Zu Hause

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Autor: Anton Pawlowitsch Tschechow
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Titel: Zu Hause
Untertitel:
aus: Von Frauen und Kindern, S. 61–76
Herausgeber: Alexander Eliasberg
Auflage: 1. – 5. Tausend
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1920
Verlag: Musarion
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Erscheinungsort: München
Übersetzer: Alexander Eliasberg
Originaltitel: Дома
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
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[61]
Zu Hause

[63] „Man ist von den Grigorjews dagewesen, um irgendein Buch zu holen, und ich sagte, Sie seien nicht zu Hause. Der Briefträger brachte die Zeitungen und zwei Briefe. Uebrigens möchte ich Sie, Jewgenij Petrowitsch, auf Sserjoscha aufmerksam machen. Heute und vorgestern sah ich ihn rauchen. Als ich ihm Vorwürfe machte, hielt er sich, wie immer, die Ohren zu und begann laut zu singen, um meine Stimme zu übertönen.“

Jewgenij Petrowitsch Bykowskij, Staatsanwalt am Kreisgericht, der soeben aus einer Verhandlung heimgekommen war und sich in seinem Kabinett die Handschuhe auszog, blickte die Gouvernante, die ihm dieses meldete, an und lachte.

„Sserjoscha raucht…“ sagte er achselzuckend. „Wie mag wohl dieser Knirps mit einer Zigarette im Munde aussehen. Wie alt ist er denn jetzt?“

„Sieben Jahre. Ihnen erscheint es unwichtig, doch in seinem Alter ist das Rauchen eine schlechte und schädliche Angewohnheit, schlechte Angewohnheiten soll man aber gleich am Anfang bekämpfen.“

„Sehr richtig. Und wo nimmt er den Tabak her?“

„Aus Ihrem Schreibtisch.“

„So? In diesem Falle schicken Sie ihn mir einmal her.“

Als die Gouvernante gegangen war, setzte sich Bykowskij in den Sessel vor dem Schreibtisch, schloß die Augen und versank in seine Gedanken. Er stellte sich seinen Sserjoscha [64] mit einer riesengroßen, ellenlangen Zigarette im Munde, in ganze Wolken von Tabakrauch gehüllt vor, und diese Karikatur ließ ihn lächeln; zugleich hatte er aber das ernste, besorgte Gesicht der Gouvernante in ihm Erinnerungen an die längst vergangene, halb vergessene Zeit wachgerufen, wo das Rauchen in der Schule und im Kinderzimmer den Pädagogen und den Eltern ein eigentümliches, nicht ganz verständliches Grauen einflößte. Es war ein richtiges Grauen. Man züchtigte die Kinder erbarmungslos mit Ruten, relegierte sie von den Schulen und verdarb ihnen das ganze Leben, obwohl keiner der Pädagogen und Väter zu sagen wußte, warum eigentlich das Rauchen so verbrecherisch und schädlich sei. Selbst sehr kluge Menschen unterließen es nicht, gegen ein Laster anzukämpfen, das sie im Grunde gar nicht verstanden. Jewgenij Petrowitsch erinnerte sich seines Gymnasiumdirektors, eines sehr gebildeten und gutmütigen alten Herrn, der beim Anblick eines rauchenden Gymnasiasten immer so furchtbar erschrak, daß er erbleichte, sofort eine außerordentliche Sitzung des Lehrerkollegiums einberief und den Schuldigen zur Dimission verurteilte. Das ist wohl ein Gesetz der menschlichen Gemeinschaft: je unverständlicher ein Uebel ist, um so hartnäckiger und roher kämpft man dagegen.

Der Staatsanwalt erinnerte sich auch einiger relegierten Schüler und ihres ferneren Lebenslaufs und mußte sich sagen, daß die Strafe oft viel mehr Böses bewirkt, als das Verbrechen selbst. Der lebendige Organismus hat die Fähigkeit, sich schnell an jede Atmosphäre anzupassen und zu gewöhnen, sonst müßte ja der Mensch jeden Augenblick fühlen, welch unvernünftige Grundlage oft die vernünftigste Tätigkeit hat und wie wenig bewußte Wahrheit und Sicherheit in so verantwortungsvollen und in ihren Resultaten schrecklichen Tätigkeiten [65] noch steckt, wie denen eines Pädagogen, eines Richters, eines Literaten…

Derartige verschwommene und leichte Gedanken, wie sie nur in einem ermüdeten, ausruhenden Hirne entstehen können, zogen Jewgenij Petrowitsch durch den Sinn; man weiß nicht, woher und wozu sie kommen, sie verweilen nur kurze Zeit und scheinen sich nur an der Oberfläche des Gehirns zu regen, ohne in seine Tiefe einzudringen. Für Menschen, die verpflichtet sind, ganze Stunden und sogar Tage amtlich und nur in einer bestimmten Richtung zu denken, sind solche freie häusliche Gedanken ein Komfort, eine angenehme Bequemlichkeit.

Es war gegen neun Uhr abends. Oben im ersten Stock ging jemand unaufhörlich auf und ab, und noch höher, im zweiten Stock spielte man vierhändig Tonleitern. Das Auf- und Abgehen des Menschen, der, nach der nervösen Gangart zu schließen, qualvoll an etwas dachte oder Zahnschmerzen hatte, und die eintönigen Tonleitern verliehen der Stille des Abends etwas Einschläferndes und stimmten zu trägen Gedanken. Zwei Zimmer weiter, im Kinderzimmer sprachen die Gouvernante und Sserjoscha.

„Der Pa – pa ist gekommen!“ sang der Junge. „Der Papa ist ge – kom – men! Pa! Pa! Pa!“

Votre père vous appelle, allez vite!“ kreischte die Gouvernante wie ein erschrockener Vogel. „Hören Sie es nicht?“

– Was soll ich ihm aber sagen? – fragte sich Jewgenij Petrowitsch.

Doch ehe er sich etwas zurechtlegen konnte, trat ins Kabinett sein Sohn, der siebenjährige Sserjoscha. Es war ein schmächtiges, blasses, gebrechliches Kind, dessen Geschlecht man [66] nur an der Kleidung erkennen konnte. Er war körperlich zart wie eine im Treibhaus gezogene Gemüsepflanze, und alles an ihm schien ungewöhnlich zart und weich: die Bewegungen, das lockige Haar, der Blick, die Samtbluse.

„Guten Abend, Papa!“ sagte er mit weicher Stimme, dem Vater auf den Schoß kletternd und seinen Hals küssend. „Hast du mich gerufen?“

„Bitte, bitte, Ssergej Jewgenjewitsch,“ erwiderte der Staatsanwalt, ihn leicht zurückstoßend. „Bevor wir uns küssen, müssen wir einmal ernst sprechen… Ich bin dir böse und liebe dich nicht mehr. Merk es dir: ich liebe dich nicht, und du bist mir kein Sohn mehr… Jawohl.“

Sserjoscha sah den Vater aufmerksam an, lenkte dann den Blick auf den Tisch und zuckte die Achseln.

„Was hab’ ich dir denn getan?“ fragte er verständnislos, mit den Augen zwinkernd. „Ich war heute kein einziges Mal in deinem Zimmer und habe nichts angerührt.“

„Natalja Ssemjonowna hat sich soeben beschwert, daß du rauchst… Ist es wahr? Rauchst du wirklich?“

„Ja, ich habe einmal geraucht… Das ist wahr! …“

„Nun siehst du, jetzt lügst du noch obendrein,“ sagte der Staatsanwalt, die Stirn runzelnd, um sein Lächeln zu maskieren. „Natalja Ssemjonowna sah dich zweimal rauchen. Du hast dir also drei Vergehen zuschulden kommen lassen: du rauchst, du nimmst aus der Schublade fremden Tabak und du lügst. Drei Vergehen!“

„Ach, ja – a!“ erinnerte sich Sserjoscha und lächelte mit den Augen. „Es ist wahr, es ist wahr! Ich habe zweimal geraucht: heute und früher.“

„Nun siehst du: also nicht einmal, sondern zweimal… Ich bin mit dir sehr, sehr unzufrieden! Früher warst du ein [67] guter Junge, jetzt bist du aber, wie ich sehe, schlecht geworden.“

Jewgenij Petrowitsch zupfte Sserjoscha den Kragen zurecht und dachte sich:

– Was soll ich ihm noch sagen? –

„Ja, es ist nicht schön,“ fuhr er fort. „Ich hatte es von dir nicht erwartet. Erstens hast du nicht das Recht, fremden Tabak zu nehmen, der dir nicht gehört. Jeder Mensch darf nur über sein eigenes Gut verfügen; wenn er aber fremdes nimmt, so ist er… kein guter Mensch! ( – Es ist nicht das Richtige, was ich ihm da sage! – dachte sich Jewgenij Petrowitsch.) Natalja Ssemjonowna hat zum Beispiel einen Koffer mit Kleidern. Dieser Koffer gehört ihr, und wir, d. h. ich und du, haben nicht das Recht, diesen Koffer anzurühren, denn er gehört nicht uns. Das stimmt doch? Du hast deine Pferdchen und Bildchen… Ich nehme sie doch nicht? Vielleicht möchte ich sie auch nehmen, aber sie gehören nicht mir, sondern dir!“

„Nimm sie, wenn du willst!“ sagte Sserjoscha, die Brauen hebend. „Bitte, Papa, genier’ dich nicht, nimm! Das gelbe Hündchen auf deinem Tisch gehört ja auch mir, und doch sage ich nichts… soll es nur hier stehen!“

„Du verstehst mich nicht,“ versetzte Bykowskij. „Das Hündchen hast du mir geschenkt, es gehört jetzt mir, und ich darf damit alles tun, was ich will; den Tabak habe ich dir aber nicht geschenkt! Der Tabak gehört mir! ( – Ich erkläre es ihm ganz falsch! – dachte sich der Staatsanwalt. – Es ist nicht das Richtige! – ) Wenn ich fremden Tabak rauchen will, so muß ich vor allen Dingen um Erlaubnis bitten…“

Bykowskij begann, träge einen Satz an den andern hängend und sich der Kindersprache anpassend, seinem Sohne zu [68] erklären, was Eigentum bedeutet. Sserjoscha starrte ihm auf die Brust und hörte aufmerksam zu (er liebte es, sich in den Abendstunden mit dem Vater zu unterhalten); dann lehnte er sich gegen den Tisch und fing an, seine kurzsichtigen Augen zusammenkneifend, die Papiere und das Tintenfaß zu betrachten. Sein Blick schweifte über den Tisch und blieb am Fläschchen Gummiarabikum hängen.

„Papa, woraus macht man Leim?“ fragte er plötzlich, das Fläschchen zu seinen Augen hebend.

Bykowskij nahm ihm das Fläschchen aus der Hand, stellte es auf seinen Platz und fuhr fort:

„Zweitens rauchst du… Das ist sehr schlimm! Wenn ich rauche, so folgt daraus noch nicht, daß man rauchen darf. Ich rauche und weiß dabei, daß es nicht gut ist, ich mache mir deswegen Vorwürfe und liebe mich nicht… ( – Ein guter Pädagog bin ich! – dachte sich der Staatsanwalt.) Der Tabak ist für die Gesundheit sehr schädlich, und jeder, der raucht, stirbt früher, als er sonst hätte sterben sollen. Besonders schädlich ist es aber für so kleine Kinder wie du. Du hast eine schwache Brust und bist noch nicht kräftig genug; bei schwachen Menschen ruft aber der Tabakrauch Schwindsucht und andere Krankheiten hervor. So ist auch Onkel Ignatij an der Schwindsucht gestorben. Hätte er nicht geraucht, so wäre er vielleicht auch heute noch am Leben.“

Sserjoscha sah nachdenklich auf die Lampe, berührte mit den Fingern den Lampenschirm und seufzte.

„Onkel Ignatij spielte gut Geige!“ sagte er. „Seine Geige ist jetzt bei den Grigorjews!“

Sserjoscha lehnte sich wieder gegen den Tischrand und wurde nachdenklich. Auf seinem blassen Gesicht war ein Ausdruck erstarrt, als lausche er oder verfolge die Entwicklung [69] seiner eigenen Gedanken; Trauer und etwas wie Schreck zeigten sich in seinen großen, unbeweglichen Augen. Wahrscheinlich dachte er jetzt an den Tod, der vor so kurzer Zeit seine Mutter und den Onkel Ignatij geholt hatte. Der Tod bringt die Mutter und die Onkels ins Jenseits, ihre Kinder und Geigen bleiben aber auf der Erde zurück. Die Toten wohnen im Himmel, irgendwo bei den Sternen und blicken von dort auf die Erde herab. Ob sie die Trennung ertragen können?

– Was soll ich ihm sagen? – dachte sich Jewgenij Petrowitsch. – Er hört mir gar nicht zu. Offenbar hält er weder seine Vergehen, noch meine Gründe für wichtig. Wie soll ich es ihm klar machen? –

Der Staatsanwalt erhob sich und fing an, auf- und abzugehen.

– Früher, zu meiner Zeit, wurden solche Fragen höchst einfach gelöst, – dachte er sich. – Jeder Junge, den man beim Rauchen erwischte, bekam seine Tracht Prügel. Die Kleinmütigen und Feigen gaben dann das Rauchen wirklich auf, die Klügeren und Tapferen fingen aber nach der Strafe an, den Tabak im Stiefelschaft zu verwahren und in der Scheune zu rauchen. Und wenn man so einen in der Scheune erwischte und wieder bestrafte, so rauchte er von nun an am Fluß… und so ging es, bis der Junge heranwuchs. Meine Mutter beschenkte mich, um mich vom Rauchen abzuhalten, mit Geld und Süßigkeiten. Heute erscheinen aber alle diese Mittel als nichtig und unmoralisch. Der moderne Pädagog stellt sich auf den Boden der Logik und bemüht sich, daß das Kind sich die guten Prinzipien nicht aus Angst, nicht aus dem Bestreben, sich auszuzeichnen oder belohnt zu werden, sondern bewußt zu eigen mache. –

Während er auf- und abging und dachte, war Sserjoscha [70] mit den Beinen auf den Stuhl gestiegen und hatte zu zeichnen angefangen. Damit er die Geschäftspapiere nicht beschmiere und das Tintenfaß nicht anrühre, lagen für ihn ein Stoß eigens für ihn zurechtgeschnittenes Papier und ein Blaustift bereit.

„Die Köchin hackte heute Kraut und schnitt sich dabei in den Finger,“ sagte er, ein Häuschen zeichnend und die Brauen bewegend. „Sie schrie dabei so, daß wir alle erschraken und in die Küche liefen. Wie dumm sie ist! Natalja Ssemjonowna sagt ihr, daß sie den Finger in kaltes Wasser stecken soll, aber sie nimmt ihn in den Mund und saugt… Wie kann man nur den schmutzigen Finger in den Mund nehmen! Papa, das ist doch unanständig!“

Dann erzählte er, daß während des Mittagessens ein Leierkastenmann mit einem kleinen Mädchen in den Hof gekommen war und das Mädchen zu seiner Musik gesungen und getanzt hatte.

– Er hat seine eigenen Gedankengänge! – sagte sich der Staatsanwalt. – In seinem kleinen Kopf ist eine eigene Welt, und er hat seine eigene Anschauung darüber, was wichtig und was unwichtig ist. Um seine Aufmerksamkeit und sein Bewußtsein zu fesseln, genügt es noch nicht, seine kindliche Sprache nachzuahmen; man muß auch auf seine Weise zu denken verstehen. Er verstünde mich sehr gut, wenn der Tabak mir wirklich leid täte, wenn ich mich gekränkt fühlte und weinte. Darum sind auch die Mütter als Erzieherinnen so unersätzlich, weil sie es verstehen, mit den Kindern zu fühlen, zu weinen, zu lachen… Mit der Logik und der Moral kann man aber nichts ausrichten. Was soll ich ihm noch sagen? Was? –

Jewgenij Petrowitsch erschien es sonderbar und komisch, [71] daß er, der gewiegte Jurist, der sich sein halbes Leben lang in allerlei Vorbeugungs- und Strafmaßregeln geübt hatte, auf einmal ratlos war und nicht wußte, was diesem Jungen zu sagen.

„Hör’ mal, gib mir dein Ehrenwort, daß du nicht mehr rauchen wirst,“ sagte er.

„Mein Ehrenwort!“ sang Sserjoscha, stark auf den Blaustift drückend und sich über die Zeichnung beugend. „Mein E – eh – renwo – ort! Ja! Ja!“

– Weiß er denn auch, was das Ehrenwort bedeutet? – fragte sich Bykowskij. – Nein, ich bin ein schlechter Lehrer! Wenn jetzt irgendein Pädagog oder Jurist in meinen Kopf hineinblickte, so würde er mich einen Waschlappen nennen und mir übermäßiges Klügeln vorwerfen… Aber in der Schule und vor Gericht werden alle diese verdammten Fragen viel einfacher gelöst als zu Hause: zu Hause hat man es mit Menschen zu tun, die man wahnsinnig liebt, die Liebe ist aber anspruchsvoll und macht die Sache kompliziert. Wäre dieser Junge nicht mein Sohn, sondern mein Schüler oder Angeklagter, so wäre ich nicht so feig und hielte meine Gedanken zusammen! … –

Jewgenij Petrowitsch setzte sich wieder vor den Tisch und nahm eine der Zeichnungen Sserjoschas in die Hand. Die Zeichnung stellte ein Haus mit schiefem Dach und mit Rauch dar, der aus den Schornsteinen im Zickzack wie ein Blitz bis an den Rand des Blattes ging; neben dem Hause stand ein Soldat mit Punkten statt Augen und einem Bajonett, das an die Zahl 4 erinnerte.

„Der Mann kann doch nicht größer sein als das Haus,“ sagte der Staatsanwalt. „Schau nur: dein Dach reicht dem Soldaten gerade bis an die Schulter.“

[72] Sserjoscha kletterte ihm wieder auf den Schoß und rückte lange hin und her, bis er endlich eine bequeme Lage fand.

„Nein, Papa!“ sagte er, nachdem er seine Zeichnung betrachtet. „Wenn du den Soldaten klein zeichnest, wird man seine Augen nicht sehen können.“

Sollte er dem widersprechen? Der Staatsanwalt hatte aus täglichen Beobachtungen an seinem Sohne die Ueberzeugung gewonnen, daß die Kinder ebenso wie die Wilden ihre eigenen künstlerischen Ansichten und Forderungen haben, die dem Verständnisse der Erwachsenen verschlossen sind. Bei aufmerksamer Beobachtung hätte Sserjoscha unnormal erscheinen können. Er hielt es für möglich und vernünftig, die Menschen höher als die Häuser zu zeichnen und mit dem Stift außer den Gegenständen auch seine eigenen Empfindungen wiederzugeben. So stellte er die Töne eines Orchesters als sphärische Nebelflecke und das Pfeifen – als einen Spiralfaden dar. In seiner Vorstellung standen die Töne in engen Beziehungen zu den Formen und Farben, und so pflegte er das L immer gelb, das M rot, das A schwarz usw. anzumalen.

Sserjoscha gab das Zeichnen auf, rückte noch einmal hin und her, fand eine bequeme Pose und widmete sich dem Barte seines Vaters. Zuerst[WS 1] glättete er ihn sorgfältig, dann zerteilte er ihn und versuchte aus ihm einen Backenbart zu machen.

„Jetzt siehst du dem Iwan Stepanowitsch ähnlich,“ murmelte er: „und gleich wirst du unserm Portier ähnlich sehen. Papa, warum stehen die Portiers vor den Türen? Um die Diebe nicht hereinzulassen?“

Der Staatsanwalt fühlte auf seinem Gesicht Sserjoschas Atem, er berührte mit der Wange jeden Augenblick seine Haare, und es war ihm dabei so warm und weich ums Herz, [73] als ruhte nicht nur seine Hand, sondern auch seine Seele auf Sserjoschas Samtbluse. Er sah ihm in die großen dunklen Augen, und es war ihm, als blickten ihn aus diesen Augen auch seine Mutter und seine Frau an und alle, die er je geliebt hatte.

– Nun geh hin und schlage ihn… – dachte er sich. – Denk’ dir für ihn eine Strafe aus! Nein, was bin ich für ein Erzieher! Früher waren die Menschen einfacher, sie grübelten weniger und lösten darum solche Fragen tapfer. Wir aber grübeln zu viel, die Logik hat uns vergiftet… Je intelligenter ein Mensch ist, je mehr er grübelt und ins Detail geht, um so unentschlossener und befangener ist er und um so ängstlicher macht er sich an die Sache. Und in der Tat, wenn man es so bedenkt, wieviel Mut und Selbstvertrauen muß man haben, um es zu unternehmen, einen Menschen zu belehren und zu richten oder ein dickes Buch zu schreiben… –

Es schlug zehn.

„Nun, Kind, es ist Zeit für dich,“ sagte der Staatsanwalt. „Sag’ gute Nacht und geh’ zu Bett.“

„Nein, Papa,“ erwiderte Sserjoscha mit einer Grimasse, „ich bleib’ noch ein wenig bei dir. Erzähl’ mir etwas! Erzähl’ mir ein Märchen.“

„Gut, aber gleich nach dem Märchen gehst du zu Bett.“

Jewgenij Petrowitsch pflegte Sserjoscha an seinen freien Abenden Märchen zu erzählen. Wie die meisten vielbeschäftigten Menschen, hatte er kein einziges Gedicht im Kopf und kannte kein einziges Märchen, so daß er immer improvisieren mußte. Gewöhnlich fing er ganz nach der Schablone an: „In einem gewissen Königreiche…“ Und weiter häufte er allerlei harmlosen Unsinn an und wußte zu Beginn der Geschichte nie, wie die Mitte und der Schluß ausfallen würden. Er [74] nahm die Bilder, Personen und Situationen aufs Geratewohl, und die Handlung und die Moral ergaben sich irgendwie ganz von selbst, ganz ohne Zutun des Erzählers. Sserjoscha liebte solche Improvisationen, und der Staatsanwalt merkte, daß je anspruchsloser und einfacher die Handlung war, sie auf den Jungen einen um so stärkeren Eindruck machte.

„Also hör’ zu,“ begann er, die Augen zur Decke hebend. „In einem gewissen Königreiche lebte einmal ein alter, uralter König mit einem langen grauen Bart und… einem so langen Schnurrbart. Er lebte also in einem gläsernen Schlosse, das in der Sonne wie ein großes Stück Eis glänzte und funkelte. Das Schloß aber, mein Lieber, stand in einem riesengroßen Garten, und im Garten wuchsen, weißt du, Apfelsinen, Bergamottbirnen… Kirschen… blühten Tulpen, Rosen, Maiglöckchen und sangen bunte Vögel… Ja… An den Bäumen hingen gläserne Glöckchen, die im Winde so wunderbar tönten, daß es eine Wonne war, zuzuhören… Glas klingt nämlich viel sanfter und zarter als Metall… Nun, und was gab’s da noch? Im Garten sprangen Fontänen… Weißt du noch, du hast auf dem Lande bei Tante Ssonja eine Fontäne gesehen? Also solche Fontänen sprangen im Garten des Königs, aber sie waren noch viel größer, und die Wasserstrahlen reichten bis zu den Wipfeln der höchsten Pappeln hinauf.“

Jewgenij Petrowitsch dachte eine Weile nach und fuhr fort:

„Der alte König hatte einen einzigen Sohn und Thronerben, einen ebenso kleinen Jungen wie du. Er war niemals unartig, ging immer früh zu Bett, rührte nichts auf dem Tische an und… und war überhaupt ein kluger Junge. Er hatte aber einen Fehler: – er rauchte…“

[75] Sserjoscha hörte gespannt zu und blickte dem Vater, ohne zu zwinkern, in die Augen. Der Staatsanwalt fuhr fort und fragte sich: – Was weiter? – Er zog die Geschichte sehr in die Länge, trat alles breit und endete so:

„Der Prinz wurde vom Rauchen schwindsüchtig und starb, als er erst zwanzig Jahre alt war. Der kranke, alte Vater blieb ohne jede Hilfe. Es war niemand da, um das Königreich zu regieren und das Schloß zu verteidigen. Da kamen die Feinde, töteten den Alten, zerstörten das Schloß, und jetzt gibt es im Garten weder die Kirschbäume, noch die Vögel, noch die Glasglocken. Ja, so ist’s, mein Lieber…“

Dieser Schluß kam Jewgenij Petrowitsch selbst lächerlich und naiv vor, aber auf Sserjoscha machte das Märchen einen starken Eindruck. Seine Augen waren wieder von Trauer und etwas wie Entsetzen verschleiert; er blickte eine Weile auf das dunkle Fenster, fuhr dann zusammen und sagte mit verzagter Stimme:

„Ich werde nicht mehr rauchen…“

Als er sich verabschiedet hatte und gegangen war, ging sein Vater langsam auf und ab und lächelte.

– Man wird sagen, daß es die schöne künstlerische Form war, was auf ihn diesen Eindruck machte, – dachte er sich: – meinetwegen, aber das ist kein Trost. Das ist trotz allem nicht das richtige Mittel… Warum müssen die Wahrheit und die Moral nicht in ihrer rohen Form, sondern unbedingt mit Beimischungen, wie die Pillen verzuckert und vergoldet, dargereicht werden? Das ist nicht normal… Fälschung, Betrug… Kunststücke… –

Er dachte an die Geschworenen, denen man unbedingt eine „Rede“ halten muß, an das große Publikum, das die Weltgeschichte nur aus Heldengesängen und historischen Romanen [76] kennt, und an sich selbst, der er seine ganze Lebensauffassung nicht aus Predigten und Gesetzen, sondern aus Fabeln, Romanen und Gedichten geschöpft hatte…

– Die Arznei muß süß sein, und die Wahrheit schön… Und das hat sich der Mensch seit Adams Zeiten eingeredet… Uebrigens… vielleicht ist das auch natürlich und muß so sein… Gibt es denn in der Natur wenig zweckmäßige Täuschungen und Illusionen?

Er machte sich an die Arbeit, aber die trägen, häuslichen Gedanken regten sich noch lange in seinem Kopfe. Die Tonleitern im zweiten Stock waren nicht mehr zu hören, doch der Bewohner des ersten Stocks ging noch immer auf und ab…

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: zuerst (kleingeschrieben)