Zum Inhalt springen

Zu Otto Runges Leben und Schriften

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
Autor: Reinhold Steig
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Zu Otto Runges Leben und Schriften
Untertitel:
aus: Euphorion, Neunter Band, S. 660–670
Herausgeber: August Sauer
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1902
Verlag: Carl Fromme
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig und Wien
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Internet Archive, Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[660]
Zu Otto Runges Leben und Schriften.
Von Reinhold Steig in Berlin.

Im Archiv für das Studium der neueren Sprachen 107, 277 habe ich über Otto Runges Märchen vom Machandelboom und dem Fischer und siner Fru gehandelt. Das erste Märchen erschien 1808 in der Einsiedlerzeitung. Beide zusammen wurden 1811, fast gleichzeitig, in Büschings Deutschen Volkssagen und in Grimms Kinder- und Hausmärchen gedruckt. Die Grimmsche Fassung erwies sich als beeinflußt erstens durch die Einmischung des Verlegers Georg Andreas Reimer und zweitens durch die später vorgenommene [661] und von Grimms akzeptierte Überarbeitung Daniel Runges. So daß also Arnims Druck des Machandelbooms und Büschings Druck des Fischers uns als diejenigen Gestalten der Märchen zu gelten haben, welche der Niederschrift des Maler-Dichters Runge am nächsten stehen und uns, soweit es geht, die verlorene (oder noch nicht wieder aufgetauchte) Handschrift Runges ersetzen müssen.

Wie für diese beiden Märchen Runges, stand mir auch für seine übrigen schriftstellerischen Erzeugnisse keine Zeile seiner eigenen Hand zur Seite. Wir sind in dieser Hinsicht allein auf die bekannten beiden, von seinem ältesten Bruder Daniel 1840 herausgegebenen Bände der „Hinterlassenen Schriften“ angewiesen. Nun hat mir aber der Zufall und die Freundlichkeit des Herrn Dr. de Gruyter, der, als jetziger Besitzer der vormaligen Reimerschen Verlagsbuchhandlung in Berlin, mir die Durchsicht des erhaltenen Restes der Verlagspapiere bereitwilligst gestattete, fünf Rungesche Briefe an Georg Andreas Reimer in die Hände gespielt. Sie sind seinerzeit für die Herrichtung der genannten beiden Bände nicht benutzt worden, und so kommt es, daß ihnen einige neue Aufschlüsse entnommen werden können, und zwar in dreifacher Hinsicht: was nämlich Runges Lebensbeziehungen, seine dichterische Art und – mittelbar – die beiden Märchen anbelangt.

In den Hinterlassenen Schriften, auch in den Briefpartien, kommt Reimers Name, soviel ich sehe, überhaupt nicht vor. Die neuen fünf Briefe, aus der Zeit von 1803 bis 1808, setzen aber von Anfang an eine fertige Freundschaft voraus, die nicht erst im literarischen oder geschäftlichen Verkehre zu stande kam. Reimer und Runge waren Altersgenossen und Landsleute: jener 1776 zu Greifswald, dieser 1777 nicht weit davon in Wolgast geboren. Runge kam früh durch seinen Bruder in die buchhändlerischen Kreise Hamburgs hinein, die mit Reimer in Verbindung standen, und dann am Anfang des neuen Jahrhunderts genoß er in Dresden den vertrauten Umgang Ludwig Tiecks, dessen Verhältnis zu Reimer ja bekannt ist. Von den Hamburgern nenne ich Friedrich Perthes, der später die Hinterlassenen Schriften verlegte, um – wozu man auch Görresbriefe 9, 531 vergleichen möge – folgende Stelle über Runge aus einem seiner Briefe an Jacob Grimm anzuschließen (Gotha, 10. März 1840):

Ueberaus große Freude haben Sie mir gemacht durch den glänzenden Beweis Ihrer Theilnahme an den Runge’schen Schriften[1] . . Sehr recht haben Sie, daß [662] die Herausgabe vor 20 oder 30 Jahren mehr angezogen haben würde . . Otto’s Anschauungen vereinigen in sich festen christlichen Glauben, feurige Phantasie und tiefen Forschungsgeist. Aber eben hier entsprangen bei mir die Bedenklichkeiten gegen die Herausgabe. Otto hatte das Wahre der Mystik Jacob Böhme’s aufgefaßt, damit aber auch Manches von dessen Vorstellungsweise, und so kam er zu dem Gewagten, z. B. die Dreieinigkeit in den Farben zu finden und die gelbe dem Heiligen Geist zu vindiciren. Otto würde bei seinem klaren Sinn sich durch solch Phantastisches durchgearbeitet haben, wäre er leben geblieben – nun aber steht es abgeschlossen da und ist rohen und platten Geistern preißgegeben. Otto war nach Körper und Sinn ein derber, heitrer Pommeraner, aber tiefer Ernst war Grundlage; – so wendete er sich von dem Katholisiren bei Einigen der damaligen romantischen Schule ab, weil es ihm nur als ein Spiel erschien.

Von Perthes gibt es auch noch ein ganzes Päckchen Briefe an Reimer. So liefen zwischen Reimer und Runge viele Beziehungen hin und her, die die Grundlage ihrer Freundschaft bildeten.

Der erste Brief Runges an Reimer kam 1803 aus Dresden. Voraussetzung ist, daß Runge vorher in Berlin und bei Reimer, Bernhardi und anderen gewesen sein muß. Diese Reise machte Runge (Hinterlassene Schriften 2, 242. 492) mit seiner Braut Pauline Bassenge und deren Mutter von Dresden nach Wolgast und zurück vom 7. August bis 16. September 1803. Wieder in Dresden, schrieb er nunmehr an Reimer, und die Nachrichten, die er gibt, stimmen zum Teil mit denen zusammen, die sich in gleichzeitigen (im 1. Bande gedruckten) Briefen an andere Nahestehende sich finden:

Dresden d. 24. October 1803     

 Lieber Reimer

Ich habe schon sehr lange an Dich schreiben wollen hab es aber nicht gethan ich bin auch in Leipzig gewesen und bin so mit meinen Arbeiten auch sehr behaftet gewesen daß ich nicht viel Zeit gehabt habe, ich bitte Deine Frau und Schwiegerin recht von Herzen zu grüßen von uns und der Mutter, ich bin nun mit den Kupferstechern in richtigkeit und sie arbeiten auch frisch daran, ich werde zu Johannis, denke ich, mit allen fertig seyn was daran bummelt und bammelt eher aber nicht, ich schicke Dir auch das versprochen Lied hierin,[2] Du kansts etwas für Dich behalten ich hab es für mich selbst gemacht und weil ichs nicht laßen konnte und niemand hatte den ich meine Noth klagen konte, doch das ist nun mit Gottes Hülfe alles vorbey, und ich denke sehr stark an meiner Abreise welche heut über 3 Wochen wol vor sich gehen wird, erkundige Dich doch unter der Hand ob A W Schlegel gegen die Zeit nach Waimar geht mir wäre es nicht sehr lieb mit ihm dort zu seyn, ich bin mit meinen Arbeiten hier fertig und räume jetzt blos noch so auf, ich freue mich aufs Arbeiten in Hamburg. – ich habe mit einen Polnischen Grafen Biernacky mit dem ich auch nach Leipzig war, sehr genaue Bekantschaft gemacht und ihm versprechen müßen ihm mit den Jahren ein mahl eine Kirche in seinen Landen zu bauen wir werden sehn was dort zu machen ist, es könte wol sehr schön werden, ich werde mahl auf einige Zeit zu ihm reisen müßen.

[663] Die Minnelieder sind wie ich merke noch nicht da, es wird noch wol an der Vorrede liegen, laß Dir nur die Zeit nicht zur unrechten Zeit lang werden, und werde auch zur rechten Zeit böse. Tieck ist ein bisgen ein Kind, das ordentlich ein bisgen gezwungen werden kann.

Wilst Du wol so gut seyn und nachfolgende Bücher an den Baron v. Hardenberg, Leutnant bey der Garde und wohnhaft auf der kleinen Schießgasse absenden, die Bezahlung kann gemacht werden wie Du wilst entweder an Gerlach oder an Dir gesandt werden 1. Fantasieen über die Kunst 1. Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders 1. Musen Almanach von Schlegel und Tieck 1. Heinrich Ofterdingen 1. und 2ter Theil 1. Genoveva von Tieck 3. Minnelieder. in Hamburg haben sie[3] noch immer sehr viel zu thun so daß ich nur erst einmahl was geschriebenes von dort habe, ich freue mich alle Tage mehr zu meiner Pauline und wir lernen uns auch immer lieber haben, es ist eine schlimme Zeit und woll nötig daß mans weiß was die Liebe ist, es ist auch sonst nirgends Freude zu holen.

Ich weiß nicht ob Du von Enoch Richter[4] gehört haben wirst daß er sich auch verliebt versprochen und verlobt hat, und hat also auch was beßers zu thun als an mich zu schreiben, ich kann hier auch nicht mehr recht was thun habe in Hamburg viel zu thun unter wegs alle Leute zu besuchen die nicht schreiben, Pauline fängt auch sehr an zu arbeiten, da ists hohe Zeit daß ich fort und wieder komme.

Indeß schreib mir doch einmahl wie Dirs geht auch mit Tieck[5] ob Du von dorther was weißt, ich hab neulich an seine Frau geschrieben, habe aber noch nix gehört. Grüße Alle Deine lieben und bey Bernhardy sehr

Dein getreuer Freund
Philipp Otto Runge.     

Die Reise über Weimar fand statt, und über den damaligen Verkehr Goethes mit Runge, woraus für beide Teile weiter wirkende fruchtbare Anregungen hervorgingen, haben wir ausführliche Berichte. 1804 im April verheiratete sich Runge in Dresden, und nun auf der Heimreise hielt sich das junge Ehepaar auch wieder in Berlin auf (wahrscheinlich im Hôtel de Russie), wo er unter anderen auch Tieck wiedersah. Der nächste Brief Runges an Reimer ist erst vom Jahre 1806:

Wollgast den 13 August 1806     

 Liebster Freund

Du erhältst diesen Brief durch meine Schwester Hellwig aus Mecklenburg die mit ihren beyden Kindern in Freyenwalde einige Zeit gewesen ist, sie baten mich, daß ich, da die Kinder gerne Berlin sehen wolten ihnen nachkommen und sie dorthin begleiten und herumführen mögte, da mir aber die Zeit zu einer solchen Reise zu knapp wird, und ich mit meiner vorhabenden Arbeit nicht fertig werden mögte so bitte ich Dich daß wenn Du einige Zeit übrig hast mir die Liebe thust und Ihnen sagst wie sie die Sache dort angreifen sollen und die Amüsements in der Geschwindigkeit beym rechten Ende anfangen, vorzüglich daß sie in der Comedie [664] kommen, auch da es sehr leicht ist so bitte ich daß sie die Bilder auf den Schloß zu sehn kriegen wenigstens Minchen[6] die nicht faul dazu seyn wird, es pflegte im Hotel de Russie ein guter Lohnlaquai zu seyn der es zu veranstalten weiß, wenn Du die großstätischen Merkwürdigkeiten ihnen ein wenig aufzählen kannst so können sie sich ja aussuchen ich bitte nur daß Du mirs nicht übel nimmst und mich bey Gelegenheit nicht verschonst wenn ich Dir auf eine solche Art dienen kann.

Ich mahle hier meine Eltern wo mein kleiner Siegmund und Jacob seiner hier mit darauf sind wobey ich noch ziemlich viel zu thun habe, herzlich gerne sähe ich Dich einmahl wieder was Du mit Deiner Frau und den lieben Kindern machst mein Kleiner ist ein fixer junge läuft schon allermeist und fängt an zu sprechen. Besser in Hamburg hat auch wieder ein klein Töchterchen, – zu künftigen Sommer könnte es sich gefügen, daß wir uns auf einige Tage wiedersähen, gieb mir doch in wenig Zeilen einige Nachricht von Dir, ich mag noch wol bis Anfang October hier bleiben, wenigstens bitte ich mir sagen zu laßen ob Du nichts von Tieck gehört hast.

Ich bin einige Tage mit meinem Vater in Gr[eifswald] auf dem Landtag gewesen, der noch dort ist als Deputirter und wir wißen noch nicht was vorgehen und wann es beendigt seyn wird, es ist jetzt in allen Landen schlimm und wann wird das gute kommen. Grüße Deine liebe Frau von mir und Pauline aufs herzlichste und Verzeihe mir wenn ich Dir mit meiner Bitte zu sehr belästige

Dein getreuer
P. O. Runge.     

Dieser Besuch seiner Schwester und ihrer Kinder in Berlin aber führte, unabsichtlich auf beiden Seiten, zu einer Trübung der Freundschaft zwischen Runge und Reimer, die niemals mehr ganz beseitigt werden konnte. Im Reimerschen Hause, wie es scheint, machte ein Hofprediger die Bekanntschaft der ältesten Nichte Runges, Wilhelmine Hellwig; und Reimer übernahm es nach der Abreise, einen Antrag des Hofpredigers zu übermitteln. Sowohl die Mutter, wie Otto Runge, der sich gerade in Dahlen aufhielt, lehnten in zwei zusammengehörigen Briefen (Dahlen, 16. März 1807) den Antrag ab. Ich verfolge dies nicht weiter, sondern gebe aus Runges Briefe nur die eine Stelle allgemeineren Wertes: „Ich habe mich sehr gefreut, Lieber, was die Kinder mir von Dir und Deinen Kindern, Frau und Freunden erzählt wir sind auch . . wohl und gesund durch diese trübseelige Zeit durchgekommen im Vaterlande geht es außer wo die Armee steht noch ziemlich gnädig, im Verhältniß von andern ab, die Zeit ist aber im höchsten Grade drückend und wie wirds noch werden, ich hoffe vom Himmel etc.“

Von Dahlen ging Runge mit den Seinigen nach Hamburg weiter, wo er nun, ohne noch einmal fortzureisen, für die wenigen ihm beschiedenen Lebensjahre verblieb. Von hier aus schrieb er, nach langer Pause von Reimers Seite, an diesen:

[665]
Hamburg den 26 Januar 1808     

 Liebster Freund

Ich hätte sehr gern einmahl wieder einige Nachrichten von Dir wie Du mit den Deinigen in dieser Zeit lebst, kürzlich habe ich durch meinen jüngsten Bruder und Stavenhagen von Dir gehört und so artet diese Neugierde in einen Brief aus.

Ich hoffe daß Du wegen meines lezten Briefes aus Mecklenburg in einer so wunderlichen Sache nichts gegen mich haben wirst, und zweifle keinen Augenblick daß wenn wir uns einmahl wiedersprechen ich mich eben so offen und frey gegen Dich stehen kann wie sonst – ich bin mit meiner Frau Kind und meiner Schwester vorigen Frühling durch den Krieg glücklich hergekommen,[7] und haben seit der Zeit noch ein klein Mädchen und sind alle woll – ich wohne nun mit meinen Bruder zusammen, welcher sich von seinen Associers getrennt hat, da dieses nebst Umziehn vielerley Geschäfte veranlaßte die außer den gewöhnlichen lagen so habe ich öfters mit eingreifen können und da wir nun ziemlich zur Ruhe sind so arbeite ich an meinen Sachen nun fort.

Ich habe jetzt nur eine Beschäftigung nemlich meine 4 Blätter auszuarbeiten, nemlich die Gedanken welche darin als Ahndung liegen durch die Farben und der vollendeten Ausarbeitung der Gestalten so bestimmt und algemein wie möglich darzustellen, es mögte Dir vieleicht wie andern bey einer eigentlichen Umarbeitung und Erweiterung dieser Blätter bange werden, ich hoffe aber daß es jeden auf eine ähnliche weise befriedigen wird wie unsern Freund Steffens der Morgen mit seiner Frau von hier reist, ich schriebe Dir sehr gerne darüber wenn ich es könnte und so gut wie ich Gedult haben muß solche auszuarbeiten so gut kanst Du es auch – Es hat für mich auf eine sehr woltätige weise gewirkt mit Steffens diesen Sommer öfters zusammen getroffen zu haben, und besonders Genaue verständigung über unsern gemeinschaftlichen Zweck – es würde mir aber sehr großes Vergnügen machen zur rechten Zeit Tieck wieder zu sprechen, da ich nicht zweifle daß er Endlich aus einer unentschloßenheit heraus kömmt, die so üble folgen für viele hat. (Folgt die Bitte um eine Besorgung.)

Ich wünsche daß Deine Frau und Kinder frisch und gesund sind, Pauline und meine Schwester grüßen mit mir, zu Hause sind noch alle wohl auch die die kürzlich erst geboren sind woran es nicht fehlt schreibe mir bald einmahl und vergiß mich nicht ganz

Dein
P. O. Runge.     

Jetzt erst antwortete Reimer, wie ersichtlich, noch immer böse über die Zurückweisung des von ihm vermittelten Heiratsantrages, worauf nun Runge:

Hamburg den 25 März 1808.     

 Lieber Freund

Ich will gern meine Ungeschicklichkeit im Schreiben eingestehen aber nicht daß ich mich in der sache geirrt hätte – –

Daß Du Stavenhagen kennen gelernt ist mir sehr lieb noch lieber daß sich bey dieser Gelegenheit er und Klinkowström näher berührt haben, denen nun der Schuh beyde auf eynerley Art drückt, man muß sich gebärden wie man kann . .

[666] Wenn wir uns wieder sprechen, hoffe ich daß in vielen Dingen mehr Klarheit ist so auch in meiner Arbeit gieb mir einmahl Nachricht von Dir so wie ich die Gelegenheit auch benutzen werde viele grüße von meiner Frau und Schwester an Dich und die Deinigen

Dein getreuer
Otto.     

Sie haben sich nicht mehr wiedergesehen. Runge kränkelte mehr und mehr, und am 2. Dezember 1810 starb er. In Berlin hatten inzwischen die ehemaligen Heidelberger festen Fuß gefaßt und ihre Verehrung der Rungeschen Kunst mitgebracht. Brentano knüpfte von Berlin aus brieflich mit Runge an, was natürlich dem ganzen Freundeskreise, zu dem Reimer gehörte, bekannt wurde. In Kleists Berliner Abendblättern ist dann, aus Brentanos Feder, der sein künstlerisches Werk würdigende und feiernde Nachruf erschienen.

Ich habe die Briefe möglichst so wiedergegeben, wie sie Runge niedergeschrieben hat. Orthographie, Interpunktion, ja selbst Grammatik ist, wie man sieht, nicht ihre starke Seite. Bei manchen Schreibungen fühlt man noch die Einwirkung des Dialektes nach, den Runge sprach. Substantiva wechseln, ohne erkennbaren Anlaß, die großen und kleinen Anfangsbuchstaben; für manche Buchstaben, z. B. für das f, kann nicht entschieden werden, ob sie groß oder klein gemeint sind. All das aber beruht nicht auf Flüchtigkeit bloß in den Briefen an Reimer, sondern vielmehr auf einer Runge eigentümlichen Gewohnheit oder Gleichgültigkeit gegen derartige Dinge. Sieht man nun in die Hinterlassenen Schriften hinein, so erscheinen sämtliche Briefe, Brieffragmente und Schriftstücke in einem durchaus glatten, nach jeder Hinsicht korrekten Text. Es folgt daraus, daß sie von Runges ältestem Bruder, der auch Brentanos Briefe (8, 135) „modificirt“ abdruckte, für die Herausgabe bearbeitet worden sind. Ob aber vielleicht auch umgearbeitet, wie eingestandener und sichtlicher Maßen die beiden Märchen? Davon wird nunmehr die Rede sein.

In dem ersten Briefe an Reimer, 1803, sendet Runge das ihm „versprochene Lied“ mit: er habe es für sich selbst gemacht, und weil ers nicht lassen konnte und niemand hatte, dem er seine Not klagen konnte; das sei aber nun mit Gottes Hülfe alles vorbei. Die Annahme erscheint zwingend, daß Runge das Lied in Berlin Reimer vorgelesen oder ihm davon gesprochen hatte, und auf die Bitte des Freundes erbötig gewesen war, eine Kopie von Dresden aus mitzuteilen. Zum Verständnis des Gedichtes ist nötig zu wissen, daß ihm im Frühjahr 1802 die Hand seiner geliebten Pauline von deren Vater, im Hinblick auf ihre große Jugend, versagt worden war und daß damals keine Aussicht zu sein schien, den Sinn des Vaters zu beugen. Aus der unglücklichen Stimmung heraus, die sich Otto Runges bemächtigte, dichtete er:

[667]
(1.)
Ewig schweigt die süße Silberstimme

Die mir tief bis in die Seele drang
sanfte Winde brachten sie hernieder
Daß im Hain es leise wieder klang
Und nun kömmt sie nimmer nimmer wieder.
O! die tiefste Seele war in diesen Tönen
Ewig hofnungsloß ist all mein stilles Sehnen

(2.)
Und die wilden Büsche auf dem Felde

Blumen die an Bächen lieblich blühn
Bäume die im klaren See sich spiegeln
Ringsum all in diesen Ton erglühn
Selbst in Felsen und Bebuschten Hügeln
Alles ist von diesem Ton beseelt beweget
Der sich ewig mir im Herzen reget.

(3.)
O sie kömmt herunter zu dem Thale

Alle Blumen kommen zu ihr hin
Gräschen, Veilchen, Rosen, MaienGlöckchen
Grüßen kränzend ihre Königin
Selbst das allerschönste Rosenstöckchen
Diese Lieblichste die je mein Aug gesehen
Seh ich mit Entzücken vor mir stehen.

(4.)
Tief ins Auge in die Süße Seele

wie die Sonne sich im Meere kühlt
Senk ich meinen Blick mit stiller Freude
fühl sie wie man eignen Willen fühlt
Seelenvoller hallt der Wald um Beide
und diß alles, alles ist jetzund verschwunden
Ewig glühn in meiner Seele diese Stunden.

(5.)
Alles was ich in der Welt nun liebe

Immer bringt es mir Ihr Bild zurück
Was ich tief in meine Seele denke
Alles gute, vorgegangne Glück
Wenn ichs einst im Lethestrom versenke
nur dich süßes Bild das mir von Ihr geblieben
Dich allein nur werd ich dann noch immer lieben.

(6.)
Wird dis einz’ge Wesen mir genommen

Find ich mich so schrecklich dann allein
In Verzweiflung seh ich Tod das Leben
Jetzt und zukunft ist mir Todespein
Qualen sind mir dan wie Tod so leben
O der hat den Schmerz der Seele nie gefühlet
Den der Tod den glühnden Busen kühlet.

(7.)
Was soll nun aus meinem Streben werden

Hin sind alle Pläne alle Kraft
Irre geh ich fort vom Thal zum Hügel
Ohne Ruh, dem Orte nur entraft
nur zu ihr ziehn meiner Seele Flügel.
Sinken mir nun auch erschöpft die Augenlieder
selbst im Tode find ich keine Ruhe wieder

[668]
(8.)
Sprech mir keiner jemahls von vergeßen

Von zukünftgem schönerm größerm Glück
Von der Zeit die schwarzen [!] kan verbleichen
Ewig nicht kehrt ruhe mir zurück
Niemahls will ich mehr ein Glück erreichen
wütend will ich selbst mein Glücke mir zerstören
Sie nur liebend will ich an mein Leben zehren

So die eigene Niederschrift des Dichters, die ich wieder unberührt gelassen habe, um ganz rein die Vergleichung mit derjenigen Textgestalt zu ermöglichen, in welcher das Lied bereits in den Hinterlassenen Schriften (2, 130) erscheint. Es trägt hier die Datierung „Den 11 May 1802“ und ist einem Briefe Runges an Perthes vom folgenden Tage beigegeben, mit der Bemerkung: „um dir aber doch noch eine kleine Ergötzlichkeit zu machen, lege ich ein Gedicht bey, das in einer Reisebeschreibung in Knittelversen vorkommt, von einer Fußtour, die ich mit einigen Freunden kürzlich nach Tharand gemacht.“ Die dortige Gegend also ist es, der die Naturschilderungen des Liedes gelten. Runge selbst legte ersichtlich Wert auf dieses Gedicht, da er es, wie Perthes, ein Jahr später nun auch Reimer mitteilte. Runges ältestem Bruder Daniel hat die Reisebeschreibung noch vorgelegen; er urteilte aber (2, 463): „Sie mag unmitgetheilt bleiben, weil eine merkliche Anstrengung zur Heiterkeit, durch die Spannung in seinem Gemüth hervorgebracht, das Ganze etwas unlieblich gemacht hatte.“

Die beiden Textgestalten des Liedes weichen fast in jeder Zeile voneinander ab. Wer sie aber miteinander vergleicht, der wird mit mir der Meinung sein, daß die Textgestalt der Hinterlassenen Schriften nur aus einer nachträglichen Überarbeitung hervorgegangen sein könne. In der handschriftlichen Gestalt ist die Strophe so gebaut, daß immer fünf trochäische Fünffüßler von zwei trochäischen Sechsfüßlern beschlossen werden, ein Gesetz, das jedoch in den Strophen 2. 3. 6 insofern verletzt erscheint, als jedesmal hier die letzte Zeile nur fünf Füße hat. In den Hinterlassenen Schriften sind die beiden letzten Zeilen aber immer als fünffüßig behandelt, und gerade hier empfindet man die Gewaltsamkeit der – unursprünglichen – Änderungen; z. B. Strophe 1

O die tiefste Seel’ in diesen Tönen! –
Hoffnungslos nun all’ mein stilles Sehnen.

Nach der Handschrift redet der Dichter nicht unmittelbar die Geliebte, sondern das Bild allein, das ihm von ihr geblieben ist, im Du-Ton an: die Druckform dagegen läßt beide Anreden, an die Geliebte sowohl als an ihr Bild, nebeneinander zu und setzt an [669] die Stelle schlichter Einfachheit eine unrichtige Vermengung. Nach der Handschrift (die ich jetzt aber interpungiere) dichtet Runge zum Preise der Geliebten

O sie kömmt herunter zu dem Thale,
Alle Blumen kommen zu ihr hin,
Gräschen, Veilchen, Rosen, MaienGlöckchen
Grüßen kränzend ihre Königin,
Selbst das allerschönste Rosenstöckchen,

das heißt natürlich: die aufgezählten Blumen kommen und grüßen ihre Königin, die gleichsam selbst das allerschönste Rosenstöckchen ist. Diese Erklärung oder diese vom Dichter, wie ich glaube, gewollte Auffassung läßt unter den grüßenden Blumen die Rose mit Recht erscheinen: auch sie grüßt die allerschönste Rose, die zu dem Tale kommt. Setzen wir nun daneben die entsprechenden Zeilen der bisherigen Druckgestalt:

O sie kommt herunter zu dem Thale:
Alle Blumen streben zu ihr hin,
Gräschen, Veilchen, Primeln, Mayenglöckchen
Grüßen kränzend ihre Königin;
Selbst das allerschönste Rosenstöckchen.

Das Semikolon zeigt an, daß hier die letzte Zeile, abgetrennt von der Königin, für sich allein bestehen soll, und daß die Auffassung sei: „selbst das allerschönste Rosenstöckchen, als Blume in dem Thale, grüßt ihre Königin.“ Dann freilich durften, zwei Zeilen zuvor, die Rosen nicht schon auch genannt werden, und an ihre Stelle treten daher – die Primeln. Ebensowenig glücklich ist „streben“ als Ersatz für „kommen“ in der zweiten Zeile, offenbar nur um mit dem Ausdruck zu wechseln. Denn „streben“ ist blaß und unlebendig. Dagegen „kommen“ paßt ganz anders in die künstlerische Situation der Szene, wenn ich so sagen darf. Durch das „kommen“ werden die Blumen des Tales personifiziert, so daß sie wie schöne dienende Frauen der Königin entgegengehen. Aber dieser absichtliche und doch zerstörende Wechsel des Ausdrucks ist charakteristisch für die Druckgestalt, alles erscheint hier sprachlich „schön gemacht“, Fragen und Ausrufe unterbrechen den ruhigen Vortrag des Gedichtes, ein andrer Geist steckt in dem Ganzen: verschieden von der Einfachheit, die die handschriftliche Gestalt atmet und Runge, nach unserer Kenntnis seines Wesens, so wohlansteht. Ich verzichte auf weitere Hinweise im einzelnen, die sich leicht erbringen lassen, und sage, daß das Gedicht in den Hinterlassenen Schriften von Daniel Runge überarbeitet worden ist, und daß wir uns deshalb an die obige handschriftliche Form, als an die echte, zu halten haben. Es ist dem Lied also dasselbe, wie den Märchen vom Machandelboom und vom Fischer, zuteil geworden: [670] wer vermag zu sagen, welchen anderen Stücken nicht auch? Es folgt daraus, daß wir der gesamten Schriftstellerei des Malers Runge gegenüber auf schwankendem Boden stehen.

Und nun noch ein Blick auf den Machandelboom in der Einsiedlerzeitung (Nr. 29. 30, vom 9. 12 Juli 1808). Da stehen große und kleine Buchstaben am Anfange der Substantiva bunt durcheinander. Im Eingang wird noch eine Art Versuch mit Komma zu interpungieren gemacht, aber schon nach einer Spalte lesen wir in der Einsiedlerzeitung gedruckt: „da wurde se gans getrost un freute sik bett de neegte maand vorby was dar kreeg se een Kind so witt as Snee un so root als bloot un as se dat sah so freute se sik so dat se sturv.“ Also immer ohne Interpunktion über die Satzschlüsse, und ohne Regel über kleine wie große Anfangsbuchstaben hinweg. Das ist das Zeichen echter Rungescher Niederschrift, wie es uns aus den Manuskripten sichtbar wird. Bei Büsching ist es für den ersten Druck des Fischers bereits verwischt. Arnim hat also über unser Erwarten hinaus Runges Eigenart bewahrt.


  1. Jacob Grimm war damals in Cassel. Das Verzeichnis der Subskribenten, dem zweiten Bande vorgedruckt, weist 25 Namen aus Cassel auf. Die meisten standen in nachweisbarem Verkehr mit den Brüdern Grimm. Es ist anzunehmen, daß die Casseler Subskribenten durch Grimms gewonnen worden sind.
  2. über das Lied weiter unten.
  3. das heißt: die buchhändlerische Compagnie, die sein Bruder und seine Freunde zusammen begründet hatten.
  4. vgl. Hinterlassene Schriften 2, 214 und sonst.
  5. Tieck war bei Reichardts in Giebichenstein zu Steffens’ Hochzeit.
  6. Runges Schwestertochter Wilhelmine Hellwig, später Frau des Freiherrn von Langermann.
  7. Das heißt: von Wolgast nach Hamburg zwischen den feindlichen Armeen hindurch, vgl. Hinterlassene Schriften 2, 503, wo indessen in dem Datum des 15. April, als des Tages der Abreise von Wolgast, ein Irrtum stecken muß, oder es wäre anzunehmen, daß Runge von Dahlen nochmals erst nach Wolgast zurückgekehrt wäre.