Zu Richard Wagner’s Tod

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Autor: Ferdinand Avenarius
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Titel: Zu Richard Wagner’s Tod
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aus: Die Gartenlaube, Heft 14, S. 220–224
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Zu Richard Wagner’s Tod.

Von Ferdinand Avenarius.

Und so wäre es denn wahr: Richard Wagner ist todt! Wir wollten’s nicht glauben, daß er auch einmal alt werden, daß er gar sterben könne, er, der, so lange wir ihn kannten, nur wuchs und wuchs, der in jedem seiner Werke in vollerer Manneskraft vor uns zu treten schien. Und doch ist’s wahr, Richard Wagner weilt nicht mehr unter uns! Noch ein erhabenes Werk schuf er und fast ohne Krankheit trat er aus unserer Mitte. Wahrlich, hätte dieser Mann im Alterthum ein solches Leben so geschlossen – die Mythenbildung hätte sein Scheiden verklärt, und wie bei dem des Pythagoras würde die staunende Welt nicht sagen: er ist todt, sondern: er ist zu den Göttern entrückt.

Aber der Künstler Wagner lebt ja noch! Er wird leben und uns vom Alltagsleben zu freier Höhe emporziehen, so lang uns seine Klänge durchrauschen. Der Mensch Richard Wagner, der kleine große Mann mit dem entschlossenen Mund, den durchdringenden Augen, der gewaltigen Stirn – seiner freilich werden wir uns nie mehr erfreuen. Und wie wir einem treuen Freund, der auf immer von uns geht, noch einmal recht tief und innig in’s Antlitz schauen, uns seine Züge treuer zu bewahren, so suchen wir uns heut die Züge tiefer einzuprägen, die das Bild des Menschen im Geschiedenen formten.

Ein wenig dazu soll auch das Folgende beitragen. Nicht aber von dem Wagner der letzten Jahrzehnte will ich sprechen, nein, von dem Wagner will ich erzählen, von dem noch kein Musiker sprach, den Keiner kannte, als der, der mit ihm verkehrte – vom Knaben Wagner. Und keine Biographie will ich geben: der Abriß seines Lebens ist ja uns allen bekannt, und wär’s auch nur durch jenen Aufsatz, den die „Gartenlaube“ vor ein paar Jahren brachte. Ein wenig plaudern wollen wir zusammen, mein lieber Leser, wie wir von theuren Todten in der Dämmerstunde zu plaudern gewohnt sind – taucht doch ihr Bild klarer vor uns herauf, wenn wir statt Daten und Jahreszahlen dem freundlichen Gruß kleiner lieber Erinnerungen lauschen, wie sie kommen und gehen und uns anheimelnd durch die Seele klingen.

[221]

Zur Erinnerung an Richard Wagner. Originalzeichnung von Rudolf Cronau. (Vergl. S. 236.)

Wagner’s Geburtshaus in Leipzig. Das Wagner-Theater in Bayreuth. Wagner’s Sterbehaus in Venedig.

[222] Am 22. Mai 1813 war Wagner zu Leipzig geboren – dem Frühling des großen Jahres der nationalen Erhebung entstammt auch der Erheber der nationalen Kunst. Ein paar Monate nach der Geburt des Knaben rollte um seine Wiege der Kanonendonner der Völkerschlacht. Seine Mutter hat es dem heranwachsenden Jungen oft erzählt, wie Napoleon, ohne Hut auf dem Kopfe, auf seinem Pferde den Brühl hinunter und am „weißen und rothen Löwen“ vorbeisprengte, in welchem der kleine Richard lag. Sein Vater, der Polizei-Actuar Friedrich Wagner, fiel noch dem großen October zum Opfer – er starb am Lazarethtyphus, der ihn bei der Pflege der Kranken und Verwundeten ergriff.

Wie ein Vermächtniß, das in so schwerer Zeit doppelt heilig war, hatte der Sterbende Weib und Kind dem treuesten seiner Freunde, Ludwig Geyer, an’s Herz gelegt. Mit ihm, der bald Richard’s Stiefvater wurde, siedelte die Familie nach Dresden über.

Es muß ein prächtiger Mann gewesen sein, der Maler und Hofschauspieler Geyer.

„Wer ihn kannte,“ sagte nach seinem Tode Böttiger in der „Dresdener Abendzeitung“, „war stets zweifelhaft, ob er seiner vielfachen Kunstfertigkeit, oder seiner geistreichen Unterhaltung, oder seinem tiefen Gefühl, wo es Liebe und Pflichterwiderung galt, seinen Beifall zunächst schenken sollte.“

Wer aber in alten Briefen und Familienpapieren den Lebensäußerungen dieses Mannes nachgeht, dem blüht aus den vergilbten Blättern eine so frische lebenathmende Gestalt entgegen, daß er sie nimmermehr vergißt. Es ist köstlich zu sehen, wie er ein jedes Glied der Familie anders und ein jedes gerade ihm angemessen zu leiten sucht, wie er bald freundlich zuspricht, bald tröstet, bald seine Ermahnungen durch Humor verzuckert, bald mit prächtigen Knittelversen die Sorgen und Kleinlichkeiten des Lebens zum Tempel hinausjagt. Die bösen Geister, welche sich aus dem Zusammenstoß seines hochstrebenden Künstleridealismus mit den Sorgen um Fleisch und Brod und mit deren Verkörperung in der Hausfrau entwickeln mochten, bannt er in seinem Lustspiel vom „Bethlehemitischen Kindermord“ auf’s Papier. Denn auch als Lustspieldichter bethätigte sich Geyer und auch hier erfreute er sich der Anerkennung. Ludwig Tieck, damals Dresdener Dramaturg, hoffte viel von seinem Talent. Aber Geyer starb jung.

Und trotzdem sein Stiefsöhnchen kaum sieben Jahre beim Tode Geyer’s zählte, war doch er es, der den größten Einfluß auf Richard’s Jugend übte. Durch sein Wort, so lange er lebte, durch seine Denkart, seine Anschauungen, kurz, durch seinen in der Familie fortwirkenden Geist, nachdem er gestorben. Das empfanden auch Richard’s Verwandte wohl – es war ein Ausdruck solchen Gefühls, wenn sie den Knaben bis zu seiner Confirmation nur „Richard Geyer“ nannten. Auch die Schülerlisten der Kreuzschule, die er nun bald bezog, kennen ihn nur als solchen.

Es steht noch, das alte Haus am Dresdener Jüdenhof, in welchem der Knabe heranwuchs. Sein Mannesalter sollte sorgenvoller werden, als seine Kindheit, denn seine Mutter, der zudem klarer Menschenverstand und praktischer Lebensblick über manches hinweghalf, ward von den gröbsten Sorgen des Lebens nicht berührt. Vater Geyer’s Bilder waren nach seinem Tode im Werthe noch gestiegen, die ältesten Geschwister hatten schon gute Einnahmen, und eine königliche Pension scheint hinzugetreten zu sein; denn Geyer, der feingebildete, vielseitige und geistreiche Künstler war am sächsischen, wie – im Hinblick auf seinen Sohn ein eigenthümlicher Zufall – am baierischen Hofe sehr beliebt. Ein Theil der besten Dresdener Gesellschaft verkehrte im Hause seiner Wittwe.

Der kleine Richard aber fand seinen ersten Freund, seinen eigentlichen Spielcameraden in Cäcilie, seinem zwei Jahre jüngeren Stiefschwesterchen.

„Wenn Du Dich so wieder einmal an mich wendest,“ schrieb er an sie, als Beide lange erwachsen waren, „so fällt mir doch immer unwillkürlich unsere Jugendzeit ein, wo wir zwei doch eigentlich am meisten zu einander gehörten: keine Erinnerung aus jener Zeit kommt mir, ohne daß Du mit darin verflochten wärst.“

Ihr, der späteren Gattin des Verlagsbuchhändlers Avenarius, meiner Mutter, danke ich das meiste von dem, was ich erzähle. Alle anderen Geschwister Wagner’s ruhen gleich ihm.

Nun aber wollen wir nach dem Jungen ausschauen! Da kommt er, im kurzärmeligen Kittel – ein schmächtiger, blasser, kleiner Kerl. aber wild, daß er „alle Tage einen Hosenboden auf dem Zaune läßt“, wie Papa Geyer klagt. Mit seinen Schulcameraden, den guten Dresdener Philisterjungen, kommt er schlecht zurecht, mit der dunkelhaarigen kleinen „Cile“ um so besser, denn alle seine Streiche macht sie mit, all seine Dummheiten hält sie für Gott weiß wie gescheidt. Tags tollen sie zusammen herum, Nachts schlafen sie in derselben Kammer – wenn sie sich nämlich schlafen lassen; denn unruhige Gesellen sind sie alle Beide, und von Richard’s Schreien, Weinen, Lachen und Gespenstersehen, während er im Bette lag, weiß meine Mutter genug zu berichten.

Ueberhaupt war seine Phantasie dasjenige, von dem er am meisten litt. Wenn er schon am hellen lichten Tage Geister sah und Stimmen hörte, so läßt sich’s begreifen, daß er vor der Dunkelheit einen mächtigen Respect hatte und absonderlich an der schmalen, düstern Treppe, die zur Wittwe Geyer hinaufführte, gar kein Gefallen fand.

Der Knabe ward größer, trieb sum und habeo, und, da er einen guten Kopf hatte, trotz weniger Schularbeiten und vieler Allotria bald auch Griechisch. Ja, das war eine Welt, die ihn packte – nichts als Homer hatte er im Kopf, nun er ihn einmal kennen gelernt! Saß er zu Haus, so übersetzte er daraus, ging er mit seiner Schwester spazieren, so erzählte er von nichts, als den Wundergeschichten der Odyssee, von groben, plumpen Cyklopen, von der niederträchtigen Zauberin Circe und vor allem von ihm, dem urgescheidten Odysseus, der doch mit all der Gesellschaft machte, was er wollte. Der erste selige Rausch, den damals der Knabe aus dem Becher griechischer Schönheit trank – er weht durch sein ganzes Leben als schöne Begeisterung weiter.

Und noch ein anderer Zug in Richard’s Charakter äußerte sich schon damals lebhaft: die innige, nein, leidenschaftliche Liebe zur Natur. Als der Knabe zum Mann geworden war und manchen bittern Trank gekostet hatte, schrieb er einmal an seine alte Mutter: „Fühl’ ich mich so bald gedrängt, bald gehalten, immer strebend, selten des vollen Gelingens mich freuend, oft zur Beute des Verdrusses über Mißlingen – fühl' ich mich fast immer empfindlich verletzt durch rohe Berührungen mit der Außenwelt, die ach! so selten, fast nie, dem innern Wunsche entspricht, so kann mich einzig der Genuß der Natur erfreuen. Wenn ich mich ihr oft weinend und mit bitterer Klage in die Arme werfe, hat sie mich immer getröstet und erhoben.“

In seltenem Maße entwickelt war schon früh seine Thierliebe. Er kannte alle Hunde weit und breit, hatte es mit seinem Schwesterchen ganz sicher ausspionirt, wenn es irgendwo einen überflüssigen Hundesäugling vom schnöden Ertränkungstode zu retten galt, und suchte einmal eine verkommende Kaninchenfamilie dadurch dem süßen Dasein zu bewahren, daß er sie vor ihren Verfolgern in seinem – Arbeitssecretär versteckte. Endlich setzte er von seiner Mutter die Erlaubniß durch, sich ein Hündchen zu halten. Das arme Thier fiel, als die Kinder einmal ausgegangen waren, zum Fenster hinaus und brach den Hals. Es wurde lange, lange beweint – soll doch Wagner später die Trauer um seinen Tod als den tiefsten Schmerz jener Jahre bezeichnet haben.

Es war auch dem Erwachsenen so gut wie unmöglich, recht froh zu sein, ohne daß „etwas um ihn herumbellte“. Mitunter kam er dabei in Verlegenheit – köstlich und meines Wissens noch nie erzählt ist jene Geschichte, bei der sein großer schwarzer Hund, „Rüpel“ geheißen, die Hauptrolle spielt. Es war in Magdeburg zur Zeit, als Wagner dort Musikdirector war. Wie ein Wahrzeichen folgte ihm, der damals in blauem Frack und weißen Hosen gerade auf Freiersfüßen ging, auf allen Wegen und Stegen der ehrliche „Rüpel“ nach. Ueberall hin, nur in’s Theater nicht. Einmal aber doch. Wagner, der die Zwischenactsmusik dirigirt hat, sitzt, während er im Orchester nicht nöthig ist, in der Theaterkneipe bei einem Glase Bier. Auf der Bühne scheidet gerade ein Uebelthäter von einem moralischen Manne, den er zurückläßt. Da erscheint auf den Brettern, welche die Welt bedeuten, kein Geringerer, als Rüpel, der seinen Herrn sucht. Verzweifeltes Locken und Rufen hinter den Coulissen hervor – „Rrrr!“ als einzige Antwort. Der Schauspieler stockt – soll er fortfahren? Ihm scheint’s am geratensten, den Eindringling stolz zu ignoriren. Er weist auf die Stelle, an welcher der Bösewicht, mit dem er im Stücke gesprochen, soeben hinausgegangen ist – leider steht Rüpel nicht entfernt von ihr. „Der ist gerad’ ein so leichtfertiger Geselle, wie sein Herr!“ Da bricht das Publicum in stürmischen Jubel los. Endlich erscheint, zu Hülfe gerufen, der Capellmeister selbst hinter den Coulissen, er ruft den Köter – der erkennt ihn, sein Knurren [223] und Zähnefletschen wird von fröhlichem Schwanzwedeln abgelöst, und heiter tänzelnd verschwindet er vom Schauplatz seiner Thaten.

Ernster – und in der That wirklich ernst – war für ihn der Kummer, den ihm später, zur Pariser Zeit, sein großer schöner Neufundländer bereitete. Er hatte ihn von Riga her mitgenommen: alle Gefahren der Wasserreise, alle Strapazen der Landfahrt, bei welcher der Hund neben dem Wagen hergelaufen, waren von „Robber“ glücklich überstanden, und so hing Wagner mit doppelter Liebe an ihm. Der Heinebiograph Strodtmann erzählt, daß Heine „andächtig die Hände faltete“ ob der Zuversicht unseres „unbekannten deutschen Musikus“, der „mit einer Frau, mit anderthalb Opern, mit einer kleinen Börse und einem furchtbar großen, furchtbar viel fressenden neufundländischen Hunde“ nach Paris kam, um sein Glück zu machen.

Aber – „Selbsterhaltung ist die erste Pflicht, menschliche Gesinnung gegen die Thiere eine zweite und schönste“. Das war ein Capitel aus Wagner’s Glaubensbekenntniß, und so ließ er seinen „Robber“ nicht im Stich. Aber Robber sollte ihn im Stich lassen. Eines Morgens war er verschwunden. Wagner bot alles auf, ihn wieder zu erhalten. Endlich ließ er, der damals in den kümmerlichsten Verhältnissen lebte, an die Straßenecken von Paris Plakate schlagen, die dem Wiederbringer des Hundes – hundert Franken Belohnung verhießen. „Hab’ ich nur erst den Robber – die hundert Franken werde ich schon irgendwoher zusammenbekommen!“

Aber auch das war fruchtlos, und Wagner mußte sich in den Verlust seines Lieblings ergeben. Da – als er nach Jahr und Tag seinen gewohnten Morgengang an einem nebligen Herbsttage unternimmt – steht plötzlich der Verlorene vor ihm. „Robber, Robber!“ Der Hund hört die Stimme, wedelt – dreht sich um und jagt davon! Wagner hinterher, durch Straßen, Plätze und Gassen, bis das Thier vor ihm im Nebel verschwindet.

Das war die einfache Geschichte. Wer aber sehen will, wie tief die Untreue seines Hundes, dieses seines „Treuesten“, den Herrn desselben berührte, der lese Wagner’s Novelle: „Ein Ende in Paris“. Aber keine Untreue machte unsern Meister an seiner Thierliebe irre. Später, als er Dresdner Capellmeister war, besuchte ihn einmal meine Mutter. Sie fand ihn in trüber, wehmüthiger Stimmung.

„Willst Du die Freunde sehen, denen ich am meisten verdanke? Da sind sie!“ Und er wies auf seinen Hund und seinen Papagei. „Es sind ja auch meine einzigen Kinderl“ fügte er hinzu. –

Aber wohin gerathen wir – wir wollten vom Kinde plaudern und erzählen uns Geschichtchen vom Mann! Ja, das ist eben die Sache, daß der kleine Richard Wagner schon so viel vom großen an sich hat, daß wir, wenn wir den ersten sehen, immer unwillkürlich an den zweiten denken.

„So!“ werd’ ich nun gefragt, [„]kannst Du uns da nicht auch etwas vom künftigen Musiker im Jungen erzählen?“ Nein, nur von dem gewaltigen Eindrucke, den damals ein Musiker auf ihn machte. Weber’s „Freischütz“ war erschienen, und Alles, vom Minister bis zum Lohndiener, sang, pfiff und trällerte seine Melodien. Weber selbst aber war damals in Dresden, was später Wagner war: Capellmeister. Wenn er aus der Probe kam und am Jüdenhof vorüberging, so rief Richard sein Schwesterchen an’s Fenster:

„Du, der da ist der größte Mann, der lebt; Du, wie groß der ist, das kannst Du Dir gar nicht vorstellen.“

Der kleine, dürre Mann mit dem langen, grauen Ueberrocke, mit der riesigen Brille auf der riesigen Nase – er wollte dem Mädchen anfangs gar nicht groß vorkommen, bald aber betrachtete auch sie ihn, wie ihr Bruder, nur mit „heiliger Scheu“. An keinem Abende aber, wenn der „Freischütz“ gegeben ward, war Richard im Hause zu halten. Hinter den Coulissen durfte er zuschauen – am Gelde für das Billet lag also keine Schwierigkeit, in’s Theater zu kommen. Wohl aber daran, daß Richard’s und der Mama Geyer Ansichten darüber, ob dies oder die Schularbeiten wichtiger seien, zuweilen aus einander gingen. Thaten sie’s, so setzte sich der Junge am Abend hin: „Ach Gott, jetzt ist nun das dran – jetzt das – jetzt das!“ und dabei heulte er „Thränen wie die Bierflaschen“ nach meiner guten Großmutter Ausdruck. Doch er erreichte schon damals meist, was er wollte: „Mach’, daß Du fortkommst!“ Husch, ging’s in den „Freischütz“! Nichts aber konnte die Phantasie des Knaben aufnehmen, ohne es, irgendwie verarbeitet, wieder aus sich heraus zu gestalten. Was war ihm das Spielen dort auf dem Theater: er selbst wollte den „Freischütz“ aufführen! Bei einem Freunde sollte er in Scene gehen, da war denn des Klebens und Pappens kein Ende – besonders an einen großen Eber erinnert sich meine Mutter, der mit seinen weißen Papphauern gar dämonisch auf seinem Brette einherschurrte. Die Wolfsschluchtscene war natürlich die Hauptsache. Richard gab den Caspar, aber der Max hatte nichts gelernt. Caspar machte ihm heimliche Vorwürfe, da lachte Max zuerst und schimpfte dann. Und die Zuschauer machten’s ebenso.

Es war eine jener Erfahrungen, denen kein begabter Knabe entgeht. Wie sollten ihn seine Altersgenossen auch verstehen, ihn, der, lebhafter als jeder Andere, Alles in sich aufnahm, was ihm entgegentrat, dessen immer erregte Phantasie ihm ein Kraftbewußtsein schuf, dem nichts unmöglich schien, und der dann wieder fast weiblich zart empfand und gegen Kleinigkeiten, welche die dicke Haut der guten Spießbürgerjungen kaum bemerkte, bis zu Thränen reizbar war! Immer mehr zog sich Richard von seinen Schulcameraden zurück, immer mehr verkehrte er nur mit seiner Schwester. Am meisten aber trug dazu die folgende kleine Geschichte bei, die Geschichte von Wagner’s – erstem Patronatverein.

Freilich, um Bühnenfestspiele handelte es sich damals nicht, sondern um etwas ein wenig Einfacheres: um ein Vogelschießen. Richard und Cäcilie hatten die kleinen Schächtelchen, in denen sie vom Frühstück abgesparte Pfennige für außerordentliche Gelegenheiten zu verwahren pflegten, schon recht schwer werden lassen: nun sollte ein großes „Sommerfest“ für Richard’s Freunde arrangirt werden, mit einem Vogelschießen als Glanzpunkt. Aber dazu war der Mammon doch zu knapp. So ward denn eine Art von Verein begründet: wer einen Dreier auf den Altar der Kunst legte, sollte Freud’ und Antheil an all dem Hohen haben, das da vorbereitet ward. So häuften sich die Summen, und als die Farben-, Rauschgold- und Nagellieferungen eingetroffen waren, begab sich der Meister an’s Werk, um aus dem schwersten Brennholze den stolzesten Aar hervorzuzaubern. Nun ward auch die Vogelstange im Garten errichtet, die zu gewöhnlichen Zeiten bescheiden als Wagendeichsel diente – und bald leuchtete das Wappenthier mit Gewinnen behängt in allen Farben über den Gartenzaun. Morgen sollte das Fest vor sich gehen. Aber ach, als der Unternehmer desselben am nächsten Tage mit seinem Intendanten, der Cäcilie, vor die Thür trat, sein Werk zu beschauen – da lag’s traurig am Boden. Die lieben guten Freunde hatten gefunden, daß doch das Vergnügen weit größer sei, wenn sie den Adler vorher mit Steinen herunterwürfen und sich nachher an Richard’s Wuth und Thränen weiden könnten.

„Wir haben unsern Dreier gegeben, da können wir auch damit machen, was wir wollen!“ war auf des armen Jungen Vorwürfe die Entgegnung seiner holden Genossen. Wie oft ist es Wagner mit großen weisen Männern so ergangen, wie hier mit diesen Schulcameraden, den „Freunden“ seiner Jugend! Es ist wahrhaftig kein Wunder, wenn er mit der Zeit lernte, „hart zu werden“.

Je älter Richard wurde, desto häufiger machte er sich auch an poetische Versuche. Er selbst erzählt uns in jener autobiographischen Skizze, die seinen Werken vorgedruckt ist, daß er das Englische „blos, um Shakespeare ganz genau kennen zu lernen“, trieb, wie er früher das Griechische so leidenschaftlich lernte, um den Homer in der Ursprache lesen zu können. Ein Gedicht auf einen verstorbenen Mitschüler wurde gedruckt. Durch Shakespeare angeregt, wuchs aber auch ein großes Trauerspiel in Wagner’s Kopfe heran.

„Der Plan war äußerst großartig,“ schreibt der erwachsene Meister darüber, „zweiundvierzig Menschen starben im Verlaufe des Stückes, und ich sah mich bei der Aufführung genöthigt, die meisten als Geister wiederkommen zu lassen, weil mir sonst in den letzten Acten die Personen ausgegangen wären.“

Ob es mit den „zweiundvierzig“ Opfern gar so ernst zu nehmen ist, weiß ich nicht – schauerlich genug ging’s aber in dem Drama her; denn mit dem Geiste Shakespeare’s, dem es bekanntlich auf ein Menschenleben mehr oder weniger auch nicht sehr ankommt, spukte damals derjenige des Gespenstergeschichtenerzählers von Beruf, E. T. A. Hoffmann, in Richard’s Kopf. Und dem jungen Wagner ging’s, wie seinem Vorbilde Hoffmann – auch [224] er fürchtete sich schließlich selbst vor den Geburten seiner Phantasie. Und wie es seinem Schwesterlein, die natürlich auch hier seine Vertraute war, gegruselt haben mag, das können wir uns wohl denken! Gerade in jener Zeit aber sprießen zwischen all den Kindereien leise, leise die ersten Keime männlichen Denkens bei unserm Helden hervor.

Einmal trug er der Cäcilie eine dämonische Stelle vor, in der ein Lebender auf einen Geist zuschreitet. Da ruft ihm die dumpfe Grabesstimme ein Zurück: „Rühre mich nicht an; denn meine Nase zerfällt in Staub, sowie man sie anfaßt.“ Meine Mutter behauptet, daß ihr das schon damals ein wenig sonderbar vorkam. Bald darauf besuchte eine Freundin den jungen Poeten.

„Wie geht’s mit dem Trauerspiel?“ frug sie.

„Nu, bis auf Einen hab’ ich sie Alle todt!“ war seine Antwort. Das sagt kein Kind. Das ist erwachende Selbstkritik. Auch äußerlich war ein Abschnitt in Wagner’s Leben eingetreten: seine Familie war nach Leipzig zurückgesiedelt. Das Suchen und Träumen des Knaben wich der geregelten Arbeit, dem geregelten Vorwärtsstreben des Jünglings. Er hörte Beethoven’s Musik – ihr Eindruck auf ihn war „allgewaltig“ und, was sich bisher nur leise flüsternd in den Zweigen geregt, die Liebe zur Musik, nun brach sie mächtig wie ein Lenzessturm hervor und fegte alle die Blätter vor sich hin, die in früheren Jahren erblüht und verwelkt waren. Noch wenige Lehrjahre, dann folgen die Jahre der Wanderschaft.

Das Schauspiel, das dann beginnt, ist ein wenig großartiger, als jenes mit den „zweiundvierzig“ Todten: das Schauspiel von Wagner’s Werden, das herrlich, wie nicht so leicht ein anderes, zeigt, wie der Genius auch aus dem ihm Fremdesten und Widerwärtigsten gerade das und das allein herausfindet, was ihn nährt, stärkt und stählt.

Hoffnungen und Enttäuschungen, und wieder Enttäuschungen und Hoffnungen, das ist der Inhalt der Jahrzehnte, welche folgen. Endlich sucht Wagner sein Glück im Ausland, zunächst in Riga, dann mit kühnem Entschluß in der Musikweltstadt Paris. Auch hier Enttäuschung und die Erkenntniß, daß es auch hier keinen Kampf der Talente giebt, sondern einen Kampf der Namen. Bald lebt er in Verhältnissen, die so ärmlich sind, daß er um des lieben Brodes willen Arbeiten übernimmt, die nicht viel besser sind, als Abschreiben, ja, daß er alles irgend Entbehrliche versetzen muß, selbst theure Andenken seiner Verwandten. Wohl tritt an ihn die Versuchung heran, es auch so zu machen, wie die Andern, dem Publicum zu schreiben, was ihm Spaß macht, und das, was er auf geradem Wege nicht erreichen kann, auf krummem Wege zu versuchen.

Aber er selbst erzählt uns, wie der Geist der deutschen Musik ihn schnell und kräftig über alles Schwanken emporträgt: Beethoven’s Klänge, die die Brust des reisenden Knaben wie Chöre des Himmels durchbebten; sie heben ihn wieder vom Staube der Erde empor – er sieht ihn noch, aber er fühlt ihn nicht mehr. Jener Stolz, jene gewaltige Energie, die wir an ihm bewundern, jetzt entwickelt sie sich. Er glaubt fortan felsenfest an sein Ideal; so sehr er am Gelingen des Einzelnen zweifeln mag, an den Sieg seiner Ueberzeugungen glaubt er fortan mit dem Glauben, welcher Berge versetzt.

Und endlich, endlich sollte ihm ja auch die erste Anerkennung kommen, der erste große Erfolg: die Aufnahme des „Rienzi“ zur Aufführung in Dresden. Auch der „Holländer“ nahte seiner Vollendung entgegen. Wie rührend sind Wagner’s Erzählungen aus jener Zeit, wie ergreifend ist der Bericht, in dem er davon erzählt, wie er sich nach langer Entbehrung endlich wieder – ein Clavier miethen konnte!

„Nachdem es angekommen, lief ich in wahrer Seelenangst umher, ich fürchtete nun entdecken zu müssen, daß ich gar nicht mehr Musiker sei. – Alles ging mir im Fluge von Statten und laut auf jauchzte ich vor Freude bei der innig gefühlten Wahrnehmung, daß ich noch Musiker sei.“

Meine Eltern, die damals mit Wagner in Meudon wohnten, waren bei jener ersten Probe zugegen. Es war in einem kleinen Landhaus, in einem Zimmerchen, dessen einzige Ausstattung jenes geliehene Piano und ein paar Stühle bildeten. Auch meine Eltern erzählen, daß Wagner „laut aufjauchzte vor Freude“, dann wandte er sich um:

„Hört, klingt das nicht nach etwas?“

Da klopfte es. Monsieur Jadin, der Hauswirth, ein altes Original, das Wagner selbst köstlich geschildert hat, schickte herauf. Er ließe bitten, solches Musiciren zu unterlassen. Das war die erste Kritik des – Spinnerliedes aus dem „Holländer“.

Doch der „Rienzi“ sollte in Dresden nun bald in Scene gehen. Wagner kehrte in die Heimath zurück.

„Ich kann es Euch nicht sagen, wie ich sie hasse, diese große kalte Fremde für unsere deutschen Herzen!“ schrieb er, als er die Grenze überschritten hatte, an meine Eltern. Und die Selbstbiographie seines ersten Lebensabschnittes schließt: „Zum ersten Male sah ich den Rhein – und mit hellen Thränen im Auge schwur ich armer Künstler meinem deutschen Vaterlande ewige Treue.“ Und allzu lange währte es nicht, da traf ein Briefchen in Paris bei meinem Vater ein. Es trägt das Datum vom 21. October 1842 – am 20. October 1842 war der „Rienzi“ zum ersten Male über die Bretter gegangen. Das Briefchen lautet:

„Na, liebste Kinder! In aller Eile und Abspannung muß ich Euch heute doch wenigstens mit einer Zeile melden, was gestern vorgefallen ist. Es wäre mir lieber, Ihr erführet es von einem Andern, denn ich muß Euch sagen, daß noch nie, daß, wie mir alle versichern, in Dresden zum ersten Male eine Oper mit solchem Enthusiasmus aufgenommen worden ist, wie mein ‚Rienzi‘. Es war eine Aufregung, eine Revolution durch die ganze Stadt; ich bin viermal tumultuarisch gerufen. Uebermorgen ist die zweite Vorstellung, schon auf die dritte sind alle Plätze genommen. Ich bin furchtbar ermüdet und abgespannt; nach der zweiten Vorstellung schreibe ich ausführlich. Die Aufführung war hinreißend schön – Tichatschek, die Devrient – Alles – Alles in einer Vollendung, wie man es hier noch nie erlebt. Triumph! Triumph! Ihr guten, treuen, lieben Seelen! Der Tag ist angebrochen! Er soll auf Euch Alle leuchten!“

Bei Gott, er hat auf uns Alle geleuchtet!

Und nun ist er todt. Was er gewirkt und geschaffen – ein jeder Berufene hat das Recht, es frei zu beurtheilen. Das jämmerliche Geschrei aber, mit der die Person des Mannes ihr Leben lang beschimpft ward, möge über seiner Gruft verstummen!