Der Heimgang eines Unglücklichen

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Titel: Der Heimgang eines Unglücklichen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 3, S. 54–55
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[54] Der Heimgang eines Unglücklichen. Wenige kennen wohl den Namen: Johannes Kugler, den einzig die Erzählung „Im Fegefeuer“, welche im „Salon“ erschien, in weitere Kreise getragen hat. Die Natur überschüttete den vor Kurzem Dahingegangenen in ebenso verschwenderischer Laune mit den reichsten Gaben des Geistes und Gemüthes, wie sein Lebensschicksal ihm in stiefmütterlicher Grausamkeit all diese köstlichen Gaben, noch ehe sie voll erblüht waren, schmählich verkümmerte. Sein erschütterndes Ende ist von einer so fürchterlichen Tragik, daß es ihm noch im Grabe die Herzen Aller gewinnen wird, welche die Geschichte seines Lebens und Leidens vernehmen. Diese entwirft uns Adolf Wilbrandt in der Einleitung zu jener soeben von ihm aus dem Nachlasse des Freundes herausgegebenen Erzählung „Im Fegefeuer“. – Johannes Kugler war der Sohn des bekannten Kunsthistorikers Franz Kugler und dessen Gattin, der Tochter des Criminalisten und Biographen Hitzig. Nach einer an nachhaltigen geistigen Eindrücken überaus reichen Kindheit wandte sich der geistvolle Jüngling zuerst dem Studium der Naturwissenschaften zu, vertauschte aber dann die akademischen Hörsäle mit den Ateliers bedeutender Künstler und warf sich endlich ganz der Malerei in die Arme. Von früher Jugend an durch ein immer wachsendes Nervenleiden in seinen geistigen Bestrebungen gehemmt, gestaltete sich sein Leben zu einem heldenhaften Kampfe seines von edlem Ehrgeize entflammten Geistes mit einem siechen Körper: in München, Weimar, Rom und wieder in München hat er diesen Kampf tapfer gekämpft, bis seine Kraft erschöpft war. Wilbrandt schildert sein Ende folgendermaßen:

„Als seine Krankheit hoffnungsloser und qualvoller wuchs, hielt ihn weniger seine Entsagungs-Philosophie, als die Liebe zu seiner Mutter auf der Erde zurück, zu dieser in Glück und Unglück hochgestellten Frau, in deren geräuschlosem Lebenslaufe sich alles Schönste und alles Schrecklichste dieser Welt erschöpfen sollte. Sie hatte zuerst im Hause ihres Vaters (des Biographen Hoffmann’s, Chamisso’s, Zacharias Werner’s), dann ihres Gatten, zuletzt ihres Schwiegersohns Paul Heyse, gleichsam drei Generationen von Dichtern, Künstlern, bedeutenden Menschen jeder Art erlebt, Huldigung, Verehrung, hingebende Liebe in jedem Lebensalter wie Lebenslust genossen; ihre Schönheit, ihre seelenvolle Anmuth, ihre ‚ewige Jugend‘ schlossen immer neue Zauberkreise um ihre zarte Gestalt. Dafür schonte sie auch das Schicksal nicht; sie, die nur in der Liebe und Treue der Ihren und in unerschöpflicher Opferfreudigkeit lebte, mußte Gatten, Tochter und Enkel sterben sehen, und diesen Sohn, ihren Benjamin, sah [55] sie in seinem endlosen Leiden dahinsinken. Enger und enger ward das Leben um sie her; es schloß sich endlich zu dieser Gemeinsamkeit von Mutter und Sohn zusammen, die – keinem anderen Verhältnisse dieser Art vergleichbar – fast wie ein geschwisterlicher Freundschaftsbund war, voll aller Offenheit, Wahrheit, Zartheit, die Menschen gegeben ist. Er hing an ihr mit leidenschaftlicher Liebe, wie sie an ihm. Er hatte den Rest seiner Gesundheit ihr geopfert, als er sie in schwerer Krankheit ruhelos bis zur Selbsterschöpfung pflegte; nun vergalt sie's ihm, opferte ihm ihre zarten Kräfte. Sollte er zu allen Schmerzen, die sein Schicksal ihr schon bereitet, ihr auch den noch zufügen, sie durch selbstgewählten Tod zu verlassen? – Jahre lang hatte er sich diese Frage auch in den fürchterlichsten Stunden verneint. Wie oft hat er mir schon in den Zeiten unseres Zusammenlebens bekannt, daß nur die Rücksicht auf die Mutter ihn hindere, sich zu erlösen. Ueber die Sache selber dachte er wie ich: daß nur ein bestimmter Jenseitsglaube, dem das Diesseits nur eine sittliche Vorschule ist, den freiwilligen Tod ein- für allemal verdammen kann; daß nach jeder andern Anschauung es des Menschen Recht ist, ein Leben, das übermäßige, am Leben hindernde Qual und keine Zukunft hat, mit freiem Entschlusse zu verlassen.

Er hatte keine Zukunft; seine Leiden konnten nur wachsen, bis sie ihn tödteten; – nach seinem Ende hat sich's vollends zweifellos ergeben. Doch noch lange Monate, noch Jahre unermeßlichen Elends konnten seiner warten. Sollte die Liebe zu einem andern lebenden Wesen, das ihn zu eigener Qual endlos leiden sah, ihn bis zur letzten Stunde an dieses Elend festschmieden? – Woche um Woche, Monat um Monat sah der Unglückliche dieser Frage unentschlossen in’s eherne Gesicht. Seine Phantasie, seine Künstlerfeder wandte sich mehr und mehr dem Abgrunde zu; in Zeichnungen von furchtbarer Gewalt oder grauenhaftem Humore schilderte er sich in allen Stadien seiner Leiden oder als Candidaten des Todes: der ‚Unterleibskrampf‘ windet sich in Gestalt einer riesenhaften, ihn angeifernden Schlange um seinen Leib, während das Gerippe ‚Tod‘, vor seinem Bette liegend, nach ihm greift; oder wie einen Bären führt man ihn am Stricke umher; der Tod geht trommelnd vorauf; das Gerippe eines Aeffchens, auf einem Hunde reitend, fiedelt dazu. Oder der von Pfeilen durchbohrte Märtyrer Sebastian bringt ihn, der – eine ungeheure Phantasie – sich selber trägt, zur himmlischen Dreieinigkeit hinauf: ‚wegen unbefugten Martyriums, wegen hartnäckiger Heiterkeit der Seele, wegen gottloser Schriftstellerei wird Inculpat per Schub über die Grenzen des himmlischen Reiches geschafft‘. Freundlicher ein anderes Bild, ‚Feierabend‘ betitelt: der Märtyrer sitzt erlöst, voll Behagen rauchend, den Bierkrug zur Seite, im Himmel neben Gott Vater, der, aus einer gewaltigen Pfeife dampfend, den Bierkrug in der Hand, David Strauß’, ‚der alte und der neue Glaube‘ im Arme, von Engeln umschwebt, auf der Weltkugel thront; sie plaudern und disputiren: ‚mit echt theologischer Hartnäckigkeit‘ (wie eine Beischrift sagt) ‚hielt Gott Vater an seiner eigenen Existenz fest, und konnte es David Strauß nicht verzeihen, daß er sie ihm beständig streitig machte‘. Doch dieser lindernde Humor hielt immer seltener Stand. Das Auge seines Geistes gewöhnte sich an den Tod. Elf Monate schon vor seinem Ende (zweiunddreißig Jahre war er damals alt) hatte er in sein poetisches Taschenbüchlein geschrieben:

     Ach, sterben müssen
Ist nicht das Schlimmste;
Weit schlimmer ist es,
Nicht leben können
Und leben müssen.

Leben müssen! – Eine plötzliche Steigerung seiner Krankheit, die auch seine Brust, seinen Hals mit so häufigen, unerträglichen Erstickungskrämpfen ergriff, daß er im Todeskampf zu vergehen meinte, entschied endlich über sein gefoltertes Herz. Er beschloß zu sterben. In der Stille der Nacht – nachdem er noch lange Tage und Nächte, wie es scheint, in heißer Noth mit diesem Entschluß gerungen – mischte er sich aus seinem Vorrath von Morphium und andern Schlafmitteln den letzten Trank, und schrieb am Schreibtisch der Mutter einen Abschiedsbrief, worin er mit Worten, die jedes Herz ergreifen müssen, sich ihre Verzeihung erbat, daß er sie, die über Alles Heißgeliebte, verlasse. Am Morgen fand sie ihn, in tiefster Betäubung, noch athmend, doch rettungslos, wie es schien. Ein energischer Versuch des herbeigeholten Arztes, ihn zu erwecken, hatte keinen Erfolg. Der Tag war gekommen, den sie, wer kann sagen wie lange schon, gefürchtet hatte. Der Tag, den vielleicht auch sie schon lange sich als ihren letzten gedacht hatte: die letzte hohe Aufgabe ihres Lebens war mit ihm zu Ende, und ein qualvolles, unheilbares körperliches Leiden, früher oder später sicherer schwerer Tod, lastete auch auf ihr. Als der letzte Gedanke an seine Rettung sie verlassen hatte, ging sie still und stumm in ihr Schlafgemach, trank das Gift, das sie als Schlaftrunk für ihn vorausbereitet, kam an sein Bett zurück, küßte ihn noch einmal, und setzte sich in ihren Lehnstuhl seinem Bett gegenüber, um so ihren letzten Blick auf ihn zu richten. Ihr Schwiegersohn hatte sie einen Augenblick das Zimmer verlassen sehn und kein Arg dabei gehabt; in unveränderter Haltung kam sie wieder herein; – so saßen sie beide, bis eine Veränderung in ihren Zügen Heyse erschreckte. Er denkt noch an eine Ohnmacht. Doch sie verliert das Bewußtsein, um nicht mehr zu erwachen.

Wäre diese ihre letzte Stunde auch die ihres Sohnes gewesen, und hätten wir die Beiden, die mit einander gelebt und geduldet hatten, mit einander begraben! – So einfach, so menschlich endete diese Tragödie nicht. Der Unglückliche, durch den langen, wachsenden Gebrauch dieser Schlafmittel gegen sie abgehärtet, sollte, gegen jede Erwartung, das Gift noch überwinden. Mit furchtbarem Entsetzen sehen seine Nächsten, wie gegen Abend das Leben in ihm sich rührt, während es in der bewußtlosen Mutter, mechanisch noch fortkämpfend, nach und nach erlöscht. Man schafft ihn in’s Krankenhaus, um ihm – der noch betäubt daliegt – einstweilen, wenn er erwacht, das Schicksal der Mutter zu verhehlen, ihm vorzuspiegeln, daß ein Nervenfieber, in das sie verfallen, die größte Ruhe in der eignen Wohnung nöthig mache. In der tiefen Nacht kommt er zu sich; doch noch immer schläft sein Gedächtniß, er weiß nicht, wer er ist, was er erlebt hat; der fremde, alterthümliche Raum neckt seine Phantasie; mit wundersamer Neugier wartet er auf die Lösung dieser Räthsel. Auch daß eine barmherzige Schwester hereintritt, daß er auf seine Frage hört, er sei im Krankenhaus, klärt ihn noch nicht auf, in welchem Jahrhundert und welches Ich er ist. Endlich fällt die letzte Wohlthat dieses Schleiers von ihm ab; er besinnt sich auf sein unglückliches Selbst. Er glaubt, seine Nächsten haben ihn hierher geschafft, um ihn mit Gewalt im Leben festzuhalten; er glaubt von aller Welt verurtheilt und verlassen zu sein. Da er sich in wilder Verzweiflung durch’s Fenster hinausstürzen will, hält der Krankenwärter ihn fest. Aus kleinen zufälligen Zeichen, mit dem Scharfsinn des Herzens erräth er bald, daß seine Mutter nicht krank, daß sie todt ist. Zwar weiß er nicht, daß sie sich selbst getödtet, aber er sagt sich, daß er sie getödtet hat. Er seine Mutter! Diese Mutter! Und er, er soll sie überleben!

Nein; sage mir – oder uns, seinem Bruder, Schwager, Freund, die wir ihn so wiederfanden, die wir alle fühlten wie er – sage uns der gemeine Lebenssinn der Menschen, was er will: diese Todte überleben konnte er nicht. Zwar – um kurz zu sein – nachdem er im Krankenhaus, dann in der eigenen Wohnung (in die wir ihn auf sein dringendes Verlangen zurückschafften) mit halber Kraft und unzulänglichen Mitteln noch zwei neue Fehlversuche, sich zu tödten, gemacht hatte, trieb ihn gleichsam ein Aberglaube, daß er nicht sterben solle, noch einmal in’s Leben zurück, und in meine Hand versprach er mir, sein Letztes zu versuchen, ob er sich in’s Dasein finden könne. Seine wundersame Genußkraft flackerte nochmals, herzerschütternd, auf; seine zärtliche, in Dankbarkeit schwelgende Liebe zu uns, den Freunden seiner Jugend, die wir nun, wie sich von selbst verstand, nur für ihn lebten, – sein aufglühendes Herz täuschte ihm noch eine Möglichkeit vor, die es nicht für ihn gab. Doch er zeigte uns noch einmal Alles, was wir an ihm verloren; er zeigte uns den liebenswerthesten Menschen, der noch am Abgrunde des Todes, in tief wühlendem Gram und in flüchtiger, genialer Heiterkeit, die duftendsten Blüthen seiner Seele für uns pflückte. Nie wird in mir das Bild dieser Tage verblassen, die ich nicht schildern kann, denen Aehnliches wohl selten ein Mensch erlebt. Der Traum, daß er noch leben könne, war bald ausgeträumt. Der Schatten seiner Todten zog ihn sich nach. Nach einem letzten unglücklichen Versuch (mit den Scheeren der Mutter), durch Oeffnen der Adern zu sterben, half er sich in der nächsten Nacht – vom 12. auf den 13. December 1873 in die schmerzlose Stille der Ewigkeit hinüber.

Ich ende hier. Wer nicht mit ihm fühlt, für den habe ich nicht geschrieben; wer mit ihm fühlt, dem hab' ich nichts mehr zu sagen.

Ist dieses Bild eines edlen Kämpfers und Dulders dem Leser an's Herz gedrungen, so wende er sich dem sonnigeren Bilde zu, das dieser Dulder selbst in seinem 'Fegefeuer' von sich aufgestellt, in dem er mit großem, thränenbefeuchtetem Humor sein Schicksal verklärt hat. Darin wüßte ich dieser Geschichte – so wenig in ihr die novellistische Form zu bedeuten hat – nichts in unserer Literatur zu vergleichen. Ihr Grundton erinnert hier und da an den 'Onkel Benjamin' des Claude Tillier, ein Buch, das er mit Vorliebe wieder und wieder las, weil er sich ihm im Ernst und Scherz blutsverwandt fühlte. Doch zuletzt singt er doch sein eigenes, singt sein deutsches Lied, und daß es sein erstes und sein letztes war, wird ihn, denk' ich, seines Zweigs im deutschen 'Dichterhain' nicht unwürdig machen.

Lebe fort, theurer Hans, in Deinem Humor, Deinem seelenvollen Gram, Du, der Du ein echter Mensch warst! Lebet fort, ihr geliebten Todten!