Zum Inhalt springen

ADB:Gichtel, Johann Georg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Gichtel, Johann Georg“ von Christiaan Sepp in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 9 (1879), S. 147–150, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Gichtel,_Johann_Georg&oldid=- (Version vom 19. Dezember 2024, 15:58 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Gibel, Otto
Nächster>>>
Giel, Hans
Band 9 (1879), S. 147–150 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Johann Georg Gichtel in der Wikipedia
Johann Georg Gichtel in Wikidata
GND-Nummer 117732230
Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|9|147|150|Gichtel, Johann Georg|Christiaan Sepp|ADB:Gichtel, Johann Georg}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=117732230}}    

Gichtel: Johann Georg G., geboren zu Regensburg am 4. oder 14. März (vielleicht resp. alten oder neuen Styls?)[WS 1] 1638, gestorben zu Amsterdam am 21. Januar 1710, lebte theils in Deutschland, theils in Holland. Als Kind und Knabe genoß er die Annehmlichkeiten des Wohlstandes, sah aber auch bald ein Vorbild der Selbstverläugnung in der Handlungsweise seines Vaters, der, um dem Magistrat von Regensburg aus großer Geldnoth zu helfen, sein ganzes Vermögen von 18000 Thalern herlieh, ohne je davon wieder etwas zurückzubekommen. In Folge dessen reifte G. in Armuth zum Jüngling heran und suchte früh in Zurückgezogenheit Umgang mit Gott. Zu Straßburg begann er, seiner Neigung folgend, theologische Studien, hörte dort Spener’s Colleg über Heraldik, zeichnete sich aber besonders durch seine Kenntniß alter und neuer Sprachen aus. Der Tod seines Vaters führte jedoch zu dem Beschluß, Rechtswissenschaft zu studiren, um womöglich eine Stellung am Reichskammergericht zu Speier zu erlangen. Durch seine strenge Sittlichkeit gewann er die Achtung und das Vertrauen Vieler. Weniger gewissenhaft, hätte er unschwer durch reiche Heirathen in die günstigsten Umstände kommen können; doch widerstand er solchen Verlockungen, zog vielmehr durch Traumgesichte und Kometenfurcht beeinflußt, wieder nach Regensburg. Nach kurzem Aufenthalte daselbst begegnete er dem Baron Justinianus Ernst v. Weltz, dem bekannten Eiferer für eine Läuterung der Kirche, dessen eigentliche Ziele, für die er auch Gichtel’s Theilnahme gewann, wir aus der Schrift kennen lernen, welche er 1664 dem Corpus Evangelicum überreichte: „Einladung zum herannahenden großen Abendmahle und Vorschlag zu einer Christerbaulichen Jesus-Gesellschaft, behandelnd die Besserung des Christenthums und Bekehrung des Heidenthums, wohlmeinend an den Tag gegeben durch Justinianus“. Da in ihr die Predigt des Evangeliums für unabhängig von wissenschaftlicher Bildung erklärt und der Geistlichkeit nicht undeutlich eine Versäumniß ihrer Pflichten gegen das Volk vorgeworfen wurde, so erregte sie und nicht minder zwei andere in mehr populärem Tone auf Verbesserung des geistlichen Lebens außerhalb des kirchlichen Wirkungskreises dringende Aufsätze großen Unwillen. An die Spitze der Gegenpartei trat der Regensburger Superintendent Johann Heinrich Ursinus, dessen Angriffe sich aber leider weniger gegen die Sache als gegen die Personen richteten. Beide zogen nun nach den Niederlanden, um von dort nach Amerika zu gehen; aber nur Weltz ging hinüber; G. blieb, um dessen Angelegenheiten in Europa zu vertreten, und kehrte aus den Niederlanden nach seiner Vaterstadt zurück. Gleichwol hatte er in den Niederlanden, die damals für manchen mit dem Bestehenden unzufriedenen Geist ein einladendes Pella waren, [148] und zwar in Zwolle, durch den Umgang mit dem Prediger Breckling (s. d.) den Eindruck empfangen, den er den Keim seiner Gottseligkeit nannte. Das „Gott in uns“ wurde ihm die Quintessenz alles Glaubenslebens; einsames, möglichst anhaltendes Beten das Mittel zur Erreichung der wahren Höhe des geistlichen Lebens und der völligen Ertödtung des Fleisches. Zu Regensburg und Nürnberg wurde er als „Wiedertäufer“ gescholten und verlästert; von Lübeck aus, wohin er einen Brief voller Ermahnungen geschickt hatte, als „Schwärmer und Chiliast“ der Verachtung preisgegeben. Ja, in Nürnberg ward er auf Requisition aus Regensburg, wo die Geistlichkeit eine Untersuchung wegen Ketzerei gegen ihn einleiten wollte, festgenommen. Im Gefängniß trieb ihn die Härte, mit der ihn der clericale Haß verfolgte, sogar bis zu einem Selbstmordversuch. Diese Verfolgung aber ließ seine Unschuld nur in um so hellerem Lichte erscheinen. Als er auf das von der Behörde über ihn ausgesprochene Verbannungsurtheil hin im Begriff war, arm und bloß in die Welt zu ziehen, wurde ihm ganz unerwartet durch Vermittelung einer einflußreichen Magistratsperson, des J. G. Fuchs, eine städtische Stelle angeboten, welche seinen Lebensunterhalt gesichert haben würde; er aber, eine Versuchung darin befürchtend, ergriff lieber den Wanderstab voll Vertrauens auf Gott, dessen Willen er in Visionen vernommen und dessen Wohlgefallen er in dem siegreichen Kampfe gegen den Satan errungen zu haben glaubte. Sicherlich fehlte es ihm nicht an wunderbaren Begegnissen auf seinen Reisen, während und weil er die Gewohnheit – eigentlich Verwegenheit – hatte, stets in den besten Herbergen abzusteigen, darauf rechnend, daß Gott wol für die Bezahlung sorgen werde: doch der Ton hochherziger Demuth, in dem er über seine Schicksale spricht, räth zu großer Vorsicht in der Beurtheilung der letzteren. Sicher dürfen wir wenigstens behaupten, daß Arbeit für das tägliche Brot ihm unvereinbar schien mit dem ernsten Trachten nach dem Reiche Gottes. Wieder in Zwolle bei Breckling angelangt, nachdem er in Gersbach und Wien sorgenfreien Aufenthalt genossen hatte, fand er in dessen Haus einen „Labansdienst“ (er war sein Caplan, Vorsänger und Hausknecht!), theilte dessen Loos, wurde durch seinen Eifer für ihn wieder ins Gefängniß und sogar an den Pranger gebracht, und kam 1668, aus Zwolle und Umgebung verbannt, nach Amsterdam, wo der zweite Theil seines Lebens begann. Hier wurde er sammt dem lutherischen Prediger Chariosaus Kampen, der bis 1673, und E. Hoffmann, einem Theologen aus Eisenach, der bis 1677 oder 1678 sein Hausgenosse war, bald der Gegenstand der Liebe und Sorge vieler frommen und reichen Christen; Gichtel’s Verachtung alles Materiellen und seine unläugbare Uneigennützigkeit gewannen ihm mit Recht die Theilnahme Vieler. Hier wurde er auch mit den Schriften Jakob Böhme’s bekannt und suchte nun dessen Theosophie mit seiner Mystik zu vereinigen. In der Praxis des christlichen Lebens stand doch Böhme weit über G.; dieser stellte das inwendige Licht über Alles, während Schrift, Kirche, Sakramente und Bekenntniß immer mehr in seiner Achtung sanken. Nachdem ihm Gott Jahre lang ein Gott des Zorns gewesen war, so daß er die ganze Zeit kein „Vaterunser“ hatte beten können, wurde er nun frei und ein „Priester nach der Weise Melchisedek’s“, als welcher er den Zehnten oder Gaben von bekannten und unbekannten Freunden genoß und seine Seele als Opfer für alle unter des Satans Macht Gebeugten darbrachte. Die Sophia, die himmlische Jungfrau, war seine Braut, da er die Liebe zu einer Frau für unvereinbar hielt mit der Liebe zu Jesus; jedem Anlaß zum Heirathen entfloh er als einer satanischen Versuchung. Irdisch und sündig waren ihm gleichbedeutende Worte. Stundenlanges Gebet, um dadurch seinen Willen zur Allmacht des göttlichen zu erheben, Versagung jedes Vergnügens – er gestattete sich nicht den Genuß eines mit Musik begleiteten Liedes – kennzeichnen [149] seine Denk- und Handlungsweise. Doch kann man bei ihm kaum von einem System sprechen, ihn also schon darum auch nicht auf gleiche Stufe mit Böhme setzen. Vollkommen begreiflich ist, daß G. Arnold (Kirchen- und Ketzerhistorie, Schaffhausen, III. Cap. XV. S. 17) seiner nur flüchtig gedenkt, nicht weil beide sich nach persönlicher Begegnung zu Amsterdam in wenig freundschaftlichem Sinn trennten, sondern weil Arnold sich in Gichtel’s Ideen nicht zu finden wußte. Gichtel’s Einfluß ward wol äußerlich nicht weithin erkannt und litterarisch ist sein Name nur durch die verdienstvolle Herausgabe von Böhme’s Werken der Vergessenheit entrissen, Amsterdam 1682 in 11 Theilen, kl. 8°, erschienen, ohne den Namen des Bearbeiters und Herausgebers, die erste vollständige Ausgabe. G. entzog sich nicht der Mühe der sorgfältigsten Correctur, wie er denn schon früher in ähnlicher Beziehung zu der berühmten Blau’schen Druckerei gestanden hatte. Das zu dieser Ausgabe erforderliche Geld streckte ihm der reiche Amsterdamer Bürgermeister Coenraad van Beuningen vor, der später, das Opfer von Schwärmerei und Speculationen, wahnsinnig wurde. Bei dieser Arbeit unterstützte ihn sein für einige Zeit eifriger Anhänger (später freilich wird er erbitterter Gegner) Alhart de Raedt, Professor zu Harderwijk (am meisten bekannt durch seinen „Commentarius de punctationis Hebraicae natura“[WS 2] und seine „Apologia veritatis adversus Sam. Maresium[WS 3]), der wegen seiner chiliastischen Träumereien abgesetzt, bei und durch G. Unterkommen fand und dafür dessen Geistesbruder geworden zu sein scheint. Außer diesem zählte G. noch einige Freunde, knüpfte aber keine Beziehungen an zu den in- und ausländischen Schwärmern, die sich damals in Amsterdam aufhielten und von denen u. A. der Labadist Yvon (der ihm an der Leid’schen Gracht gegenüberwohnte) ihn vergeblich für diese caelesiola zu gewinnen suchte. Aus dem kleinen Kreise seiner Geistesverwandten – zu denen eine Zeit lang auch Fuchs, ein Sohn des vorhin genannten Regensburger Rathes, gehörte – treten in den geschichtlichen Vordergrund seine langjährigen Freunde Isaak Passavant und Joh. Wilhelm Ueberfeld, von denen Ersterer kurz vor G. starb, der Andere nach Gichtel’s Tode als das Haupt der sehr wenigen Gichtelianer oder Engelsbrüder auftritt; als solches wurde er wenigstens von den niederländischen Gichtelianern geehrt, während die zu Hamburg und Altona den J. O. Glüsing dafür ansahen. Nach des Letzteren Tode wichen die Gichtelianer der genannten Städte mehr und mehr von G. ab, indem sie eigentlich nur noch in der hohen Würdigung der Böhme’schen Schriften mit ihm übereinstimmten. Das von G. gebrauchte Exemplar der Böhme’schen Werke (Ausg. 1682) „lag der 1715 zu Hamburg erschienenen und mit des hocherleuchteten, nunmehro seligen Mannes Gottes geistreichen Marginalien“ versehenen Ausgabe zu Grunde. Mit zunehmendem Alter sah G. die Zahl seiner Gegner immer kleiner werden; die Behörden von Amsterdam ließen ihn unbelästigt, nur beklagt er sich über den scharfen Ton, in welchem der taufgesinnte Prediger Galenus Abrahams de Haan in Predigten vor ihm warnte. Seine in Briefen bestehenden Schriften fanden Absatz; die erste Ausgabe in 2 Theilen besorgte G. Arnold: „Erbauliche theosophische Sendschreiben eines in Gott getreuen Mitgliedes an der Gemeinschaft Jesu Christi“ etc. Sie erschienen nach sieben Jahren wieder, vermehrt um 3 Theile, Bethulia 1710, und noch einmal zu 7 Theilen vermehrt 1722. Der Titel lautete hier: „Theosophia practica, Halten und Kämpfen des Lebens ob dem H. Glauben bis ans Ende, durch die Drey Alter des Lebens J. C. Nach den Dreyen Principien Göttlichen Wesens, mit derselben Ein- und Ausgeburt durch Sophiam in der Menschheit, welche Gott derselben in diesem Alter der Zeit von neuem vermählet hat, und gute und böse Menschen, kluge und thörichte Jungfrauen zu der großen Hochzeit des Lamms eingeladen, auf daß eine jede Seele, wie verdorben sie auch immer sey, sich mit diesem lieblichen Evangelio erwecken, [150] und ihren Willen mit Gottes Willen vereinigen möge zu solcher göttlichen Eheligung. Und so dann mit diesem, Göttlichen Wort in Christo sich schwängern und aus der bösen sündlichen Natur in ihre erste göttliche Bildniß sich wiederum eingebären möge durch Jesum. Auf veranlassung in Briefen gestellet von dem Gottseligen Gottesfreund und Mann Sophiae, Johann Georg Gichtel.“ Die meisten dieser Briefe sind gerichtet an J. J. Tissot, Apotheker zu Bremen, Th. Schermer, Cand. theol. daselbst, den bekannten J. W. Petersen, die Gattin des Prof. Francke zu Halle, Julia Spörglin, G. Arnold’s Schwiegermutter u. A. m. Seinen und J. G. Graber’s Namen trägt noch eine Schrift mit dem Titel: „Eine kurtze Eröffnung und Anweisung der dreyen Principien und Welten im Menschen in unterschiedlichen Figuren vorgestellet etc. etc. durch Johann Georg Grabern von Ringenhausen, Johann Georg Gichteln von Regensburg. Im Jahr Christi 1696. Auf vieler Verlangen aufs neue dem Druck übergeben i. J. 1736.“ Unbeschränktes Lob ist ihm wenig zu Theil geworden; J. A. Kanne, „Leben und aus dem Leben merkwürdiger und erweckter Christen“, zeichnet sein Leben ausführlich als das eines – sonderbaren Heiligen, aber eines Heiligen. Früher, 1732, wurde es dargestellt von J. G. Reinbeck; später besonders von G. C. Adolph v. Harleß in „Jacob Böhme und die Alchymisten“ (1870) und vor Allem, was Gichtel’s Aufenthalt in den Niederlanden betrifft, von Ch. Sepp, „Geschiedkundige Nasporingen“, 1873, II. S. 166 ff.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Der Gregorianische Kalender von 1582, der 10 Tage übersprang, wurde in protestantischen Teilen Deutschlands nicht einheitlich, sondern zum Teil erst 1700 eingeführt.
  2. lat.: Kommentar über die Natur der hebräischen Punktation
  3. lat.: Verteidigung der Wahrheit gegen Samuel Maresius.