Ginori, die in Zdenkos Armen über das Parkett flog.

*      *      *

Sie tanzte mit wundersamer Anmut, die Augen in ekstatischer Müdigkeit geschlossen und mit einem schrecklichen, gierigen Lächeln um den leicht geöffneten Mund. Er war totenbleich, der Angstschweiß stand ihm auf der Stirn.

Der Vollmond schien durch die Fenster, die weder [126] mit Läden noch mit Rollvorhängen versehen waren. Die Turmuhr fing an zu schlagen, eins, zwei, drei …

Plötzlich war’s, als regten alle die goldenen Chimären im Saal ihre kurzen Flügel und reckten die Klauen aus.

Vier, fünf, sechs … Mitternacht!

Sie tanzten noch immer, er trug sie mehr, als er sie hielt, sie bewegte die Füße kaum … bewegte sie nicht mehr! …

„Um Gottes willen, Zdenko!“

„Swoyschin!“

Er raste weiter, wie vom bösen Geist gejagt. Endlich fiel man ihm in den Arm.

Er hatte es nicht gemerkt, daß er mit einer Leiche getanzt hatte.

*      *      *

Sie war tot. Am Tage vor der Erfüllung ihres heißesten Wunsches war sie gestorben.

Alle waren überzeugt von ihrem Tode, nur Zdenko Swoyschin wollte nicht an diesen Tod glauben. Er behauptete eigensinnig, daß Gina einfach von ihren kataleptischen Zuständen befallen worden war, und widersetzte sich der Beerdigung der Leiche.

Vier Tage und vier Nächte lag sie aufgebahrt in dem großen Saal. In ihrem weißen Brautkleid lag sie da, den Myrtenkranz auf dem Kopfe, den Schleier [127] über dem Gesicht und in den gefalteten Händen ein Myrtenzweiglein neben dem schwarzen Kruzifix.

Rings um den schwarzsamtenen, mit silbernen Beschlägen geschmückten Sarg ein Wald von Blumen und grünen Pflanzen und eine Palissade von brennenden Wachskerzen in hohen und schweren alten Leuchtern. Und ringsum alles schwarz, die Wände, der Fußboden, der Plafond.

Die Totenflecke bedeckten ihr Gesicht, alles drängte, die Leiche zu bestatten, nur Swoyschin wehrte es. Endlich, als der Arzt erklärte, daß mit der Beerdigung nicht länger gewartet werden könne, machte ihm Swoyschin ein fürchterliches Geständnis.

Die Braut hatte ihm einmal den Eid abgenommen, daß, falls sie ihm vorstürbe, er ihr einen Dolch ins Herz stoßen solle, ehe man sie in die Erde versenke. Sie fürchtete sich, scheintot begraben zu werden.

Der Arzt und der Oberst hielten miteinander ein Konsilium. Ein Eid blieb ein Eid, selbst wenn er einem Ungeheuer zugeschworen worden war.

So wurde denn beschlossen, daß Swoyschin in Gegenwart des Arztes, des Obersten und Emma Ginoris seinen der Verstorbenen gegebenen Schwur erfüllen solle.

Blaß und starr, den Dolch in der Hand, schritt er durch den schwarzen Saal auf die Lichtinsel zu, wo der Sarg, in Weihrauchwolken gehüllt, zwischen [128] hohen Kerzen auf einem von grünen Pflanzen verdeckten Gestell ruhte.

Der Oberst von Stahl und der Arzt standen zu Häupten des Sarges, Emma Ginori kniete zu dessen Füßen. Der Arzt enthüllte die linke Brust der Toten und bezeichnete Swoyschin genau die Stelle, wo sich das Herz befand.

Mit wahnsinniger Überwindung stach Swoyschin los … die Leiche schlug die Augen auf, nur einen Moment heftete sie dieselben auf den Bräutigam, dann – dann senkten sich die blauen Lider von neuem, die Leiche erstarrte.

Emma Ginori hatte sich aufgerichtet, jetzt fiel sie mit einem dumpfen Schlag wie leblos auf den schwarzen Fußboden hin.

Swoyschin war wie von Sinnen, und die Versicherung des Arztes, daß es sich hier um ein einfaches, lebloses Spiel der Muskeln gehandelt habe, vermochte nicht, ihn zu beruhigen.

Noch denselben Tag wurde Gina in die Erde gesenkt. Sechs Männer vom Forstpersonal trugen sie auf den kleinen Kirchhof zu Füßen des Parks. Sie hatte einmal den Wunsch geäußert, dort begraben zu werden.

Der zugleich dumpfe und schrille Klang der Posaunen, die den Trauermarsch vor dem kleinen Leichenzug herbliesen, rang sich durch einen feuchten und zugleich [129] kalten Nebel. Die Erde zerging im Schlamm, auf den Pfützen schwammen welke Blätter, über die Felder hin zogen lange, dunkle Züge schwerfällig fliegender Krähen, und aus dem schiefergrauen Himmel fielen dicke, weiche Schneeflocken, die sich bei Berührung der Erde in Schmutz verwandelten.

*      *      *

Es stellte sich nun heraus, daß Gina in der That ein Testament hinterlassen hatte, in welchem sie Zdenko ihr ganzes großes Vermögen vermachte, aber es braucht wohl nicht erst gesagt zu werden, daß Zdenko diese Erbschaft schroff und unerbittlich von sich wies, wodurch er seiner Mutter allerdings eine große Enttäuschung bereitete.

Die ganze Gesellschaft, welche sich jenen Sommer so oft in Zdibitz versammelt hatte, stob auseinander. Die Zells verließen das Schloß, von Emma Ginori erfuhr man, daß sie sich in ein Karmeliterkloster geflüchtet habe.

Bärenburg sagte dem Soldatenstand Valet. Er trat aus, um eines der Güter seines Vaters zu übernehmen.

Bei Zdenko Swoyschin war ohnehin an ein Weiterdienen gar nicht zu denken, seine Nerven befanden sich in einem solchen Zustand, daß er in ein Sanatorium gebracht werden mußte. Der Oberst [130] wurde zum Brigadier ernannt und sah sich schweren Herzens veranlaßt, sein geliebtes Regiment verlassen und einen neuen Wirkungskreis in Preßburg antreten zu müssen.

Nun, die Zeit wirkt Wunder. Baron Stahl hatte sein geliebtes Regiment entbehren gelernt, hatte sich in die glänzenden und gastfreundlichen ungarischen Verhältnisse eingelebt, aber einen wunden Punkt gab’s für ihn in seiner Existenz, daß nämlich der ihm ehemals so freundschaftlich zugethane Adjutant nichts von sich hören ließ.

Endlich eines Tages erhielt er die Todesanzeige des alten Grafen Swoyschin, von Zdenkos eigener Hand adressiert.

Der Oberst setzte sich an seinen Schreibtisch und schrieb an seinen ehemaligen Liebling einen warmgefühlten Kondolenzbrief. Zur Antwort erhielt er ein Telegramm mit den Worten.

„Herzlichen Dank für freundliche Teilnahme, Brief folgt.
 Swoyschin.“

Aber der angekündigte Brief kam nie. Ein paar Tage lang erwartete der General mit Aufregung die Post, dann grämte er sich ein wenig, dann tröstete er sich mit dem Gedanken: „Armer Teufel, ich erinnere ihn an zu traurige Dinge, es mußte ihn aufregen, an mich zu schreiben,“ und endlich vergaß er es.

[131] Kurz darauf quittierte er den Dienst. Am politischen Horizont zeigte sich kein Wölkchen, Krieg war keiner in Sicht. Er war es müde, Regimenter an sich vorüber defilieren zu lassen im Frieden und sein Parere über fiktive Siege auf Manöverfeldern abzugeben.

Er verließ Europa, um einem alten, durch seine Lebensverhältnisse jahrelang zurückgehaltenen Wandertrieb Rechnung zu tragen und dem Jagdsport im großen, gefährlichen Stil mit halsbrecherischer Begeisterung zu frönen.

In Indien und Ceylon hielt er sich am längsten auf, schiffte dann hinüber nach Amerika, machte interessante Ausflüge in den Cordilleren, hierauf wieder nach Europa, um in Rußland Bären zu schießen. Der eintönige Zauber des russischen Landlebens, bei dem sich primitiv-naive Zustände mit orientalischem Luxus vermischen, übte einen großen Reiz auf ihn aus. Er verbummelte den ganzen Sommer bei Freunden, die in der Nähe von Poltava begütert waren.

Endlich, nach dreijähriger Abwesenheit, kehrte er ins Vaterland zurück, und zwar mit der Absicht, eine seiner Schwestern in Südböhmen zu besuchen. Die Schwester verheiratete ihre jüngste Tochter, und er war als Trauzeuge geladen.

Er war in einer Tour von Petersburg gefahren [132] und fing an, sich auf sein Reiseziel zu freuen. Die Geschichte war doch verflucht langweilig, und an landschaftlichen Schönheiten war auch nicht viel Zerstreuung zu holen, wenn man von Eydtkuhnen quer durch Preußen und die Mark Brandenburg fuhr.

In Tetschen, während er auf seinen Diener wartete, dem er die Kofferschlüssel wegen der Versteuerung übergeben hatte, fing er an, unruhig zu werden. Er schleppte unter andern Gepäckstücken ein weißes Bärenfäll, einen ausgestopften Adler und zwei Tigerhäute mit, und begann Ängsten zu haben, daß der Steuerbeamte ihm diese Raritäten beanstanden könnte. Er stecke den Kopf zum Fenster hinaus, um sich nach dem Diener umzusehen. „Zahradka,“ schrie er, „was zum …“

Da erspähte er den Diener im eifrigen Zwiegespräch mit einem Herrn, den er an seinem Anzug, einer Lodenjacke und einer besonderen Art niedrigen Lodenhuts als einen österreichischen Gutsbesitzer erkannte.

Zahradka schwenkte triumphierend die Kofferschlüssel in der Luft: „Ich bitt’, is alles in Ordnung, Excellenz!“ Im selben Moment sah der Herr im Lodenrock sich um. Eine Minute später wurde die Thür des Coupés, in welchem Baron Stahl sich aufhielt, zurückgeschoben. „Ist’s erlaubt, Excellenz?“ fragte eine joviale Stimme.

[133] Etwas befremdet sah der General auf. Er blickte in ein hübsches, vergnügtes Gesicht mit einem kecken blonden Schnurrbart. Er erkannte weder das Gesicht noch den Schnurrbart. Das Gesicht war breit und rot geworden und der Schnurrbart sehr dick. Aber die lustig blinzelnden Augen erkannte er. „Bärenburg!“ rief er und streckte dem jungen Mann bewillkommnend die Hand hin.

Dann saßen sie einander gegenüber und riefen sich durch die dicken, blauen Rauchwolken, die sie vor sich hinbliesen, Fragen nach ihrem gegenseitigen Schicksal und nach alten Bekannten zu, und ehe fünf Minuten verstrichen waren, hatte der General bereits begonnen, sich im mitleidigsten Ton nach „dem armen Swoyschin“ zu erkundigen.

Bärenburg wedelte mit der Hand die Rauchwolken zwischen sich und seinem Gegenüber hinweg und blinzelte dem Freiherrn mit einem recht kuriosen Ausdruck ins Gesicht: „Er ist wirklich nicht so schrecklich zu bedauern, der arme Swoyschin.“ Bärenburg hob die Augen mit einem scheinheiligen Blick zum Himmel. „Er ist ein steinreicher Mann!“

„Woher denn?“

„Haben Sie denn alle Nachrichten im Auslande verdämmert?“ staunte Bärenburg. „Kurz nach dem Tode des Alten ist der Familienprozeß zu Gunsten der Radiner Swoyschins entschieden worden. Ein [134] halbes Jahr später ist Konrad – war übrigens ein lahmlocketer Schlingel, kein Schaden um ihn – im Duell gefallen; heute gehört Swoyschins Vermögen zu den ansehnlichsten, seine Herrschaften zählen zu den schönsten in Böhmen, seine Beamten schwärmen für ihn, rühmen seine Umsicht ebensosehr wie seine Humanität, wo er sich zeigt, ist er im Handumdrehen die beliebteste Persönlichkeit.“

„Nun ja, nun ja,“ entgegnete der General, „aber was nützt das alles, wenn einem solche Erinnerungen das Leben vergällen. Seine Nerven müssen ja total zerrüttet sein.“

Bärenburg schüttelte den Kopf. „Daß ich nicht wüßte,“ entgegnete er; „ah, Sie meinen wegen der traurigen Dinge, die er erlebt hat? Hm! Das Bewußtsein des von ihm angerichteten Unheils sollte ihn zu Boden drücken! Sollte allerdings; ich möchte mein Gewissen nicht mit so viel Gepäck beschweren. Aber, ich hab’s Ihnen ja schon immer gesagt, Zdenko legt ein wahres Genie an den Tag, wenn es gilt, mit einem unangenehmen Eindruck fertig zu werden. Noch obendrein ist er seit zehn Monaten verheiratet mit der reizendsten Frau in Böhmen und den umliegenden Ortschaften.“

„Verheiratet, mit wem?“ rief halb von seinem Sitz aufspringend der Feldmarschalllieutenant.

„Mit seiner Cousine Annie Binsky. Hat Glück, [135] der Mensch, auf Vermögen hat er nicht zu schauen brauchen, et pour le reste ist Annie wirklich die herzigste Frau, die ich kenn’!“

„Na, ich freu’ mich, ich freu’ mich von ganzem Herzen!“ rief der Freiherr, „denn wissen Sie, er war doch ein famoser Mensch, unser Swoyschin. Und die Annie paßt für ihn wie keine zweite. Seine alte Kunstfertigkeit wird er endgültig an den Nagel gehängt haben.“

„Sie meinen in Bezug auf das Herzenbrechen?“ fragte Bärenburg, und wieder wedelte er die Rauchwolke von seinem Gesicht hinweg und lächelte recht eigentümlich.

„Aber Bärenburg, Sie denken doch nicht … jetzt, wo er verheiratet ist,“ entrüstete sich der General.

„Er war ja immer passiv, er hat nie das Mindeste dafür gekonnt,“ erklärte Bärenburg mit perfider Betonung, „das wissen wir alle, er selber ist davon fest überzeugt. Hm! Aber trotz alledem kann ich Ihnen versichern, daß, wenn ich verheiratet wäre, was ich Gott sei Dank nicht bin, ich nicht wünschen würde, viel bei Swoyschins zu verkehren.“

Das Gespräch fing an, Baron Stahl zu verdrießen, ein nicht ganz gemütliches Schweigen versiegelte beiden Männern die Lippen.

Der Feldmarschalllieutenant ließ, vielleicht um [136] ein andres Gesprächsthema zu suchen, die Blicke zum Wagenfenster hinausschweifen, und da bot sich ihm ein überraschendes und trauriges Bild.

Die Elbe war über ihre Ufer hinausgetreten, von Wiesen und Feldern zeigte sich keine Spur, die ganze Gegend hatte sich in einen See verwandelt, aus dem hie und da ein paar Baumwipfel, die Richtung einer Straße bezeichnend, hervorragten.

Jetzt erinnerte sich Baron Stahl, in den Zeitungen gelesen zu haben, daß der Herbst in Böhmen ein ungewöhnlich nasser und das Land letzterer Zeit von verheerenden Regengüssen heimgesucht worden war.

Die Überschwemmung mußte hier großen Schaden angerichtet haben und noch anrichten. Er legte die Zeitung, die er mittlerweile zur Hand genommen, nieder und suchte sich in der Gegend zurechtzufinden. Das viele ungewohnte Wasser verwirrte ihn.

Bald aber grüßten ihn bekannte Punkte, mehr und immer mehr. Er sah die zwei Türme der wunderthätigen Marienkirche zu Breznitz; dort zu Füßen der alten Fichtenwälder schimmerte ihm die sandige Fläche des alten Exerzierplatzes entgegen, der von der Überschwemmung verschont geblieben war.

Der früher für einen Augenblick aus dem Überschwemmungsterrain herausgetretene Eisenbahnzug schwamm jetzt geradezu auf dem Wasser, die blaue Flut umspülte die Räder.

[137] Mit einemmal … Aufregung … Hin- und Herreden des Zugspersonals … mitten auf der Strecke blieb der Zug stehen.

Die Passagiere steckten die Köpfe aus den Fenstern, fragten alle durcheinander, was es gäbe. Mehrere schrieen wie am Spieß.

Es war keine Auskunft zu erhalten. Einige versuchten die Thüren aufzureißen, unmöglich die Thüren waren versperrt. Sie wollten zum Fenster hinaus, ja wohin? Das Wasser reichte bis an die Trittbretter hinauf.

Bärenburg nahm die Sache sehr kühl. Er und sein ehemaliger Vorgesetzter warteten beide ab, machten ihrer inneren Ungeduld nur von Zeit zu Zeit durch einen kräftigen Fluch Luft. Die Meinungsverschiedenheiten über Swoyschin waren vergessen.

Endlich fand das Personal es an der Zeit, die geängstigten Reisenden zu beruhigen.

„Der Zug kann nicht weiter,“ hieß es, „die Elbe hat die Eisenbahnbrücke zerstört, es muß in den letzten Stunden geschehen sein, man bittet die Herrschaften, sich ein wenig zu gedulden, man hat bereits um Kähne geschickt, die Passagiere hinüberzusetzen.“

Und in Kähnen … erbärmlichen, wenig Vertrauen erweckenden Bauernkähnen, setzten die Reisenden hinüber. Dann galt es, zu Fuß zu gehen bis zur [138] nächsten Station durch versumpfte Äcker und Rübenfelder, in deren aufgeweichtem Boden man bis über die Knöchel versank.

Bärenburg machte schlechte Witze, der Feldmarschalllieutenant schimpfte, so erreichten sie endlich wohlgemut um anderthalb Stunden später die Station Zdibitz.

Es heimelte sie beide an, als sie plötzlich das ihnen so wohlbekannte Stationsgebäude vor ihren Blicken auftauchen sahen und nun den kleinen Restaurationssaal betraten, in dem sie so oft auf den Breznitzer Zug gewartet hatten.

Der Spiegel befand sich noch immer an derselben Stelle, und das Klavier stand in derselben Ecke und die Landkarte von Böhmen hing nach wie vor zwischen den Ölfarbendruckbildern der beiden Majestäten, und die lange, weiße Tafel in der Mitte des Saals war noch gerade so wie in den alten Zeiten mit Schüsseln voll böhmischer Kolatschen besetzt.

Ausgehungert und müde, wie es die beiden Männer waren, stürzten sie sich über die nationalen Leckerbissen. Sie schmeckten vorzüglich.

Dann erkundigten sie sich, wann die Bahnstrecke so weit in stand gesetzt sein würde, daß sie die Reise fortsetzen könnten. Daran war nun freilich gar nicht zu denken, vor dem nächsten Tag nicht einmal ein Notbehelf herzustellen.

[139] So fügten sich denn die beiden in ihr Schicksal mit so viel Gleichmut, als sie gerade bei der Hand hatten, ließen auf die unorthodox vorausverzehrten Kuchen noch ein paar kräftigere Speisen folgen und begaben sich dann gemeinschaftlich auf einen Spaziergang durch die Stadt, um in alten Reminiscenzen zu schwelgen.

Das arme Städtchen hatte entsetzlich durch die Verheerungen des Wassers gelitten. Wenn auch der obere, um die Bahnstation und Kirche erbaute Teil verschont geblieben war, so zeigten sich im Gegenteil die tiefer gelegenen Straßen gänzlich überschwemmt, so daß nur die Dächer der Häuser herausragten.

Wo der Feldmarschalllieutenant und Bärenburg auf der Straße hinhorchten, hörten sie Schauergeschichten. Vor allen Hütten saßen Menschen, Frauen, Männer und Kinder, die nicht hingehörten, und die offenbar eilig ausquartiert, irgendwo hatten untergebracht werden müssen. Die Stuben hatten sich als zu eng erwiesen für die massenhaft hineingestopften Menschen, und da der Tag warm und sonnig war, saßen die Überschwemmten draußen auf Stühlen und Bänken, auch auf der Erde, die Männer rauchend, die Weiber mit einer Flickarbeit oder mit ihren Kindern beschäftigt, alle mit dem zufriedenen Ausdruck von Leuten, die, eben erst von einer überstandenen Angst aufatmend, noch nicht Kräfte genug gesammelt [140] haben, um sich mit dem Gedanken an die Zukunft zu quälen.

Und überall zwischen den Leuten erblickten die beiden ehemaligen Kavalleristen Dragoner mit roten Hosen und roten, breiten, fröhlichen Gesichtern.

Es waren stramme Burschen[WS 1], der Feldmarschalllieutenant freute sich an ihnen und ärgerte sich dann plötzlich darüber, daß sie in ihm nicht sofort den ehemaligen Reiterobersten und Vater gerade dieses Regiments erkannten, daß sie ihn vorüberziehen ließen wie jeden andern in Zivil gekleideten Reisenden, ohne ihn weiter zu beachten, ohne die Hände an die rote Mütze zu legen. Er teilte seine Gefühle Bärenburg mit, und Bärenburg bekannte sich zu ganz parallel laufenden Schwächen.

Der stechende, aber gesunde Geruch eines reinlich gehaltenen Pferdestalls wehte ihnen aus einem schwarz und gelb angestrichenen Thor entgegen, von dem der eine Flügel offen stand. Es war das Thor des Stalls, in dem die Pferde des zweiten Zuges untergebracht waren.

Es riß sie ordentlich hinein, nur der Gedanke, daß sie ihren zudringlichen Besuch erst durch ein langes und breites würden erklären müssen, bewog sie, vorüberzugehen. Aber die glänzenden, gutgestriegelten Pferdekruppen tanzten dem Feldmarschalllieutenant noch lange vor den Augen.

[141] Plötzlich richtete Bärenburg den Blick auf das Schloß, das nach wie vor von dem Hügel, auf dem es erbaut worden war, recht überlegen auf das Städtchen heruntersah.

„Wie das aus dem Kamin raucht, aus zwei Kaminen,“ meinte er, „merkwürdig, es macht fast den Eindruck, als ob das Schloß bewohnt wäre. Ich muß fragen …“

„Unsinn! Sie glauben doch nicht, daß Swoyschin …“ fiel ihm der Feldmarschalllieutenant heftig ins Wort.

„Zdenko ist alles im stande,“ erklärte Bärenburg gelassen. „Ich sage Ihnen ja, wenn so etwas einmal vorüber ist, so ist es ein für allemal vorüber bei ihm. Er hat der höheren Gewissenhaftigkeit seinen Tribut gezahlt, er ist krank geworden, dann Schwamm darüber, es ist vorbei.“

„So etwas,“ Baron Stahl deutete mit dem Daumen über seine Schulter hinüber nach dem Schloß, „so etwas ist nie vorbei, man vergißt es momentan, aber dann kommt’s wieder.“

„Meinungsverschiedenheiten von zwei respektablen Gegnern, die sich hoffentlich darüber hinaus vertragen,“ lachte Bärenburg. Plötzlich vor Überraschung stehen bleibend, „Excellenz,“ rief er, „ich glaube, ich hab’ recht, wir treffen einen Bekannten.“

Nun war auch Baron Stahl zusammengezuckt. [142] Hoch, schlank, braun kam ein junger Mann auf ihn zu, der ihm beide Hände entgegenstreckte.

„Herr Oberst, das heißt, ich sollte eigentlich sagen Excellenz!“ Aufrichtige Freude schimmerte in seinen dunklen Augen.

Alles, was die Zeit und kleine Empfindlichkeiten zwischen sie gelegt hatten, versank vor beiden. Es dauerte eine ganze Weile, ehe Swoyschin Bärenburg gewahr wurde. Dann begrüßte er ihn ebenfalls mit großer, wenn auch nicht ganz so enthusiastischer Herzlichkeit.

Swoyschin forderte die beiden Herren auf, im Schloß bei ihm zu soupieren und zu übernachten. Er that’s nicht anders und schickte sofort einen Boten hinauf zur Schloßverwalterin, damit sie noch zwei Zimmer tüchtig ausheizen und auslüften lasse.

„Wohnst du eigentlich hier?“ erkundigte sich Bärenburg.

„Nein!“

„Also wie kommst du her?“

„Wenn mir die Elbe nicht nur einen Meierhof wegschwemmt, sondern das halbe Städtchen dazu, muß ich doch zuschauen, was sich für die armen Leute thun läßt,“ erwiderte Swoyschin.

„Ah, du hast dich aus höheren Humanitätsgründen herbegeben,“ meinte Bärenburg.

„Die Humanitätsgründe gehen bei uns Gutsbesitzern [143] immer Hand in Hand mit unsern Interessen,“ entgegnete Swoyschin. „Die Herrschaften, auf denen niemand wohnt, liegen ohnehin im argen, auf denen genießt die Bevölkerung immer nur die Nachteile und nichts von den ausgleichenden Lichtseiten des Systems, das ausgedehnten Länderbesitz in einer Hand vereinigt. Solche Herrschaften sind immer Stiefkinder; ich war entsetzt über das Elend, was ich heute vorfand, es wär’ wirklich eine Schande, da nicht ordentlich nach dem Rechten zu sehen. Vor allem muß man trachten, einer Typhusepidemie vorzubeugen.“

„Also willst du dich länger hier aufhalten?“ fragte Bärenburg.

„Vorläufig nicht. Ich werde ab und zu nachschauen kommen.“

„Annie ist nicht mit?“

„Annie! Ich bitte euch, in ihrem Zustand! Ich kann mir ohnehin die Sorgen nicht aus dem Kopf schlagen, obzwar sie kerngesund ist, tausendmal unberufen, und der Doktor mich auslacht.“

„Ah, ein freudiges Ereignis!“ schmunzelte der Feldmarschalllieutenant.

„Steht in allernächster Aussicht,“ erklärte der junge Ehemann, „und nicht wahr, Excellenz, wenn’s ein Bub’ ist, so übernehmen Sie die Patenschaft, wir rechnen auf Sie bei der Taufe.“

[144] „Wünschen Sie sich durchaus einen Buben, Swoyschin?“ fragte der Feldmarschalllieutenant.

„Mir gilt’s gleich,“ erklärte Zdenko, „einen Buben zum Erziehen, ein Mädel zum Verziehen, wie’s der liebe Gott bestimmt, aber freuen thu’ ich mich auf den kleinen Balg, fast wie meine Frau, und – das will etwas sagen. Gott behüt’s sie, sie wird eine herzige Mama sein.“

Also plaudernd schlenderten sie gemütlich die Hauptstraße des Ortes entlang. Swoyschin hatte noch bei seinem halb weggeschwemmten Meierhof zu thun, und die Herren begleiteten ihn.

Er plauderte in einem fort; er hatte sein gewinnendes, lebensfrisches Lächeln, seine warme Stimme wiedergefunden, er sprühte von Lebenslust.

Plötzlich, durch die helle Herbstluft klagten schaurige, langgezogene Töne, Trauerposaunen offenbar. Erst war’s nur ein dumpfes Jammern, dann hörte man deutlich einen Trauermarsch, denselben Trauermarsch, mit dem die Leiche Gina Ginoris zu ihrer letzten Ruhestätte geleitet worden war. Dazu Ministranten, die Räucherfässer schwangen, Ministranten mit Bannern und Kreuzen, an denen schwarze Florbänder flatterten, der Geistliche im Trauerornat, endlich, von sechs Burschen getragen, von Kränzen bedeckt, der Sarg. Mit mäßiger Neugierde blickten Stahl und Bärenburg dem Zuge nach. Als er vorüber war [145] und sie sich nach Swoyschin umsahen, merkten sie, daß dieser ganz grün geworden war und den Atem mühsam mit einer Art Widerwillen einzog.

„Was ist dir?“ fragte Bärenburg.

„Mir machen Leichen immer einen unangenehmen Eindruck,“ murmelte Swoyschin.

*      *      *

Der Abend war hereingebrochen, die drei Herren hatten ihre Quartiere im Schloß bezogen.

Das Zimmer des Feldmarschalllieutenants war gut gelüftet und ausgeheizt, die alten Möbel glänzten von frisch abgeriebener Politur, ein angenehmer Geruch von altem Holzwerk schwängerte die Luft, und ein altmodischer Strauß von bunten Herbstblumen stand auf dem Tisch. Man konnte sich schwer etwas Gemütlicheres ausdenken. Da er als verunglückter Reisender gepäcklos war, so hatte er nicht die Möglichkeit, sich für den Abend umzukleiden, aber immerhin drängten ihn seine Gewohnheiten dazu, sich ein wenig sauber zu machen vor dem Souper.

Er hatte um warmes Wasser ersucht.

Der Zimmerwärter, dem seine persönliche Bedienung anvertraut war, brachte es ihm.

Der Feldmarschalllieutenant nickte dankend; er hätte die Gesellschaft des alten Maresch weiterhin nicht ungern entbehrt, aber der alte Maresch hatte offenbar Lust, ihm dieselbe zu leisten.

[146] Zu einem einsamen Leben verurteilte Schloßwärter werden gewöhnlich sehr redselig, wenn sich ihnen einmal die Gelegenheit dazu bietet, und wenn sie sich ihnen nicht bietet, brechen sie sie vom Zaun.

„Brauchen Excellenz nocht etwas?“ fragte er, sich von einem seiner gichtbrüchigen Füße auf den andern wiegend.

„Nein, nein, es ist alles in bester Ordnung.“

Aber Maresch ging nicht. „’s ist auch ein schönes Zimmer,“ begann er von neuem.

„Ja, ein sehr schönes Zimmer,“ versicherte der alte Kavallerist.

„Nur die Aussicht ist unangenehm.“

„Wieso?“ fragte Stahl. „Die Aussicht ist reizend. Sie müssen sehr verwöhnt sein, wenn die Ihnen nicht gefällt. „[WS 2]Aber,“ fügte er neckend hinzu, „Sie ziehen wahrscheinlich die Gebirgslandschaft vor.“

„Excellenz sollten sich nicht lustig machen über einen armen Menschen,“ entgegnete empfindlich der Alte. „Die Aussicht ist unangenehm, weil sie auf den Kirchhof geht, alle Zimmer sehen auf den Kirchhof. Und wie der Kirchhof ausschaut nach den Regengüssen! Die Kreuze umgerissen, das Erdreich abgeschwemmt, an einigen Stellen die Särge zu Tage liegend, entsetzlich, und dazu die unheimlichen Zustände im Schloß!“

„Aber Maresch,“ ermahnte ihn Baron Stahl, [147] dem das Gefasel des Alten doch anfing ein gewisses Interesse abzugewinnen, „ein vernünftiger Mann wie Sie wird doch nicht im Ernst an Gespenster glauben.“

„Ich habe auch nicht daran geglaubt, eh ich den Dienst im Schloß hier antrat. Aber ich weiß, was ich weiß.“ Der Alte wiegte bedächtig das Haupt. „Excellenz mögen von mir denken, was Excellenz wollen. Es ist mir freilich lieber, das Excellenz etwas Gutes denken, aber endlich, wenn mich Excellenz für einen abergläubischen Narren halten mögen, muß ich’s auch hinnehmen, aber,“ fügte er leise hinzu, „es spukt im Schloß.“

„So!“ erwiderte Baron Stahl, indem er die ihn immer stärker beherrschende Neugier hinter einem überlegenen Lächeln zu bergen trachtete, „und hm! welcher Art sind denn diese Spukerscheinungen?“

„An gewissen Nächten im Herbst zeigen sich die Fenster des großen Saals plötzlich hell erleuchtet, und man hört leise Musik, und jedesmal kurz darauf stirbt jemand.“

„Nun, es sterben immer Leute auf der Welt,“ entgegnete der Baron.

„Ja, aber da stirbt immer nur eine besondere Sorte, von der der liebe Gott nicht zu viel auf der Welt herumlaufen läßt, immer irgend ein besonders glücklicher junger Ehemann, immer im ersten Jahr. Und da sagen die Leute in der Gegend …“

[148] „Nun, was sagen die Leute?“

„Sie sagen: Den hat sich die Gräfin Ginori geholt!“

*      *      *

Jetzt saßen die beiden Freunde beisammen, um einen kleinen, runden, freundlich gedeckten Tisch.

Das Souper war vorüber. Nur Weingläser und Flaschen standen noch auf dem blendend weißen Tafeltuch.

Die Schloßverwalterin hatte ihr Möglichstes gethan. Einer nach dem andern der drei Herren rühmte ihre kulinarischen Leistungen, der gutmütige Hausherr nicht am wenigsten.

Der Jäger und der Zimmerwärter, welche die Bedienung besorgt hatten, waren verschwunden. Die drei Freunde waren allein.

„Na, war ganz gemütlich!“ meinte Swoyschin.

„Urgemütlich,“ bestätigten seine Gäste.

Sie waren in ausgezeichneter Stimmung. Der Feldmarschalllieutenent hatte soeben mit seinen beiden jungen Freunden Bruderschaft getrunken, weshalb sie ihn von da ab „du Excellenz“ titulierten.

„Wenn ihr mir beide die Freude macht, noch vor Weihnachten zu den Hauptjagden nach Radin zu kommen,“ bemerkte jetzt Swoyschin, „so werden die Menüs etwas komplizierter sein, aber viel besser [149] wird’s uns auch nicht schmecken. Das große Ereignis wird ja hoffentlich längst vorüber und alles in Ordnung sein.

Es bleibt natürlich dabei, Excellenz, wenn’s ein Bub’ ist, so hebst du ihn aus der Taufe. Es thut mir heut noch leid, daß du bei meiner Hochzeit gefehlt hast. Als ich mich mit der Annie verlobt hatte, raffte ich mich endlich auf und schrieb dir, wie glücklich ich sei, und daß du bei meiner Trauung nicht fehlen dürftest. Es hat mich verstimmt, daß ich keine Antwort erhielt. Ich dachte, du habest mir mein langes Schweigen übelgenommen und wolltest nun Gleiches mit Gleichem vergelten.“

„Dummheiten!“ entgegnete ihm Baron Stahl warm. „Ich versichere dich, daß ich, wenn ich den Brief erhalten hätte, von den Cordilleren nach Hause zurückgeeilt wäre, deine Hochzeit mitzufeiern. Aber ich habe ihn nicht bekommen, was wahrscheinlich auf den unsteten Lebenswandel zurückzuführen ist, dessen ich mich die letzten Jahre schuldig gemacht habe. Ich bin auf der Landkarte herumgerutscht wie ein steckbrieflich Verfolgter. Da wird der Brief schließlich müde geworden sein, mir nachzulaufen. Schade, ich hätte für mein Leben gern die Gräfin Annie im Brautkranz gesehen.“

„Der hat ihr allerdings reizend gelassen,“ murmelte Swoyschin mit verträumten, feucht schimmernden [150] Augen. „Du mußt selbst zugestehen, Bärenburg, daß du selten eine hübschere Braut gesehen hast.“

„Ich beschwöre es!“ Und Bärenburg hob zwei Finger in die Höhe.

„Und auch Annie hat dich sehr bei unsrer Hochzeit vermißt,“ fuhr Swoyschin fort; „obzwar sie verhältnismäßig noch wenig mit dir beisammen war, hat sie dir doch ein sehr freundschaftliches Andenken bewahrt. Sie braucht nicht lang dazu, jemand schätzen zu lernen, die Annie, und wenn sie ihn einmal schätzt, dann bleibt’s dabei fürs Leben, durch dick und dünn. Sie kennt sich aus, die Kleine, sie kennt sich aus.“

„Das hat sie bewiesen,“ erklärte mit humoristischem Überzeugungsernst und einem Streifblick auf den Vetter Bärenburg.

„Spotte nur, du alter Possenreißer,“ replizierte Swoyschin lustig, „wir wollen’s der Welt noch beweisen, ob sie sich ausgekannt hat oder nicht.“

Wenn man ihn so sah in der Vollkraft seiner tapferen, lebensfröhlichen, energischen Männlichkeit, schien der Beweis nicht schwer zu führen.

Bärenburg lachte und meinte: „Ich wett’ lieber für als gegen. Denn wenn mein Glaube an deine unerschütterlichen Tugenden einigermaßen mit ‚wenn und aber‘ verklausuliert ist, so ist im Gegenteil mein Glaube an Annies guten Einfluß absolut unwandelbar und grenzenlos.“

[151] „Auf das Wohl der jungen Frau!“ rief der Feldmarschalllieutenant.

„Herzlichen Dank,“ entgegnete Swoyschin und hielt sein Glas hin. Mit einemmal wurde er aschfahl, das Glas fiel ihm aus der Hand und zerschellte in tausend Splitter. Er sprang auf. „Wer ist das?“ rief er, auf einen bestimmten Punkt hindeutend. „Fort! hinaus!“

Da plötzlich wurde es stockfinster, und durch die Finsternis antwortete das Echo in dem großen, kahlen Zimmer: „Fort! hinaus!“

Baron Stahl fühlte seine schwere, kalte Hand auf seinem Arm, die sich wie in Todesangst an ihn klammerte, die Hand Swoyschins.

Die Finsternis war dicht und drückend, nur ein schmaler Streifen Mondlicht zog sich, durch die geschlossenen Fensterläden dringend, über das Parkett.

Bärenburg war der erste, welcher sich zurechtfand. Er tastete nach der Kerze , welche den Freunden zum Anzünden ihrer Cigaretten gedient hatte und zugleich mit der elektrischen Beleuchtung ausgegangen war, und zündete sie mittels der Zündhölzer, die er bei sich hatte, an. Die Flamme malte eine kleinwinzige Lichtinsel in die Dunkelheit des großen Zimmers, aber wenigstens genügte das bißchen Helligkeit, die Stelle zu finden, wo die Schelle [152] angebracht war. Er ging darauf zu und läutete die Dienerschaft herbei.

„Was ist denn geschehen?“ fragte Swoyschin, der endlich seine Fassung gewonnen hatte, etwas ungeduldig den Zimmerwärter, der leichenblaß hereingestürzt war.

„Die elektrische Leitung ist ausgegangen,“ erwiderte der Alte, an allen Gliedern zitternd, „wie das zugegangen ist, weiß Gott, mit rechten Dingen nicht. Es ist nicht geheuer im Schloß.“

„Unsinn,“ murmelte Swoyschin.

„Die Leitung wird einfach unterbrochen worden sein, es wird mit der Überschwemmung zusammenhängen,“ sagte Bärenburg, der gar nichts davon verstand.

Der Zimmerwärter schüttelte den Kopf, der Jäger hinter ihm faltete flehend die Hände. „Wenn gräfliche Gnaden nur ein Einsehen haben wollten! Gräfliche Gnaden sollten nicht im Schloß übernachten.“

„Daß du auch so dumm bist, Martin, das wundert mich,“ erklärte Swoyschin scharf, „aber ich hab’s schon gesagt: du kannst im Stall schlafen, wenn du dich im Schloß fürchtest. Jetzt schaut, daß ihr Licht herbeischafft, Lampen, Kerzen, was ihr bei der Hand habt, und dann könnt ihr meinetwegen alle beide zum Teufel gehen.“

[153] In kurzer Zeit war der Salon wieder hell, die Stimmung irgendwie hergestellt.

„Und jetzt spielen wir eine Partie Tarock, um ums zu erholen,“ rief Swoyschin, an den Spieltisch herantretend, der schon vor dem Souper herausgerückt worden war; ein Spieltisch eigentümlicher Konstruktion, altmodisch und bequem, ganz mit grünem Tuch überzogen, in jeder seiner vier Ecken war ein Leuchter eingeschraubt.

Sie spielten eine Partie nach der andern, Swoyschin mit rasendem Glück.

War es Verstellung, die an Heldenmut grenzte, war es einfach die Elasticität einer im Grunde genommen leichtsinnigen Natur, nach einer halben Stunde merkte man ihm nichts mehr an. Als er zum Schluß noch einen „Pagat ultimo“ angesagt und mit Glanz gewonnen hatte, legte man die Karten nieder.

Gegen elf Uhr wurden noch ein paar einfache Erfrischungen gereicht. Der gute Bordeaux versetzte die Freunde in eine muntere Stimmung. Swoyschin machte einen durchaus vergnügten Eindruck.

Dann wurde noch mit großer Gewissenhaftigkeit abgerechnet. Man verabredete ein gemeinschaftliches Frühstück und trennte sich lustig, wie sich Menschen trennen, die sich auf den Morgen freuen.

*      *      *

[154] In sein Zimmer zurückgekehrt wurde Baron Stahl nachdenklich.

Keine eigentlich gruseligen Gefühle, eher eine Art besorgter Neugierde wandelte ihn an. „Werde ich heute nacht etwas Besonderes erleben?“ fragte er sich.

Er öffnete das Fenster, um den frischen Hauch der Herbstnacht hereinzulassen, und dabei warf er einen Blick auf die Landschaft.

Aus dem schwarzblauen Himmel strahlte der Vollmond, keine Wolke dort oben, aber über der Erde hinschleichend um die entblätterten Büsche des Parks silbrige, regenbogenfarbig geränderte oder durchschillerte Nebel. Auch an den Hügeln, die sich von der Parkmauer herabschrägten, schlichen sie dahin, über dem Kirchhof wogten sie zwischen umgerissenen Leichensteinen und Kreuzen, über den zerwühlten Gräbern und um die Trauerweiden und Lebensbäume herum.

Es war ein zauberisches, aber unheimliches Bild, Baron Stahl konnte seinen Blick nicht davon losreißen.

Endlich, mit einer Art Überwindung, machte er das Fenster zu und begann sich auszukleiden, den Fensterladen hatte er zu schließen unterlassen. Es war ihm stets unangenehm, das Licht auszusperren. „Ich will es fühlen, wenn der Morgen kommt,“ pflegte er zu sagen.

[155] Eben im Begriff, sich niederzulegen, hörte er leises Klopfen an seiner Thür.

„Wer ist’s?“ fragte er.

„Ich bin’s,“ antwortete flüsternd die Stimme Swoyschins. „Bist du noch wach?“

„Ja.“

„Darf ich hinein?“

„Komm nur.“

Die Thür öffnete sich, Swoyschin trat ein. Ein verlegenes Lächeln stand auf seinen Lippen.

„Verzeih, daß ich dich störe, aber es ist zu dumm. Sie haben mir das Zimmer eingeräumt, in dem die Ginori gewohnt hat, ich wußte selbst nicht, daß es das war, jetzt reim’ ich mir’s zusammen, der unausstehliche Leichengeruch, den sie immer an sich hatte, ist an den Wänden hängen geblieben. Von dir kann ich sicher sein, daß du mich nicht verratst, und auslachen wirst du mich auch nicht. Ich möcht’ mich auf den Diwan ausstrecken bei dir, früh kriech’ ich wieder in das verdammte Loch zurück. Es braucht’s niemand zu wissen außer dir, daß … daß mir’s schließlich – na, die Lügerei nützt ja doch nichts – sehr unangenehm ist, hier zu übernachten.“

„Mich wundert’s nicht, ich bin froh, daß du zu mir gekommen bist,“ erklärte der Feldmarschalllieutenant. „Mach dir’s bequem.“ Der alte Herr nahm ein Kissen aus seinem Bett und eine Decke und richtete [156] auf dem Diwan ein möglichst bequemes Lager her für seinen Gast.

Diesr schien vorläufig nicht daran zu denken, sich niederzulegen. Er hatte sich in einen Lehnstuhl gesetzt, die gefalteten Hände zwischen den Knieen, den Oberkörper vorgebeugt starrte er auf den Fußboden.

„Ich kann dir nicht sagen, wie ich’s bereu’, daß ich dieses verfluchte Schloß nicht längst hab’ einreißen lassen,“ begann er nach einer Weile. „Ich hätte bei einem meiner Beamten übernachten können, während jetzt, da der Kasten nun einmal dasteht, muß ich hier wohnen. Ich kann’s den Leuten im Ort doch nicht so deutlich zeigen, daß ich entweder ein Narr oder ein abergläubischer Einfaltspinsel bin. Ja, es ist mir damisch unangenehm, aber man darf nicht daran denken.“

„Ich bedaure dich von ganzem Herzen,“ sagte Baron Stahl mitleidig, „aber die Nacht wird bald vorüber sein, und morgen wirst du leicht einen anständigen und stichhaltigen Vorwand finden für deine Abreise.“

Er legte dem jungen Mann die Hand auf die Schulter. Er hatte so eine Idee, als ob eine warme, menschlich lebendige Berührung am ehesten danach angethan sei, die kalte Gespensterfurcht zu bannen.

Die beruhigende Wirkung blieb nicht aus. Swoyschins Stimme klang bedeutend normaler, da er nach einer Pause von neuem anhub: „Was so ein paar Stunden aus einem Menschen machen können! Es [157] ging alles ganz gut bis zu dem Moment nach dem Souper. Weißt du, warum mir das Glas aus der Hand gefallen ist?“

„Nein.“

„Die schwarze Gestalt ist mir erschienen. Du weißt, dieselbe, die ich dir gezeigt hab’ damals auf dem Eisplatz, wie die arme Doktorin ertrunken ist.“

„Überreizte Nerven, weiter nichts,“ erklärte der alte Soldat. „Du hast dir doch große Gewalt anthun müssen, da rächt sich die Natur irgendwie.“

„’s wird wohl so sein,“ meinte Zdenko, „’s geht wieder vorüber. Ach, ich fang’ an, sehr schläfrig zu werden, die Augen fallen mir zu.“ Er streifte seinen Rock ab; ehe er sich niederlegte, zog er ein kleines Etui heraus, öffnete es und reichte es dem Freiherrn. „Du erkennst es?“ fragte er, „es ist dasselbe, nur das Glas ist neu.“

Das reizende Bild Annies lachte dem Feldmarschalllieutenant aus dem Etui entgegen.

„Mein Schatz,“ murmelte Swoyschin, küßte das Bildchen und stellte es auf den Tisch neben dem Diwan, auf den er sich halb angekleidet ausstreckte.

„Bin recht froh, daß du mich aufgenommen hast, gute Nacht.“

Das letzte Wort war kaum von seinen Lippen gefallen, so schlief er bereits fest.

Der Feldmarschalllieutenant breitete die seinem [158] eignen Bett entnommene Decke über ihn. Er riegelte jetzt doch den Fensterladen zu, um das unheimliche Mondlicht auszusperren, und ließ eine brennende Kerze auf dem Tisch inmitten des Zimmers stehen. Dann streckte er sich auf sein Lager aus.

Auch er schlief bald ein, bald und fest.

Mit einemmal war’s ihm mitten im Traum, als höre er ferne Musik. Musik … eine sonderbare Musik. Etwas Undeutliches, Unbeschreibliches, eine Melodie, deren Umrisse er nicht finden konnte, so fern und verschwommen klang sie herüber, etwas, das an Äolsharfen und die Stimmen des Windes erinnerte. Er horchte atemlos, jetzt hörte er deutlich den Rhythmus eines Walzers.

Immer noch im Traum sah er sich um, wo das alles herkam, und blickte gerade auf den Kirchhof hinunter. Und dort zwischen den Leichensteinen tanzten bleiche Mädchen, in regenbogenfarbige Dünste eingehüllt.

Da, aus einem der Gräber erhob sich etwas Schmales, Schwarzes, eine schlanke Gestalt mit einer tief in das Gesicht gezogenen Kapuze, unter der man ein Paar glühende Augen grausam schimmern sah.

Plötzlich warf sie die dunkle Hülle ab, wie ein Schmetterling aus der Puppe schlüpft, und stand da im Brautkleid, Schleier und Myrtenkranz auf dem Kopf.

Sie warf übermütig die Arme in die Luft. Und es war etwas Schreckliches in ihrem Gesicht, der sieghafte [159] Hohn eines Totenkopfes. Dann nahm sie den zurückgeworfenen Schleier unterm Kinn zusammen, löste sich von den tanzenden Mädchen und schritt geradeaus auf das Schloß.

Baron Stahl erwachte. Was war das, es klang wie das Flattern eines Vogels, der durch eine Fensterscheibe dringen will.

Wer konnte das sein? Er wollte nachsehen.

Da plötzlich hörte er noch etwas andres, etwas unbeschreiblich Grausiges, leises, kicherndes, höhnendes, sieghaftes Lachen. Es klang, als ob Eisstücke aneinander klirrten.

Plötzlich ein gellender, zischender Windstoß, der Fensterladen sprang auf, die Kerze verlöschte.

Der Feldmarschalllieutenant hatte das Gefühl, als drücke ihn eine eiskalte Last auf den Kopf … dann wußte er von nichts mehr.

Als er zu sich kam, war es heller Tag, und die Stimme Bärenburgs rief aus dem Korridor: „Excellenz, verzeih, es ist spät, ich bin besorgt, weißt du nichts von Zdenko?“

Der Feldmarschalllieutenant sprang auf, rieb sich die Augen. „Still, mach keinen solchen Lärm, komm herein.“

Er fuhr in seine Kleider und wollte Bärenburg einlassen. Zu seinem Schrecken stand der Zimmerwärter neben ihm.

[160] „Wir können den Herrn Grafen nicht finden,“ rief er, „in seinem Zimmer ist er nicht!“

„Er ist bei mir,“ flüsterte Stahl. Und hastig erklärte er Bärenburg die Situation.

Inzwischen hatte sich der Zimmerwärter seinem schlafenden Herrn genähert.

Plötzlich zuckte er zusammen: „Um Gottes willen!“ schrie er.

„Schweigen Sie, wecken Sie ihn nicht,“ gebot Baron Stahl.

„Den weckt kein Mensch mehr,“ sagte der Alte dumpf und schlug ein Kreuz.

Zu Tode erschrocken traten die beiden Freunde auf den Diwan zu.

Dort lag Swoyschin, das Gesicht in einem Ausdruck qualvollsten Entsetzens verzerrt, bleich, regungslos.

Baron Stahl legte ihm die Hand aufs Herz, legte das Ohr an seinen Mund. Kein Pulsschlag mehr, kein Hauch, kalt und starr, eine Leiche.

Neben ihm in Trümmern auf dem Fußboden das Bildchen seiner jungen Frauen.

Der Ratlosigkeit der beiden Männer nicht achtend zündete der alte Diener die Kerze an, stellte sie zu Häupten des Toten, faltete die Hände leise und flüsterte: „Und da wollen sie behaupten, daß von drüben niemand wiederkommt.“


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Bursche
  2. Das Anführungszeichen fehlt in der Vorlage