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Zum Jubeljahr der Lebensversicherungs-Gesellschaft zu Leipzig

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Autor: Friedrich Hofmann
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Titel: Zum Jubeljahr der Lebensversicherungs-Gesellschaft zu Leipzig
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1, 2, S. 14–16, 36, 38–40
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[14]
Zum Jubeljahr der Lebensversicherungs-Gesellschaft zu Leipzig.
Zugleich ein Blick auf das deutsche Lebensversicherungswesen.


memento mori

In unseren Tagen hat sich zu der Wichtigkeit, Werthmesser der Bildung, des Wohlstandes und der sittlichen Kraft eines Volkes zu sein, neben einer Reihe anderer Culturfactoren auch das Versicherungswesen und insbesondere das Institut der Lebensversicherung emporgeschwungen. Für diese volkswirthschaftliche Bedeutung derselben in allen Culturstaaten spricht nicht nur die ungeheure Capitalsumme, welche von dem allgemeinen Vermögen in ihrer Hand liegt, sondern ebenso die Thatsache, daß ihre Quecksilbersäule für alle Störungen und Förderungen im Erwerbsleben der Nation die feinste Empfindlichkeit zeigt, ja, daß sie selbst die dem Blick der Oeffentlichkeit nicht preisgegebene Noth ebenso mit deutlichen Zahlen verräth, wie sie die Grade des steigenden Vertrauens in den Industriekreisen mit untrüglicher Gewißheit mißt.

Dennoch würden wir auf der culturellen Stufenleiter der Nationen gerade unser Deutschland zu tief stellen, wenn wir der Lebensversicherungs-Statistik, also einfachen Zahlen-Vergleichen, die Schätzung unseres dermaligen Werthes im Weltverkehr überlassen wollten. Hier muß die politische Geschichte dem Werthmesser zu Hülfe kommen, um eine Differenz der auftretenden Ziffern zu erklären, welche ohne eine solche Erklärung für uns beschämend sein müßte, während sie in der That das Gegentheil ist.

Halten wir uns nämlich das Gesammtbild des Lebensversicherungsstandes der größten Culturstaaten am Ende des Jahres 1879 nach den Gesellschaften, deren Beobachtung möglich war, in einer Zahlenreihe vor Augen, so steht vor uns:

Staaten Gesell-
  schaften  
  Versicherte     Versicherungs-Capital   Durchschnitts-
  Summe für eine  
Versicherung
England 108   1,044,025   8,300,000,000 ℳ.   7950 ℳ.
Nord-Amerika, Ge-
  sellschaften, welche  
  im Staate New-York
  zugelassen sind
31   595,486   5,759,844,660 „    9673 „ 
Deutsches Reich 39   596,979   2,031,962,634 „    3425 „ 
Frankreich 16   193,673   1,564,045,600 „    8076 „ 
Deutsch-Oesterreich
  mit der deutschen
  Schweiz
14   209,771   507,282,532 „    2418 „ 
Zusammen   208   2,639,934   18,163,035,426 ℳ.   6880 ℳ.


Auf den ersten Blick ergiebt sich der sprunghaft tiefe Abstand zwischen der englischen und nordamerikanischen Lebensversicherungs-Höhe und der um Tausende von Millionen geringeren Deutschlands. Stehen wir wirklich an Bildung, sittlicher Kraft und Wohlstand so weit unter jenen Staaten, wie dieses Zahlenverhältniß andeutet? An ersteren gewiß nicht, an dem letzteren allerdings – und das ist, unsere Vergangenheit im Auge, nicht im Geringsten zu verwundern. – Während von jenen beiden Staaten die nordamerikanische Union auf jungfräulichem Boden aufblüht, gerade aus Deutschland die thatkräftigsten Arme und mit ihnen zugleich Millionen unseres Vermögens an sich zieht, frei von übermächtigen Nachbarn und deshalb von jedem Militärdruck, nur dem Erwerbe leben kann und durch die Politik ihrer Regierung jeden Handels- und Erwerbsvortheil nach außen sorgfältig gewahrt sieht, – und während England, durch den Wallgraben des Meeres vor jedem fremden Feind auf eigenem Boden sicher, seit Jahrhunderten ungefährdet an seinem Wohlstand baut, und seine stets nur nationaldenkende Staatsleitung den eigenen Vortheil in allen Theilen der Erde wie daheim rücksichtslos sucht und mächtig beschützt, – war von alledem bei uns das Gegentheil der Fall.

Im Herzen Europas nach allen Seiten offen daliegend und von eroberungslustigen Feinden rings umgeben, ist Deutschland seit dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges fast zweihundert Jahre lang das Schlachtfeld für alle europäischen Kriege gewesen. Der Westfälische Friede, nach welchem weite Länderstrecken das Bild von „Deutschland im Elend“ darboten – das ich von einem kleinen Theil desselben den Lesern der „Gartenlaube“ (1865) gemalt – legte das aus tausend Wunden blutende „Deutsche Reich“ auf das Krankenbett, auf welchem es von einer Ohnmacht in die andere fiel, bis Napoleon der Erste es gar todt schlug. Kein oberster Gedanke hielt das Volk aufrecht, keine höchste Macht verbunden. Zertheilt an eine Menge Souverainetäten von allen Größen, von lächerlich kleinen bis zu großmachtähnlichen, die, vor Allem auf die Wahrung der Würde ihrer Eigenherrlichkeit bedacht, sich gegenseitig anfeindeten und zu beschränken suchten, mußte es selbst nach und nach im Denken und Wollen schwächer, sein Gesichtskreis ein immer engerer werden; es mußte, den Verhältnissen, die es einengten, angemessen, sich an Kleines und Kleinliches gewöhnen.

Wagte sich ein kühner Geist mit einem großen Unternehmen über diese Miniatur-Vaterlands-Grenzen hinaus, so stieß er überall an chinesische Mauern; das war ja noch in unseren Vierziger Jahren möglich, wie man ebenfalls in der „Gartenlaube“ (1857: „Ein Pionnier des Geistes“, S. 633[WS 1]) nachlesen kann. – Nationale Politik gab es für ein deutsches Volk nicht mehr, und wenn einzelne Fürsten besonders dadurch vor den anderen hervorragten, daß sie, zur Befestigung und Ausbreitung ihrer Macht, an etwas Besseres, als den französischen Hofprunk, dachten, so war es doch auch ihnen nicht unmöglich, die von den „Unterthanen“ mühevoll aufgefundenen auswärtigen Erwerbswege aus politischen oder rein dynastischen Rücksichten nach Belieben wieder zu versperren. Dazu Krieg auf Krieg, bald da, bald dort, und nach jeder Zerstörung, Plünderung und Verarmung von Tausenden wieder die einzige Sorge, neu zu bauen, neu zu erwerben, immer wieder von vorne anzufangen. Der Glaube an öffentliche Sicherheit und Beständigkeit der gesetzlichen Regelung unserer volkswirthschaftlichen Verhältnisse war so dahin, daß viele Gemeinden es als ein Unglück bejammerten, wenn eine Chaussee ihr Dorf berühren sollte, weil sie die sonst dem Handelsverkehr vornehmlich dienenden Heerstraßen nur als Verheerungsstraßen kennen gelernt hatten. Woher sollte bei einem so darniedergedrückten Volke das Vertrauen kommen, ohne welches keine große Unternehmung möglich ist?

Wenn wir das deutsche Volk in diesem Zustande bis zu den Befreiungskriegen und in manchen Gegenden noch weit darüber hinaus – uns vor Augen halten und nun neben die Lebensversicherungssummen Englands und Nordamerikas die von Deutschland stellen, so wird uns nicht Beschämung, sondern ein gerechter Stolz erfüllen über die sittliche Kraft und Bildung, die trotz des so oft ruinirten Wohlstandes allein eine solche Höhe möglich machten.

Je schwerer aber die Arbeit war, die zur Erringung solcher Ziele bewältigt werden mußte, um so mehr sind wir zu dankbarer


  1. Vorlage: S. 653

[15] Anerkennung denen gegenüber verpflichtet, welche alle ihnen durch Zeitumstände und Vorurtheil des Volkes entgegengestemmten Schwierigkeiten und Hemmnisse mit Muth, Energie und Ausdauer zu überwinden vermochten und diese Anerkennung gebührt auch in hohem Maße der drittältesten deutschen Lebensversicherungs-Gesellschaft, der sogenannten „alten“ Lebensversicherungs-Gesellschaft zu Leipzig, die am ersten Januar 1881 das fünfzigste Jahr ihres Bestehens feiert. Wenn wir, um den Geist, der dieses Institut in’s Leben rief und groß zog, kennen zu lernen, einen Gang durch die Geschichte desselben machen, so geschieht dies nicht etwa in der Absicht, diese eine Anstalt vor allen anderen hervorzuheben – das wäre eine plumpe Reclamemacherei – sondern weil wir damit den hindernißreichen Entwickelungsgang auch der anderen, namentlich älteren Lebensversicherungs-Gesellschaften zugleich mit dargestellt zu haben glauben. Ueberdies feiert die Leipziger Anstalt ihre Geschichte durch eine eigene Festschrift.[1]

Wer in unserem Jahrhundert auf „ruhige Zeiten“ zum Beginn eines größeren Unternehmens hätte warten wollen, der würde nie dazu gekommen sein. Auch die Gründung der Leipziger Lebensversicherungs-Gesellschaft wurde nicht durch „ruhige Zeiten“ in’s Dasein gerufen. Die Nachwehen der Franzosenkriege waren noch nicht verwunden, und mit den politischen Zuständen (man denke an das Congreßjahr 1819!) sah es trostlos aus; dennoch schöpfte man frischen Muth, weil im Verlaufe der zwanziger Jahre die alles Verkehrsleben so schwer drückenden Zollschranken im Innern der deutschen Bundesstaaten sich lockerten, besonders aber weil die glücklichen Speculationen des Auslandes, hauptsächlich der Engländer, in Deutschland endlich zur Nacheiferung reizen mußten. Nachdem nun die 1822[WS 1] in Leipzig gegründete „Feuerversicherungs-Anstalt“ guten Bestand gezeigt hatte und die fünf[WS 1] Jahre später begründeten Lebensversicherungs-Unternehmen in Gotha und Lübeck rasch aufgeblüht waren, fanden sich auch in Leipzig die rechten Männer zu einer gleichen Gründung zusammen.

An ihrer Spitze stand, als Anreger, ein Mann, wie er zu einer solchen Gründer-Arbeit nicht geeigneter hätte gefunden werden können, ein Mann aus der altpreußischen Charakterschule, „knapp“ und „stramm“, unermüdlich in der Arbeit, gewissenhaft bis in’s Kleinlichste, von zähester Ausdauer und bewundernswürdiger Selbstlosigkeit: der Kaufmann Johann Friedrich August Olearius. Am 28. Februar 1789 in Magdeburg geboren, war er in Leipzig kaufmännisch gebildet worden und hatte dann mehrere Jahre in einem großen Geschäfte in Bordeaux gedient, das zugleich die Vertretung einer englischen Lebensversicherungs-Anstalt führte. In das ganze innere Getriebe der letzteren eingeweiht, kam er nach Leipzig zurück und erkannte nun sofort, daß diese Stadt mit ihren großartigen Geschäfts-Beziehungen geeignet sei, wie wenige, zum Sitze einer solchen Anstalt. Auf seine Aufforderung schlossen sich diesem Leipziger „Arnoldi“ aus dem Kreise des Handelsstandes und der Wissenschaft Männer von angesehenem Namen an, die sich, nachdem die von ihnen entworfenen Statuten von der Staatsregierung genehmigt worden waren, am 26. März 1830, als das Directorium der neuen Lebensversicherungs-Gesellschaft auf Gegenseitigkeit constituirten.

Den Statuten hatte man die Gothaischen zu Grunde gelegt, namentlich nahm man dieselben Prämiensätze für einfache Versicherungen auf den Todesfall an, rückte jedoch das Aufhören der Prämien-Zahlungsverpflichtung vom neunzigsten auf das fünfundachtzigste Lebensjahr zurück und setzte die bisherige niedrigste Versicherungssumme von 500, um Unbemittelten leichter zugänglich zu sein, auf 300 Thaler herab. – Zum fungirenden Director ernannte das Directorium Herrn Olearius mit einem Jahresgehalt von 600[WS 1]  Thalern, gab ihm auch einen Gehülfen, schärfte ihm jedoch sorgfältigste Sparsamkeit ein. Nach neun Monaten betrugen sämmtliche Gründungskosten 4725 Thaler, die mit 315 Thaler jährlich in 15 Jahren abgetragen werden sollten; „falls jedoch die Gesellschaft nicht in Wirksamkeit treten könne“, – lautete wörtlich der Beschluß, „so seien die erwachsenen Ausgaben von sämmtlichen sieben Mitgliedern des Directoriums oder deren Erben zu gleichem Antheil zu decken“. Das waren auch „Gründer“. Die berüchtigten Herren dieses Titels im verflossenen Jahrzehnt haben sich an ihnen natürlich kein Beispiel genommen.

Wie dem Gothaischen und Lübecker Unternehmen stemmte sich auch dem Leipziger manches Hemmniß entgegen: zunächst der Mangel an Vertrauen auf die Verheißungen, mächtig unterstützt von dem Mangel an Verständniß des Wesens der Lebensversicherung und verbunden mit der herrschenden Volksscheu vor dieser neuen Art „Testamentmacherei“; dann der Umstand, daß gerade in den Kreisen, für welche das Institut das dringendste Bedürfniß hätte sein müssen, in den Kreisen der mittleren Beamtenwelt, die Mittel und in denen der Gewerbtreibenden, die mit ihren Sterbecassen damals noch vollständig zufrieden waren, das Bedürfniß darnach fehlte; endlich drittens das alte Erbübel der Bevorzugung des Fremden, denn diejenigen, welchen die Mittel zum Aufwand für eine Lebensversicherung zu Gebote standen, zogen noch in großer Zahl die längst eingeführten englischen Anstalten den deutschen vor.

Trotz alledem beschloß die Direction der Leipziger Lebensversicherungs-Gesellschaft, am 1. Januar 1831 mit der Ausfertigung der Versicherungsscheine zu beginnen, und zwar eröffnete sie ihr Geschäft mit 184 Personen und einem Versicherungsbetrag von 256,900 Thaler. Am Schlusse des ersten Geschäftsjahres zählte man schon 454 Personen mit einer Versicherungssumme von 668,500 Thaler. Das Wachsthum hatte demnach mit Glück begonnen. Aber auch die erste eigene Erfahrung stellte sich ein: die Cholera drohte der Versicherungscasse mit einem schweren Schlage. Die Leipziger Anstalt beschränkte ihre Abwehrmaßregeln darauf, daß sie vor der Hand aus Cholera-Gegenden keine neuen Versicherungen aufnahm. Die damit bewiesene Vorsicht schien das öffentliche Vertrauen gehoben zu haben; denn im dritten Geschäftsjahre stieg die Personenzahl auf mehr als 1000 und die Versicherungssumme betrug über anderthalb Millionen Thaler.

Im vierten Jahre mußte das Directorium daran denken, daß der Paragraph 20 der Statuten ihm vorschrieb, mit Anfang des sechsten Versicherungsjahres den entbehrlich zu erachtenden Theil des angesammelten Ueberschusses zu vertheilen. Dieser Ueberschuß ergab sich dadurch, daß die durch Todesfälle zahlbar gewordene Versicherungssumme erheblich geringer gewesen war, als nach der in England und auch in Gotha am bewährtesten gefundenen und deshalb auch in Leipzig den Berechnungen zu Grunde gelegten Sterblichkeitstafel der Londoner „Equitable Society“ erwartet werden durfte. Der technische Ausdruck für letztere Erscheinung ist „Untersterblichkeit“, während man das Gegentheil mit „Uebersterblichkeit“ bezeichnet. Nachdem vor Allem nach Maßgabe der reinen Prämien (Nettoprämien) Reservetafeln aufgestellt und darnach die Reserven selbst bestimmt waren, konnte das Directorium mit Zustimmung des Gesellschafts-Ausschusses die erste Vertheilung einer Dividende von 25 Procent der im Jahre 1831 eingezahlten Jahresbeiträge beschließen.

Dieser Erfolg des Unternehmens vermehrte das Wachsthum der Anstalt erheblich, und auch die Sterblichkeit gestaltete sich in den nächsten Jahren günstig, bis 1839 und 1840 plötzlich eine Uebersterblichkeit eintrat, welche alle Ersparungen der Vorjahre aufzehrte und noch Mehrausgaben erforderte.

Um die Lebensversicherung möglichst gemeinnützig zu machen, hatte man die Aufnahme in dieselbe thunlich erleichtert, namentlich die erforderlichen ärztlichen Untersuchungen den Hausärzten der betreffenden Personen überlassen. Man hatte nicht bedacht, daß dies zu betrügerischen Speculationen förmlich einlud, und so haben denn diese auch bei der Leichtigkeit der Ausführung in Folge der – Gefälligkeit einiger Aerzte gegen ihre Clienten in einzelnen Gegenden, namentlich in den Ostseeprovinzen und ganz besonders in Königsberg, mit den zunehmenden Erfolgen bald Dimensionen angenommen, welche der Gesellschaft mit großen Verlusten drohten. In Königsberg hatte sich ein förmliches Geschäft mit dem betrügerischen Ankauf und Abschluß von Lebensversicherungs-Policen entwickelt. Die Speculanten dort fanden nicht nur allezeit Personen, deren Körperbeschaffenheit oder Lebensweise einen frühen Tod versprach, sondern auch Aerzte, welche sich an einer solchen Ausbeutung der Lebensversicherungen betheiligten oder sie wenigstens [16] begünstigten. Kam doch in Königsberg sogar der Fall vor, daß ein Beamter seine Haushälterin dazu vermocht hatte, sich versichern zu lassen, und daß er sie dann vergiftete, um die Versicherungssumme zu erheben. Dort führte die Energie der Volksstimme zur Wiederausgrabung der Leiche, zur Enthüllung des falschen Todtenscheins und zur Verurtheilung des Mörders.

Die Leipziger Anstalt hatte berechnet, daß in der Königsberger Agentur allein von 1836 bis 1839 zwölf Personen mehr gestorben und 32,700 Thaler mehr für Todesfälle verausgabt worden waren, als bei ordnungsgemäßen Versicherungen möglich sein durfte. Dieselben bitteren Erfahrungen machten die Gothaer Bank und die englischen Gesellschaften. Olearius reiste im Herbst 1839 zur Untersuchung dieser Mißverhältnisse nach Königsberg und traf dort einen Dr. Swaine aus London mit demselben Auftrag. Die Anwesenheit der Beiden erschreckte die verbrecherischen Speculanten nicht wenig, und die Bestellung eines bestimmten Vertrauensarztes, einiger besonderen Vertrauenspersonen zur Berathung in zweifelhaften Fällen und strengere Wahrung des Gesellschaftsinteresses von Seiten der Agenten genügten, um dem Uebel für die Zukunft Einhalt zu thun.

[36] Trotz aller Verluste schlugen die schlimmen Erfahrungen in Königsberg dem Lebensversicherungswesen zum Vortheil aus; denn die Vorsicht, Gewissenhaftigkeit und Energie, mit welcher man hier Rechte und Ehre der Versicherungs-Gesellschaften wahren sah, konnten dieselben in der öffentlichen Meinung nur heben.

Bemerkenswerth aus diesem ersten Jahrzehnt der Anstalt ist noch der Beschluß, Versicherungssummen bis zu 2000 Thalern den berechtigten Erben nicht erst nach dreimonatlicher Frist, sondern ohne Zinsenabzug sofort auszuzahlen. Ferner der noch wichtigere, daß nach einem bestimmten Verhältniß zu den geleisteten Einlagen Vorschüsse auf Policen gegeben werden könnten, eine Einrichtung, mit welcher die Leipziger Gesellschaft allen anderen Lebensversicherungen voran gegangen ist. Am Schluß des Jahres 1840 hatte die Lebensversicherungs-Gesellschaft zu Leipzig über 500 Agenten und 2856 mit 3,593,800 Thalern versicherte Mitglieder.

Eine andere Erfahrung machte man mit der bisher benutzten (englischen) „Sterblichkeitstabelle“. Es ergab sich, daß dieselbe insofern zu Irrungen führte, als der Unterschied der Sterblichkeit in Deutschland gegen England sich namentlich in den höheren Altersclassen erheblich größer herausstellte, als man bisher angenommen hatte. Nach gründlicher Prüfung wählte man die von dem englischen Lebensversicherungs-Fachmann Griffith Davies [38] empfohlene, welche „aus den Erfahrungen der Equitable Society, der Norwich Union und einiger anderer Gesellschaften authentischen Daten“ gebildet worden war, wobei man, um sie den deutschen Verhältnissen noch besser anzupassen, die Sterblichkeitsziffern in den höheren Altersclassen noch vergrößerte.

Diese Maßregel machte eine außergewöhnliche Vermehrung des Reservefonds nothwendig, führte infolgedessen aber auch zu einer vorübergehenden Verminderung der Dividende. Es war im Directorium ein Sieg der Vorsicht und strengsten Gewissenhaftigkeit über kluge Geschäftspolitik. Aber selbst ergebenste Freunde und Agenten der Anstalt wurden dadurch wankend, zum klarsten Beweis, wie sehr in Geldsachen die Gemüthlichkeit aufhört.

Die schlimmsten Feinde aller Lebensversicherungen gebar die Zeit selbst: 1847 Mißwachs und Theuerung, 1848 Revolution und Gewerbsstockung, 1849 Krieg und Cholera und in den kommenden Jahren das Gefolge aller dieser Uebel: vermehrte Verarmung und Auswanderung. Jetzt hatte man es der so vielgeschmähten Reserve-Sicherung zu verdanken, daß die Gesellschaft fest stand und sogar beschließen konnte, daß der Tod im Dienste der Bürgerwehr die Zahlungspflicht der Anstalt nicht aufhebe, daß sie die Bedingungen wegen Theilnahme an kriegerischen Expeditionen milderte und selbst den Erben eines Hingerichteten – Robert Blum’s! – allerdings nicht ohne starkes Kopfschütteln aller Reactionäre, die volle Versicherungssumme gewährte; auch die Dividendenzahlungen gewannen bald wieder eine befriedigende Höhe.

Neue Statuten, welche 1856 veröffentlicht wurden, gewährten den Versicherten die Vergünstigung, daß mit erfülltem 85. Lebensjahre nicht blos die Beitragszahlung aufzuhören hatte, sondern auch die Auszahlung der versicherten Summe gefordert werden konnte. Die niedrigste zulässige Versicherungssumme war auf 100 Thaler, die höchste auf 10,000 Thaler festgesetzt und damit der Wirkungskreis der Gesellschaft nach unten und oben erweitert worden.

Von 1853 bis 1857 war die Zahl der deutschen Lebensversicherungs-Anstalten von 9 auf 19 angewachsen. Leider ergab sich in kurzer Zeit ein Theil dieses Zuwachses als der Erfolg eines Industrialismus, der mit Aufwendung verwerflicher Mittel und der Herbeiziehung unsauberer Elemente in den Dienst des Lebensversicherungswesens diesem einen selbst noch heute nicht ganz geheilten Schaden brachte; denn das durch zudringlichste Ueberredung, Täuschungen und unerfüllbare Versprechungen zu Versicherungen herbeigelockte Publicum warf sein gerechtes Mißtrauen auf das gesammte Lebensversicherungswesen. Die soliden Anstalten hatten Jahre lang zu thun, um sich in den Augen des Publicums die Achtung und das Vertrauen wieder zu erwerben, um das sie alle durch dieses Unheil gekommen waren.

Zu diesem Mißwesen mußte sich noch Unsicherheit der öffentlichen Zustände, Cholera, Typhus und Grippe gesellen, um das Aufblühen aller deutschen Anstalten möglichst zu hemmen. Da sich jedoch das Sterblichkeitsverhältniß für die Leipziger Gesellschaft dennoch günstig gestaltete, so konnte dieselbe 1855 das erste Vierteljahrhundert ihres Bestehens damit feiern, daß sie die Dividende von 5 % auf 19 % erhöhte. Ihr Vermögen betrug in diesem Augenblicke über anderthalb Millionen Thaler.

Auch der Abgang von Mitgliedern bei Lebenszeit, von dem wir noch nicht gesprochen, hatte sich gegen früher sehr gemindert. Nach einem schon 1832 von der Leipziger Anstalt gefaßten Beschlusse ward nämlich Mitgliedern, welche zwei Jahresbeiträge gezahlt haben, beim Aufgeben der Versicherung der dritte Theil ihrer sämmtlichen Prämien-Einzahlungen zurück erstattet. Da zu einem solchen Schritte einen Familienvater sicherlich nur die äußerste Noth drängt, so ist die Zahl der zu einer Zeit aufgegebenen Versicherungen ein ziemlich genauer Gradmesser des wirthschaftlichen Volkszustandes.

Eine wichtige Frage wird in dieser Zeit zuerst aufgeworfen, die Frage nämlich: „darf eine Versicherungssumme durch Beschlagnahme ihrem eigentlichen Zwecke, der Versorgung der Hinterbliebenen, entzogen werden?“ Sie harrt ihrer Lösung durch das in Aussicht stehende Allgemeine deutsche Civilgesetzbuch.

Am 2. December 1861 starb, 72 Jahre alt, der Gründer der Gesellschaft, Olearius. Er konnte von seinem Sterbebette auf die dreißig Jahre der Pflege seiner Schöpfung mit dem erhebenden Gefühle zurückblicken, daß durch sie Tausenden von Wittwen und Waisen die Thränen der Sorge und der Noth getrocknet worden seien; denn weit über drei Millionen Thaler sind an die Hinterbliebenen durch seine Hand gegangen. Das Andenken, das er sich gesichert hat, ist der beneidenswertheste Lohn seines stillens Wirkens.

Zum innern Ausbau der Leipziger Anstalt gehört die, im Jahre 1865, erfolgte Herbeiziehung von Vertrauensärzten der Gesellschaft bei allen Versicherungsanträgen. Als Unterschied zwischen den Sterblichkeitsverhältnissen in den Zeiten vor und nach derselben ergiebt sich für die Jahre von 1831 bis 1864 eine Uebersterblichkeit von 166 Personen mit einer Versicherungssumme von 475,943 Mark, und von 1865 bis 1879 eine Untersterblichkeit von 387 Personen mit 3,634,369 Mark Versicherungsbetrag. Nach solchen Erfahrungen darf man es freilich nicht tadeln, wenn die Lebensversicherungs-Anstalten die genaueste ärztliche Untersuchung der aufzunehmenden Personen verlangen und diejenigen ausschließen, welche nicht vollständig gesund sind. Günstige Sterblichkeitsverhältnisse sind die Vorbedingung billiger Versicherungsbeiträge, und wenn man diese will, darf man nicht beanspruchen, daß die Anstalten diejenige Vorsicht außer Acht lassen, die nach ihren bisherigen Erfahrungen unerläßlich erscheint.

Dem damals glücklichen Laufe des Emporblühens der meisten Lebensversicherungs-Gesellschaften warf das Jahr 1866 einen zwar kurzen Krieg, aber mit langandauernden Folgen entgegen: Cholera, Geschäftsstockungen, Nahrungslosigkeit und Theuerung der nöthigsten Lebensbedürfnisse zehrten mächtig an den Beständen auch der Leipziger Anstalt. Aber gerade in dieser harten Zeit erwiesen sich die Lebensversicherungs-Anstalten als Retterinnen in vieler Noth, und die Leipziger Gesellschaft bethätigte ihre Humanitätsgrundsätze ehrenhaft dadurch, daß sie in dem Kriegs- und Cholerajahr 1866 vor der Statutenfrist über 132,000 Thaler an die Erben Versicherter auszahlte.

Im Jahre 1869, zu Anfang April, trat eine sehr wichtige und erfolgreiche Einrichtung der Leipziger Anstalt in’s Leben: die Cautionsdarlehns-Gewährung an Beamte. Diese Einrichtung war für Tausende eine höchst segenvolle; denn sie heilte eine der schwersten Wunde der bürgerlichen Gesellschaft. Die große Masse des mittleren Beamtenstandes in allen Regierungs- und Verwaltungszweigen recrutirt sich, wie allbekannt, allermeist aus den Volkskreisen, die von der Hand in den Mund leben. Wenn nun von einem Angehörigen dieser Kreise zur Erlangung einer Anstellung eine Caution als erste Bedingung derselben gefordert wird – wie und wo waren bisher und sind zum Theil noch die Wege, auf welchen er die nöthige Summe sich einzig beschaffen konnte? Er mußte mit dem ersten Schritt in’s Amt sich in Schulden stürzen, und durfte Gott danken, wenn ein redlicher Gönner, ein ehrlicher Freund ihm die nöthige Summe vorstreckte. Wie viele solcher Cautionspflichtigen aber Wucherern in die Hände fielen, wie oft Beamten-Untreue als Folge unerträglicher Noth und des Familienelends daraus erwachsen ist, darüber geben die Criminal-Acten erschütternde Auskunft. Hier trat die Versicherungs-Anstalt als Retter eines ganzen zahlreichen Standes auf, indem sie den in ihre Mitgliedschaft aufgenommenen Beamten die zur Caution nöthigen Darlehen zu möglichst wenig drückenden Bedingungen darbot und sogar deren allmähliche Abzahlung sogleich mit festsetzte. Für ein solches Unternehmen fehlte es weder an sofortigem Verständniß, noch an Theilnahme, und so hat die Leipziger Lebensversicherungs-Gesellschaft das Resultat erzielt, daß sie von 1869 bis Ende 1879 nicht weniger als 4505 Cautionsdarlehen an 3681 Beamte im Gesammtbetrag von 4,650,680 Mark auszuleihen hatten.

Da auch viele andere Lebensversicherungs-Gesellschaften diese neue Versicherungs-Wohlthat in ihren Geschäftskreis gezogen haben, so ist die möglichst allgemeine Kenntniß von der Einrichtung, den Einzelbestimmungen und Verpflichtungen zur Sicherung von Gesellschaften und Theilnehmern für den Beamtenstand eine Nothwendigkeit, und deshalb nennen wir hier das diesem Zweck dienende Schriftchen: „Das Beamten-Cautionsdarlehen. Einrichtung und zehnjährige Erfahrungen. Leipzig 1880.“

Noch nie hatten die deutschen Lebensversicherungs-Gesellschaften sich einer gedeihlicheren Entwickelung zu erfreuen gehabt, als mit dem Beginn des Jahres 1870; bei der Leipziger zeigte schon im ersten Halbjahr der Zugang an Versicherten sich größer, als bisher in ganzen Jahren. Da kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel der Krieg gegen Frankreich, natürlich wiederum mit den üblichen Folgen des Kriegs für alle Unternehmungen des öffentlichen Vertrauens, [39] aber auch mit patriotischen Pflichten, denen die meisten Gesellschaften möglichst Genüge zu thun suchten. Die Leipziger dehnte die Gültigkeit der bestehenden Versicherungen bis zu einer Summe von höchstens 5000 Thalern gegen eine Extra-Prämie von 5½ Procent für Combattanten und 3½ Procent für Nichtcombattanten bis zum 31. März 1871 aus und sah in der Verwendung der Post-, Eisenbahn- und Telegraphenbeamten im Felde nicht eine Theilnahme an Kriegsereignissen im Sinne der Gesellschafts-Statuten.

Mitten im Kriegssturme ging die Gesellschaft in ihr fünftes Jahrzehnt, von 1871 bis 1880, über. Da aber dieser Krieg nur ein Sieg war und mit dem günstigsten Frieden schloß, so äußerte dies auch auf die Lebensversicherungen eine günstige Wirkung. Namentlich dehnte nun das Beamten-Cautions-Geschäft sich über die Reichslande mit ihrem zahlreichen neuen Beamtenstande aus und führte ihr bald viele Mitglieder aus denselben zu. Desgleichen traten, in Folge eines Vertrages mit dem kaiserlichen General-Postamte in Berlin vom 18. Juni 1871 bis 1. October 1880 2365 Postbeamte mit 7,196,800 Mark in die Gesellschaft ein. Durch die günstigen Folgen der Aufnahme-Erleichterungen, welche ein dritter Nachtrag zu den Statuten (vom 29. Juli 1871) darbot, stieg der Versicherungsbestand auf nahezu 25 Millionen Thaler, sodaß nunmehr, statutengemäß, als höchste Versicherungssumme 20,000 Thaler angenommen wurde.

Wenn nun die jetzt anbrechende Gründer- und Schwindelperiode sich auch nachtheilig für alle Gesellschaften erwies, so gab der Leipziger Anstalt die Ausbreitung ihres Geschäfts nach Oesterreich Ersatz. In diesen Zeitraum fällt auch eine völlige Neugestaltung der Statuten, eine Reorganisation der Verwaltung der Gesellschaft, deren Hauptänderung die war, daß künftig an der Spitze der Geschäfte mehrere geschäftsleitende Directoren stehen, an die Stelle des bisherigen Ausschusses ein aus zehn bis zwölf Mitgliedern bestehendes Aufsichtsorgan, der „Verwaltungsrath“ treten und Generalversammlungen der Mitglieder eingeführt werden sollten. – Von den gleichzeitig eingeführten Verbesserungen in den Versicherungs-Bedingungen sind von allgemeinem Interesse die, welche die Betheiligung der Versicherten an Kriegsereignissen und die häufiger, als das Publicum ahnt, vorkommenden Fälle von Selbsttödtungen Versicherter betreffen. Für letztere Fälle, deren die Leipziger Lebensversicherungs-Gesellschaft allein von 1831 bis 1879 nicht weniger als 180 verzeichnet, hat dieselbe die Bestimmung getroffen, daß, im Falle die Selbsttödtung eines Versicherten als die Folge einer Geistes- und Gemüthsstörung oder eines Fieberparoxysmus nachzuweisen ist, auch ein Betrag bis zum vollen Belaufe der Versicherung gewährt werden könne.

Endlich haben wir hier noch einer neuen Einrichtung von ganz besonderer Wichtigkeit zu gedenken: der Dividenden-Vertheilung nach einem neuen System.

Wie es drei Hauptquellen sind, aus welchen die zu vertheilenden Ueberschüsse entspringen: 1) aus den Verwaltungskosten-Aufschlägen, 2) aus der Zinseneinnahme des Reservefonds und 3) aus dem Untersterblichkeitsgewinne – so bestanden, und bestehen bei den deutschen Lebensversicherungen im Allgemeinen noch, auch drei Systeme von Dividenden-Vertheilung. Das erste und älteste, auch von der Leipziger Anstalt gehandhabte vertheilt die Jahresüberschüsse einfach nach Maßgabe der gezahlten Jahresprämie. Dieses System hat den Vortheil, daß sofort beim Eintritt in den Dividendengenuß sehr hohe Procente (jetzt z. B. 40 %) gewährt werden können, aber den Nachtheil, daß die Prämie in gleicher Höhe durch die ganze Versicherungszeit fortbezahlt werden muß. Das zweite vertheilt die Ueberschüsse nach Maßgabe der Prämienreserve. Da aber die Prämienreserve mit den Jahren wächst, so nimmt auch die Anwartschaft des einzelnen Versicherten am Gewinn von Jahr zu Jahr zu, sodaß die Versicherten die Aussicht haben, mit der Zeit ganz beitragsfrei zu werden. Das dritte System vertheilt nach Verhältniß der Summe der gezahlten Prämie, ist im Erfolg dem vorigen ziemlich gleich und hat den Vorzug der Allgemein-Verständlichkeit dem Publicum gegenüber.

Um ihre Mitglieder der Vortheile beider, des alten wie der beiden jüngeren Systeme theilhaft zu machen, stellten Directorium und Verwaltungsrath neben dem alten, das in seinem Rechte blieb, ein neues System auf. Alle Mitglieder, welche sich letzterem anschließen, bilden innerhalb der Gesellschaft eine besondere Vereinigung, welche die Gesammtsumme aller Dividenden, die ihnen statutengemäß alljährlich zufallen, unter sich nach Maßgabe der Summe der von jedem Mitglied gezahlten ordentlichen Jahresprämien vertheilen. Als Maximum des Dividendensatzes ist 3 Procent festgesetzt und aus dem nach der Vertheilung der Dividenden sich ergebenden Ueberschuß ein Dividenden-Reservefonds gebildet, der die Bestimmung hat, bei Schwankungen der Ueberschüsse zur Ausgleichung zu dienen. Das Resultat dieses Versuches ist, daß die „Vereinigung“ Ende 1879 bereits 1838 Mitglieder mit einem versicherten Capital von 10,504,800 Mark zählte. Die Probe auf das neue Exempel ist somit als gemacht anzusehen.

Einen interessanten Maßstab für den bescheidenen Anfang und das großartige Wachsthum des Gesellschaftsgeschäfts bieten auch die Localitäten desselben zu Anfang und heute dar. Während für den Anfang ein für 125 Thaler gemiethetes Local von zwei Zimmern für die drei Anstaltsbeamten genügte, baute die Gesellschaft sich von 1874 bis 1876 für 371,500 Thaler ihr eigenes Haus, in welchem nun ihre dermaligen 69 Beamtete zweckmäßige Arbeitsräume besitzen und welches, wie unsere Vignette wenigstens ahnen läßt, eine Zierde des Leipziger Theaterplatzes ist.

Ein Gang durch diese Geschäftsräume eröffnet uns einen lehrreichen und erhebenden Einblick in den für Unzählige noch so geheimnißvollen Bienenstock des zusammentragenden Fleißes, in welchem die Vielgestaltigkeit der Arbeit aus Tausenden von Fächern und Büchern uns entgegenblickt, von der ersten Anmeldung der Versicherung bis zu den grauen Todtenlisten. Zuletzt stehen wir im Cassenzimmer vor dem riesigen Schrank, dessen wohlverwahrtes Innere nicht weniger als 25 Millionen aufgespartes Volksvermögen birgt, aus dem der Segen hervorgeht, welcher der letzte Trost so vieler in Liebe für die Ihrigen sorgender Väter ist.

Solcher Schränke stehen 39 in Deutschland. Wie der Inhalt derselben beschaffen ist, und in welchem Verhältniß sie neben einander wirken, ist am kürzesten und einfachsten nur in Tabellenform darzustellen. Da uns aber unser Raum nicht gestattet, eine derartige ganze Tabelle abzudrucken, so beschränken wir uns darauf, auf die alljährlich erscheinenden, umfangreichen statistischen Arbeiten des „Bremer Handelsblattes“ und der „Berliner Börsenzeitung“ zu verweisen, welche über die Bewegung des Versicherungsbestandes der deutschen Lebensversicherungs-Gesellschaften eine umfassende Uebersicht geben.

Das gesammte deutsche Lebensversicherungswesen nimmt neben den Gesellschaften der übrigen Culturstaaten eine durchaus günstige und achtunggebietende Stellung ein. – Ein Zeugniß des Wohlstandes kann aber unsere Durchschnittssumme für eine Versicherung uns noch nicht ausstellen, denn während dieselbe Ende 1879 in Amerika 9673 Mark, in England 7950 Mark, in Frankreich 8076 Mark betrug, steht sie bei uns auf 3404 Mark. Dieses Mißverhältniß entspringt theils aus dem Umstande, daß bei uns gerade die wohlhabenden Kreise noch viel zu wenig den Nutzen der Lebensversicherung erkennen, theils aus der noch immer bestehenden Unsitte, große Summen lieber in England, und dort oft bei recht zweifelhaften Anstalten, als bei unseren deutschen Gesellschaften zu versichern.

Betrübend ist auch die große Zahl der durch Rückkauf oder wegen unterlassener Prämienzahlung erlöschender Versicherungen. Fast die Hälfte des neuen Zuganges geht auf diese Weise wieder verloren und viele Tausende von Familien sind es, denen dadurch die Wohlthat der Lebensversicherung wieder entzogen wird. Sind auch in sehr vielen Fällen Sorglosigkeit und Leichtsinn oder Genußsucht der Grund, daß die bereits erworbene Versicherung wieder ausgegeben wird, so zwingt doch auch in sehr vielen Fällen die bittere Noth, der „Kampf um’s Dasein“ dazu, und so zeigt sich uns auch in dieser Beziehung ein wenig erfreuliches Bild von dem Zustande unserer volkswirthschaftlichen Verhältnisse.

Die Lebensversicherung aber ist eines der wirksamsten Mittel, diese Verhältnisse zu bessern, und deshalb muß dahin getrachtet werden, sie zu dem Gemeingut Aller zu machen. Freilich nicht auf dem Wege, den man jetzt zu Gunsten des Arbeiterstandes einzuschlagen beabsichtigt, dem Wege der Staatshülfe. Niemals wird der Staat im Stande sein, die Ausgaben der Altersversorgung, der Versorgung der Hinterbliebenen nach dem Tode so zu lösen, wie diese Aufgabe durch unsere Lebensversicherungs-Anstalten bereits gelöst ist und in Zukunft noch weit mehr gelöst werden muß. Daß sie es vermögen, zeigt uns der großartige [40] Aufschwung, den die Benutzung der Lebensversicherung in Deutschland innerhalb der letzten fünfundzwanzig Jahre genommen hat; es beweisen uns das die während dieses Zeitraums eingeführten vielfachen Verbesserungen, welche dahin gehen, den Abschluß solcher Versicherungen und die Erhaltung derselben beim Eintreten schwieriger Verhältnisse möglichst zu erleichtern, die Bedingungen günstiger zu stellen und den Versicherten größere Vortheile zuzuwenden.

An diesem Aufschwung, an diesem Streben nach Vorwärts hat unsere Jubilarin einen bedeutenden Antheil genommen; ihre gesammte neuere Entwickelung ist ein unausgesetztes Fortschreiten. Sie hat, wie wir gezeigt haben, ihre Versicherungsbedingungen mehrfach umgestaltet und neue Einrichtungen geschaffen, welche die Benutzung der Lebensversicherung gefördert und zugleich ihren Nutzen erhöht haben.

Und die Macht der Concurrenz nöthigt Alle, diesen Weg zu betreten; Alle zwingt sie, die Hände nicht in den Schooß zu legen, denn Stillstand ist auf diesem Gebiete unausgesetzter Wettbewerbung mehr, als sonstwo, Rückschritt.

So möge man auch hier die Bahn frei halten, und bald wird es auch bei uns, wie in England und Nordamerika, zur guten Hausordnung gehören, daß neben dem Feuerversicherungsschein die Lebensversicherungspolice im Schatze jeder ordentlichen Familie liegt. Nicht der Staat muß überall helfen und helfen wollen: „Selbst ist der Mann“ muß Wahlspruch in Deutschland werden. Die alten Hemmschuhe solcher Fortschritte sind ja gebrochen; die Zeit ist vorbei, wo, wie gegen Blitzableiter und Hagelversicherung, auch gegen Lebens- und Altersversicherung als gegen Eingriffe in die Allmacht und Gnade Gottes von den Kanzeln gedonnert werden konnte. Nur Einsicht in und Vertrauen auf die Wohlthat des neuen Werthmessers des Volkswohlstandes bedarf es, und diese müssen auf das Eifrigste gepflegt werden; für Beides aber mit allen Kräften zu wirken, das sollte ein ununterbrochenes Bestreben der Presse wie der Volksbildungsvereine sein, ein Bestreben, in welchem uns die Nachahmung unserer darin wacker vorangehenden französischen Nachbarn zur Ehre und Wohlfahrt zugleich gereichen könnte.

Sollten diese Worte eine neue Anregung dazu sein, so würde das Jubiläum, das uns zu derselben die Gelegenheit bot, auch noch einen Kranz der Dankbarkeit verdienen.*

Friedrich Hofmann.


* Im ersten Theile dieses Artikels (vergl. vorige Nummer) ist als Gründungsjahr der Leipziger Feuerversicherungs-Anstalt 1819 (anstatt 1822) zu setzen; demgemäß geschah die Gründung der Lebensversicherungs-Anstalten in Gotha und Lübeck acht Jahre später. Ferner hat Olearius nicht 600, sondern 1600 Thaler Jahresgehalt bezogen.




  1. „Die Begründung und fünfzigjährige Wirksamkeit der Lebensversicherungs-Gesellschaft in Leipzig“. – In der „Gartenlaube“ ist das Lebensversicherungswesen in folgenden Artikeln behandelt worden: „Eine Lebensversicherung. Erzählung, aus den Papieren eines Berliner Advocaten“, 1857, S. 309 ff.; – „Die Gothaische Lebensversicherungs-Bank.“ Von Walesrode, 1865, S. 12, 123 und 152; – „Die Lebensversicherung auf der ganzen Erde“, 1869, S. 176, und in drei Artikeln von F. W. Gallus: „Eine Bitte an die deutschen Frauen“, 1875, „Abgelehnt“, das., S. 843, und „Mißbrauch der Lebensversicherung“, 1876, S. 92.

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