Vom alten Richter

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Autor: Ferdinand Avenarius
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Titel: Vom alten Richter
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aus: Die Gartenlaube, Heft 38, S. 612–616
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Kurzbeschreibung:
siehe auch Ludwig Richter
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Vom alten Richter.

Von Ferdinand Avenarius.

Am 28. September dieses Jahres feiert Ludwig Richter, der Volksschilderer mit dem Bleistift, seinen achtzigsten Geburtstag.

Ich kann mir’s nicht denken, daß irgend Einer, zu dem Richter’s Kunst jemals vernehmlich gesprochen, den Tag ohne Antheil vorüberziehen läßt. Man wird ihm Liebe und Ehre in reichem Maße erweisen – vielleicht sogar mehr, als es dem alten Herrn in seiner bescheidenen Schlichtheit lieb ist. Wir aber, denen es nicht vergönnt ist, ihn an seinem Ehrentage von Angesicht zu Angesicht zu sehen, wollen uns dadurch die Geburtstagsfreude nicht verderben lassen – wir wollen, wenn auch nicht mit seiner Person, doch mit dem Geist des Meisters ein wenig verkehren, mit seinem Geist, wie er uns aus seiner Kunst warm gleich dem Schlag seines Herzens entgegengrüßt.

Freilich: nicht der Keim allein macht den Baum – Regen und Sonnenschein und der Boden, in dem das Pflänzchen wurzelt, haben auch dabei zu thun, wenn sich’s zu Blatt und Blüthe gerade so und nicht anders gestaltet. Auch manches Blättlein der Richter’schen Kunst werden wir erst recht verstehen, beachten wir ein wenig, wo und wie es sich nährte, und welches die Sonne war, die ihm leuchtete. Und darum wollen wir uns zunächst an dies und das aus dem Lebensgange unseres Künstlers erinnern.

Am 28. September 1803 ward Adrian Ludwig Richter zu Dresden geboren.

So fallen die Jahre der ersten geistigen Regungen des Knaben in jene Zeit, in der die bildende Kunst fast überall im deutschen Vaterlande schier trostlos darniederlag. Selbst jenes Streben nach der Antike, das die altgewordene Rococokunst in höhere Sphären emporheben sollte, war wieder ermattet: im Grunde hatte sich wohl selbst ihr Ikarus, der gefeierte Raphael Mengs, nicht mit dem angeborenen Fittich des Genius zu seinem Fluge emporgehoben, sondern mit dem gutgemachten Wachsflügel, den auch die ehrlichste Arbeit im Schweiße des Angesichts eben doch nur äußerlich ankleben konnte. Nun kroch die Kunst wieder am Boden umher, besann sich da und dort auf bessere Zeiten und reckte sich ein wenig aufwärts, ward aber bald wieder schläfrig, und fand’s am Ende bequemer, auf der Erde zu bleiben und sich redlich zu nähren.

Freilich, auch das war schon schwer genug. Die schwere Noth, die in Gestalt von Napoleon’s Heeren über Deutschlands Gaue gezogen war, hatte im Volke – von den materiellen Kräften ganz zu schweigen – Lust und Liebe zur Pflege der Kunst niedergedrückt. Dort aber, wo ihr der heimische Boden in der Volksliebe fehlt, wo sie wie eine exotische Blume nur hier und da von einem Liebhaber im Topfe gezogen wird, wird die Kunst statt einer kraftvollen Pflanze ein bekünsteltes Ziergewächs. Nur die Kleinkunst, die mit der Literatur den Weg gemeinsam finden konnte, gedieh gesund.

Dazu kam das Elend der damaligen Akademien, die als eine Art von Kunstbureaukratie von allen Ueberbleibseln der guten alten Zeit vielleicht den dicksten Zopf im Nacken hatten. Da wurde Alles fein dressirt, in spanische Stiefel eingeschnürt – manch leuchtender Name strahlt am Kunsthimmel, der wegen Eigenwilligkeit seines Trägers in jener Zeit aus den Akademikerlisten gestrichen wurde; wer aber kennt heute die „guten Schüler“ von dazumal?

Und in der That war’s vielleicht kein Unglück, daß unser junger Adrian Ludwig nicht viel in die Akademiesäle kam. Sein Vater, der Kupferstecher Karl August Richter, hatte unter der Ungunst der Zeit so schwer gelitten, daß er und sein Sohn zu jeder Arbeit greifen mußten, die sich eben bot. Der Schweizer Adrian Zingg, auch unseres Adrian Ludwig Pathe, dessen manieristische Land- und Seestücke damals dem Modegeschmack entsprachen, lebte als Professor der Kupferstecherei in Dresden und hatte, um der großen Nachfrage nach seinen Blättern zu genügen, schließlich eine ordentliche Kupferstichfabrik angelegt, als deren Director er unter jedes Blatt frisch ein „feci“ schrieb, auch wenn es ein Anderer gemacht hatte. Die meisten Blätter jener spätern Zeit stammen von Richter’s Vater. Der Sohn half ihm dabei, der dunkle Drang des guten Menschen aber scheint den Letzteren schon früh auf andern Weg aus all dem Modewerk hinausgewiesen zu haben: Chodowiecki’s Radirungen fesselten ihn – der hatte die Welt des täglichen Lebens vielleicht mit nüchternen Philisteraugen, aber doch ohne akademische Brille gesehen.

Der Vater hatte den heranwachsenden Knaben im Landschaftszeichnen unterrichtet, allmählich kam andere Schulung hinzu. Ein alter Professor sollte unserem Ludwig das Oelmalen beibringen – der griff die Sache so an, wie es ihm „gewissenhaft“ erschien. Da wurden Bilder in Sepia und wieder Bilder copirt – „ach wenn ich doch erst an einen Claude Lorrain dürfte!“ seufzte der Schüler; „da müssen wir erst noch einige Dutzend anderer Bilder vornehmen,“ entgegnete sein Meister. Ebenso „gründlich“ ging es mit der Anatomie: alle Knochen wurden in natürlicher Größe mit Stift und Kreide abgemalt und auf’s Sorgfältigste schraffirt; und als der Mensch zu Ende war, kam das Pferd daran, bei dem denn unser armer Richter oft keine Ahnung davon hatte, wo die betreffenden Knochen im Thiere eigentlich saßen – denn zum Zeichnen des Ganzen kam es nicht! Der Unterricht im eigentlichen Malen bestand darin, daß all die festgenagelten Regeln der Zeit unserem Schüler vor den Kopf genagelt werden sollten, daß er z. B. lernte, wie man über zusammengefaltetem Papier den „Baumschlag“ tupfe, wie man mit dem Fischpinsel so herumfahren müsse, daß es wie Blätter, so, daß es wie Gras aussah etc. Daran, frisch die Natur anzusehen und dann zu probiren, bis man es „heraus hatte“, dachte auch wirklich Keiner. Unser Richter selbst erzählt, er sei einmal mit seinem Vater an einem Mühlbach gegangen, da habe das Gras ihm gar so saftig in’s Auge gelacht. „Ach,“ habe er ausgerufen, „daß man das doch gar nie so machen kann!“

Gewiß, es war dem jungen Manne, dem es auch an anderen

[613]

Der Morgen kühl,
Der Mittag schwül;
Viel Unruh bei dem Feste,
Der Abend ist das Beste.

Ludwig Richter in Loschwitz.
Für die „Gartenlaube“ gezeichnet von E. Limmer.

[614] Anregungen fehlte, nöthig genug, hinauszukommen und zu sehen, daß die Welt doch noch größer sei, als die Elbestadt.

Und dazu bot sich ihm eine Gelegenheit. Fürst Narischkin, ein Kammerherr und nebenbei ein echter Russe, reiste mit Arzt, Secretär, Kammerdiener und – Maler in der Welt herum. 1820 kam er nach Dresden, von wo er den jungen Richter mitnahm. Es ging nach Südfrankreich, dann nach Paris – dort führte unser fürstlicher Leibmaler seine Landschaftsskizzen in Sepia aus, auf daß sie sein Herr und Gebieter als schön gebundenes Album der Kaiserin aller Reußen zu Füßen legen könne. Für Richter war’s immerhin eine gute Schule – er lernte Neues sehen und schnell wiedergeben, vielleicht auch aus dem mitgebrachten Manierismus Zingg’s schon jetzt herauszukommen.

Bei seiner Rückkehr – 1821 – fand er die Dresdener Zustände äußerlich kaum merklich verändert. Ein wenig hatte sich’s aber doch schon geregt. Der Maler C. D. Friedrich, den der Franzose David den „Tragöden der Landschaft“ nannte, suchte die Natur oft wunderlich, „jedoch auf seine Weise“ zu beseelen, der Norweger Dahl strebte kühn dem Realismus zu. Die Zöpfe der alten Herren schüttelten sich darüber, und manche geistige Perrücke sträubte sich sogar vor Entsetzen – den jungen aber gingen die beiden Ketzer im Kopfe herum: „sie sagten doch etwas“.

Um jene Zeit aber ging durch die Künstlerkreise der deutschen Jugend eine seltsame Mär – drüben, über den Bergen, im fernen Rom, rege sich’s mitten unter den Welschen gar wunderbar von deutschem Geiste: ein Schwarm begeisterter Jünger schaare sich dort um ein neues Glaubenszeichen der Kunst, der aber, der es mit glühender Seele emporhalte, sei ein „wegen offenbaren Mangels an Talent“ von der Düsseldorfer Akademie weggemaßregelter Feuerkopf und heiße Cornelius. Unser Ludwig Richter, der sich als Zeichner und Colorirer bescheiden von den vornehmen Herren Malern zurückhielt, hatte anfangs nur leise da und dort ein Wort davon gehört. Bald aber brauste der Jubelruf von der wiedererstandenen Kunst so mächtig durch alle jugendlichen Herzen, daß ihn hören mußte, wer ihn nur hören wollte – da schwoll auch unseres Ludwig Brust von Freude und Sehnen und dem Losungsworte: nach Rom!

Gar zu lange sollt’ er auch nicht schmachten. Ein Kunst- und Menschenfreund, der Buchhändler Arnold, stellte ihm vierhundert Thaler jährlich zur Verfügung – und im Jahre 1823 zog Ludwig Richter in der heiligen Roma ein.

Uns Jüngern, die wir nur dem Hinwelken der Schule zuschauten, die in jener Zeit aufblühte, ist es schwer, eine Vorstellung von der feurigen Hingabe zu gewinnen, die das Keimchen damals so schnell zur vollen Entfaltung reigte. „Leben, Geist, Wahrheit, Ernst, Tiefe und Innigkeit der Empfindung,“ sagte Schnorr von Carolsfeld einmal, „nicht weniger als Alles war abhanden gekommen. Kalte Nachahmung antiker Formen oder gemeine Modellwahrheit sammt dem leeren Schlendrian der Kunstschulen mußte niedergeworfen werden, um zum Leben durchzubringen. So stark war die Empfindung, daß nur von dem Standpunkte wiedergewonnener Pietät allein eine Wiederherstellung der Kunst möglich sei, daß die Führer vor Allem in der Veredelnug ihres innern Menschen die Bürgschaft für den Segen im Berufe erkannten.“

Den Philistern in Kunst und Leben galt der Kampf.

„Was thut’s, wenn wir fallen,“ hatte Cornelius ausgerufen, „es mag gut und klug sein, im Hinterhalte zu harren, am Ende aber thut’s Noth, dem Feinde die blanke Schwertspitze unter die Nase zu halten.“

Als Richter in die „römische Schaar“ trat, hatte sie freilich ihr „Hauptmann“ Cornelius bereits verlassen. Aber noch immer ging’s hoch her, und in der Chiavica, der Künstlerkneipe des Kreises, der den jungen Richter jetzt als Nesthäkchen aufgenommen hatte, wurden noch mit alter Wärme die Neulinge eingeweiht, die Scheidenden zu tapferem Apostelthume vermahnt, die neuen Pläne und Gedanken und die Dinge, die sonst Einer auf dem Herzen hatte, besprochen. Ward auch mitunter ein Hälmchen Stroh gedroschen, manch gutes Saatkorn fiel dennoch in die Herzen. Besonders an Julius Schnorr von Carolsfeld und an Koch schloß sich der junge Genosse an. Des Letztern Umgang war auch von sichtlichem Einflusse auf seine Landschaftsmalerei, die, von wackern Naturstudien unterstützt, sich bald zu jenen goldigen Bildern emporschwang, die heute noch viel genannt sind und noch bekannter wären, wenn nicht die Verbreitung von Richter’s späteren Zeichnungen die anderen Schöpfungen des Künstlers zurückgedrängt hätte. Durch die römische Anregung aber ward in Richter, wie er selbst erzählt, auch noch eine Ader seines Schaffens gekräftigt, die durch sein ganzes Leben mächtig pulsiren sollte: seine künstlerische Religiosität.

Drei Jahre währte seine Abwesenheit vom Vaterlande, zurückgekehrt gründete sich Richter sein eigenes Heim. An der Seite seiner jungen Frau ging er 1826 nach Meißen, wo er eine Stellung als Zeichenlehrer an der Porcellanfabrik übernahm. Er hatte trotz all seiner Liebe für Italien so recht gefühlt, daß seine Kunst deutsch sei – nun dachte er sich’s schön, in dem romantischen alten Bergstädtchen Land und Leute der Heimath behaglich zu belauschen. Doch der Verkehr mit den Meißner Pfeifenkopfmalern bildete zu dem im römischen Kunstkreise deutscher Nation einen gar zu kläglichen Contrast, und Richter war froh, als sich ihm 1828 die Gelegenheit bot, fortan an der Dresdener Akademie zu wirken.

In jene Zeit aber fällt die Wende in Richter’s künstlerischem Leben. Was schon seit Jahren dunkel in seiner Seele gelegen hatte, das führte ihm die Bekanntschaft mit einem kleinen Buche klar vor das Bewußtsein, mit des Grafen Pocci Festkalender. Die anspruchslose edle Herzlichkeit, der reine ungetrübte Künstlersinn, welcher trotz vielfacher Schwächen im Einzelnen die Bilder des Grafen durchweht, weckte in der Brust unseres Meisters wohl am kräftigsten die verwandten Klänge. Blätter zu allerhand Geschichten hatte er schon mehrmals zum Broderwerb nebenbei gezeichnet, aber er hatte dabei wohl nie an viel anderes gedacht, als eben an das Einzelne, das er gerade zu illustriren hatte. Jetzt aber wuchs klar vor seinem Geiste ein großes Ganzes heraus, dessen einzelne Theile, ob immer getrennt, doch kein ganz selbstständiges Leben hatten. Und dieses große Ganze war: das Herzensleben seines Volkes. Als Mittel seiner Kunst aber, die, wie sie das Volk schilderte, auch möglichst weiten Kreisen des Volkes zugänglich sein sollte, faßte der Meister den Holzschnitt in’s Auge – eine Technik, die damals wieder aufzublühen begann und unserem Richter für ihre Weiterentwickelung viel verdanken sollte. –

Wir sind dort angelangt, wo wir von den äußeren Lebensverhältnissen unseres Künstlers schweigen können – wollten wir doch keine Schilderung derselben, sondern einen Abriß der innern Entwicklung Richter’s geben. Dieser aber hatte nun den Weg gefunden, auf dem er fortan gerade vorwärts schritt. Er wirkte noch lange segensreich, geliebt und vielfach geehrt an der wiedergeborenen Dresdener Akademie, den Sommer über auf dem Lande, zumeist im nahen Loschwitz, umgeben von Gestalten, wie er sie am liebsten auf seinen Blättern wiedergab. Seine künstlerische Schöpferkraft aber concentrirte er auf jene Zeichnungen, deren reichem Schatz wir nun einige Worte widmen wollen.

Zunächst glaubte Richter seiner Natur noch genügen zu können, wenn er nur die poetische Grundlage seiner Illustrationen so wählte, daß sie ihm die Möglichkeit der Volksschilderung gewährten – und herrliche Bilder zu Märchen und Dichtungen entstanden zu jener Zeit. Dennoch zeigen sie Richter’s höchstes Können noch nicht. Ein Geist, der so lebendig wie der seine mit eigenem Herzen fühlte, mit eigenem Kopfe dachte, spiegelt nur jene Dichtungen voll wieder, die ihm selbst ganz und gar verwandt sind. Bei den Richter-Bildern zu den Volksliedern und Volksmärchen sehen wir auf den ersten Blick, daß dem so war – uns ist’s, als hätte das dichtende Volk, wär’s ein malendes Volk gewesen, das, was es zu sagen hätte, nicht anders sagen können, als es hier geschehen.

Doch schon bei den Bildern zum hohen Liede des Menschenlebens, zu Schiller’s „Glocke“, wird’s uns, so Wundervollem wir begegnen, in dieser oder jener Einzelnheit vielleicht schwer, den schwungvoll pathetischen Stil Schiller’s mit der schlicht gemüthvollen Gestaltung Richter’s zusammenzustimmen. Und in andern Bilderwerken zu unsern Classikern stört uns das Bewußtsein, daß sie Illustrationen bieten wollen, vielleicht eher im Genuß, als es diesen fördert. Macht Richter die Bilder zu den Versen, so ist’s eben oft gerade umgekehrt, als wenn er die Verse zu den Bildern wählt; im letztern Falle treffen sie den Nagel stets so gerade auf den Kopf, daß man die Zeichnungen nicht glücklicher charakterisiren [615] kann, als eben durch die beigeschriebenen Worte des Zeichners selbst. Das alles ist nur ein Beweis von Richter’s Originalität. Der Meister selbst aber scheint Aehnliches gefühlt zu haben, denn immer entschlossener wandte er sich dem Leben selbst zu – bald griff er ohne Vermittelung eines Poeten mitten hinein, und wo er’s faßte, ward’s interessant. Auch von den mittelalterlichen Bräuchen und Trachten, denen er zunächst wohl unter dem Einfluß der romantischen Zeitströmung mit Vorliebe gehuldigt harte, wandte er sich immer mehr ab und dem warmen Leben der Gegenwart zu.

Nun wär’s freilich ein Ding der Unmöglichkeit, das gewaltige Stoffgebiet, das uns Richter in Tausenden von kleinen Offenbarungen erschloß, mit einem Wort für all seine Einzelschönheiten durchwandern zu wollen. Aber da und dort müssen wir unserem Zauberer doch über die Schulter sehen, wie er, was das Volk und er mit dem Volk fühlt, denkt und erlebt, vor sich auf die Blätter bannt.

Das ganze Menschenleben ist’s.

Wir sehen das Kind, wie es kaum die Welt begrüßte, wir folgen ihm auf seinem ersten Weg, wenn es bei Orgelton und Glockenklang von Eltern und Freunden zur Taufe geleitet wird. Wir sehen der Eltern „rechte Augenweide“, wie sich die Beiden vor dem Schlafengehen noch einmal so recht satt daran sehen:

„Der Alles segnet, segn’ Euch Beide,
Ihr liebes Schlafgesindel, Euch!“

Und wir belauschen des jungen Weltbürgers erste Schritte, seine ersten täppischen Spielereien – sieh, da kommt der Storch wieder: ich glaub’, er kennt dich nicht mehr –

„’s macht’s, wil d’ so groß und sufer bisch,
Und ’s Löckli chrüser worden isch:
Fern hesch vo so ne Jüppli g’ha,
Jetz hesch scho g’streifti Hösli a!“

Wie der Junge wächst! Jetzt kann er schon mit den Anderen mittanzen, jetzt läuft er gar mit ihnen in den Wald und braucht sich nicht mehr vom Schwesterlein füttern zu lassen – „beiß ’mal ab, Hänschen“ – oh, der sammelt schon selber Beeren – „eins in’s Töpfchen, zwei in’s Kröpfchen“. Und nun klettert er gar schon mit fernen kleinen Sündergenossen auf den Baum und maust Kirschen – gieb dir nicht so viel Mühe, du guter Holzsoldat da oben, der du so grimmig an deiner Klapper drehst: die Spatzen jagst du nicht weg! Und nun ist er schon so gescheidt geworden, daß er gern Großmamas „gruslichen Geschichten“ lauscht – prr, da spukt ein Geist – ach nein, der Apfel auf dem Ofen war’s, der ist geplatzt! Wenn er nur in der Schule mehr taugte, der Bursche – aber da kommt er gerade klagend heraus und bezeichnet mit der einen Hand so deutlich den Ort seiner Schmerzen, daß es des mahnenden Magisters mit dem Rohrstock zur Aufklärung der Situation eigentlich gar nicht bedürfte. Und nun hat er wieder sein Geburtstagsgedicht nicht gelernt! Und wie furchtbar groß sind die Buchstaben auf dem Gratulationspapier! Und doch guckt der Junge einen dabei so verlegen an und zugleich so verschmitzt – na, komm her, wir wollen’s diesmal nicht so genau nehmen, dies eine einzige Mal will ich dir auch noch die schlechte Censur verzeihen! …

Goldene Kinderzeit, er hat dich wunderlieb geschildert, unser Richter – er hat dich freilich wohl nimmer anders angesehen, als wir die Kinder auf jenem tiefsinnigen Bilde „für’s Haus“ ansehen: du pflückst die Blumen von den Gräbern der Todten, du tanzest mit leichten Füßen über ihre Gruft und singst ihnen die Kunde hinab, daß das alte Menschengeschlecht noch immer in duftigen Blumen weiterblüht!

Der Knabe wird zum Jüngling, das Mägdlein zum Mädchen an der Hand unseres Seelenführers belauschen wir sie, wie sich erster Ernst in ihre Kinderspiele mischt. Wir sehen sie wachsen, wir fühlen’s, wie ihre Blicke die Welt, die sie umgiebt, tiefer in sich saugen, wir fühlen’s mit, wie ihnen endlich Mensch und Natur anders zu sprechen scheinen, als bisher, bis eine nette wonnigliche Welt in ihrem Innern der Welt dort draußen entgegenblüht. Wir sehen der Liebe Keimen und Gedeihen, bis wir das Paar auf blumenbestreutem Pfad an der Schwelle des eigenen Hauses finden:

„Gott mit mir,
Mein junges Herz mit dir,
Gott mit uns Beiden
In Trübsal und Freuden!“

Und was der Tag der Ehe bringt, vom Erwachen am Morgen, durch Arbeit zum behaglichen Frieden des Mittagsmahls im traulichen Kreise und wieder von des Tages Arbeit zu des Abends Gästen, und was die Jahre der Ehe bringen, Entbehrung und Besitz, Schmerz und Freude, Geburt und Tod – wer hat uns das Alles so liebevoll gezeigt, wie Richter? Und wie wir altern, bis uns die Haare ergrauen und dünner werden, bis uns zuletzt das Enkelchen mit dem Kamm neckend über die Glatze fährt, und wir ihm doch darum nicht böse sind, denn der Kleine ist ja auch ein Stückchen des Gedeihens um uns her, dem warmen Herzens zuzuschauen nun unsere einzige Freude ist – wer hat das Alles mit dem Stifte so innig nachgefühlt, als Vater Richter? Freilich, er zeigt uns auch des Alters Verlassenheit – es ist ein trübes Gedicht, der Alte dort am Ofen, dem aus dem Pfeifenqualm das Bild eines jungen liebenden Pärchens aufsteigt, des „Sonst“!

Aber Richter’s Welt ist größer, als diese eigentlichste Wiedergabe des Menschenschicksals. Ich sagte: sie umfaßt das ganze Herzensleben seines Volks. Und zu diesem gehört auch die Natur, wie sie sich im deutschen Gemüthe zeichnet: die Landschaft. Fachmänner haben oft genug hervorgehoben, wie ernste Studien, wie tüchtiges Können in Richter’s Landschaften steckt, auch wenn sie nur mit ein paar Linien als Hintergrund in seine Bilder gucken. Nie aber giebt sie uns Richter nur um ihrer selbst willen: sie sind ihm nur der Grundaccord zu dem gemalten Liede, das die Menschen, die sie beleben, singen. Freilich verherrlicht dieses Lied oft seinerseits die Natur. Wir folgen ihr in ihrem ganzen Kreislauf. Wie herzig ist dieser „Frühlings Einzug“, auf dem der kleine Karl mit der Posaune wie aus der Pistole geschossen den Engelsgeschwisterchen voranfliegt – er kann’s ja der Welt nicht schnell genug verkünden:

„Wach auf, wach auf zum Lichte, du nachtumhüllte Saat,
Sproßt aus in tausend Halmen, die Zeit des Maien naht!“

Und mit Blumen und Pfeifen und Liedern jubeln die geflügelten Cameraden hinter ihm her, daß drunten die Rehe die Ohren spitzen und die Vögel aus den Verstecken und die Blumen aus den Knospen lugen. Wie ernst sinnig ist dann wieder jenes Bild, das uns den blinden Bettler zeigt, dem der Lenz seine Blüthen in den Hut spielt. Und dann der Sommer und der Herbst! Seht nur auf Richter’s Bild zu dem köstlichen Psalm: „Du krönest das Jahr mit deiner Güte, und deine Steige triefen von Fett, es triefen die Anger der Weide, und deine Hügel schmücken sich mit Luft. Die Triften bekleiden sich mit Schafen und die Auen hüllen sich in Korn – sie jauchzen und singen.“ Wahrlich, wir jauchzen und singen mit, sehen wir den Jubel in diesen Sommerbildern! Und mit Richter in seinen Bildern begrüßen wir die Winterzeit als Zeit innerer Erhebung und inneren Ausbaues, bis uns die Sonnwend mit der Kunde vom Längerwerden der Tage naht, bis uns das echte rechte Wahrzeichen seines höchsten Festes für jeden Deutschen, der Weihnachtsbaum, entgegenstrahlt. Die Freude, die er beleuchtet, zu schildern, hat sich Richter in einer Reihe von Compositionen, die seinen allervollendetsten angehören, nicht genug thun können. Hier traf ja auch einmal Alles zusammen, was ihm das Heiligste war: Deutschthum, Familie, Poesie und Religion.

Religion – hier muß ein Vorzug bewundernd erwähnt werden, den Richter mit sehr, sehr wenigen der „frommen Maler“ aller Zeiten theilt: seine Auffassung der Religion rein als Sache des Gemüths. Nie, aber auch in keinem einzigen seiner Bilder stört uns etwas, wie Dogmenkram, oder dessen nothwendige Folge: Intoleranz, obgleich – und das ist das Merkwürdigste dabei – an rein confessionellen Zeichen und Symbolen kein Mangel ist. Wir sehen da der katholischen Priester in Meßgewändern, der Weihrauchfässer, Crurifixe, Rosenkränze genug, und doch – gilt Richter bei Tausenden seiner Verehrer, wohl nur, weil er im protestantischen Dresden lebt, für einen Protestanten. Das ist nur dadurch erklärlich, daß auch durch die religiösen Bilder Richter’s ein stärkerer Hauch ruhiger gesunder Menschlichkeit weht, als wir ihn bei streng-confessionellen Malern zu finden gewohnt sind.

Und eben das ist’s, was auch diese seiner Bilder selbst dem, der mit jedem Dogma längst gebrochen hat, warm in’s Herz reden läßt. Die innig frommen Menschen Richter’s sind eben doch Menschen – nicht asketische Abstractionen in Menschengestalt. „Aller Augen warten auf dich“ läßt er beten, aber ihm fällt’s nicht ein, darin, daß dies ein kleiner Kerl zunächst auf den Eßtopf bezieht, etwas Gottloses zu sehen.

[616] In frommer Sammlung schreitet die Gemeinde zur Kirche – aber von den Kleinen hat doch die Eine mehr Gedanken für ihren duftenden Blumenstrauß und der Andere mehr für ein Vögelchen, das rechts im Laub zwitschert, als für die Predigt, die ihrer harrt. Wir aber, die wir diese kleinen „Schwächen“ bemerken, glauben nun denen, die ernst und fromm erscheinen, viel eher – ja, wir haben jetzt erst daran unsere volle Freude, denn wir wissen: der Mann, der sie so geschildert, ist wahr.

Ganz und gar aus dem deutschen Volksherzen herausgewachsen ist auch Ludwig Richter’ s Humor. Ich kann auch auf ihn, der fast in Alles leise hineinklingt, nicht im Einzelnen hinweisen – an Einiges möcht’ ich doch erinnern – nicht an das Derb-Komische, das ja auch dem flüchtigsten Blicke sofort auffällt! Kann es aber eine liebenswürdigere Schalkheit geben, als auf jenem merkwürdig seelenvollen und in’s Feinste durchgeistigten Bilde vom „Kleinhandel“ der Contrast zwischen der sorgsam abwägenden Käsefrau im Vordergrunde und der halbdunklen Brunnenfigur im Hintergrunde, die mit verbundenen Augen als Justiz die Wage der Gerechtigkeit emporhebt? Und wer möchte nicht über den Hund dort lächeln, der dem naschenden Spatzen auf seinem Futternapf behaglich zuguckt, indeß ein drohendes „Ich beiße“ auf seiner Hütte steht? Oder über den ehrlichen Nachtwächter auf dem „Johannisfest“, diese Verkörperung des Philisteriums, auf dessen urnüchterner Filzmütze ein paar riesenmäßige Rosen duften? Das sind so feinempfundene Züge, daß der größte Poet sich ihrer nicht zu schämen brauchte.

Da aber, wo sie sich finden, verleihen sie unmittelbarste Lebenswahrheit. Und noch kommt hinzu, um diese letztere zu bilden, daß wir bei Richter niemals etwas Gestelltes oder Arrangirtes wahrnehmen, niemals ein Modell. Er hat in der That auch keine anderen gebraucht, als jene, die er nach dem redlichen Lernen seiner Werdezeit im Kopfe, und zwar so gut im Kopfe hatte, daß sie nicht blos darin, wie einst in seinen Augen, standen, daß sie in seinem Kopfe auch lebten, lachten und sprachen, wie’s ihr Meister wollte. „Hatte ich ein Bürschchen unter dem Bleistift,“ sagte Richter einmal zu mir, „so verstand sich’s für mich ganz von selbst, daß es eben nur so einen Kittel und gerade so eine Hose anhaben mußte, und keine andere.“ Und an dieser Kraft der inneren Anschauung liegt’s eben auch, daß in unseren Bildern stets Alles bei der Sache ist. Dies geht bis auf’s Ornament, das bei Richter nie ein todter Rahmen ist. Es redet immer mit in die Geschichte hinein und macht sozusagen seine Randbemerkungen dazu.

Es ist wahr, der moderne Mensch, der in der Geisterschlacht unserer Zeit vorn in erster Linie mitkämpft, wird sein volles Leben in Richter’s Bildern nicht finden. Die Darstellung jenes höchsten Seelenringens, das, immer nur auf Wenige beschränkt, darum nicht minder ein Anrecht auf künstlerische Gestaltung hat, das eines GoetheFaust“, eines Kaulbach Wandgemälde zur Weltgeschichte durchgeistigte, ward von Richter nicht erstrebt – er wollte zeigen, „was Jeder einmal erlebte“. Es wäre trotzdem von Grund aus irrig, deshalb seine mächtige Bedeutung schmälern zu wollen. Ein Goethe war auch darin groß, daß er denen, die über der Mehrheit ihres Volkes standen, das Liebenswürdige und Schöne dort zeigte, wo sie es vielleicht sonst wenig beachtet hätten. Und darin ist auch Richter groß. Für immer werden ihm auch die „obersten Zehntausend“ dafür Dank schulden, daß er ihnen mit beredtem Stift das Gute und Schöne zeigte, das ihre verwöhnten Augen sonst vielleicht unter dem „Staub der Alltäglichkeit“ nicht gesucht und gefunden hätten.

Unserem Volke aber – dem großen ganzen Volke – wurden Richter’s Bilder zum Zauberspiegel, der ihm sein eigenes Bild verklärt zurückstrahlte. Es erkannte sich selbst, doch an seinem Besten erkannte es sich. Und dieses Beste ward gekräftigt, indem es stärker und stärker bewußt ward. Das ist Richter’s Bedeutung als Volkserzieher. Indem er schlicht seine eigene reine Menschlichkeit gab – sie, die in all ihrer Tüchtigkeit als die Verkörperung seines besten Theils aus dem Volke selbst herausgeboren ward – lehrte er sich und in sich eben jenen besten Theil dessen lieben, was in Allen war. Dem Lehrer aber danken wir am meisten, der uns nicht fühlen läßt, daß er lehrt, der das Gute in uns zu wecken, der dem Erwachten, wenn es gekräftigt, die rechten Wege vor’s Auge zu führen weiß, ohne sich mit gewichtiger Miene als Schulmeister zu präsentiren. Das ist der Grund von Richter’s beispielloser Popularität.

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Wir sind am Schlusse. Möchten meine Worte auch ihrerseits ein wenig dazu beitragen, daß unseres Volkes Liebe zu seinem Künstler nicht erkaltet! Möchte Richter’s Kunst auch dort immer wärmere Aufnahme finden, wo sie bisher nur wenig ihrer friedenbringenden Blätter ausgestreut, möchte insbesondere ihre Perle, die köstliche Sammlung „Für’s Haus“, bald auch in jedem Hause des Vaterlandes zum Familienschatze werden! –

Du aber, lieber Meister, der du, wie du’s einmal niederschriebst, „halbtaub, halbblind, aber in Gott zufrieden“ deine Tage nun in ruhiger Feierabendstille dahinlebst, sieh keine Anmaßung darin, wenn Einer der Jüngeren hier, wo eine Million Deutscher ihn hört, in ihrem Namen dir danken zu dürfen glaubt. Du hast unser Volk wie Wenige geliebt – möge es dein Greisenalter verschönen, daß es dich liebt, wie Wenige. Wenn aber dereinst auch jene, die jetzt dir am nächsten stehen, dir nicht mehr in’s Auge schauen dürfen: dein Geist wird in deiner Kunst fortleben und fortwirken, so lange wir seiner werth sind!